Alter schützt vor Liebe nicht

Der Frühling kam schnell in diesem Jahr in Köln, viel früher als in Akratasien. Schon Ende Februar verwöhnte die Sonne mit ihrer Kraft und Wärme. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzte, versprach der Sommer in diesem Jahr alle bisherigen Rekorde zu brechen.

Der März bestätigte diese Prognose und lud allseits nach draußen ein.

Für Pater Liborius ein wahrer Segen. Seit sich das Wetter in diese Richtung entwickelt hatte, verließ er fast täglich in aller Frühe die Räumlichkeiten der Akademie und machte sich per Straßenbahn auf den Weg nach Köln. Er hatte viel, viel Zeit, die es zu füllen galt, denn eine wirkliche Aufgabe gab es für ihn schon lange nicht mehr.
Die große Stadt hatte wahrlich viel zu bieten, vor allem natürlich die berühmten Kirchen. Der alte Pater besuchte sie alle und hielt sich oft lange Zeit in deren Hallen auf.
Doch das gute Wetter lockte ihn mehr und mehr ins Freie. Frische Luft tanken und vor allem Sonne, um den Körper wieder mit Vitamin D anzureichern, nach den Entbehrungen der langen Winternacht.
Es ging durch die Straßen und Parks, zwischendurch immer wieder eine Rast einlegend. Er war nicht mehr so gut auf den Beinen. Immerhin hatte er die 70 schon lange überschritten.
Stets kam er sich dann wie auf der Flucht vor, auf der Flucht vor sich selbst und der neuen Realität, mit der er nicht zurechtkam.
Heute hatte er sich den Stadtpark Mülheim ausgesucht. Er schritt über den gepflegten Rasen und ließ sich schließlich auf einer Bank an dem kleinen Teich nieder. Dort plätscherten seit einigen Tagen wieder die Enten auf dem Wasser.

Es war noch recht früh und entsprechend kalt. Er holte eine Decke aus seinem Rucksack und schlang sie sich um die Beine.
Im Anschluss griff er nach den alten Brötchen, die er mitgenommen hatte, brach sie in ganz kleine Stücke und begann sie in Richtung Teich zu werfen.
„Quäk, Quäk, Quäk, Quäk!“ Die Enten stürzten sich gierig auf die Brocken, wässerten sie kurz und verschlangen sie einem nach dem anderen.
Für einen kurzen Moment riss ihn das aus der Melancholie, die ihn seit Wochen wie in einem Würgegriff hielt.
Seit ihrem Auszug aus der Abtei waren nun schon vier Monate ins Land gegangen und je mehr Zeit verging desto mehr verschlimmerte sich sein Zustand.
Er war ein erschreckendes Beispiel für die Weisheit, dass man einen alten Baum nicht mehr verpflanzen sollte.
Alle vertriebenen Akratasier litten unter dem Exil, doch die jungen kamen nach anfänglichen Startschwierigkeiten gut mit der neuen Situation zurecht und es gelang ihnen sich entsprechend einzuleben.
Für ihn jedoch, der fast sein ganzes Leben in der Abtei am Fuße der hohen Berge verbracht hatte, schien das Leben zu Ende.
„Ich habe keine Zukunft! Für mich gibt es kein Morgen!“ So oder ähnlich drang eine quälende

Stimme Tag für Tag in sein Bewusstsein und führte ihn die Hoffnungslosigkeit seiner Existenz in aller Deutlichkeit vor Augen.
Trotz des schönen Wetters sah es auch heute trübe wie ein Novembertag in seiner Seele aus.
Ganz egal mit welchen Dingen er sich auch abzulenken gedachte, er wusste das er in diesem Leben nie mehr ankommen würde.
Ein ganzes Leben hatte er in einem gleichförmigen Tagesrhythmus gelebt, der ihm Halt und Sicherheit bot.

Sicher, nach der Auflösung der Klostergemeinschaft musste er schon einmal gravierende Veränderungen in seiner nächsten Umgebung ausgleichen. Es galt sich in eine völlig neue Gemeinschaft, mit bisher unbekannten Lebensentwürfen einleben. Doch die freundlichen Menschen um Elena machten es ihm damals sehr leicht und er war vor Ort geblieben. In der Abtei, da war er jemand. Da hörte man auf seinen Rat und achtete seinen Status. Er besaß ein Refugium, in dem er sich frei bewegen konnte, dazu Stille, Einkehr und Abgeschiedenheit. Dort kannte er jede Stelle und war mit der Gegend verwurzelt.
Hier war er zur leblosen Materie mutiert. Alt, verbraucht und nutzlos.
Wenn ein Mensch lange Zeit lebt, sagt die Welt, ist es Zeit, dass er geht. So ein geläufiges Sprichwort.
Wann genau gedachte er zu gehen?

Er besaß in der neuen Umgebung keine wirkliche Aufgabe mehr, auch wenn ihn Colette ständig drängte, seine Rolle als Seelsorger, die er wie aus dem FF beherrschte, wieder aufzunehmen.
Die ungewohnte Umgebung machte ihn einfach krank.
Bitter schmeckte zudem der Kelch der Erkenntnis, dass er anfing Chantal tatsächlich zu lieben. Lange hatte er vergeblich gegen diesen Drang zu kämpfen versucht und sah die kurze Liaison als Ausrutscher ohne weitere Bedeutung, auch wenn die kleine Tochter, die daraus hervor ging, ihn stets daran erinnerte.
Er fürchtete sich davor, dass die ganze Angelegenheit einen Narren aus ihm machte. Er wurde von Zweifeln gequält, die doch eigentlich gar nicht seine eigenen waren.
Chantal war fest mit ihrer Gefährtin Eve verbandelt. Die beiden waren trotz ihrer Verschiedenheit wie füreinander geschaffen. Zudem, und das war das entscheidende, waren sie so herrlich jung, so ungezwungen, so voller Lebenskraft. Auf sie wartete das Leben, auf ihn nur noch der Tod.
Die beiden hatten Wort gehalten und sich stets um ihn gekümmert. In der Abtei funktionierte das problemlos. Vor allem Eve war stets zur Stelle, sie säuberte seine Eremitage, wusch seine Wäsche, stopfte die Strümpfe und half bei der Gartenarbeit. Sein Verhältnis zu ihr war von Anfang an geklärt. Er war für sie ihr Opapa, wie sie ihn liebevoll zu nennen pflegte. Eine Beziehung die von Herzen kam, ohne Hintergedanken.
Für Eve, die nie einen Großvater kennen lernten durfte und die ihren Vater nur als gewalttätigen Trinker in Erinnerung hatte, stellte der Pater die erste männliche Bezugsperson dar zu der sie wirkliches Vertrauen fand und tiefe Zuneigung spürte.

Bei Chantal war das bedeutend schwieriger. Er hatte mit ihr geschlafen, hatte den süßen Nektar der Liebe gekostet, durfte ihren Venuskörper für eine kurze Zeitspanne berühren und in Tiefen der Liebe versinken. Das blieb nicht ohne Folgen. Er wünschte sich insgeheim eine Fortsetzung, obgleich ihm stets vor Augen stand, dass es die nie geben konnte.
Chantal besuchte ihn in seine Eremitage regelmäßig und brachte Lissy, die gemeinsame Tochter mit. Sie sprachen miteinander, philosophierten, während Eve den Rasen mähte. Doch die Nähe, die er sich so sehnlichst wünschte, blieb aus.

Dabei war er für sein Alter gar nicht einmal unattraktiv. Nachdem er sich den Bart abrasiert hatte konnte man eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Filmschauspieler James Stewart in dessen älteren Jahren entdecken.
Doch Chantal war für ihn wie ein Vogel der sich nicht einfangen lies. Sie war Anfang 30, der Altersunterschied geradezu gigantisch.
Seit sie hier lebten sah er sie nur noch selten. Sie war ständig unterwegs oder hatte im Haus ihre Aufgaben. Auch hier in der neuen Wirklichkeit fungierte sie als eine Art Pressesprecherin der Gemeinschaft und war für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, die es schrittweise aufzubauen galt.
In den hiesigen Medien war sie stets präsent und erlangte bald einen hohen Bekanntheitsgrad. Schließlich bot ihr der WDR sogar eine Stelle als Moderatorin an
Eve war viel in der Stadt unterwegs, die ihre alte Heimat war, besuchte ihre alte Clique und hing dort ab. Oft nahm sie Chantal mit, um mit der schönen Frau an ihrer Seite anzugeben.
Der alte Pater gönnte es ihnen von Herzen, doch er vereinsamte jeden Tag ein stückweit mehr.
Er schloss die Augen und döste vor sich hin, während die Enten weiter auf dem Teich schatterten.
Plötzlich ließ ihn der Piepton aus seiner Manteltasche aufschrecken.
Er griff nach dem Handy und auf dem Display konnte er Eves Nummer erkennen. Ach ja, sie rief stets zu dieser Zeit an, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen.
Er zögerte zunächst, drückte dann aber doch die grüne Taste.
„Hallo Opapa, wollte nur in Erfahrung bringen, wie es dir geht. Wo steckst du denn im Moment.“
Vernahm er die vertraute Stimme am anderen Ende.
„Es geht! Könnte besser sein, aber ich halte mich tapfer! Ich bin in Köln unterwegs. Schönes Wetter, sollte man ausnutzen.“
Eve spürte die Traurigkeit, die in jedem Worte steckte, das er über die Lippen brachte.
„Hört sich nicht gut an! Gar nicht gut! Muss ich mir Sorgen machen?“
„Ach wo! Kein Grund zur Sorge! Ist alles wie immer. Bin halt nur müde, unendlich müde. Zeit schlafen zu gehen!“
In seinen Worten lag so viel Niedergeschlagenheit, dass Eve mit einem Schlag das kalte Entsetzen packte.
„Wo genau bist du? Warte dort auf mich, ich bin so schnell ich kann bei dir. Ich bin auch in der Stadt. Chantal ebenso, ich warte auf gerade auf sie. Wenn sie eingetroffen ist, kommen wir gemeinsam. Ist das ok für dich?“
„Jaja, ist in Ordnung! Bin in Mülheim, Stadtpark, am kleinen Teich, bei den Enten.“
„Alles klar, nicht weit entfernt. Dürfte nicht lange dauern. Ich warte noch auf Chantal. Wo bleibt die denn? Müsste eigentlich schon hier sein. Ich rufe sie lieber noch mal an. Also dann bis gleich.“
Er betrachtete das Handy noch eine Zeit lang, bevor er es wieder in die Manteltasche schob und sich seinen Gedanken widmete.
Dann schloss er erneut die Augen und begann zu warten. Es dauerte noch eine Weile, bis er die vertrauten Stimmen in der Ferne erkannte. Erst leise, dann immer deutlicher vernehmbar.
Chantal und Eve hasteten auf ihn zu. Chantal schob den Sportwagen mit der kleinen Lissy vor sich her und fiel dadurch etwas zurück. Eve war schneller und als erste am Ziel.
„Hey Opapa, wir sind schon zur Stelle. Was ist denn mit dir? Du klangst so traurig, dass ich mir echt Sorgen gemacht habe.“
Während sie das sagte fiel sie ihm um den Hals.

