Akratasisches Leben

 

Menschen identifizieren sich mit Dingen die sie durchschauen können und verstehen.

Je unüberschaubarer gesellschaftliche Zusammenhänge sind, desto größer wird die Entfremdung zwischen Mensch und Institution. Melancholaniens frühere politische Systeme versuchten solche Entfremdung zu neutralisieren, indem sie Funktionen schufen, die ihre Legitimation aufgrund formal freier Wahlen erhielten und darauf hin eine Delegierung von Macht erfolgte. So funktionierte es zum Beispiel in der marktkonformen Demokratie.

Die Probleme die aus dieser Entfremdung erwuchsen konnten dadurch kaum gelöst werden, sie wurden lediglich verwaltet.

Eliten bildeten die Macht, schufen Hierarchien, genossen Privilegien, entschieden letztlich über das Schicksal aller Menschen.

Die der radikalen Marktideologie folgende bürokratische Diktatur verzichtete auf die formale Bestätigung durch Wahlen, sah sich vielmehr durch ihre als emanzipatorisch auf tretende Heilsideologie dauerhaft legitimiert. Was die Bevölkerung von dieser Ideologie hielt schien den Verantwortlichen unbedeutsam.

Das Volk hatte keinen Anteil an der Gestaltung von Politik und sozialer Gesellschaft.

Auf Grund dessen zielten anarchistische Gesellschaftsentwürfe zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte darauf ab auf kleine überschaubare Einheiten zu setzen.

Einheiten die aus geographischen, technischen, sachlichen, ideellen, ethischen, ästhetischen oder auch spirituellen Ursachen entstehen. Natürlich auch nur einfach aus gegenseitiger Sympathie oder Gründen der praktischen Vernunft.

 

Auf eben jener Grundlage entwickelte sich auch Elenas neuer Antistaat Akratasien.

Noch immer lag diesem kein einheitliches Konzept zugrunde, Elena und die Schwesternschaft verzichteten ganz bewusst auf jedwede Art von Vereinheitlichung.

Es kamen ganz unterschiedliche politische, philosophische und spirituelle Richtungen zum tragen, die sich einander ergänzten, in einander griffen. Die Übergänge waren dabei meist fließend.

Alte klassische Entwürfe feierten in dieser Symbiose ihre Auferstehung.

Da war auf der einen Seite jene Mischung aus Anarchosyndikalismus, libertären Kommunalismus und Projektanarchismus zu verzeichnen, der sich geschickt mit alten philosophischen und spirituellen Lebensentwürfen aus der Vergangenheit verband und zu einem neuen gesellschaftlichen Muster verwob.

Es bestand kein Bedarf an einer ideologischen Inquisition die über eine reine Lehre zu wachen hatte und Verstöße dagegen zu ahnden. Die verschiedenen Lebensentwürfe entwickelten sich gleichberechtigt nebeneinander. Es sollte unter allen Umständen der Eindruck vermieden werden, dass den Menschen schon wieder eine neue Ideologie von oben aufoktroyiert wurde.

Vernunft und Augenmaß waren gefragt. Alte Strukturen lösen sich nun einmal nicht einfach über Nacht in Luft auf, sondern gleiten langsam und bedächtig in die neue Form über.

Deshalb gab es die Schwesternschaft und die von ihr geschaffene Administration, mit einer Königin, einer Kanzlerin und allerlei Funktionen, deren Hauptaufgabe darin bestand die Menschen in das neue unbekannte Land der Freiheit, der Gleichheit und Geschwisterlichkeit zu geleiten.

Ein politisches Machtvakuum hätte hingegen unweigerlich wieder autoritären Ideologien in die Hände gespielt.

Es sollte mit der Zeit eine völlig neue Verwaltungsebene geschaffen werden. Keine Verwaltung nach klassischem Muster, von oben nach unten, nein es sollte vielmehr in die entgegengesetzte Richtung laufen.

Alle Macht, wenn man in einer sich libertär nennenden Gesellschaft überhaupt noch von Macht sprechen konnte, lag auf der untersten Ebene. Die vollständige Autonomie der Ortsgemeinde bildete das Rückgrad der neuen sozialen Ordnung. Darüber sollte sich eine Fülle von Netzwerken ausbreiten, dazu ausersehen Hilfeleistung in jedweder Form anzubieten, wenn diese denn gewünscht wurde.

Für Menschen, in der Vergangenheit ausnahmslos auf die Rolle von Befehlsempfängern festgelegt, ein zunächst undurchführbares Unterfangen. Elena war sich dieser Tatsache nur allzu bewusst. Trotzdem glaubte sie an die Entwicklungsfähigkeit der Menschen und traute ihnen auch das Unmögliche zu.

Schon frühzeitig deutete sich an, dass die Akratie in den kleinsten Verwaltungseinheiten am schnellsten Fuß fassen konnte. Ländliche Gebiete mit dörflichen Strukturen und kleinen überschaubaren Gemeinden schienen dafür wie geschaffen. Ein kleines nur wenige hundert Menschen zählendes Dorf brauchte sich im Grund gar nicht zu verändern. Es wurde einfach in eine sich autonom verwaltende Kommune umgestaltet. Das hatte zur Folge, dass die Menschen einfach näher zusammen rückten. Gegenseitige Hilfe, Solidarität und ein neuer Gemeinschaftsgeist bestimmte das Tagesgeschehen, da wo früher Konkurrenz und Ellenbogenmentalität herrschte. Alles wurde gemeinsam beraten und entschieden.

Die Privatsphäre blieb intakt, die Familie war unantastbar und bildete auch weiterhin die kleinste Zelle der Gesellschaft. Auf der anderen Seite aber wurden auch jene nicht vergessen die allein leben mussten oder wollten. Der Kampf gegen Vereinsamung und Ausgrenzung wurde zu einem zentralen Thema.

 

Viel schwieriger sollte sich die Entwicklung in den größeren Städten gestalten. Hier wo Tausende und abertausende von Menschen zusammenlebten, mussten neue Strukturen eingebaut werden, vor allem da wo es diese noch nicht gab.

In dem sich neu formierenden akratasischen Staatsgebiet gab es mit Manrovia nur eine größere Stadt. Den weitaus größeren Teil stellten die ländlichen Gebiete mit kleinen Gemeinden dar.

Es galt Rücksicht auf die verschiedenen Mentalitäten und Befindlichkeiten zu nehmen.

Eine große Metropole musste in eine Fülle von Minimetropolen unterteilt werden. Im Grunde wurde die dörfliche Struktur auf die Großstadt übertragen, bzw in die sich bildenden oder auch schon vorhandenen Viertel. Diese Viertel erhielten nun volle Autonomie und verwalteten sich selbständig. Die einstige Großstadt breitete sich darüber als neues Netzwerk um die neuen Körperschaften zusammenzuhalten und den Austausch zu fördern.

Auch hier stellte jeder Haushalt die unterste Ebene dar. Etwa 10-15 Haushalte bildeten die Nachbarschaftsgruppe als kleinstes Element in der Föderation. Dies konnte z.B. eine Straße sein oder bestimmte natürlich gewachsenen Ansiedlungen. Sie in den Belangen des Alltages gegenseitig unterstützen gehörte zu deren vordringlichste Aufgabe. Vor allem wollte man dadurch der Vereinsamung und Isolierung vorbeugen.

Das gestaltete sich nicht immer leicht, denn bekanntlich sind Nachbarn nicht immer ein Herz und eine Seele. Bei Streitigkeiten versuchte man zu schlichten, dafür gab es auf allen Ebenen Konfliktkommissionen. Passte sich eine Familie oder auch Einzelperson partout nicht der Nachbarschaftsgruppe an, so konnte sich diese einen neue wählen.

Mehrere Nachbarschaftsgruppen bildeten gemeinsam ein Carre . Das konnten mehrere Straßen und Plätze sein. Hier griff man auf die alten „Viertel“ zurück. Alte über Generationen gewachsene Identifikationsmuster. Dort entstanden auch die ersten richtigen Verwaltungsaufgaben, ein Plenum, das regelmäßig tagte, einen gewählten Rat von Verantwortlichen, bei Nichterfüllung seiner Pflichten jederzeit abwählbar.