Kurz darauf traf auch Chantal ein. Außer Puste, lies sie sich neben ihn auf die Bank fallen.

Der Seufzer, der sich ihrer Brust entrang, klang wie ein Schmerzensschrei.
„Was machst du denn für Sachen? Wir hatten Angst um dich. Ich hätte mir fast in die Hosen gemacht.“ Chantal griff nach seiner rechten Hand und drückte sie ganz fest. Zur gleichen Zeit platzierte sich Eve zu seiner Linken.
„Schön, dass ihr gekommen seid. Ich hoffe ich habe euch nicht aus einer wichtigen Angelegenheit geholt. Das wäre mir schon peinlich.“
„Ach was! Wir sollen füreinander da sein. Wenn es einen oder einer schlecht geht hat alles hinten anzustehen.“ Erwiderte Chantal, danach blickte sie ihn an und sah, dass Traurigkeit wie ein Nebelschwaden über seinen Augen hing.
 „Möchtest du überhaupt darüber reden was dich bedrückt?“ Wollte Eve wissen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
„Ihr wisst, dass mir das immer schwergefallen ist. Ein Leben lang lebte ich nach der Devise mich nicht so wichtig zu nehmen. Ich glaubte mein falsches Ego überwunden und meine Gefühle voll im Griff zu haben. Der Blick war frei und auf das Wesentliche gerichtet. Persönliche Probleme schienen mir so weit entfernt wie die nächste Galaxie. Wenn du als Mönch lebst ist das durchaus zu erreichen, allem irdischen enthoben. Nur der Geist zählt, der Körper ist nur noch ein notgedrungenes Gefäß für die lebenswichtigen Organe. Und nun? Nach und nach brach mein Weltbild zusammen. Schon das Zusammenleben mit euch war eine große Herausforderung für mich, aber ich habe es geschafft. Alle haben mir dabei geholfen und ich konnte mich einleben in eure Gemeinschaft. Aber hier? Was bin ich hier? Nur noch ein alter Mann der sich nach Ruhe und Frieden sehnt. Über 40 Jahre lebte ich in der Abtei, ich hätte sie nicht verlassen dürfen. Wäre ich doch nur dortgeblieben.“
In seinen Augen glänzten die Tränen der Verzweiflung.
„Ich kann dich gut verstehen. Wir konnten uns schnell an die neuen Verhältnisse anpassen. Die meisten haben ihre Aufgaben, aber eben nicht alle. Ich könnte dir jetzt viel erzählen, so wie das die Psychologen tun, vom positiven Denken und so weiter und so fort. Aber ich lasse es, ist alles schöne Theorie. Ich bin ehrlich gesagt ratlos. Ich weiß nicht, wie ich dir helfen könnte.“ Gestand Chantal offen ein.
„Warum sagst du das Chantal? Es gibt doch bestimmt etwas was wir tun könnten. Da wäre zum Beispiel…. Also ich meine wir könnten doch… naja es wäre doch möglich….“ Stammelte Eve und hielt inne, weil auch sie nicht mehr weiter wusste.
„Seht ihr, dass ist es was ich damit sagen wollte. Ihr möchtet etwas tun, das glaube ich euch und bin auch voller Dankbarkeit. Aber ihr wisst es nicht. Ihr nicht und ich nicht. Meine Situation ist hoffnungslos.“
„Du sprichst von Hoffnungslosigkeit, du ein Mönch, ein katholischer Priester, dessen Aufgabe doch gerade darin besteht anderen Hoffnung zu machen?“ Unterbrach ihn Chantal.
„Ja, wie so oft sind jene, die ihr Leben lang anderen halfen und Hoffnung verbreiteten am Ende selber ratlos. Das ist ein Problem, was viele meiner Berufskollegen trifft, vor allem wenn sie älter werden.“
„Colette wird aber doch bestimmt etwas wissen.“ Begann Eve zu überlegen. „Wenn wir mit ihr reden? Sollten wir das gemeinsam tun?“
„Sie hat mich selbst schon einige Male angesprochen. Ich bin ihr stets ausgewichen. Sie leidet doch selbst unter der neuen Situation. Wir sollte sie nicht damit belasten.“
„Ja, Mensch, da weiß ich wirklich nicht mehr weiter.“ Stieß Eve frustriert hervor.
„Aber es ist schön, dass ihr gekommen seid. Ich freue mich. Das gibt mir die Kraft nicht ganz zu resignieren.“
Chantal blickte zu Boden und scharrte mit dem Fuß im erst spärlich entwickelten Rasen unter ihr.
„Es ist nicht das Einzige was dich quält. Da ist doch noch etwas. Die Langeweile könnten wir gut mit Aufgaben vertreiben. Der Grund für deine wirkliche innere Leere ist ein anderer. Der Grund bin ich? Nicht war?“
Der Pater schwieg und blickte nur stumm in die Ferne. Eindeutiger konnte die Antwort wohl nicht ausfallen.
Eve erkannte sehr schnell die Brisanz des Augenblickes und erhob sich spontan.
„Also wenn ihr unter vier Augen sprechen wollt, null problemo. Ich werde mal kurz durch den Park laufen. Ich nehme Lizzy mit, die quengelt eh schon ein wenig rum.“
„Bleib sitzen Eve! Du bist meine Frau, die Angelegenheit geht dich ebenso an und Lizzy auch, wenn sie auch noch nicht verstehen kann.“
„Na gut dann bleibe ich hier. Die Meisterin hat gesprochen.“ Eve hockte sich wieder hin.
Zunächst hüllten sich all drei in Schweigen. Nach einer kurzen Zeit des Überlegens wagte der Pater einen Anfang.
„Es war alles meine Schuld, ich hätte mich nie darauf einlassen dürfen. Verstehst du Chantal. Ich war ein Mönch der friedlich seinen Tagesablauf lebte, auch als die Töchter schon in der Abtei lebten. Ich hatte mein Refugium und dabei hätte ich es bewenden lassen sollen. Wir haben beide einen schweren Fehler begangen, denke ich.“
„Einen Fehler?“ Chantals Tonfall verriet ihren plötzlichen Ärger.
Sie griff nach der kleinen Lizzy und holte sie aus dem Sportwagen hob sie hoch und setzte sie dem Pater auf den Schoß.
„So! Demnach ist also dieses kleine Wesen auch ein Fehler? Oder?“

Betretendes Schweigen. Der Alte senkte nur den Kopf. Sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Hilflosigkeit und Wut, denn mit dieser Reaktion hatte er wohl nicht gerechnet.

Dann, nach einer Weile umfasste er den kleinen Körper und zog ihn zu sich.

Auf Chantals Lippen bildete sich ein Lächeln.

„Sie ist deine Tochter! Deine, so wie meine. Sie verbindet uns auf ewig. Daran solltest du stets denken, bevor du dich und mich mit Schuldgefühlen überhäufst. Du hast dein Leben weitergegeben, in ihr wirst du weiterleben. Das ist eine große Gnade! Du hast dir gewünscht sie noch aufwachsen zu sehen. Eve und ich werden Sorge dafür tragen, dass das auch geschieht. Doch auch du hast einen Anteil daran.“
„Ich bin der Vater deines Kindes. Das ist eine Tatsache, die sich nicht verleugnen lässt. Das war es was du von mir wolltest, nicht mehr und nicht weniger.“ Sagte er mit vor Niedergeschlagenheit schwerer Zunge.
„Du hattest dir mehr versprochen? Habe ich Recht?“

Er glaubte wohl nicht darauf eingehen zu können und schwieg erneut.
Es lag an Chantal den Faden wieder aufzunehmen. Sie griff nach seiner Hand und drückte sie, spürte dabei die Wärme die von ihm ausging.
„Ich liebe dich doch! Hast du das vergessen! Ich habe dich sehr gern.“
„Du sollst nicht lügen Chantal, auch wenn die Lüge gut gemeint ist. Sie hilft mir nicht wirklich weiter. Du suchtest einen Vater für dein Kind und dein Wahl fiel auf mich. Bis zu diesem Tag habe ich keine Erklärung dafür gefunden, weil du doch jeden hättest haben können.“
„Ich wollte aber keinen anderen. Ich habe alles mit Bedacht gewählt.“
„Weil ich dir und Eve nicht in Quere komme, so ist es doch, wenn du ehrlich zu dir bist!“ Seine Worte trafen sie hart, aber sie musste sich eingestehen, dass ein Körnchen Wahrheit darin verborgen lag.
„Also mir kommst du mit Sicherheit nicht in die Quere. Das kann ich dir versichern.“ Schaltet sich Eve wieder ein und gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange.
„Das weiß ich, mein Kleine, das weiß ich.“ Sprach er, während er ihre Hand drückte.

Der alte Priester bemühte sich seine Würde und Autorität zu wahren.

„Versteh mich doch! Du gehörst zu uns! Wir haben es versprochen. Wir haben dich vernachlässig, das brachte die neue Situation mit sich. Aber ich verspreche, wir werden es ändern. Du sollst unsere Liebe spüren, in aller Würde.“ Versuchte Chantal erneut ihn zu überzeugen.
„Natürlich werde ich beruflich sehr eingespannt sein. Ich habe dir davon erzählt, von der Stelle die sie mir angeboten haben, als Moderatorin. Ich werde sie annehmen, wir brauchen doch das Geld. Ich werde gut verdienen und mein Einkommen wird in die Gemeinschaftskasse fließen. Aber trotzdem werde ich für dich da sein.“

Danach legte sie einfach den Arm um ihn und Eve tat es ihr von der anderen Seite gleich, auf diese Weise verharrten sie einen ganzen Augenblick lang.
Worte waren in diesem Moment fehl am Platz.

Nach einer Weile durchbrach Chantal das Schweigen.
„Wenn ich nur wüsste, wie ich es dir beweisen könnte, wie sehr ich dich verehre.“
„Du verehrst mich, ja, das glaube ich dir sogar. Aber Verehrung und Liebe, das ist doch nicht das Gleiche.
Der Pater sprach seinen Gedanken nicht aus, denn er wollte den Augenblick der Harmonie nicht zerstören.
Sie saßen noch eine ganze Weile beisammen, genossen frische Luft und Sonne, blickten nach oben und sahen den am Himmel ziehenden Wolken nach.

Auch bei einigen anderen der Gemeinschaft war Geld verdienen angesagt. Niemand konnte mit Gewissheit sagen, wie lange die Gastfreundschaft der katholischen Kirche noch andauern würde und sie als Gäste in ihrem derzeitigen Domizil bleiben konnten.
Es galt die finanziellen Löcher zu stopfen.

Alexandra dachte in der Tat wieder daran einen Film zu drehen, diverse Angebote lagen vor, doch die sagten ihr allesamt nicht zu, bestand doch die Gefahr sie wieder auf ihr altes Image zurückzuwerfen. Oberflächliche Seifenopern ohne wirkliche Handlung und ohne Tiefgang.