Dieser Rat hatte die Angelegenheiter des jeweiligen Carres in der darauf folgenden Körperschaft zu vertreten, dem Bezirk. Die Vertreter der einzelnen Carres bildeten die Bezirksversammlung. Hier wurden die konkreten Verwaltungsaufgaben verteilt. Die Verantwortlichen wurden nach ihren Fähigkeiten ausgewählt und konnte bei Verstößen wiederum durch andere ersetzt werden.

Je größer die Stadt, desto weitere Ebenen wurden installiert.

Am Ende stand die Stadt als Gesamtkörperschaft und einer gewählten Spitze die vor allem Repräsentationsaufgaben nach außen zu erfüllen hatte, unter Wahrung der Autonomie der Stadtbezirke und Carres.

Darüber hinaus ging es weiter mit breiten Netzwerken, die Städte und Gemeinden mit einander verbanden, für Austausch und gegenseitige Hilfe sorgten und für einen florierenden Ablauf von Ökonomie, Dienstleistung und Verwaltung.

Eine Hierarchie ging davon nicht aus, mit dem Berufspolitikertum vergangener Tage hatte das kaum noch etwas gemein.     

 

Was die Ökonomie betraf, so galt hier vor allem das Prinzip des Syndikalismus, dass heißt, die Produktionsmittel gehörten der Belegschaft gemeinsam. Jeder Mitarbeiter einer Firma fungierte zugleich als deren Miteigentümer. Einen Chef gab es nicht, statt dessen wurde alles gemeinsam im Plenum beschlossen. Die Aufgabenverteilung, die Auswertung der geleisteten Arbeit, Finanzen, Soziales, verwaltungstechnische Angelegenheiten, alles wurde von allen getragen.

Hervorgehobene Leitungsfunkionen teilten sich besonders geeignete Personen die im Turnus wechselten.

Das erwirtschaftete Vermögen wurde nach Abzug der zu begleichenden Kosten, wie Rechnungen, Steuern, Instandhaltung, etc. gleichmäßig unter den Beschäftigten aufgeteilt.

Lohnarbeit im eigentlichen Sinne gab es nicht mehr.

Mit Verstaatlichung hatte das nichts zu tun. Da ein Staat herkömmlicher Prägung nicht mehr vorhanden war, konnte dieser auch nicht als Eigentümer fungieren.

Das Neidhardt-Regime hatte die alten Privateigentümer der Produktionsmittel enteignet und deren Besitz verstaatlicht. An deren Stelle rückte bald die sich neu formierende Nomenklatur der Parteiaristokratie. Die Belegschaft hatte auch unter diesen neuen Bedingungen kaum etwas zu melden.

Anders in Akratasien. Hier wurde das Eigentum vergesellschaftet, ging in die Hände aller über, die mitarbeiten, mit planen und handeln konnten. Die Autonomie des einzelnen Unternehmens wurde respektiert. Lediglich Verstöße gegen das Freiheits/Gleichheits/Geschwisterlichkeitsprinzip konnten von außen geahndet werden, wenn für nötig erachtet.

 

Besonders hervorzuheben waren da noch die neu entstandenen internen Kommunen. Wohn-und -Arbeitsgemeinschaften in einem, die sich nach dem Vorbild der Alten Abtei zusammenfanden und das Gemeinschaftsbewusstsein noch einmal auf besonderen Wegen ausdrücken wollten. Auch die fügten sich in das Gesamtkonzept ein.

Es bestand die Möglichkeit als Vollmitglied in einer Kommune zu leben und zu arbeiten. 

Daneben gab es assoziierte Mitglieder die nur dort arbeiteten und außerhalb lebten, sowie der umgekehrte Fall. Menschen die in der Kommune lebten und außerhalb einer Beschäftigung nachgingen. Alles war möglich. Auf diese Art wurde der Sektiererei vorgebeugt.

 

Hinzu kamen eine Fülle von Arbeitsgemeinschaften, die sich ganz bestimmter Themen widmeten und dort ihre Erfahrungen ein bringen konnten. Von den Kleingärtnern bis zu den Philosophen, alles wurde im gleichen Maße wertgeschätzt. Jedem und Jeder war es auf diese Weise möglich die Freizeit sinnvoll zu gestalten.

Davon gab es mehr als genug, denn eine radikale Arbeitszeitverkürzung brachte es mit sich, dass die Menschen in Akratasien nur noch 4 Stunden pro Tag einer Erwerbsarbeit nachzugehen brauchten. Die frei gewordenen Zeit konnte  auf effektive Weise für alle Formen ehrenamtlichen Engagements genutzt werden.

Positive Begleiterscheinung war dabei das die Arbeitslosigkeit, im früheren Melancholanien ein erhebliches Problem, auf Null gefahren werden konnte.

 

Unter solchen Bedingungen war mensch sehr schnell versucht die sich neu formierende Gesellschaft als Paradies zu bezeichnen. Doch so etwas konnte auch in Akratasien nicht verwirklicht werden. Paradiese auf Erden entpuppten sich in der Vergangenheit nur all zu oft als gefährliche Illusion.

Elena versuchte das den Ihren immer wieder auf`s Neue einzuschärfen.

Kovacs Traum von einer humanen Weltordnung, hier war er zum Greifen nahe. Es hatte den Anschein, dass sich zum ersten Male in der Weltgeschichte eine allumfassende auf Gerechtigkeit und Freiheit aufbauende Gesellschaft formierte und das ohne jedwede Hierarchien.

Immer wieder wurde Elena von Gewissensbissen heimgesucht. Verlangte sie zuviel? Waren die Menschen in der Zwischenzeit tatsächlich soweit sich selbständig zu regieren? Und in der Tat fasst die Akratie nur sehr schwer Fuß.Ständig erschall der Ruf nach einer starken Hand, nach Führung und Autorität.

Drohte am Ende das System am Desinteresse seiner Protagonisten zu scheitern?

Auch ein desinteressierter oder fauler Mensch hatte Lebensrecht in dem neuen Gemeinwesen. Elena konnte dem nichts entgegensetzen und musste solche Vorkommnisse einfach hinnehmen.

Der Entfremdung sollte nach Möglichkeit  ein Riegel vorgeschoben werden um somit der Identifikation mit dem Neuen eine Chance zu bieten.

So wie der Mensch früherer Tag es gewohnt war Befehle und Anweisungen zu erhalten, würde er es mit der Zeit lernen selbständig  zu entscheiden.

Durch diese Teilhabe konnte eine andere Qualität gesellschaftlichen Lebens entstehen.

Themen, Formen und Rahmenbedingungen unterschieden sich schon jetzt deutlich von jenen früherer Zeiten.

Elena und ihre Gefährtinnen konnten sich jedenfalls nicht vorstellen dass noch irgend jemand sehnsuchtsvoll zurückblickte in jene Zeit da der Tagesablauf von acht bis zehn Stunden ermüdender Arbeit in einem geisttötenden Job gekennzeichnet war, nach dessen Ende man sich auch noch ehrenamtlich um die Belange der Stadt oder der Gemeinde kümmern sollte.

Im alten untergegangenen Melachncholanien wurde das soziale Engagement vor allem von Parteien, Vereinen, Bürgerinitiativen etc geregelt, deren frustrierendes Tagesgeschäft darin bestand sich mit Bürokratie, Behörden und Vereinsmeierei herumzuschlagen, dabei ständig an die eng gesteckten Grenzen der Zuständigkeiten stoßend.

Eigeninitiative fand nur dann Anerkennung soweit sie der Profitmaximierung diente, also der herrschenden Elite zugute kam. Alles was dem zuwider lief stieß auf Ignoranz und Desinteresse.

Die Akratie hingegen lebte geradezu durch die persönliche Initiative jedes einzelnen Mitgliedes.

 

Doch wem konnte man die Fähigkeit zu solcher Initiative zutrauen? Zwei Bevölkerungsgruppen bereiteten Elena im Besonderen schlaflose Nächte.

Zwar diametral entgegengesetzt, bildeten diese zusammengenommen noch immer eine Mehrheit.

Da waren zum einen jene, die man als die geborenen Herrscher betiteln konnte, Menschen, zum Kommandieren wie geschaffen, dem Anschein nach schon im Mutterleibe wie wild um sich schlugen um ihren Willen durchzusetzen. Leute die sich quasi von einer überirdischen Instanz berufen fühlten, anderen Befehle zu erteilen.

Elena kannte solche Typen nur all zu gut, gehörte sie doch einst selbst zu jener Elite. Diese würden alles daran setzen sich auch unter den neuen Bedingungen an eine hervorgehobene Stellung zu manövrieren, bliebe ihnen die versagt, drohte von ihnen der Boykott der neuen herrschaftslosen Gesellschaft.

Ein großer Verlust, denn für den Aufbau wurden solche Leute dringend benötigt, immerhin befanden sich unter ihnen Wissenschaftler, Intellektuelle etc. deren Wissen der Allgemeinheit dadurch verloren ginge.

Doch noch viel größeres Ungemach drohte von der zweiten Gruppe. Die total Bildungsfernen, jene, die, um es salopp auszudrücken, ihren Kopf offenbar nur aus dem Grunde besaßen, damit sie das Stroh nicht in der Hand tragen mussten. Herdenvieh dass eines Leithammels bedurfte um die einfachsten Aufgaben zu erfüllen.

Der ewige Prolet, unfähig sich zu bilden, sich weiter zu entwickeln. Zu keiner Zeit hatten sie gelernt selbständig und eigenverantwortlich zu denken, zu entscheiden, geschweige dem zu handeln.

Von der Fähigkeit ein selbst bestimmtes Leben zu führen waren sie ungefähr so weit entfernt wie der Neandertaler vom Weltraumflug.

Aber auch diese enorm große Bevölkerungsgruppe galt es zu integrieren, auf welche Art und Weise auch immer. Auch ihnen stand ein Anrecht auf Leben zu. Sie bedurften auch weiterhin der Anleitung durch geschulte Personen. Hier sollte den natürlichen Hierarchien eine entscheidende Rolle zukommen.

Mit diesen Aufgaben konnten nur ausgesuchte Menschen mit herausragenden Fähigkeiten betraut werden von denen man erwarten konnte dass sie ihre Funktionen nicht dafür missbrauchten neue Abhängigkeitsverhältnisse zu schaffen.

 

Es galt ein besonderes Maß an Fingerspitzengefühl. Nicht jeder der aus den so genannten bildungsfernen Schichten kam, war automatisch ein Prolet. Leute etwa  wie Madleen, Kyra oder Kristin stellten hohe Anforderungen an sich, waren imstande sich mit der Zeit zu eigenständigen Persönlichkeiten zu entwickeln. Auch Leander hatte jener Gruppe angehört.

Sie bedurften nur einer entsprechenden Umgebung und Menschen an ihrer Seite die ihnen den Weg zur Erkenntnis ebnen konnten.

Der ewige Prolet hingegen schien Zeit seines Lebens dem Wohl und Wehe anderer ausgeliefert. Besaß aber auch der das Potential sich zu einer Persönlichkeit zu entwickeln?

Ein schwieriges Unterfangen, das Elena großen Kummer bereitete. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt nicht zu ruhen bis ihr eine Lösung zu Teil wurde.

Guter Rat schien teuer, denn mit einer handvoll Idealisten lies sich nun einmal keine neue Welt aufbauen.

Ein ewiger Lernprozess. Es galt die Menschen zu begeistern und an sich zu binden. 

Es bedurfte wohl einer recht langen Übergangsphase um das anvisierte Ziel zu erreichen.

 

Eine Ironie des Schicksals bestand darin dass die Schwesternschaft ausgerechnet in Neidhardt und seiner Clique ungeahnte Unterstützer fand. Denn indem Neidhardt den Befehl zur totale Abschottung der abgefallenen Gebiete gab und die Grenze errichten lies ,begünstige er unbewusst die Entwicklung der Akratie . Nun, da die Bewohner der Abtei und der ihr angegliederten Gebiete auf sich allein gestellt waren, gab es nur noch einen zielgerichteten Weg.

In der Isolation vergehen oder gerade durch diesen bedrückenden Umstand zum neuen Leben erwachsen.

 Die Bindung an Elena und ihre Gefährtinnen wurde zur Überlebensfrage. Zwar sah es am Anfang ganz und gar nicht nach der Einführung einer akratischen Gesellschaftsform aus, im Gegenteil, alles schien in Richtung Monarchie zu streben. Mit einer Königin an der Spitze und der Schwesternschaft als einer Art elitären Orden der die Führungsaufgaben unter sich verteilte.

Doch die Töchter der Freiheit setzten alles daran den Menschen bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit die Vorzüge der Akratie schmackhaft zu machen um auf diese Weise ein Interesse zu erzeugen,die Bewohner der Kommunen für die Nichtherrschaft fit zu machen.

Was zunächst nach einem Rückschritt in der Geschichte aussah ,sollte sich später als Motor für die Erneuerung erweisen.

Die Schwestern fungierten als eine Art Therapeutinnen, als Verkünderinnen der neuen angestrebten Ordnung. Wie Apostel einer neuen Heilslehre beständig unterwegs, bereisten sie die Teilkommunen um vorzutragen, zu diskutieren, um die Sorgen und Beschwerden der Bewohner zu erforschen, um Rat zu erteilen, nicht selten hatten sie dabei die Rolle einer Feuerwehr zu übernehmen, denn der immense Druck der aufgrund der strengen Isolation auf den Menschen lastete führe bei nicht wenigen zu Depressionen und Neurosen. Verzweiflung machte sich breit und die Menschen erwarteten von Elena und den Ihren Rat und konkrete Hilfe.

Um sich in naher Zukunft selber zu regieren und imstande zu sein eigenverantwortlich grundlegende Entscheidungen zu treffen, mussten die Menschen erst einmal lernen mit der Freiheit umzugehen, die ihnen nun in ausreichendem Maße zur Verfügung stand.

Wer es nicht gewohnt ist mit der Freiheit umzugehen droht von dieser überrollt zu werden.

Wer mit der Freiheit nichts anzufangen weis läuft Gefahr aus der Bahn geworfen zu werden, sich nach Führung und Autorität zu sehen. Der Ruf nach einem Führer, nach einem Diktator oder wie auch immer, war dann nur noch eine Frage der Zeit. Um diese Gefahr ein für allemal zu bannen, bedurfte es einer Agitation von besonderer Überzeugungskraft. Die meisten Schwestern hatten in den Jahren in denen sie zusammenlebten genug in Erfahrung bringen können um ihr Wissen weiterzugeben.

Und auch viele Männer waren dazu imstande.

 

Ein Sachverhalt den es vorrangig zu beantworten galt, bestand in der Frage, wie die größtmögliche Freiheit jedes einzelnen Individuums in Einklang zu bringen sei mit der Stellung jedes/jeder Einzelnen zum solidarischen Verhalten, zum Gemeinwohl aller.

Schlossen sich diese beiden Punkte nicht geradezu aus? Wie weit konnte die Freiheit der einzelnen Person reichen? Was, wenn diese mit dem Freiheitsanspruch anderer kollidierte?  Wo hört Freiheit auf und wo beginnt die Verantwortung für das Gemeinwohl?

Zunächst musste eine allgemeine Definition gefunden werden, was Freiheit unter überhaupt zu verstehen sein. Schon darüber lagen die Meinungen weit auseinander.