Doch dann schien ihr das Glück doch noch zu winken. Ein Regisseur tauchte mit samt Produzenten bei ihr auf mit dem Angebot einen Film über ihr Leben zu drehen. Die Biographie einer Wandlung, vom zickigen, verwöhnten Jetset-Girl zu einer selbstbewussten, engagierten Frau und Teil der Schwesternschaft von Anarchonopolis.
Alexandra bestand darauf ihre beiden Partner Ronald und Kyra mit ins Boot zunehmen, die beide zunächst wenig begeistert davon schienen, schließlich doch noch ihre Einwilligung gaben. Die Vorbereitungen für den Film begann in jenen Tagen anzulaufen.

Auch Betül geriet in den Focus der Öffentlichkeit und die Medien rissen sich um ihre Lebensgeschichte, die es zu vermarkten galt. Seit ein paar Wochen war sie Dauergast in angesagten Talk-Shows.
Colette selbst betätigte sich wieder als Schriftstellerin und arbeitete wie eine Besessene, auch wenn es in erheblichem Maße ihrer Gesundheit schadete. Ihre Werke fanden auch bald guten Absatz
Gabriela hatte schon von Anarchonopolis aus Kontakte zur Universität Köln geknüpft und über ihre wissenschaftliche Arbeit in puncto historischer Erforschung des legendären Amazonenstaates korrespondiert. Das kam ihr jetzt zugute. Ihr wurde kurzerhand eine Gastprofessur angeboten.

Die positive Nachricht rief in ihr die schon lange verloren geglaubten Lebensenergien wach.
Sie eilte durch die Gänge der Akademie und suchte nach Klaus, doch der lies sich nicht finden.
Im Moment lebten sie wieder in einer gewissen Distanz zueinander. Sie hoffte, dass er die Freude mit ihr teilte. Doch er war nicht da. Nun dann eben nicht. Sie konnte es ihm auch später noch mitteilen. Kristin traf sie an als die gerade auf ihr Zimmer ging.
„Hey meine Große, was ist denn? Bist ja völlig außer Puste.“ Begrüßte Kristin ihre Gefährtin mit einem dicken Kuss.
„Stell dir vor, die haben es tatsächlich getan!“
„Was denn?“

Sie bieten mir eine Professur an. Zunächst erst einmal für das laufenden Semester, dann werden wir weitersehen. Ich kann es noch gar nicht fassen. Die scheinen sich wirklich für meine Arbeiten zu interessieren.“
„Aber das ist ja großartig. Ich freue mich für dich. Das hast du dir doch immer gewünscht.“ Kristin umarmte Gabriela und zog sie besitzergreifend zu sich.
„Sag mal hast du Klaus gesehen? Ich wollte die freudige Mitteilung auch ihm zukommen lassen, schließlich ist er beteiligt und hat mir bei meinen Studien in den letzten Monaten sehr geholfen.“
Wollte Gabriela wissen.
„Nee, keine Ahnung! Hab ihn den ganzen Tag noch nicht zu Gesicht bekommen.“
„Na egal, du bist ja hier und das ist ebenso wichtig. Nein womöglich noch wichtiger. Im Moment lebe ich mit Klaus wieder mal etwas distanziert, wie du bereits bemerkt haben wirst.“
„Klar, sonst würdest du nicht so oft unter mein Decke schlüpfen.“

Beide betraten Kristins Zimmer.

Die Wohnsituation unterschied sich deutlich von jener in Anarchonopolis, wo bauliche Veränderungen den Bedürfnissen der Bewohner entgegenkamen, um so ein Zusammenleben von
Paaren und kleinen Gruppen ermöglichte.

Hier gab es vor allem kleine Einzelzimmer, jeweils mit Dusche und WC ausgestattet sowie einige wenige Doppelzimmer.

Gabriela, Kristin und Klaus lebten Wand an Wand. Alles war stark eingeengt. Trotzdem schafften sie es auch hier eine kuschelige Atmosphäre zu schaffen. Alles improvisiert, aber immerhin.

Gabriela setzte sich auf den Stuhl vor dem kleinen Schreibtisch.
„Ja, ich kann es noch immer nicht ganz glauben. Ich hätte nie gedacht, dass die meinen Arbeiten über den alten Amazonenstaat überhaupt Beachtung schenken. Ich gehe davon aus, dass es auch jetzt nicht leicht wird diese Positionen zu verteidigen.“
„Du meinst, weil die Machotypen, auf die du dort treffen wirst, nicht an die Existenz des alten Akratasia glauben und die Idee ins Reich der Phantasie verbannen.“ Erwiderte Kristin und nahm auf der Bettkante Platz.
„Ja, genau deshalb. Aber immerhin sie haben sich damit beschäftigt und das ist doch schon mal ein Anfang.“ Antwortete Gabriela.
„Ach, wie ich dich einschätze, wirst du auch damit fertig. Du bist eine Kämpferin. Das hast du immer bewiesen.“
„Aber ich habe Angst. Es läuft alles viel zu gut für mich. Du verstehst doch. Ich meine, die Krankheit. Wenn sie nun wiederkommt, dann, wenn ich sie am allerwenigsten gebrauchen kann.“
Seufzte Gabriela. Wie vom Blitz getroffen erhob sich Kristin, legte ihren Arm um die Gefährtin und druckte sie sanft an sich.
„Fühlst du dich nicht gut? Hast du Schmerzen? Gibt es wieder Lähmungserscheinungen an deinem Körper?“
„Nein! Zum Glück nein. Aber die Gefahr liegt immer in der Luft. Das spüre ich ganz deutlich.“
„Nicht den Kopf hängen lassen, Große. Ich bin bei dir, jeden Tag, jede Stunde, um dich aufzufangen wenn du fällst.“ Versuchte Kristin zu beruhigen und strich durch Gabrielas hellbraunes Lockenhaar.
„Das weiß ich Kleine. Das weiß ich und das gibt mir viel Kraft und Sicherheit.“

Eine Weile verharrten sie im Schweigen.

„Sag mal, wollen wir nicht ein wenig im Park spazieren gehen? Hast du Lust?“ Schlug Kristin spontan vor.
„Oh ja gern! Guter Vorschlag! Lass uns aufbrechen und das gute Wetter genießen, dann kommen wir auch auf positive Gedanken.“
Beide zogen sich eine Jacke über und schon waren sie abmarschbereit.
Das Gelände der Akademie umgab ein kleiner Mischwald. Nicht sehr groß, eher eine größere Parkanlage und kein Vergleich zu der grandiosen Umgebung von Anarchonopolis mit seinem dichten Wäldern und den bizarren Bergen dahinter, aber immerhin, es gab Grün in unmittelbarer Nähe und man konnte, wenn einem das Glück hold war, sogar ungestört sein. Desweitern befanden sich an den Hängen einige Streuobstwiesen in denen vor allem Apfelbäume gepflanzt waren.

Die beiden schritten schon eine Zeitlang wortlos nebeneinanderher, als Gabriela das Gespräch wieder aufnahm.
„Es wird Veränderungen in unser beider Leben geben. Ich hoffe du bist darauf vorbereitet?“
„Veränderungen? Die gibt es doch ständig! Ist doch nichts Neues.“ Erwiderte Kristin und griff nach Gabrielas Hand.
„Ich meine was unser konkretes Zusammenleben betrifft.“
„Unser Zusammenleben? Wie meinst du das? Verstehe ich nicht!“ In Kristins Augen begann sich Zweifel zu regen.
„Das musst du mir aber genauer erklären!“

Gabriela drückte Kristins Hand fester, während sie nach den rechten Worten rang.

„Wir leben ja im Grunde in einer Dreierbeziehung, wenn sie denn funktioniert. Also gehen wir mal davon aus, dass sie in naher Zukunft wieder stattfindet. Die Öffentlichkeit könnte daran Anstoß nehmen. Weißt du, die akademischen Kreise treten zuweilen recht konservativ auf. Mit Klaus an meiner Seite sehen die was sie wollen, einen Ehemann, ebenso wie ich akademisch gebildet. Da ist für die die Welt in Ordnung. Aber die junge Frau an unserer Seite könnte zu Irritationen führen!“

Das Lachen erstarb auf Kristins Lippen und plötzlich lies sie deutlich ihren Missmut erkennen.
„Ach so ist das? Ich bin dein schmutziges Geheimnis?“
„Nein, um Himmelswillen nein!“ Gabriela hätte sich in diesem Moment selbst ohrfeigen können.
„Du hast vorhin darauf hingewiesen, dass unsere Dreierbeziehung im Moment in Wartestellung verharrt. Wann sind wir denn zuletzt zu dritt in der Öffentlichkeit erschienen, ist schon ne Weile her. Gibs zu, du willst mich in dein Schlafzimmer verbannen, für die heißen Nächte und für die Tage und Nächte, wo es dir schlecht geht. Ganz offiziell bist du mit Klaus zusammen, mit ihm kannst du dich sehen lassen und mit den anderen Doktores und Professores in klugen Sprüchen schwelgen.“

Tränen des Zornes füllte ihre Augen.

Gabriela fiel ihrer Geliebten um den Hals und drückte sie so fest, dass sie fast nach Atem rang.
„Entschuldige! Bitte entschuldige! Ich bin eine blöde Kuh, so etwas zu sagen. Ich habe dich verletzt. Ich wusste nicht was ich sagte. Es ist nur so ,ich dachte mir, ich könnte dich womöglich als meine Tochter ausgeben. Altersmäßig passt es ja. Kurz nachdem du geboren wurdest, feierte ich meinen zwanzigsten Geburtstag. Wenn ich mir das vorstelle, so eine prächtige Tochter könnte ich schon haben.“
Sanft fuhr Gabrielas Handfläche über Kristins volle Brüste.

Schnell wurde Kristin wieder von der Heiterkeit erfasst und ihre Grübchen formten sich zu einem süßen Lächeln.
„Gabriela das ist doch nicht dein Ernst. Ich schlafe mit dir, wir haben Sex miteinander, dass ist allgenmein bekannt. Wie willst du mich dann auf einmal als deine Tochter verkaufen?“
„Du hast ja recht! War ein idiotischer Gedanke von mir. Hmm, aber was könnten wir dann tun?“
Sie setzten ihren Weg fort und schlenderten Hand in Hand über die kleine Holzbrücke, welche die Autoauffahrt zur Akademie überbrückte.
„Ich ging immer davon aus, dass diese Stadt so tolerant und liberal sei. Warum glaubst du eine lesbische Beziehung verheimlichen zu müssen.“ Hakte Kristin nach.
„Das ist nicht das Problem. Auch der Altersunterschied ist nicht von allzu großem Belang. Es ist vielmehr die Tatsache, dass du keine Akademikerin bist. Das bereitet mir Kopfschmerzen.“