Der Konsens auf den man sich schlussendlich einigte lautete wie folgt:

Nur dann bin ich wahrhaft frei, wenn alle Menschen meiner Umgebung, Männer, Frauen und Kundras, ebenso frei sind wie ich selbst. Die Freiheit der anderen, weit davon entfernt, eine Beschränkung oder Verneinung meiner Freiheit zu sein, ist ganz im Gegenteil ihre notwendige Voraussetzung und Bejahung.

Das bedeutete mit anderen Worten, dass ich nur durch die Freiheit anderer wahrhaft frei werde und zwar derart, dass, je zahlreicher die freien Menschen sind, die mich umgeben und je größer und tiefer deren Freiheit, desto tiefer, weiter und größer meine eigenen Freiheit wird.

Eine Freiheit, auf Kosten anderer ausgelebt, kann niemals echte Freiheit sein.

Die Sklaverei anderer Menschen setzt meiner eigenen Freiheit eine Schranke. Solange auch nur ein Wesen auf der Welt gezwungen ist sein Leben in Unfreiheit zu fristen, kann es keine wirkliche Freiheit geben. Aus diesem Grund ist jeder Mensch, ob Mann, Frau oder Kundra dazu angehalten sein Leben in den Dienst für den Kampf für die Freiheit zu stellen. Menschen die dazu imstande sind, es aber aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen ablehnen sich diesem Kampf zu stellen sind die Unfreiesten unter allen Sklaven der Welt.

Die Tatsache dass sich in der Geschichte der Menschheit meist eine Minderheit als Alpha-Tiere, geboren um zu führen und zu befehlen, eine große Mehrheit als Beta-Tiere, geboren um gehorchen und um geführt zu werden, hervorbrachte, ist kein Beweis ein Dogma daraus her zu leiten.

In Voraufklärerischer Zeit verharrten die Menschen in selbstverschuldeter Unmündigkeit und Unfreiheit. Doch auch nach der Aufklärung ist ein Mensch noch immer in der Lage sich eine selbstverschuldete Unmündigkeit zu manövrieren. Selbst die Tatsache, dass im Rahmen demokratischer Grundrechte Möglichkeiten der Emanzipation zur Verfügung standen, hinderte die Menschen daran in ausreichendem Maße davon Gebrauch zu machen.

Die Freiheit beginnt nun einmal im Geiste, das gleiche trifft auch für die Unfreiheit zu.

Der Mensch hat die Wahl sich frei oder unfrei zu fühlen und entsprechend danach zu handeln.

Mensch kann sich rassistischen, nationalistischen, sexistischen oder auch sozialdarwinistischen Ausgrenzungsmechanismen unterwerfen und sich damit abfinden, oder  kann sich dagegen auflehnen und rebellieren, sich gleichsam von deren schlechten Einfluss befreien. In dieser Tat liegt der Schlüssel zur wahren Freiheit.

Zu Zeiten der marktkonformen Demokratie wurde sehr viel über den Freiheitsbegriff gesprochen, geschrieben und gestritten. 90% davon reiner Firlefanz. Ein Widerspruch in sich selbst. Ein Freiheitsbegriff der sich an eine Elite von rund 20% der Bevölkerung richtete und die restlichen 80% außen vor lässt, macht den Freiheitsbegriff zur Karikatur.

Neidhardts Diktatur korrigierte diesen Gegensatz indem die Freiheitsrechte der 20% außer Kraft gesetzt und denen der Mehrheit der Unfreien hinzugefügt wurde.

Über den Freiheitsbegriff wurde erst gar nicht debattiert.

Aber Melancholanien war Geschichte, zumindest in einem Teil des Landes, nun gab es Akratasien und hier sollte die Freiheit Triumphe feiern.

Im Augenblick gab es aber nur sehr wenig Grund für Triumphalismus. Momentan war dass Gebilde Akratasien vor allem damit beschäftigt ums Überleben zu kämpfen.

Elena und die ihren sahen es als ihre Aufgabe an, Zuversicht zu verbreiten. Zuversicht über einen glücklichen Ausgang, über das angestrebte Ziel sich mit dem verblieben melancholanischen Reststaat unter dem Vorzeichen der Freiheit, der Gleichheit und der Geschwisterlichkeit wieder zu vereinen. Die Verkündigung dieser Idee sowie weiterer angestrebter Ziele nahm immer häufiger quasireligiösen Charakter an.

Überhaupt spielten spirituelle Dinge von allem Anfang an eine nicht unerhebliche Rolle.

In  letzter Zeit hatte sich Elena gemeinsam mit Colette häufig zum Studium und zur Auswertung Kovacs alter Schriften zurückgezogen. Der verstorbene Freund und Lehrer hatte längst den Status eines spiritus rector. Von ihm ging alles aus, seine Ideen und Vorstellungen waren es, die es in die Tat umzusetzen galt, auch wenn sie sich am Anfang ausgesprochen schwer damit taten. Doch auch Kovacs hatte Vorbilder, er brauchte das Rad nicht noch einmal neu zu erfinden. Er berief sich auf die Klassiker anarchistischen Denkens. Ob Bakunin, Kropotkin oder Malatesta, ob Proudon, Landauer oder Tolstoi. Fast ausnahmslos Männer, nur wenige Frauen waren dabei, wie etwa Emma Goldman. Ein reichhaltiger Fundus den man nur neu zu beleben brauchte.

Neu an Kovacs Methode war, dass er versuchte all diese Ideen spirituell zu untermauern.

Kaum einem schien das am Anfang plausibel.

War das nicht ein Widerspruch? Waren nicht die alten Klassiker des Anarchismus ausgesprochen antireligiös eingestellt? Nicht alle, aber ein erheblicher Teil.

Die Kritik an jedweder Gottesvorstellung war geradezu erschlagend.

Schrieb nicht zum Beispiel Michail Bakunin, russischer Adliger und Begründer des politischen Anarchismus im 19 Jahrhundert: „Ein wesentliches Element der Freiheit ist negativ. Es ist die Empörung des menschlichen Individuums gegen jede göttliche Autorität. Zunächst ist das die Empörung gegen die Tyrannei des obersten Phantoms der Theologie, gegen Gott. Es ist klar, dass, solange wir im Himmel einen Herrn haben, wir auf der Erde Sklaven sind.  Unsere Vernunft und unser Wille würden gleichfalls vernichtet sein(einem Gott gegenüber gibt es keinen anderen Gehorsam), müssten wir uns notwendig der Autorität seiner Mittler und Auserwählten ohne Widerstand und ohne die geringste Kritik unterwerfen, als da sind Propheten, von Gott erleuchtet Gesetzgeber, Kaiser, Könige, Beamte und Minister, alle geweihten Diener der religiösen Institution.“

Eine klare ,eine eindeutige Aussage. Es gab keine Versöhnung zwischen Religiosität/Spiritualität auf der einen Seite, dem Anarchismus, der vollkommenen Freiheit andererseits.

Ebenso wie Bakunin dachten viele andere Vertreter des klassischen Anarchismus.

Doch musste das zwangsläufig so bleiben?

Hier sprachen hauptsächlich Vertreter des 19. bzw des frühen 20 Jahrhunderts.

Galt dies auch für das 21 Jahrhundert, dem man entgegenstrebte?

Damit wollten sich Elena und Colette nicht zufrieden geben und forschten und forschten, nicht selten Tage-und -Nächtelang.

Hatten die Klassiker nicht am Ende das Kind mit dem Bade ausgegossen?

Bei aller berechtigten und notwendigen Kritik an den institutionalisierten Religionsgemeinschaften, die in Jahrhunderten einen Großteil der Verantwortung zu tragen hatten für die Versklavung und Unterwerfung der Völker, für deren Verdummung und Niederhaltung. Leitete sich daraus zwangsläufig das Recht, alles religiöse, Spirituelle per se anzulehnen und ins Reich der Phantasie zu verbannen?

Würden die Menschen tatsächlich die volle Freiheit erlangen, nur weil es keine Religionen mehr gab?

Das 20. Jahrhundert lieferte eindeutig den Gegenbeweis. Leute wie Hitler, Mussolini, Stalin oder Mao waren nicht religiös, folgten keiner spirituellen Lehre, wenn sie an etwas glaubten dann ausschließlich an sich und ihre Vorsehung. Deren Regime stellten alles in den Schatten, was die Welt bisher an Grausamkeit erleben musste.

Die Götter im Himmel wurden durch selbsternannte menschliche Gottheiten ersetzt. Die Geburtsstunde der säkularen Religionen, im allgemeinen Sprachgebrauch als Ideologien bekannt.

Für Kovacs war die Sache eindeutig. Seiner Meinung nach war es die Spiritualität, die den Menschen zum Menschsein verhalf, die Spiritualität und nicht der Intellekt.

Denn die Spiritualität ist es, die dem Menschen Demut verleiht. Ein hoher Intellekt ohne Demut ist ein Fluch für die Menschheit. Ein hochintelligenter Mensch ohne Demut, der geborene Herrscher und Diktator.

Schuf Gott den Menschen, oder hatten  die Menschen ihre Götter erfunden?

Noch immer harrte diese Frage ihrer schlussendlichen Beantwortung.

Zumindest hatten sich die Menschen ihre Gottesbilder erschaffen und diese orientierten sich an der sie um gebenden Realität. Menschen die in ihrem Alltag nur Unrecht und Grausamkeiten erlebten, mussten zwangsläufig davon ausgehen, dass der Gott der sie erschaffen hatte diese ungerechte Realität nicht nur akzeptierte, sonder sogar forderte.

Um diesen Gott gnädig zu stimmen, bedurfte es allerlei Opfergaben und Demutsgesten, Unterwerfung und die Akzeptanz von Ungerechtigkeiten. Wie im Himmel so auf Erden.

Die Himmlische Hierarchie fand ihre irdische Entsprechung in den Herrschern und Tyrannen aller Zeiten und Regionen.

Auf eine solche Sichtweise des religiösen konnte wohl nur der Anarchismus die einzig lebbare Alternative sein.

Doch dem widersprach so einiges was Elena in der zurückliegenden Zeit hatte kennen lernen dürfen.

Da war das Phänomen Anarchaphilia. Wer war sie? Was war sie? Eine Metapher, klar, aber wozu? Welchen Sinn hatte ihr Auftauchen? Was wollte sie der Menschheit verkünden?

Wer hatte sie geschickt, in welchem Auftrag handelte sie?

Eine Göttin? Elena betitelte sie so. Eine Göttin die eine anarchistische Lebensphilosophie vertrat? Ein Antagonismus!

Solange es einen Gott im Himmel gibt, werden die Menschen niemals frei sein, so Bakunin in seinem Urteil. Warum sollte also ausgerechnet eine Göttin ein Interesse an der vollkommenen Freiheit haben, die es nur in einer anarchistischen Gesellschaft geben konnte?

Der Unterschied lies sich bei näherer Betrachtung schnell definieren.

Anarchaphilia war alles andere als eine Herrin. Ihrem Auftreten haftete so ganz und gar nichts Herrschaftliches an, wenn sie sich Elena gegenüber manifestierte. Ihr saloppes Outfit vermittelte Einfachheit und Bescheidenheit. Ihr Erscheinungsbild war ein Bekenntnis zu einer alternativen Lebensweise.   

Und die Botschaft die sie zu verkünden hatte stand nicht im Widerspruch zu ihrem Auftreten.

Das was Menschen ansonsten von Göttern erwarten ,gab es bei ihr nicht. Niemals griff sie  ins Geschehen ein, überlies den Menschen die Entscheidungsfreiheit, begnügte sich mit Anregungen und Empfehlungen.

Sie erschien niemals wenn sie angerufen wurden, sondern trat immer dann ins Bewusstsein, wenn kaum jemand damit rechnete.

Ihre Vorschläge erwiesen sich im Endeffekt stets als richtig, ganz gleich ob diese in die Tat umgesetzt wurden oder nicht.

Nach anfänglichem Zweifel hatte Elena damit begonnen ihr zu vertrauen.

Ferner begann sie sich intensiver mit diesem merkwürdigen Phänomen zu beschäftigen. Und sie erinnerte sich dass Kovacs ebenfalls von ihr gesprochen hatte, wenn auch meist in verschlüsselter Form, in seinen Erzählungen und Geschichten so rätselhaft, dass damals kaum einer etwas damit anzufangen wusste.

Sie hielten den liebenswerten Dichter für einen hoffnungslosen Träumer und Romantiker, damals als sie in der alten Laube am See seinen Geschichten lauschten. Sie liebten ihn, sie verehrten und achteten ihn. Verstanden taten sie ihn nicht, in jenen Zeiten in der Vergangenheit. Heute nach all den Geschehnissen, nach all dem Leid aber auch den freudigen Augenblicken die sich aneinanderreihten, begann sich der Schleier zu lüften und es fiel Elena wie Schuppen von den Augen. Wie ein Puzzlespiel, das sich ganz langsam und mühevoll zusammensetzen lässt und erst ganz am Ende sein Geheimnis offenbart, so breitete sich die Lösung vor ihr aus. Sie hatte, wenn man einmal bei dem Beispiel verblieb etwa die Hälfte des Bildes zusammengefügt. In Colette fand sie eine Gleichgesinnte die mit dem gleichen Enthusiasmus an die Sache ging. Gemeinsam kamen sie bedeutend schneller voran. Vier Augen sehen bekanntlich mehr als zwei. Sie waren so von ihrem Forscherdrang ergriffen dass man sie oft tagelang nicht zu Gesicht bekam.

Elena stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sich bei Colette ähnliche Symptome zeigten, auch sie neigte zu Trancezuständen in denen sie sich gleichsam mühelos durch Raum und Zeit bewegen konnte. Es kam vor dass ihnen, wenn sie über den alten Büchern und Manuskripten saßen, gemeinsam eine Art Vision zuteil wurde. Dann kam es über sie und ihre Seelen begannen gemeinsam in das Reich der Mysterien abzutauchen. Sie bewegten sich in der Geschichte und hatten das Gefühl das gerade gelesene und erforschte tatsächlich selbst durchlebt zu haben.  

Sie waren wahre Schwestern und hatten das Gefühl sich schon Tausende von Jahren zu kennen.(Keine von beiden ahnte jedoch schon zu diesem Zeitpunkt wie richtig sie mit dieser Vermutung lagen)

Irgendwo da draußen in der Entfernung von tausenden von Jahren schien es etwas zu geben das beide magisch in den Bann zog.

Bei Aufräumungsarbeiten war Elena vor kurzem ein bemerkenswertes Relikt in die Hände gefallen. Eine Bronzestatue der Venus von Willendorf. Ihr Ex Frederic hatte ihr dieses merkwürdige Geschenk vor Zeiten gemacht. Die Kopie einer etwa 25000 Jahre alten Steinskulptur. Die vermutlich älteste Darstellung der alten Muttergottheit überhaupt, etwa aus der Zeit des Jungpaläolithikums.

Schon in grauer Vorzeit also verehrten die Menschen die Urgöttin. In jener Zeit wusste man von männlich-patriarchalen Gottheiten noch rein gar nichts. Volle Brüste und ausladende Hüften zollten der Fruchtbarkeit ihren Respekt.

Komisch, warum hatte ausgerechnet Frederic ihr dieses sonderbare Geschenk gemacht? Ahnte er etwas von ihrer Neigung ins mystische?

Nicht weiter von Belang. Elena setzte von nun dieses Symbol des Uralten Menschheitstraumes von Freiheit und Gemeinschaftsbewusstsein auf den Tisch, wenn sie  gemeinsam mit Colette forschte.

Diesen längst verschütteten Geist wollten sie reaktivieren. Die Schutthalden, angehäuft durch Jahrtausende währendes Patriarchat, beiseite räumen, in dessen Schlepptau sich Willkür, Tyrannei, Kriege, Ungleichheit, Unterdrückung und Ausbeutung wie eine immer währende Heimsuchung auf die Menschheit senkte.