In der Zwischenzeit waren sie den Hügel, auf dem die Akademie thronte, hinabgestiegen und hatten das kleine Torhaus erreicht, durchschritten es und befanden sich auf der Straße wieder.
„Wie soll ich das nun wieder verstehen?“ versuchte Kristin etwas missmutig in Erfahrung zu bringen.
„Wir leben hier in einer Gesellschaft mit festen Standesregeln. Das sind ungeschrieben Gesetze.
Akademiker darf sich nur mit Akademiker paaren, sowie Bildungferner nur mit Bildungsfernen. Wer dagegen verstößt, dem droht allgemeine Verachtung.“
„Du meist, so wie es damals im vorrevolutionären Melancholanien der Fall war?“
„Genauso! Das ist hart, sehr hart. Stell dir vor du begleitest mich in einen akademischen Zirkel. Bei deiner anziehenden Ausstrahlung wirst du recht bald im Focus der Aufmerksamkeit stehen. Die werden dich in Gespräch verwickeln, so nach dem Motto. Meine liebe, wo haben sie denn studiert, wo haben sie ihren Bachelor erworben. In welchen Fächer gedenken sie denn zu promovieren etc. etc. Verstehst du auf was ich hinaus will? Das ist nicht unbedingt böse gemeint. Aber die Leute können sich einfach nicht vorstellen das eine anerkannte Wissenschaftlerin mit einer Nichtakademikerin zusammenlebt.“
„Also sprich es doch einfach aus, ich bin zu blöd für dich und deine Ansprüche.“
„Ach, was für ein Quatsch!“ Du bist doch nicht blöd! Du hast Abitur.“
„Ja, nachgeholt! Mit deiner Hilfe!“
„Das spielt doch keine Rolle. Danach fragt keiner. Hauptsache, du hast ein Zertifikat in den Händen. Ich habe mir viele Gedanken gemacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es für dich das Beste wäre, wenn du ein Studium beginnst. Dann hätte alles seine Ordnung. Noch hast du Zeit dich einzuschreiben, aber zögere nicht zu lange. Ich werde dich unterstützen und dir in allem zur Seite stehen.“ Schlug Gabriela vor, während sie die Hauptstraße hinunter schlenderten die in den Ort Bensberg führte.
„Aha, daher wehrt der Wind. Die Frau Professor und die Studentin. Meinst du die werden sich nicht gerade dann die Mäuler zerreißen?“
„Ach was! Und wenn schon, das kann uns dann egal sein. Sieh doch mal, es ist doch auch für dich. Ich habe in den letzten Wochen und Monaten sehr genau beobachtet wie interessiert du bist an all dem was ich erarbeite habe. Philosophie wäre für dich sicher genau das Richtige. Es wird Zeit für dich, du wirst bald 27 und die Zeit drängt. Wenn du kein Bafög mehr bekommst reden wir mit Colette, die wird eine Finanzierungsmöglichkeit finden.“ Gabrielas Enthusiasmus steigerte sich immer weiter.
„Hey, du hast ja schon alles entschieden. Da bleibt mir weiter nichts übrig als alles abzunicken.“
Gabriela legte ihren Arm um Kristins Taille und zog sie zu sich. Dann lehnte sie ihren Kopf an deren Schulter.
„Glaub mir, es wird gut. Wir beide sind ein unschlagbares Team.“
„Wenn du meinst!“

Wenn man die beiden von weiten so daher schreiten sah konnte man sie zunächst durchaus für Mutter und Tochter halten. Das hatte aber vor allem mit ihrem jeweiligen Outfit zu tun.
Gabriela hatte ihr Glimmerphase schon lange hinter sich und wollte unter keinen Umständen mehr daran erinnert werden. Sie kleidete sich konservativ, aber trotzdem elegant und mit Stil. Meist halblanger Rock und hochgeschlossenen Blazer, ein schickes Seidentuch um den Hals. Die hellbraunen Haare, in die sich mehr und mehr graue Strähnen mischten, nach oben gesteckt, die modische Brille verlieh ihr eine zusätzliche intellektuelle Aura.

Sie wirkte zerbrechlich, das kam aber von der nach wie vor vorhandenen Krankheit, die in ihr lauerte.  
Kristins Erscheinungsbild hätte unterschiedlicher nicht ausfallen können. Schon seit geraumer Zeit trat sie als Rockerin in Erscheinung. Enganliegende Lederhosen, Turnschuhe und Jeansjacke. In ihr Dunkelblondes Haar hatte sie sich Rastalocken in verschieden Farben eingearbeitet und an ihrem Körper fanden sich einige auffällige Tätowierungen. Ihren Körper trainierte sie mehrmals wöchentlich in einem Fitnessstudio und die Muskeln stärkten und strafften sich zusehend.

Gabriela mochte Kristins Outfit sehr und hätte von ihr nie verlangt es ihretwegen zu ändern.
Betrachtet man die beiden aus der Nähe konnte man sehr schnell erkennen, in welchem Verhältnis sie zueinanderstanden. Die tiefe Vertrautheit, wie sie nur bei sehr verliebten zu Vorschein kam und die wohl kaum etwas erschüttern konnte.

Gabrielas rätselhafte Erkrankung trat immer von Zeit zu Zeit in Schüben auf. Wenn sie dann von großen Schmerzen und Lähmungserscheinungen völlig außer Gefecht gesetzt und ans Bett gefesselt war, schlug die Stunde der Wahrheit.

Klaus versuchte nach wie vor das Problem dahin gehend zu lösen, dass er die Flucht ergriff, weil er es nicht ertragen konnte seine Frau in diesem Zustand zu sehen.

Kristin war einfach da. Sie wich nicht von Gabrielas Seite, kroch zu ihr unter die Decke nahm sie  behutsam in die Arme, streichelte und liebkoste ihre Gefährtin Tag und Nacht und las ihr jeden Wunsch von den Lippen ab, noch bevor sie dazu kam ihn auszusprechen. Es hatte den Anschein, dass ihre jugendliche Kraft und Vitalität durch die intime Nähe auf Gabrielas Körper übersprang und den Gesundungsprozess beschleunigte.

Auf diese Weise wuchs ihre Beziehung in ungeahnte Tiefen.

Gabriela war stets und ständig darum bemüht der Partnerin auf dem schwierigen Weg ins Leben zu helfen, wo sie nur konnte und sorgte sich weiterhin um deren Zukunft.
„Wollen wir uns einen Kaffee gönnen bevor wir zurückgehen?“ Wollte Gabriela wissen und wies mit dem Finger auf das kleine Cafe in einer sonnendurchflutete Ecke.
„Ja gern!“
Die beiden nahmen Platz und ließen sich weiter viel Zeit. Eile bestand ohnehin nicht.
„Also wo waren wir stehen geblieben?“ Gabrielas Frage senkte sich auf Kristin, die insgeheim gehofft hatte heute nicht mehr danach gefragt zu werden.
„Na beim Standartthema.“
„ Hmm, sei doch nicht so mürrisch Kleine!“ Gabriela stupste mit ihrem Zeigefinger Kristins Nase. „Es ist wichtig das wir uns darüber austauschen. Ich bin so froh, dass ich dich habe und möchte, dass es dir gut geht und du glücklich bist.“
„Aber das bin ich doch. Jeden Tag den ich mir dir verbringen darf.“
„Wie du vorhin richtig erkanntest leben wir wieder in Verhältnissen wie im vorrevolutionären Melancholanien. Ich denke oft an die Zeit zurück. Wir hatten zwar ne Menge Ärger mit Neidhardt und seiner Partei. Aber ich bin ihm dankbar, denn ohne sein Zutun hätten wir einander niemals kennen gelernt.“
„Das musst du mir näher erklären!“
„Ich lebte in gehobenen Verhältnissen, frei von materiellen Sorgen und allem negativen enthoben. Aber du?“
Kristin senkte nur wortlose den Kopf, sie hatte kaum einen Grund den alten Zeiten nachzutrauern.
„Ohne Neidhardts Revolution wären wir uns wahrscheinlich nie über den Weg gelaufen. Ich hätte nie von deiner Existenz erfahren, von deinen Sorgen und Nöten. Es gab keine Basis auf deren Grundlage wir uns hätten begegnen können, zu unterschiedlich waren unsere Lebensentwürfe. Deshalb bin ich dem alten Holzkopf dankbar für seine Revolution und deren Folgen. Sie hat dich zu mir gebracht direkt in meine Arme.“
„Da kannst du recht haben. Was würde ich jetzt tun? Schwer vorstellbar .wahrscheinlich nach wie vor anschaffen gehen ohne Aussicht auf Veränderung. Solange bis mein Körper ausgelutscht wie eine gepresste Zitrone wäre. Jede Menge Sex aber keine echte Liebe. Die habe ich erst bei dir erfahren.“
Kristin drückte Gabrielas Hand ganz fest, so als fürchte sie, die Frau an ihrer Seite jeden Augenblick zu verlieren.
„Ich hatte damals im Übrigen jede Menge Kontakt zu Akademikern. Die gaben sich gewissermaßen die Klinke in die Hand. Komischerweise hatten die überhaupt keine Probleme mit der Tatsache, dass sie zu einer Bildungsfernen ins Bett stiegen.“ Erinnerte sich Kristin weiter.
„Aber ein Gespräch auf Augenhöhe führen, ist denen nicht zumutbar. Ist doch irgendwie irre!“
Gabriela schwieg verlegen, wie immer dann, wenn Kristin zu direkt auf ihre frühere Karriere als Prostituierte zu sprechen kam.
Eine Hure war in den Augen der feinen Herren die ihre Dienste in Anspruch nahmen keine Persönlichkeit, ja nicht einmal ein Mensch im engeren Sinne, sondern lediglich ein auf zwei Beinen laufendes, sprechendes Objekt zur Befriedigung ihrer sexuellen Phantasien. Weshalb sollte man solch einem Wesen Beachtung schenken?
„Also gut! Ich bin einverstanden! Ich versuche es mit dem Studium. Aber du musst mir dabei helfen. Versprochen?“
„Wau! Prima! Du wirst sehen, es geht alles gut. Selbstverständlich werde ich dir helfen, keine Frage. Gleich morgen überlegen wir, wie wir das anstellen.“ Begeisterte sich Gabriela.
„Hmm! Eine Bedingung aber stelle ich.“ Wandte Kristin doch noch ein.
„Aha! Und die wäre?“
„Du musst mir versprechen, mit mir ins Fitnessstudio zu gehen. Damit liege ich dir ständig in den Ohren. Du weißt was der Arzt gesagt hat. Du brauchst Sport. Muskelaufbau und so weiter. Dabei werde ich dir helfen. Wir fangen ganz langsam an und steigern uns von Mal zu Mal mehr“
„Einverstanden! Ich gebe mich geschlagen. Wir beginnen, sagen wir mal übermorgen?“
Beide lachten.