Da gab es in der Prähistorischen Periode eine für die damalige Zeit erstaunlich hoch entwickelte Zivilisation. Eine Gesellschaft die nach allen bisher vorliegenden Erkenntnissen vollständig ohne Hierarchien auskam, der Solidarität und gegenseitigen Hilfe verpflichtet und die Freiheitsrechte aller achtete. Keine Stammesfürsten, keine Priesterschaft, die aus ihrer Stellung Privilegien ableiteten. Männer und Frauen gleichberechtigt, wobei den Frauen aufgrund des Umstandes ihrer Gebährfähigkeit eine besonderer Achtung gezollt wurden. Eine Gesellschaft die im völligen Einklang mit der Natur lebte, die sie umschloss.

Es wurde nicht zwischen sakralem und profanen getrennt. Alle Materie war beseelt, ob Mensch, Tier, Pflanze, Mineralen, Gestein, alles bette sich in ein breites Netzwerk im Schoße der  matriarchalen und akratischen Urgöttin.

Dieses Denken und Fühlen wollten sie wieder zum Leben erwecken.

Die Klassiker des Anarchismus im 19. und 20.Jh. waren auf dem rechten Weg und hatten die Botschaft erkannt, wenn sie sich auf diesen Urzustand beriefen. Doch ihnen mangelte es an spirituellem Bewusstsein. Sie missdeuteten den Umstand dass es in jener Zeitepoche keine Tempelanlagen gab, keine Priesterschaft und keine religiösen Dogmen, dass die Menschen von ihrem Ursprung her areligiös ausgerichtet waren.

Dem war mitnichten so, wie sich immer mehr herausstellte.

Wenn alle Materie beseelt und spirituell durchflutet ist bedarf es keiner gesonderter Plätze, Personen oder auch Zeiten um das spirituelle gesondert zu betonen, dass war der Schlüssel zum großen Mysterium.

Es bestand kein Anlass die Fehler des 19 Jh. im nun bald beginnenden 21. zu wiederholen.

Die Urspiritualität war das Fundament, daran konnte jede weitere Philosophie andocken.

Zu allen Zeiten, überall auf der Welt gab es Mystiker oder besonders hochsensible Menschen die diesen Erkenntnisschatz hüteten und von Generation zu Generation weiterreichten.

Das alte Wissen ging auf diese Weise nie wirklich verloren.

Doch diese Menschen lebten ausgesprochen gefährlich, denn deren Umwelt konnte ihre Botschaft nicht verstehen und begann sie zu fürchten. Ausgrenzung, Abschottung, schließlich Verfolgung und nicht selten die völlige Vernichtung waren die Folgen.

Menschen die ihrer Zeitepoche um Jahrzehnte,  womöglich Jahrhunderte voraus sind, haben es immer schwer. Sie können sich ihrer Umwelt, ihren Mitmenschen kaum in rechter Weise mitteilen, wenn diese noch in alten Denkschablonen gefangen sind. In solchen Fällen half meist nur der Rückzug, die innere Emigration.

Hier in Anarchonopolis, auf dem Gelände der Alten Abtei sollte Platz geschaffen werden um diesen Traditionen

neues Leben einzuhauchen. Ein Labor um all jene vergessenen Theorien eine erneute

Erprobung in der Praxis zu ermöglichen.

Und alle waren eingeladen an deren Verwirklichung mitzutun.

In der Tat gab es  schon eine ganze Reihe von aufgeklärten Geistern, die auf ihre Erfahrungen verweisen konnten und somit einen Beitrag zur Ganzheit einbrachten.

Pater Liborius etwa, der hier sich schon lange zu einem festen Glied der Gemeinschaft entwickelt hatte, stand für ein Christentum von ganz anderer, alternativer Art.

Ein Christentum das nicht von Machthabern für ihre egoistischen Interessen herhalten musste.

Ein Christentum in denen nicht Päpste oder sonstige Lehrautoritäten bestimmten was die Masse zu glauben hatte und die vorgaben dazu berechtigt zu sein bis in die intimsten Bereiche menschlichen Lebens hinein regieren zu müssen.

Ein Christentum das nicht ständig damit beschäftigt war das Fähnchen in den Wind zu halten aus dem der geringste Widerstand zu erwarten war.

Nein, der alte Pater zählte sich zu den Querdenkern, aus diesem Grund musste er sich in seinen  jungen Jahren des Öfteren mit den Autoritäten herumschlagen, die seinen Überzeugungen ablehnend bis feindselig gegenüberstanden.

Schon seit Beginn gab es jene, die verächtlich als Ketzer oder Häretiker diffamiert wurden.

Sie waren das Salz in einer ansonsten ausgesprochen fade schmeckenden Einheitsbrühe, die alle zu schlürfen hatten, ganz gleich ob sie sich daran den Mager verdarben.

Von der Frühzeit bis in die Gegenwart reichte deren Linie, bis hin zu Menschen wie Martin Luther King, Oscar Romero, Dietrich Bonhoeffer, um nur einige zu nennen.

Sie lebten, handelten und starben für ihre Überzeugungen und die schöpften sie aus ihrem Glauben. Wer wollte diese Grundfeste als infantilen Aberglauben abtun? Oder kann bloßes Wunschdenken solche Kräfte verleihen die einem Menschen die Kraft zum Martyrium schenken?

Nein, niemanden stand es zu darüber zu urteilen.

Colette wiederum war auf ihren Wanderschaften einem Sufimeister begegnet, der in ähnlicher Weise inspiriert war.  Er stand für einen friedfertigen, toleranten, liberalen und mystischen Islam, jederzeit bereit allen anderen Überzeugungen mit Respekt und Achtung zu begegnen.

Elena hatte diesen Meister nach Anarchonopolis eingeladen und erwartet ihn und seinen Anhang in froher Erwartung.

Ebenso gab es Anhänger buddhistischer Lehren. Colette korrespondierte ja schon seit geraumer Zeit mit dem Dalai Lama in Tibet, sowie anderen Gelehrten dieser Glaubensrichtung.

Das alles und noch vielmehr konnte hier auf dem Gelände der Abtei zusammen finden, mit einander kommunizieren um schließlich in der großen Ganzheit aufzugehen.

Eine Ganzheit die auf einer gemeinsamen Wurzel fußte. Alles hatte seinen Ursprung in der Urreligion, der Urmutter und dem damit verbundenen Urkommunismus.

„Wir alle kommen aus der Großen Mutter und zu ihr kehren wir zurück, wie Tropfen fließen wir zum Ozean!“ So lautet ein altes Mantra. Hier in Anarchonopolis gedachte man nach diesem Prinzip leben.

Es galt dabei zu verdeutlichen das ein großen Unterschied zwischen glauben und für-war-halten bestand. Es gibt keine allmächtige Lehre, von der eine Berechtigung ausgeht alles andere in das Reich der Illusionen zu verbannen.

Dogmatismus, Fanatismus, Fundamentalismus waren einer ganzheitlichen Spiritualität diametral entgegengesetzt.

Deren Entstehen musste man von Anfang an entgegen wirken. Und dies war nur möglich auf der Basis der allumfassenden Ganzheit die niemanden ausschließt oder ausgrenzt.

Ein weiterer großer Sprung der sich deutlich von den Fehlern der Vergangenheit absetzte war die Rolle welche den Frauen zukam. Zweifelsohne waren die Frauen hier federführend. Der neue antipatriarchale Männerbund bestand zwar inzwischen, doch steckte dieser noch in den Kinderschuhen und es bedurfte ausreichend Zeit der Entwicklung.

Der alte Anarchismus war wie viele andere philosophische Richtungen von einem androzentristischen Weltbild geprägt. Alles wurde mit den Augen der Männer betrachtet, Frauen zu bloßen Statistinnen degradiert. Die schöne neue Welt der grenzenlosen Freiheit sollte ausschließlich den Männern vorbehalten sein. Der französische Philosoph Pierre-Joseph Proudon, einer der Pioniere des politischen Anarchismus in 19 Jh  gestand ganz unumwunden das seiner Ansicht nach kein Bedarf bestand für eine Emanzipation der Frauen, diese auch weiterhin der Sklaverei und Tyrannei der Männer unterworfen bleiben sollten.

Ein wesentlicher Grund für das spätere Scheitern anarchistischer Experimente nahm hier seinen Ausgang. Emanzipation für alle oder für keinen, nur auf diese Weise konnte ein Erfolg sichergestellt werden.

Die Geschichte der libertären Bewegungen war in ihren Anfängen stark von internen Geschlechterauseinandersetzungen geprägt. Immer wieder mussten auch hier Frauen um ihre elementaren Rechte kämpfen. Von queeren Personen ganz zu schweigen. Der klassische Anarchismus war in seiner Frühzeit von teilweise extremen homophoben und transphoben Ressentiments bestimmt.

Auf dem Gelände der Alten Abtei lief dies von Anfang an in eine völlig neue Bahn.

Es hatte sich am Anfang von selbst ergeben, dass die Frauen eine herausragende Rolle einnahmen. Männer waren nie ausgegrenzt, sie nahmen sich einfach von selbst zurück.

4000 Jahre patriarchaler Entwicklungen schien einfach mehr als genug. Irgendwann ist das Maß voll. Männer tretet einfach mal ne Weile kürzer, es wird euch keinesfalls zum Schaden gereichen, ganz im Gegenteil, so oder ähnlich lautete die Botschaft. Macht mal ne längere Pause, was das regieren betrifft, ruht aus, geht in euch, sammelt eure Kräfte , forscht nach und definiert eure Rolle neu ,die ihr in der angestrebten antipatriarchalen Gesellschaft einzunehmen gedenkt. Wenn ihr soweit seit, meldet euch, denn können wir gemeinsam die Gestaltung der neuen Welt in Angriff nehmen.

Doch bis es soweit ist, laßt uns Frauen mal den Vortritt. Keine Angst wir werden das Kind schon schaukeln. Wir und soweit vorhanden, die Kundras.

Obwohl sich bald abzeichnete das lesbische Beziehungen dominierte, waren doch alle weiteren Beziehungsformen vertreten und voll anerkannt. Der Regenboden konnte seine Leuchtkraft voll entfalten.

Die Bildung der Schwesternschaft, deren Entwicklung und stetes Wachstum sorgte für die Umsetzung der Theorien in die Praxis.

Bisher waren sämtliche Revolutionen und sozialen Umwälzungen zu 95 % das Werk von Männern. Männern, die kaum Interesse an der Geschlechtergerechtigkeit hatten. Hier sollte es anders werden. Freie, selbstbewusste, unabhängige Frauen bildeten das Rückgrad der Gemeinschaft und sie gedachten ihre Stellung zu wahren.

 

Die Richtung war vorgegeben, es ging nach vorn, in die Zukunft, in das unentdeckte Land der Freiheit und Gleichheit, der Geschwisterlichkeit und Solidarität.

Wer sein Heil in der Vergangenheit sucht, hat die Zukunft schon verspielt, so hatte ihnen Kovacs einst ins Gewissen geschrieben und sie gedachten danach zu handeln, wenn, ja wenn die Mehrheit der Bewohner dabei mitwirkten. Das dem nicht so sein könnte, war das Damoklesschwert, das bedrohlich über ihnen schaukelte. Alles hing von diesem Sachverhalt ab.

Sollte es gelingen, konnten Elena und die ihren mit Fug und recht behaupten Geschichte zu schreiben.

Während Neidhardt keine Gelegenheit ausließ um im ganzen Land die Ereignisse in Anarchonopolis herunter zu spielen, verfolgte man im Ausland die Entstehung dieser neuartigen Mischung aus Spiritualität, Philosophie, aus Politik, Lebenslust und neuer Ökonomie mit großem Interesse.

Schnell war einen Bezeichnung gefunden.

Elenaismus nannte man das sehr vereinfachend, eine Betitelung über die Elena alles andere als glücklich war, sie betrachtete sich nicht als Schöpferin dieser Lehre, wenn es einen Urheber gab, war das zweifellos Kovacs.

Aber immerhin die Tatsache dass sich überall auf der Welt die ersten kleinen Zirkel bildeten um dem Beispiel  nachzueifern, erfüllte die Töchter der Freiheit mit großer Freude.

Aufgrund der großen Nachfrage und da er sich nichts nachsagen lassen wollte, lockerte Neidhardt bald die Einreisevorschriften um somit immer mehr interessierten Menschen den Besuch der Kommunen zu ermöglichen.

Der Siegeszug des „Elenaismus“ nahm hier seinen Ausgang und sollte sich mittelfristig über die ganze Welt verbreiten.

Ausländische Bewerber die sich ganz auf dem Gelände der Abtei oder den angegliederten Gebieten niederlassen wollten mussten einen sehr langen Atem haben, denn es versteht sich von selbst, dass die Kapazität bald ausgeschöpft war. Lange Wartezeiten und ein strenges Auswahlverfahren waren unumgänglich. Elena und Colette tat es zwar unendlich leid dass sie viele Interessenten ablehnen mussten, aber es lies sich einfach nicht anders handhaben, sollte die Abtei auch weiter ein beschaulicher Rückzugsort bleiben. Ganze 9 Zuzüge pro Jahr wurden aus dem Ausland für die Abtei gebilligt um so das Gleichgewicht zu wahren. Für alle weiteren Gebiete ließ man 50 ausländische Neumitglieder zu.

Zum Glück stand noch genügend Bauland zur Verfügung, so dass schon bald mehrere nagelneue Gästehäuser auf dem Abteigelände errichtet werden konnten.

An den schon vorhandenen historischen Gebäuden wollte Elena so wenig wie möglich verändern lassen, fügte sich diese Ensemble doch so einzigartig in die rustikale Landschaft.

Allen die nicht aufgenommen werden konnten blieb nur die Empfehlung in ihrem jeweiligen Heimatland für die gleichen Veränderungen zu sorgen, um so dem „Elenaismus“ auch hier zum Durchbruch zu verhelfen.

Auch Reisen der Abteibewohner in das Ausland mussten nach und nach von der Neidhardt-Administration  erleichtert werden, solange bis man kaum noch von Einschränkungen sprechen konnte. Der Anfang vom Ende der Grenze war damit eröffnet und es blieb nur noch eine Frage der Zeit bis diese ihren Sinn vollständig einbüßen würde.

Die äußeren Bedingungen waren nach langer Stagnation und Resignation gar nicht so schlecht. Man konnte die Entwicklung getrost ihren Lauf nehmen lassen.

Zeit genug  um sich noch gründlicher der Theoriebildung zu widmen. Elena und Colette riefen bald den Zirkel „Neue Weisheit“ ins Leben, dem sich jeder und jede anschließen konnte, der oder die tiefer in die Materie eindringen wollte. Schwierige Kost für nicht wenige, denn nicht alle verfügten über so einen ausgefeilten Intellekt wie Elena oder Colette. Doch nach anfänglichem Zögern schafften sie den Durchbruch  und es kamen immer mehr.

Trotzdem arbeiteten Elena und Colette auch weiterhin abgeschieden, vor allem um ihre mentalen Fähigkeiten zu schulen und weiter zu entwickeln.

 

„Wie siehst du denn aus?“ Begrüßte Madleen Elena als diese nach einem langen Tag des akribischen Studiums in der Wohnung im Konventsgebäude erschien.

„Warum bist du denn so staubig? Hast du dich in einer Kohlenkiste gesuhlt?“

„Oh, hab ich gar nicht mitbekommen.“ Erwiderte Elena während sie an sich hinunterblickte.