Es war noch dunkel, nur im Osten verriet ein blasses rosa, wo schon bald die Sonne aufgehen würde, als Colette in Betüls Zimmer stürmte. Wie schon viele Tag zuvor war sie früh aufgestanden und damit beschäftigt etwas Wichtiges zu suchen, dass sie glaubte verlegt zu haben.
Betül hatte sich entsprechend darauf eingerichtet.
„Ich kann meine Brille nicht finden Betül. Keine Ahnung, wo ich die gestern Nacht abgelegt habe. Sie ist weg, einfach nur weg. Jeden Morgen das Gleiche. Das ist nicht mehr auszuhalten. Das ist zum wahnsinnig werden. Die muss doch irgendwo sein. Die kann doch nicht einfach verschwinden.“
Colette lief wie ein aufgescheuchtes Huhn im Zimmer auf und ab und fuchtelte dabei auffällig mit den Händen in der Luft.
Betül kannte diesen Zustand nur allzu gut. Alarmstufe rot! Colette drohte jeden Moment überzuschnappen.
„Colette bleib doch mal stehen, du machst ja die Kleine ganz verrückt.“
Aisha saß auf dem Boden und betrachtete die Szene mit Verwunderung.
„Das tut mir leid! Aber ich bin einfach am Ende. Die Vergesslichkeit wird immer schlimmer. Du wirst sehen, irgendwann verliere ich meinen Kopf.“
„Colette komm her!“ Sanft lautete Betüls Befehl und die Königin befolgte ihn gern.
Betül erhob sich von ihrem Platz und griff nach Colettes Händen.
„So ganz ruhig! Blick mir in die Augen.“
Sie griff nach Colettes Kopf und zog die Brille, die sie die ganze Zeit getragen hatte von deren Nase und hielt das Gestell gegen das Licht des Fensters.
„Hmm, ganz schön verschmierte Gläser. Kein Wunder, dass du den Durchblick verloren hast.“
„Sooo?“ Ungläubig betastete Colette ihr Gesicht.
„Ich mache sie dir gleich sauber.“ Betül schritt ins Badezimmer und betätigte den Wasserhahn.
Nach kurzer Weile kam sie zurück und platzierte das schwarzgerahmte Brillengestell mit den frisch polierten Gläsern auf Colettes Nase.
„Ist es so besser?“
„Ich sehe klar!“
„Willst du schon aufbrechen? Ist noch ein wenig Zeit bis zu deinem Termin.“
„Ich denke es ist besser vorzeitig zu starten. Androgyna ist eine gute Autofahrerin, aber die Straßen sind in der Stadt meist überfüllt zu dieser Zeit. Ich bin noch immer dabei alles zusammenzusuchen, was ich brauche. Aber dir ist bewusst ,dass ich stets die Hälfte vergesse. Vor allem dann, wenn es wichtig ist.“
„Setz dich doch einfach mal hin und atme in Ruhe ein paarmal ein und aus.“
Colette nahm auf dem Schreibtischstuhl Platz, doch die Ruhe konnte oder wollte sich nicht einstellen.
Betül griff nach Aisha, hob sie zunächst auf ihren Schoß, dann reichte sie die Tochter an Colette weiter.
„Deine Tochter möchte sich von dir verabschieden, dafür bleibt mit Sicherheit noch Zeit.“
„Für dich immer mein Schatz! Guschigutschiegutschie schmatz, schmatz.“
Küsste Colette die Kleine ausgiebig.
Aisha blickte wie immer wie gebannt auf Colettes silbergrau glänzendes Haar, dass in der Zwischenzeit eine magische Anziehungskraft auf sie ausübte. Im nächsten Moment griff sie nach einer Strähne und zog mit aller Heftigkeit daran.
„Aua! Meine kleine Prinzessin ist heute wieder sehr besitzergreifend! So, aber nun muss ich mich wirklich verabschieden.“
Colette setzte Aisha auf das Bett und griff nach ihrer Umhängetasche, legte sie um die Schultern und begann sogleich darin zu wühlen. Danach klopfe sie verschiedene Stellen ihres Körpers ab.
„Und? Was fehlt jetzt schon wieder?“
„Mein Handy! Mein Handy ist weg!“
Betül streckte die Hand aus und griff wortlos in Colettes linke Westentasche, holte das Handy hervor und hielt es ihr vors Gesicht. Danach beförderte sie es dorthin zurück, wo sie es hergeholt hatte.
Betül hatte sich in der Zwischenzeit einen Überblick verschafft und kannte Colettes Gewohnheiten genau, um im entscheidenden Moment eingreifen zu können.
„Es geht dir nicht besonders meine Königin. Gern lasse ich dich heute nicht aus dem Haus.“
Betül legte ihre Arme um Colettes Hals und küsste sie auf den Mund.
Dann schritt sie zur Tür und öffnete diese.
„Aaaadrogyna!“
Schnell wurde eine weitere Tür geöffnet, die Gerufene erschien im Flur und eilte ihnen entgegen.   
„Bin schon unterwegs! Bin schon da! Wie befohlen Frau Generalin!“
Androgyna würde Colette begleiten und nicht von ihrer Seite weichen. Betül konnte sich darauf verlassen. Sie wäre mitgefahren, doch sie hatte selbst eine wichtige Verabredung, die sie nicht versäumen durfte.
„Also dann, bis heute Abend. Auf das du sie mir wohlbehalten wieder bringst Androgyna!“
Die beiden schritten in den Flur, dem Aufzug entgegen und waren schon bald aus Betül Sichtfeld verschwunden, die mit sorgenvollem Blick noch eine Zeit in den leeren Flur starte.