„Hab mit Colette die alte Aufzeichnungen studiert, die Kovacs noch kurz vor seinem Tod anfertigte und stell dir vor wir haben sie auf dem Dachboden gefunden. Die wären doch beinahe in Vergessenheit geraten. Der ganze Trubel damals in der Revolutionszeit, meine geistige Abwesenheit. Keiner glaubte mehr an deren Existenz. Die müssen wir jetzt noch genauer durchgehen.“

Elena begann sich die Kleidung abzuklopfen.

„Neiiin! Ach Elena weißt du! Ich hab gerade den Boden gewischt. Du machst alles wieder schmutzig!“ Schimpfte Madleen.

„Entschuldige!“

„Jaja, schon gut! Los, Schuhe aus, dann kannst du reinkommen. Übrigens, das du heute mit kochen dran bist hast du wohl auch vergessen?“

„Au backe! Das habe ich in der Tat! Was machen wir denn jetzt?“ Schämte sich Elena:

„Sei ohne Sorge, ich hab vorsorglich was gemacht!“ Madleens Worte klangen wie eine Erlösung.

„Ach du bist ein Schatz! Auf die gute alte Madleen ist immer wieder Verlass!“ Frohlockte Elena und fiel ihrer Liebsten um den Hals.

„Äh, jetzt hast du`s erreicht und hast du mich auch noch eingesaut. Du sagst Colette war mit dir auf dem Dachboden? Hm, dass bedeutet wenn die jetzt gleich auftaucht ist sie ebenfalls mit reichlich Dreck angereichert. Also das Schrubben hätte ich mir sparen können.“

„Wir waren einfach so vertieft in unsere Arbeit dass wir gar nicht bemerkten wie die Zeit verging. Es ist einfach so ergreifend in Kovacs Manuskripten zu blättern, da kommen immer wieder Erinnerungen hoch.“  Unternahm Elena den Versuch einer Erklärung.

„Sagst du nicht immer wir sollen den Blick in die Zukunft richten und nicht in die Vergangenheit?“ Erinnerte Madleen an eines ihrer wichtigsten Prinzipien.

„Ja natürlich! Aber wir können aus der Vergangenheit lernen. Und die Erinnerungen verbinden uns auf ewig mit all jenen die uns vorausgegangen sind.

Du kannst es schlecht nachvollziehen. Du warst damals nicht dabei. Hast die einmalige Atmosphäre der Stunde null nicht persönlich erleben können!“ Gab Elena zu verstehen.

„Mein großes Manko. Madleen die spät Berufene. Meinst du nicht auch ich wäre lieber von Anfang an bei euch gewesen.“ Klagte Madleen. An diese Tatsache erinnerte sie sich nur all zu ungern.

„Aber Liebste, so war das doch nicht gemeint. Du bist doch genauso wertvoll wie all jene die schon von Anfang an dabei sind, was sollte ich denn ohne dich machen. Du hättest den Dichter auch gemocht, davon bin ich fest überzeugt.“ Erneut drückte Elena ihre geliebte an sich.

„So jetzt bin ich voll mit Staub. Los komm rein. Aber bevor wir uns zu Tische setzten gehst du unter die Dusche. Ach nein, ich las dir Wasser in die Wanne. Der Dachboden ist doch auch in dieser Jahreszeit recht kühl, da kannst du dich auch aufwärmen.“ Schlug Madleen vor und betätigte sich schon in dieser Richtung.

„Schade nur dass die Wanne nicht größer ist, dann könnte ich Colette zu dir stecken, wenn sie auftaucht. Wo bleibt die überhaupt?“

„Ich glaube nicht dass sie so schnell herunterkommt. Die war noch bedeutend besessener von ihrem Forscherdrang als ich. Wenn die einmal was angefangen hat lässt sie sich nur schwerlich überreden aufzuhören, du kennst sie doch.“ Antwortete Elena während sie sich auskleidete.

„Eine gute Idee von dir. Da fühle ich mich doch gleich wie neu geboren.“ Bekannte Elena nachdem sich in der Wanne ausgestreckt hatte und das warme Wasser über ihre Haut perlen lies.

Madleen kniete neben ihr und fuhr ihr durchs Haar.

„Deine Lockenmähne hat auch mächtig was abbekommen, soll ich sie dir waschen?“

„Wenn schon denn schon! Ein guter Tag heute, Ich hatte einen tiefen Einblick und Colette auch. Weis du, manchmal bedarf es einer unendlich tiefen Einsicht um dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Ich habe das Gefühl Colette ist meine Schwester.“

„Selbstverständlich ist sie das, ebenso wie die meine. Wir alle sind Schwestern. Was ist denn an dieser Erkenntnis so neu und revolutionär.“ Erkundigte sich Madleen erstaunt.

„Das sind wir in der Tat! Aber das meine ich nicht. Ich habe so ein Gefühl, als kenne ich sie schon ewig, als seien wir uns schon mal begegnet, in grauer Vorzeit, vor hunderten, ja was rede ich tausenden von Jahren.“

„Tausend Jahre? Na dich hat`s ja ganz schön erwischt“

„Ja das hat es ,ich meine….brrrrr“

Madleen beendete den Redefluss indem sie Elena an den Füßen zog so dass diese mit dem Kopf unter Wasser tauchte.

„Hey!“

„Ihr solltet euch nicht ständig mit diesen alten Geschichten beschäftigen, kein Wunder, dass ihr noch ganz wirr im Kopf werdet.“ Hielt ihr Madleen entgegen nachdem Elena wieder aufgetaucht war, danach begann sie deren Lockenmähne mit Shampoo einzuseifen.

„Wir müssen es tun, um unserer Aufgabe für die Welt gerecht zu werden.“

„Ach und die wäre? „ Wollte Madleen wissen während sie Elenas Kopf massierte.

„Unsere Lehren werden einmal die ganze Welt befreien. Verstehst du, es geht hier nicht nur um Anarchonopolis, oder Melancholanien. Wir müssen den Blick über den Tellerrand richten.

Was hier ausprobiert wird, könnte sich nutzbringend für die ganze Menschheit erweisen.“

Fuhr Elena voller Begeisterung fort.

„Für die ganze Welt? Glaubst du nicht, das ihr euch da ein wenig zu viel vorgenommen habt?“ bekundete Madleen ihre Zweifel.

„Keineswegs! Nur wenn sich unsere Ideen über die ganze Welt verbreiten sind sie wirklich sinnvoll. Wir können unser Inseldasein sicher noch eine Weile fortsetzen, aber auf Dauer müssen wir Grenzen überschreiten. Unsere direkten Nachbarländer Technokratien oder Monetanien strotzen doch ebenso vor Ungerechtigkeiten, jedes auf seine spezielle Weise und in den Ländern drum herum sieht es nicht viel besser aus, Denk doch nur an das frühere Jugoslawien, die gesamte Balkanregion und von Russland wollen wir gar nicht sprechen. Der Orient, Afrika. Warum soll das was bei uns funktioniert nicht auch anderweitig klappen?“

„Da magst du Recht haben! Aber vorerst befinden wir uns hinter einer Grenze, wie sollen da Ideen und Vorstellungen nach außen dringen?“

„Sie tun es doch schon Liebste. Neidhardts Grenze ist schon jetzt reine Makulatur. Eine Idee kann man nicht einsperren, sie findet immer ihren Weg in die Welt.“

Madleen dachte über alles nach, während sie Elenas Haar ausspülte.

„Schon richtig was du sagst! Aber wenn ihr das nächste Mal forscht, nicht wieder so tief im Dreck buddeln! Versprochen?“

„Versprochen!“

„Huuuuuch!

Mit einem Satz zog Elena ihre Geliebte in die Wanne mit dem noch immer wohlig warmen und duftenden Badewasser.

„Du hättest wenigstens warten können bis ich mich ausgezogen habe. Jetzt bin ich pitschnass, sieh mal!“

„Genau das war meine Absicht! Ich habe die Feststellung gemacht, dass wir uns noch nie in der Badewanne geliebt haben. Das möchte ich unbedingt nachholen.“ Begründete Elena ihr tun, danach gaben sich beide ausgiebig dem Liebesspiel an diesem ungewöhnlichen Ort hin.