Betüls Ängste waren mehr als berechtigt, denn Colettes allgemeiner Zustand strebte einem Tiefpunkt entgegen.
Die Königin war in zunehmendem Maße nicht mehr imstande die ihr aufgebürdeten Lasten zu tragen und drohte darunter zusammenzubrechen.
Die letzten Wochen und Monaten waren einfach zu viel. Wenn sie sich auch nicht beklagte, sie litt wie ein Tier unter den Bedingungen des Exils. Ihr Bewusstsein hatte sich Stück für Stück vor der Wirklichkeit zurückgezogen.
Sie trug als Königin die Verantwortung für das Überleben der Gemeinschaft und das machte ihr zu schaffen. Des Weiteren die Sorge um Elena. Sie fehlte ihr unendlich. Colette spürte das sie noch am Leben war. Doch wo? Warum nur meldete sie sich nicht? Ein Brief, eine mail, ein kurzes Telefonat. „Mir geht es gut! Macht euch keine Sorgen!“ So oder ähnlich, das würde schon genügen. Doch nichts dergleichen. Die Frage nach dem Warum war zu einem bohrenden Gedanken in ihrem Bewusstsein geworden, das ihr den Nachtschlaf raubte.
Schließlich die Sache mit Madleen. Würde die es fertig bringen diesen Mann tatsächlich zu heiraten, der schlimmste Feind, der Hauptschuldige an ihrer derzeitigen Misere?
Colette mochte Madleen sehr. Mit diesem Schritt wäre sie endgültig für die Gemeinschaft verloren. Welch groteske Situation. Die bescheidene Madleen, mit vier Brüdern auf einem Bauernhof aufgewachsen und von Kindheit an daran gewöhnt mit anzupacken, als Kaiserin an der Seite eines Despoten.    
Doch damit nicht genug, musste Colette sich auch noch auf eine völlig veränderte Lebenslage einstellen deren sie sich in ihrer Eigenschaft als Transperson ausgesetzt sah.
In Akratasien war sie eine Kundra ,die genderqueere Königin von allen akzeptiert und nicht in Frage gestellt. Selbst unter Neidhardts Herrschaft war ihr Geschlecht kaum Gesprächsthema.
Im vorrevolutionären Melancholanien sah sie sich schweren Diskriminierungen ausgesetzt, doch das war abgeschlossen, tief in den Nebeln der Vergangenheit vergraben und vergessen.
Nun holte eben jene Vergangenheit sie mit aller Heftigkeit wieder ein.
In der neuen Wirklichkeit wurde sie damit konfrontiert, sobald sie sich in der Öffentlichkeit blicken lies.
Hier war sie eine Transsexuelle. Zwar rühmte sich die deutsche Gesellschaft in überschwänglichem Maße, tolerant und liberal zu sein, doch klafften Theorie und Praxis weit auseinander.
Transleute lebten hier noch weitgehend am Rande der Gesellschaft und waren ,bis auf wenige Ausnahmen in vielen Belangen außen vor. Transpersonen hatten kaum die Chance ernst genommen zu werden. Eine Präsens in vertrauensvollen Stellungen oder gar in herausragenden Positionen waren hierzulande so gut wie undenkbar.
Clown oder Hure, dazu taugten sie oder als bedauernswürdige Neurotiker, deren Leben nur um ein Thema zu kreisen schien, nämlich, wie schnell sie sich von den als fremd empfundenen Genitalen trennen durften.
Colette fühlte sich in die Ecke gedrängt. Die Boulevardpresse war hinter ihr her und stets und ständig damit beschäftigt ihr alle nur erdenklichen Fallen zu stellen.
In den ersten Tagen nach ihrer Ankunft sah sie sich mit Fragen konfrontiert, die an Geschmacklosigkeit kaum noch zu überbieten waren, etwa ob ihre Brüste echt seien oder wann sie sich endlich der Geschlechtsangleichenden OP zu unterziehen gedachte, getreu der Devise: Nur eine kastrierte Trans ist eine echte Trans. Schwanzmädchen galten nach wie vor als nicht gesellschaftsfähig und hatten sich umgehend der nächstbesten Psychotherapie zu unterziehen.
Besonders demütigend und verletzend waren die immer deutlicher einsetzenden Zweifel in Bezug auf Aishas Vaterschaft, da man Colette diese Rolle nicht zutraute. Wer würde sich wohl irgendwann als wirklicher Vater zu erkennen geben? Mit dem Begriff Väterin, den Colette gewählt hatte konnte niemand etwas anfangen.
Die schöne Betül, dieses Juwel aus dem Orient, an der Seite jenes undefinierbaren Wesens, an dem sich die Geister schieden? Da konnte doch etwas nicht mit rechten Dingen zugehen.
Frustriert hatte sich Colette zurückgezogen und scheute seither die Öffentlichkeit wie der Teufel das Weihwasser.
Betül war in die Presche gesprungen und hatte einige Termine und Einladungen allein wahrgenommen, doch das machte sie Sache nur noch umso schlimmer.
Die exotische Erscheinung, in der Presse immer wieder mit Debra Paget* einer der schönsten Frauen Hollywoods verglichen, hatte schnell die Herzen der Gesellschaft erobert. Wozu bedurfte es überhaupt noch einer Colette?
Elena fehlte in jeder Hinsicht. Die Meisterin der Selbstinszenierung, die Magierin, die es verstand, die Massen zu verzaubern und um den Finger zu wickeln. Die große Managerin mit ihrem überragenden Organisationstalent war durch nichts und niemanden zu ersetzen.
Colette war sich dieses Umstandes nur allzu schmerzhaft bewusst. Sie konnte Elenas Rolle nicht übernehmen. Sie war die spirituelle und geistige Autorität, die sich zurücknehmen und in passiver Stellung verharren durfte, bis man sie rief.
Elena und Colette waren ein Team, gemeinsam unschlagbar, vereinzelt waren sie dem Untergang geweiht.
Betül wollte es nicht soweit kommen lassen und sah sich in der Pflicht einzugreifen.
Deshalb hatte sie sich diesen Vormittag freigehalten und wollte sich mit einem alten Bekannten treffen, von dem sie sich Hilfe erhoffte.
Sie nahm Aisha auf den Arm, schritt den langen Flur entlang und übergab die Tochter an Kristin, die sich während ihrer Abwesenheit um sie kümmern würde.
Dann ging sie auf ihr Zimmer, um sich vorzubereiten, nahm vor dem großen Spiegel Platz und kämmte zunächst ihr rabenschwarzes, glänzendes Haar aus, das ihr bis weit über die Taille reichte.
Ansonsten trug sie es stets offen oder zu einem Pferdeschwanz gebunden. Heute gedachte sie es unter einem Tuch zu verstecken. Sie zog zunächst eine Unterhaube darüber und arbeitete langsam die langen Haare ein. Dann begann sie kunstvoll ein dunkelblaues Tuch darum zu wickeln, bis sie einen Turban daraus formte, so wie sie es schon seit Kindertagen erlernt hatte. Für einige Stunden wurde sie wieder zur strengen Muslima.
Damit sollte es aber genügen, kein langes Gewand, dass ihren Körper völlig verhüllt. Stattdessen ihre schwarze enganliegende Baumwollleggin, weiße Turnschuhe und eine Lederjacke.
Eine gut ausgewogene Mischung.
Sie benutzte den Aufzug nicht, sondern glitt leichtfüßig die Stufen hinab und durchschritt die Eingangspforte, fand sich auf der ausladenden Terrasse wieder und blickte auf die Silhouette der Stadt Köln, die am Horizont in der Vormittgassonne glänzte.
Es versprach ein schöner Tag zu werden. Ein Blick auf ihre Armbanduhr signalisierte ihr, dass sie noch genügend Zeit hatte. Eile war nicht geboten. Colette war mit Androgyna unterwegs und wurde erst gegen Abend zurückerwartet. Aisha war bei Kristin in guten Händen. Endlich einmal Zeit für sich.
Betül schritt den Weg hinab und befand sich nach etwa 10 min an der Straßenbahnstation wieder.
Die Linie 1 würde in Kürze starten und sie, nach einmaligem Umstieg fast vor die Haustür der Moschee bringen, die sie zu besuchen gedachte.
Die Bahn startet und ratterte im gleichmäßigen Rhythmus der Großstadt entgegen.
Betül betrachtet die Menschen die ein-und ausstiegen, die meisten schienen es eilig zu haben.
Auch sie würde jetzt so ein Leben führen, hätte ihr das Schicksal nicht jene vorbestimmten Weg gewiesen, den sie nun schon seit einigen Jahren mit festen Schritten folgte.
Sie war vor wenigen Tagen 29 geworden, Colette würde in Kürze 55. Es trennte sie also eine Kleinigkeit von 26 Jahren. Betül kam gut damit zurecht, sie reihte sich gemeinsam mit ihrer Gefährtin in die Reihe jener generationsübergreifenden Beziehungen ein, die für die Gemeinschaft charakteristisch wurden.
Aber Colette ging es nicht gut und Betül wollte helfen. Je mehr Colette in den Abgrund trifftete, desto misstrauischer wurde sie ihr gegenüber. Die Königin sprach sie nie offen darauf an, ihre Angst steigerte sich immer deutlicher. Angst Betül an jemand anderen zu verlieren, an einen gutaussehenden Typ zum Beispiel, der altersmäßig besser zu ihr passte.
Auch ihre heutige Verabredung hatte sie Colette nicht wissen lassen, um ihr keine zusätzlichen
Ängste zu zumuten.
Am Neumarkt angekommen wechselte Betül die Straßenbahn und fuhr mit der 9 weiter. Nun hatte sie nur noch ein paar hundert Meter zu laufen, bis sie ihr Ziel erreichte.
Die Moschee befand sich in geschmackvoll ausgestatteten Kellerräumen.
Sie stieg die Treppe hinab und zog Schuhe und Strümpfe von ihren Füßen.
Dann betrat sie den Andachtsraum und verneigte sich vor der Mihab.
Ein junger Mann erschien im Raum.
„E salam aleikum!“ Begrüßte er Betül.
Aleikum a salam!“ Erwiderte Betül den Friedensgruß. „Ich bin mit Sheikh Abdul verabredet. Ist er schon da?“
„Ja, ich werde ihn von deiner Ankunft berichten, Schwester!“ der junge Mann verschwand und wenig später fand sie sich ihren alten Lehrer und Meister gegenüber.
„Salam aleikum, Sheikh Abdul!“
Aleikum a salam, Betül! Ich freue mich sehr dich zu sehen. Ich war sehr glücklich als ich deine Nachricht erhielt.“ Erwiderte der Sheikh und bedeutet ihr auf dem Teppichboden Platz zu nehmen.
Betül folgt seiner Einladung und lies sich auf dem Boden nieder.
„Gleich nachdem ich in Erfahrung bringen konnte, dass du dich in der Stadt aufhältst, habe ich den Kontakt gesucht. Es ist schön dich wiederzusehen.“ Setzte Betül an.
„Ja, es sind einige Jahre vergangen, seit du uns verlassen hast. Ich habe das sehr bedauert, denn du warst eine meiner besten und gelehrigsten Schülerinnen. Aber deine Entscheidung hat sich in allem als richtig erwiesen. Du bist deinem Herzen gefolgt und deinem Verstand. So etwas hat man nur sehr selten.“ Sprach der alte Sheikh und nahm ebenfalls Platz.
„Wie ich hörte ist es dir gut ergangen. Ich kann mich jetzt auch optisch davon überzeugen. Du bist noch schöner geworden.“
„Danke!“ Erwiderte Betül während sie leicht errötete.
„Und etwas fülliger, aber das steht dir ausgezeichnet.“
„Ja, das kam nach Aishas Geburt.“
„Apropos! Wie geht es denn der Kleinen?“ Erkundigte sich der ehemalige Lehrer.
„Oh prächtig! Sie wächst und gedeiht und in der Zwischenzeit kann sie sogar schon laufen und stammelt die ersten Worte. Colette ist total vernarrt in unsere Prinzessin.“ Begeisterte sich Betül.
„Ja, das ist sie. Wahrlich ich sage dir, sie wird eine echte Prinzessin.“ Sprach der Sheikh und es klang fast schon wie eine Prophezeiung.
„Und Colette, wie ist es ihr ergangen?“ Wollte er weiterwissen.
Betül senkte den Kopf, eine Geste die mehr erkenne lies als große Worte.
„Dein Blick spricht Bände. Also nicht so gut. Hmm, das hört sich ja nicht sehr erbaulich an.“
„Ja, es steht nicht gut mit ihr. Das ist auch einer der Gründe, warum ich zu dir gekommen bin. Seit Wochen schon vergräbt sie sich, schottet sich ab. Sucht die Einsamkeit und meidet, soweit als möglich die Kontakte.“
„Das muss nichts Negatives bedeuten. In der Stille liegt die Kraft. Und in der Zurückgezogenheit. Diese alte Weisheit ist dir doch bekannt. Möglich, dass eure Königin in eine Phase der Erneuerung geraten ist. Es kommt sehr oft vor, dass sich so ein Zustand in solcher Art und Weise offenbart.
„Das ist richtig! Daran habe ich auch schon gedacht, aber ihr scheint es wirklich schlecht zu gehen und ich mache mir große Sorgen. Seit wir hier angekommen sind geht das nun schon so. Ich hoffte eine Weile, dass es sich nach einer gewissen Zeit gibt. Stattdessen schein sie immer tiefer abzutrifften. Ihr bekommt das Exil überhaupt nicht, sie leidet sehr darunter. Anarchonopolis fehlt ihr unendlich und natürlich Elena und Madleen um die sich so viele Gedanken macht.“
„Nun was das Exil angeht, wem sagst du das? Ich lebe seit viele Jahren im Exil in diesem Land und darf meine alte Heimat nicht betreten. Die Art wie ich den Islam auslege gefällt einigen unserer fundamentalistischen Brüder überhaupt nicht, nicht wenige davon trachten mir deshalb nach dem Leben. Ich kann euch nur zu gut verstehen.“
„Das ist einleuchtend! Deshalb habe ich mich auch an dich gewandt.“
„Wie könnte ich dir behilflich sein?“
„Colette darf sich nicht mehr vor der Außenwelt verschließen. Sie ist gefordert und muss sich wieder in der Öffentlichkeit präsentieren. Ich musste schon eine ganze Reihe von Einladungen, Auftritten, Interviews etc. canceln oder zumindest verschieben. So kann das nicht weitergehen. Gerade jetzt ist sie gefordert, um Stellungnahmen abzugeben, Reden zu halten, in Talk Show präsent sein, sich mit wichtigen Leuten treffen und so weiter und so fort. Aber in ihrem derzeitigen Zustand wäre das fatal. So kann ich sie unmöglich unter die Menschen lassen. Du verstehst was ich damit sagen will?“
„Sagen wir mal ich beginne zu verstehen! Colette sollte nach deiner Meinung wieder zu jener starken Persönlichkeit werden, die sie in Anarchonopolis einmal war. Eben die Königin, die über den Dingen zu stehen scheint.“ Antwortet Sheikh Abdul.

„Richtig, genau dass! Wie in aller Welt soll das funktionieren. Ich versuche doch schon alles, bin immer an ihrer Seite, versuche sie zu entlasten und aufzubauen. Auch die anderen helfen so gut sie können, aber trotzdem sinkt sie immer tiefer, es ist zum Verzweifeln. Auch ich stoße irgendwann an meine Grenzen. Ich habe noch Aisha um die ich mich kümmern muss. Ach, genau genommen habe ich derzeit zwei Kinder, um die ich mich sorgen muss.“
Betül blickte verzweifelt zur Decke und ein leichter Seufzer entrang sich ihrer Brust.
Sheikh Abdul lachte.
„Glaub mir, wenn ein Mensch dazu imstande ist diese Krise durchzustehen, dann bist du das. Du hast schon immer ein unerschütterliches Selbstvertrauen besessen.“
Es folgte ein kurzes Schweigen.
„Ich glaube wir sollten uns erst mal einen guten Tee zubereiten. Findest du nicht auch?“ Schlug der Sheikh plötzlich vor.
„Ja richtig! Lass mich den Tee für uns zubereiten. Die Küche ist dort?“ Betül erhob sich spontan von ihrem Platz und wies mit dem Zeigefinger nach einer Tür.
„Richtig geraten! Du findest dort alles was du brauchst. Türkischen Cai haben wir zur Genüge vorrätig. Lass dir Zeit! Wir haben genügend davon! Oder bist du etwa in Eile?“
„Nein keineswegs! Ich habe mir die Zeit einfach genommen.“
„Dann bereite den Tee, ich widme mich in der Zwischenzeit meinen Gedanken. Womöglich finde ich sogar einen Weg dir beizustehen.“
Betül verschwand in der Küche und überlies den Sheikh seinen Gedanken.
Sie fand sehr schnell die Utensilien, die sie benötigte, um einen Tee auf traditionelle Weise bereiten zu können.
Wenig später kehrte sie mit einem silbernen Tablett, bestückt mit zwei Teegläsern, einer dampfenden Kanne, einem Gefäß mit Kandiszucker zurück. Der starke Duft nach Minze stieg in die Luft und erfüllte bald den ganzen Raum.
Vorsichtig stellte Betül das Tablett auf den Boden und nahm selbst wieder ihren Platz ein.
Sie füllte die Gläser zunächst mit Zucker, dann goss sie den Tee darauf.
„Also die Teezeremonie beherrschst du jedenfalls noch perfekt.“ Lobte der Sheikh, setzte das Glas an seine Nase und inhalierte genusserfüllt.
„Ich zelebriere es jeden Nachmittag. Colette trinkt sehr gerne Tee. Allerdings bevorzug sie italienische Limone.“
„Die Königin von Akratasien kann sich glücklich schätzen. Eine solche Gefährtin wie dich an ihrer Seite, das ist ein Geschenk des Himmels. Ich hoffe sie weiß es zu schätzen.“
Betül blickte auf. Die Frage traf das Problem direkt ins Schwarze.
„Das ist eines jener Probleme, weswegen ich mir Gedanken mache. Sie weiß es zu schätzen, dessen bin ich mir sicher. Aber ihr Misstrauen macht mich von Tag zu Tag trauriger.“
„Misstrauen? Wie kann ich das verstehen?“
„Sie ist von der ständigen Angst erfüllt, ich könnte sie eines Tages verlassen! Sie steigert sich da in etwas hinein. Es scheint geradezu eine fixe Idee zu werden.“
„Kunststück! Blick in den Spiegel und die Antwort wirst du finden! Betül, du bist wunderschön. So stellt man sich eine Prinzessin aus Tausendundeinenacht vor. Die Königin von Saba hätte dich an Anmut und Ausstrahlung kaum übertreffen können. Ich kann Colette sehr gut verstehen!“
„Aber ich liebe Colette. Ich denke nicht im Traum daran sie zu verlassen. Warum sollte ich? Ich habe mich für sie entschieden und werde an ihrer Seite stehen was auch immer geschehen mag. Ich habe mit meiner Familie gebrochen, die meine Entscheidung niemals akzeptiert hat. Die Schwesternschaft ist jetzt meine Familie, ich habe keine andere mehr. Wäre es nach meinem Vater gegangen, hätte ich einen Mann geheiratet, den ich nicht einmal richtig kannte und für den ich nichts empfinden konnte. Was soll ich denn noch tun, um meine Liebe unter Beweis zu stellen?
Redete sich Betül in Rage.
Sheikh Abdul griff nach ihren Händen und drückte sie.
„Nichts dergleichen. Glaub mir Colette weiß das du sie liebst. Sie hat einfach nur Angst und die ist ihr schwerlich zu nehmen. Ich glaube dagegen gibt es kein Heilmittel. Nur die Zeit und die damit verbundene Situation kann die Antwort darauf geben.
Vertrauen ist ein Geschenk oder das Ergebnis einer langen Entwicklung. Du kannst nur beständig daran arbeiten. Dabei kann ich dir kaum behilflich sein. Das müsst ihr unter euch beiden ausmachen. Was deine andere Frage betrifft, wie wir Colettes Gesundheit fördern können. Nun, du bist doch in den Heilkreis eingeweiht. Hast du die Heilmagie schon einmal bei ihr angewandt?“
„Mehr als einmal! Aber meine Kräfte sind zu schwach, als dass sie tatsächliche Besserung bewirken konnten. Aber ich habe mir überlegt, wenn du mir dabei hilfst? Wenn wir unsere Kräfte bündeln, sind wir bedeutend stärker“ Schlug Betül vor.
„Das könnte funktionieren! Gerne will ich dir dabei helfen. Wir können uns nachher kurz einer Meditation widmen und gleich damit anfangen. Eine Garantie gibt es freilich nicht.“
Oh, das wäre phantastisch. Sicher, wir können gleiche ein Versuch starten. Ich bin mir darüber im Klaren, dass es nicht gleich auf Anhieb funktionieren kann. Könnte ich denn, wenn es erforderlich ist, mehrmals zu dir kommen, um die Heilzeremonie fortzusetzen?“
„Aber selbstverständlich! Ich freue mich doch über deine Besuche. Noch effektiver wäre jedoch, du weihst Colette in dein Vorhaben ein und bringst sie mit. Ich würde sie auch gern einmal wiedersehen. Sie könnte hier ausruhen, sich entspannen, während wir ganz in ihrer Nähe verweilen und unsere Kräfte vereinen?“
Der Vorschlag des Sheikh ging in die richtige Richtung. Doch müsste es Betül zunächst erreichen, dass sich die Königin darauf einlies.
„ Du hast natürlich Recht mit deinem Vorschlag. Ich werde versuchen mit ihr zu reden. Aber in ihrem derzeitigen Zustand kann ich nicht versprechen, dass sie darauf eingeht. Sie ist so sehr damit beschäftigt sich selbst abzuwerten, dass, sie jede Heilung von sich weist!“
„Das hört sich wirklich schlimm an Ich bedaure das zutiefst.“
Sheikh Abdul nahm einen Schluck Tee, dann setzte er das Glas vorsichtig auf dem Boden.
Er schwieg kurz, so als müsse er seine Gedanken sammeln, bevor er sie über die Lippen brachte.
Er erhob sich, schritt zum Ausgang, vergewisserte sich, dass niemand in Hörweite war, dann schloss er die Tür, die ansonsten stets offenstand, kam zurück und setzte sich wieder.
„Betül, ich möchte dir etwas anvertrauen, dass nicht für unwissende Ohren bestimmt ist. Es von solcher Brisanz, dass ich es nicht mal den Brüdern und Schwestern dieses Ordens anvertrauen würde. Auch du solltest in naher Zukunft mit niemanden darüber sprechen.“
Betül erschrak in ihrem Inneren, doch bewahrte sie nach außen Ruhe und Zurückhaltung.
„Ich habe sehr gründlich meditiert und zudem genau recherchiert, mich mit vielen Meistern auch anderer Sufi-Traditionen ausgetauscht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei Colette ohne weiteres um eine Auserwählte handeln könnte. Wir leben in gefährlichen Zeiten, Zeiten des Übergangs, Zeiten die Geschichte abschließen und neu beginnen. Kriegerische Auseinandersetzungen, politische Umbrüche, Naturkatastrophen, Pandemien** etc werden die Erde erschüttern. Solche Zeiten schließen einen Zeitabschnitt ab und läuten einen neuen ein.
Altes wird vergehen, Neues entstehen. Das Zeitalter ,dass vor uns liegt, könnte ein positives werden. Doch bevor es sich entfalten kann, muss das Alte sterben und das wird nicht ohne Widerstand von der Weltbühne treten.
In solchen Zeiten treten für gewöhnlich Avatare auf.“
„Du glaubst noch immer an den Erwarteten? Darüber haben wir früher des Öfteren gesprochen.“ Unterbrach Betül. Dann überlegte sie kurz, wollte gerade das Teeglas zu ihrem Mund führen als sie plötzlich zusammenfuhr.
„Du willst damit sagen das du Colette für eine solche Persönlichkeit hältst?“
„Ich bin mir noch nicht ganz sicher, aber alles deutet darauf hin. Deshalb ist es auch kein Zufall das wir uns gerade jetzt wiederbegegnet sind. Colette vereinigt männliche und weibliche Energie gleichwertig in sich. Das gibt es nur bei sehr wenig Menschen auf der Welt. Im neuen Zeitalter werden Menschen wie Colette das Heft in die Hand nehmen, sie sind die geborenen Friedenstifter und natürliche Autoritäten.“
Plötzlich erinnerte sich Betül der Visionen, die in letzter Zeit auch ihr zuteilwurden. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Der legendäre Amazonenstaat kam ihr ins Bewusstsein. Colette war Innana. Es war kein Zufall das die große Königin aus der nebelverhangenen Vorzeit in einem Männerkörper wiedergeboren wurde.
„Ja, jetzt wird mir einiges klar. Colette ist Inanna. Ich stand diesen Theorien bisher skeptisch gegenüber. Ich bin als Muslima erzogen, Sie entsprechen nicht den Lehren des Islam, deshalb fand ich nur schwer Zugang. Doch wenn selbst du daran glaubst, was könnte mich da noch hindern?“
„Sprich mit Colette darüber, aber nur mit ihr und einigen von denn du sicher sein kannst das sie es verstehen werden. Die Sache ist zu wichtig, als dass sie in der Öffentlichkeit breitgetreten wird.
Die Gesellschaft in der wie leben, wird sie nicht verstehen. Eine materialistisch ausgerichtete Gesellschaft, wo das falsche Ego triumphiert und regelrecht angebetet wird. Geld, Macht, akademische Titel, künstliche Autoritäten, darauf blicken die Menschen hierzulande.
Auch deine anarchistischen und radikal-säkularen Freunde aus der Gemeinschaft von Anarchonopolis werden sie nicht akzeptieren, ebenso meine fundamentalistischen Brüder, die den Islam noch heute am liebsten mit dem Schwert verkünden wollen.
So verschieden diese Anschauungen auch sein mögen, alle vereint, dass sie Gefangene einer sterbenden Vergangenheit sind.
Die natürliche Autorität aber wird wiedererstehen und ein neues Zeitalter des Friedens, der Harmonie und der Verständigung einläuten.“
„ Was du sagst klingt wunderbar. Zu schön, um wahr zu sein. Wir haben alles in Akratasein ausprobiert und sind kärglich gescheitert. Jetzt können wir nur noch unsere Wunden lecken. Wäre doch nur Elena noch bei uns. Die wüsste was zu tun wäre. Sie fehlt uns allen unendlich. Besonders Colette leidet unter der Trennung.“
„Wahrscheinlich wolltet ihr gleich zu viel auf einmal. Aber ein Scheitern muss nicht automatisch in eine endgültige Niederlage münden.
Alles hat seinen Sinn, nichts geschieht aus Zufall auf der Welt. Ihr habt jetzt die Möglichkeit Kräfte zu sammeln, um es beim nächsten Versuch besser zu machen.“
„Ich wünschte es wäre so!“ Seufzte Betül tief aus.
„Nun lass uns aber daran gehen eurer Königin die nötige Kraft zu verleihen, die sie braucht. um wieder aktiv ins Geschehen einzugreifen.“ Bot der Sheikh an und beide begannen sich entsprechend vorzubereiten.
Zunächst verrichteten sie das Ritualgebet, dann begannen sie mit dem Dikr. Dabei konzentrierten sie sich voll und ganz auf Colette als Person, hatten sie ständig vor ihren inneren Augen.
Eine mystische Aura senkte sich herab und erfüllt den Raum mit heilenden Schwingungen.

Die Zeit war schon weit fortgeschritten, als Betül die Moschee verließ. Sie schien noch ganz benommen, doch das nahm sie gerne in Kauf, wenn es denn seine Wirkung nicht verfehlte.
Sie hatte es plötzlich sehr eilig nach Hause zu kommen. Ungehalten erwartete sie die Ankunft der Straßenbahn, die sich, sehr zu ihrem Leidwesen wieder einmal verspätete.
Dann, nachdem sie eingestiegen war lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und lies das Erlebte noch einmal an ihr vorüberziehen.
Nach der Ankunft in Bensberg hastet sie die Anhöhe hinauf und kam außer Atem oben an.
Auf der Terrasse erblickte sie Colette, die mit Aisha auf den Armen, im Lichte der langsam untergehenden Sonne auf und abschritt.
Ein Bild des Friedens und der Harmonie, so wie sie sich es schon seit Wochen wünschte.
„Sieh mal wer da kommt, Aisha! Möchtest du versuchen der Mama entgegenzulaufen?“ Colette lies die kleinen Hände los und die Tochter begab sich mit unsicheren Schritten auf Betül zu.
Unterwegs stolperte sie und stürzte, doch auch heute blieb der erwartet Schmerzensschrei aus. Sie versuchte sich wiederaufzurichten, doch schon war Betül zur Stelle und hob sie vom Boden.
„Na, das ist aber eine Überraschung!“
In der Tat, die zurückliegenden Wochen hatte Colette kaum Zeit für die Tochter erübrigt, die aufgrund dessen immer ungehaltener reagierte.
Colette kam auf die beiden zu und umarmte sie, dann tänzelte sie vom einem auf das andere Bein.
Ein Hinweis darauf, dass es ihr gut zu gehen schien.
„Na, wie war deine Besprechung?“ Versuchte Betül in Erfahrung zu bringen.
„Ja, ganz gut! Ich bin länger geblieben als sonst. Es war eigenartig. Ich fühlte mich nicht gut. Verspürte zunächst nur den Drang schnell abzubrechen, doch auf einmal, es muss am späteren Nachmittag gewesen sein, da kam es mir so vor als würde ich von einer positiven Kraft durchflutete, es hatte den Anschein das die tief verborgenen Lebensenergie wieder erwachte und zum Ausbruch kam.
Auf einmal fühlte ich mich viel besser, so wie seit Wochen nicht mehr. Auch jetzt geht es mir gut. Ich kann es kaum beschreiben. Ich spüre einen ungeheuren Tatendrang in mir aufsteigen.“
Begeisterte sich die Königin.
`Es hat funktioniert! Es hat tatsächlich funktioniert! Das ist phantastisch!` Dachte Betül und wurde von einem Glücksgefühl erfasst.
„Aber das ist ja großartig! Ich freue mich für dich! Du wirst sehen, von jetzt ab wird es deutlich besser.“ Fügte sie dann mit ihren Worten hinzu.
„Ja, es ist eigenartig! Ich spüre keine Angst mehr. Das ist wichtig, denn ich habe erkannt, dass ich mich nicht mehr so vor der Welt verschließen darf. Ich muss wieder in Aktion gehen. Viel zu lange habe ich das Wichtige verschlafen. Aber ich muss mich gründlich vorbereiten. Wenn du mir dabei hilfst werde ich alles vor mir liegende stemmen!“
„Aber natürlich werde ich das! Welche Frage! Ach, ich freue mich so, dass es dir wieder gut geht!“ Betül fiel Colette um den Hals.
Die Königin zog ihre Frau an sich und küsste sie leidenschaftlich.
„Wau! Wie ich sehe hat die neue positive Energie auch noch andere Kräfte mobilisiert.“
Weit öffnete sich ihr Herz, um die Wärme aufzunehmen.
Colette begann Betül etwas zu kitzeln.
„Hey! Hahaha!
Betüls Blick streifte ihre Armbanduhr.
„Oh wir müssen rein! Gleich beginnt das Abendmagazin des WDR. Chantal hat doch heute ihren ersten großen Auftritt. Das dürfen wir nicht vergessen!“ Erinnerte sie sich.
„Das dürfen wir in der Tat nicht!“ Bestätigte Colette. „Aber danach gibt es für uns heute keine weiteren Termine mehr, dann gehört die Nacht uns.“
Betül strahlte übers ganze Gesicht. Dann begaben sie sich ins Innere der Akademie und waren schon bald auf ihrem Zimmer verschwunden.
Auch die anderen wollten sich den Auftritt nicht entgehen lassen und saßen voller Erwartung vor den Geräten.

Eve hatte ihre Frau selbstverständlich begleitet. Außerdem war als Verstärkung noch die Medienerfahrene Alexandra mit ins Studio gekommen und Inga. Bei der letztgenannten bestand die Aussicht auf eine ähnliche Karriere. Die dreimalige Olympiasiegerin hatte eine Stelle als Reporterin beim Aktuellen Sportstudio in Aussicht und wollte sich schon mal mit dem Milieu vertraut machen.
Gabriela und Kristin machte es sich vor dem Fernseher gemütlich und warteten gespannt auf den Auftritt der Schwester.

Chantal, ansonsten eine routinierte Meisterin ihres Faches, wurde von Lampenfieder befallen und sehnte den Beginn ihres Auftrittes mit großer Erwartung herbei. Es schien ein Anflug von Furcht über ihr Gesicht zu huschen, denn viel hing vom Ausgang des heutigen Abends ab.
Eve und die anderen hatten in der ersten Reihe des Studios Platz genommen und drückten ihr fest die Daumen.
Nachdem das rote Licht erglühte starrten Millionen Zuschauer wie gebannt auf das neue hübsche Gesicht mit dem ungewöhnlichen Dialekt.
Es wurde ihr gestatte ein kurzes Statement abzugeben zu ihrer derzeitigen Lebenssituation, ihren Beweggründen etc. und das gedachte sie auch zu tun.

„Guten Abend meine sehr verehrten Zuschaurinnen und Zuschauer. Es ist mir eine Freude sie heute begrüßen zu dürfen. Nach langer Zeit darf ich wieder eine Sendung moderieren und das erfüllt mich mit großer Freude.
Ich durfte zurückkehren zu den Wurzeln, dorthin wo vor Zeiten alles begann.
Damals im alten Melancholanien, dass zwischendurch Akratasien hieß und zwischenzeitlich wieder bei seinen alten Namen landete.
Aber für uns, die wir aus Anarchonopolis fliehen mussten, wird es immer nur Akratasien geben. Es lebt weiter, solange wir am Leben sind.“
Ihr Mundspiel verriet, dass sie zwischen Beklemmung und Zufriedenheit schwankte. Was konnte sie offen aussprechen, was sollte sie tunlichst vermeiden? Sie bewegte sich auf dünnem Eis. Einerseits wollte sie ihre neue Stellung nicht gefährden, andererseits war ihr bewusst, wie wichtig die politische Botschaft war, die sie verkündete.
„Ich begann als Moderatorin und nun bin ich wieder eine. Aber die Verhältnisse haben sich im Vergleich zu damals grundlegend geändert.
Nachdem ich Elena kennenlernen durfte, die wir alle so unendlich vermissen, wurde mir von ihr der Pfad ins wahre Leben gewiesen, dem ich seither folge. Nicht einen Tag habe ich diese Entscheidung bisher bereut, auch wenn es viele Anfechtungen gab. Ich durfte in den zurückliegenden Jahren auch politische Verantwortung übernehmen und das tue ich noch immer, für unsere kleine Exilgemeinde.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen meinen Dank auszusprechen. Den Töchtern der Freiheit, die mir zur Familie geworden sind, allem voran Elena ohne die ich nie zu ihnen gefunden hätte, zu Colette, unserer Königin die uns allen wie eine Mutter oder ältere Schwester geworden ist.
Meine Frau Eve, meine große Liebe, die mir jeden Tag zur Seite steht und ohne die ich mir mein Leben nicht mehr vorstellen kann. Erst durch sie konnte ich das wahre Leben entdecken.
Ach ja, da ist ja noch einer. Der Vater meiner Tochter. Lieber Pater Libo. Auch du bist ein Teil meines Lebens geworden. Wenn du es auch nicht glauben magst, ich liebe dich sehr und werde es immer tun, solange du lebst. Solange werde ich für dich da sein und nie von deiner Seite weichen.“

Auch der alte Pater verfolgte Chantals kurze Ansprache von seinem Zimmer in der Akademie vor dem Fernsehgerät aus. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Sie hatte ihr Verhältnis offen angesprochen und sich zu ihm bekannt, vor einem Millionenpublikum.
Bedurfte es noch mehr?
Ein paar Tränen rannen über seine Wangen. Aber dieses Mal waren es keine Tränen der Verzweiflung, sondern der Freude und der Hoffnung.

In der nun folgenden Nacht liebten sich Colette und Betül auf ganz besonders innige Art und Weise. Lange hatten sie nicht mehr miteinander geschlafen, das lag zum einen an Colettes sich immer deutlicher verschlechternden gesundheitlichen Situation, aber auch den viel zu schmalen Betten, mit denen die Einzelzimmer bestückt waren.
Doch Colettes Liebeshunger schien, sehr zu Betüls Freude, in dieser Nacht kaum zu stillen.
Die neue gewonnene Energie hatte dem Selbstwertgefühl der Königin reichlich Nahrung verschafft.
Sie fühlte sich wie von Sonnenlicht durchdrungen, das sich in den Eiskristallen eines Winterwaldes in unzählige Farben bricht.
Es war reine Glückseligkeit, die vollkommene Schönheit und höchste Reinheit. Colette schwebte im strahlenden Mittelpunkt der Welt, in der grenzenlosen Harmonie des Daseins, im vereinigten Klang aller Kräfte des Lebens.
Betül war ihre Energiequelle, aus der sie jederzeit wie eine Verdurstende trinken konnte. Ihr Jungbrunnen der ihrem ausgezehrten Körper und ihrer gebeutelten Seele Tag für Tag neu erfrischte.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, die außerhalb aller Zeit lag.
Bin ich das wirklich, fragte sich Colette, eingehüllt in das Strahlen der Vollkommenheit, die weder Anfang noch Ende kannte.
Ja, ich bin es wirklich! Ich war es stets und werde es immer sein. Colette von Akratasien. Rechnet wieder mit mir und meinem Widerstand, all ihr negativen Antipoden.
Erst als sich im Osten der Himmel im zaghaften Licht des frühen Tages färbte, erhob sich Betül küsste Colette noch einmal voller Zärtlichkeit, schlich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer und begab sich in ihr eigens gegenüber, in dem sie mit Aisha schlief. Getrennt voneinander sanken beide in einen heilsamen Schlummer.

 

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*der amerikanische Schauspieler James Stewart (1908-1997) war schon zu Lebzeiten die Holly-
 woodlegende schlechthin, kaum ein anderer Schauspieler war so erfolgreich und populär in über
 100 Filmen in vier Jahrzehnen
 Es gelang ihm zudem völlig ohne Skandale auszukommen und ausschließlich durch
 seine schauspielerische Leistung auf sich aufmerksam zu machen

 Debra Paget (geb. 1933) hatte ihre Glanzzeit in den 50ger und 60ger Jahren vor allem in  
 herausragenden Nebenrollen. Durch ihr exotisches Aussehen überzeugte sie in Hollywood vor
 allem als Indianerin, orientalische Prinzessin etc. Weltberühmt wurde sie jedoch in den
 deutschen Filmen „Der Tiger von Eschnapur“ und „Das indische Grabmal“ als Tempeltänzerin
 Sita. In einer für einen 50ger Jahrefilm ungewöhnlich freizügigen Szene führte sie dort (fast)
 nackt ihren berühmten Schlangentanz auf. In den USA wurde diese Szene zensiert

 
 ** die Autorin gehörte gut zwei Jahre einer Sufi-Loge an, diese schloss 2016 überraschend ihre   
    Pforten, stellte ihre Öffentlichkeitsarbeit ein und zog sich in völlige Klausur in eine
    ländliche Gegend zurück. Zur Begründung hieß es, sie müsse sich auf die Weltkatastrophe
    vorbreiten, die für das Jahr 2020 erwartet wurde
    Was von der Autorin damals als eine von vielen Weltuntergangsphantastereien abgetan
    wurde, hat sich aus heutiger Sicht (2020) als geradezu prophetisch erwiesen