Anarchistische Monarchie

 

Samstagvormittag, das Kabinett hatte sich zu einer außerordentlichen Sitzung in der Regierungszentrale, im Volksmund noch immer als „Graues Wunder“ tituliert, eingefunden.

Neben den Kabinettsmitgliedern waren noch einige andere geladen, zum Beispiel aus den Reihen der Schwesternschaft.

Es gab nur einen Tagesordnungspunkt,aber der hatte es in sich. Die anberaumte Volksabstimmung über den Status, den Colette in Zukunft einzunehmen hatte. Doch dabei ging es nicht nur um Colette persönlich, sondern vor allem um das politisch-soziale System, das in Zukunft den Alltag in Akratasien prägen sollte.

Der Versuch, etwas aufzubauen dass auf den ersten Blick völlig antagonistisch erschien und keinen rechten Sinn ergab. Die Anarchistische Monarchie! Dieser Begriff kursierte seit einigen Tagen und man einige sich schließlich darauf diese Bezeichnung  vorübergehend zu verwenden.

Eine Monarchie, deren Funktion vor allem darin bestand, als eine Art  Scharnier eine Gesellschaft zusammenzuhalten, die sich in Selbstauflösung befand. Eine Zentrale die regulierend eingreifen konnte um Schaden abzuwenden. Eine Königin, eine Kanzlerin, ein Kabinett, angetreten um zu dienen, nicht um zu herrschen.

Die bisher verwendeten Bezeichnungen „Regulierte Anarchie“, „Regulierte Akratie“ oder „Gelenkte Akratie“ behielten ihre Gültigkeit, wurden nur um eine Komponente erweitert.

Alle Beteiligten waren sich der Tatsache bewusst, dass man sich auf ein Wagnis eingelassen hatte, denn dieses Vorhaben suchte seinesgleichen in der Geschichte.

Es war anzunehmen dass es solche Konstellationen in prähistorischer Zeit gegeben hatte, in jenen Tagen also, als die Menschheit noch relativ unbedarft mit dem Phänomen der Machtausübung umzugehen pflegten.

Die Gegenwart konnte hingegen kaum mit nennenswerten Beispielen aufwarten.

Machtausübung bedeutete vor allem herrschen und beherrscht werden.

 

Derweil formierten sich im Lande sowohl eine linke als auch eine rechte Opposition.

Zeit, endlich mit einer aufklärenden Kampagne zu beginnen.

Chantal oblag, in ihrer Eigenschaft als Medienministerin, die Aufgabe, diese zu organisieren  und zu präsentieren.

Colette selbst hielt sich zurück. Sie sah sich als Königin aller Akratasier und Akratasierinnen, also auch jener die einer Monarchie ablehnend gegenüber standen. Aus diesem Grund nahm sie eine passive Haltung ein und überließ es den anderen, Reklame für ihre Person zu betreiben. Deshalb hatte sie sie es vorgezogen auch bei dieser Zusammenkunft nicht persönlich zu erscheinen.

 

„Was die derzeitige Stimmung im Lande betrifft kann ich, zumindest im Moment, vor allem mit Positivem aufwarten. All unsere Recherchen ergaben, dass eine satte Mehrheit hinter unserem Vorhaben steht. Satte Mehrheit bedeutet allerdings nur einfache Mehrheit. Um mich präzise auszudrücken erreichen wir zur  Zeit eine Zustimmungsrate von ca. 57%

Das ist gut! Reicht aber nicht aus, wenn wir die Zweidrittelmehrheit wollen. Ihr kennt Colettes Ansicht darüber. Unter 66%  kommt für sie nicht in Frage. Uns fehlen also noch ca. 9 % um sicher zu sein.“ begann Chantal ihren Vortrag.

 

„Das ist ausgesprochen ärgerlich! Könnten wir nicht noch mal mit Colette reden? Ich meine, eine einfache, aber wie in diesem Fall eindeutige Mehrheit würde es doch auch tun, oder? Wir sollten es doch wirklich nicht an so ein paar Prozentpunkten scheitern lassen.“ entgegnete Dagobert.

„Da sehe ich keinen großen Spielraum. Colette hat sich festgelegt. Sie strebt die Zweidrittelmehrheit an. Da weicht sie kein Jota davon ab. Ich denke, auch für uns kann es nur von Vorteil sein, wenn…“ Chantal unterbrach. Das Sprechen schien ihr schwer zu fallen. Sie wirkte erschöpft, es schien ihr nicht gut zu gehen.

„Ich.. äh. Wir sollten…Hhhhmmmmmppff!“

Wie eine Rakete fuhr sie in die Höhe, sich dabei mit der linken Hand den Mund zu haltend. Dann stürmte sie aus dem Saal, der nächst besten Toilette entgegen um sich zu übergeben.

Kyra, die ebenfalls an der Sitzung teilnahm, weil von Elena persönlich berufen, verfolgte den Vorgang mit kreidebleicher Mine.

„Hhhhhmmmmpppff!“

Noch bevor sich einer dazu äußern konnte erhob auch sie sich wie von der Tarantel gestochen, eilte in Windeseile nach draußen um es Chantal gleich zu tun.

Elena räusperte sich kurz und präsentierte eine Erklärung.

„Übelkeit und Brechreiz bei Frauen im gebärfähigem Alter. Ihr könnt euch sicher denken was das zu bedeuten hat. Der Klapperstorch hat unsere Schwesternschaft gleich zweimal beglückt.

Hm! So sehr wir uns auch über den  Nachwuchs freuen und die damit verbundenen Tatsache dass die akratasische Generation weiter wächst. Die Schwangerschaften kommen uns derzeit ungelegen. Ausgerechnet Chantal und Kyra, denen eine besondere Rolle bei der Kampagne zufallen sollte. Ich will nur hoffen, dass sie noch eine Weile zur Verfügung stehen.“

„Also ich kann für Kyra sprechen. Sie hat mir versichert dass sie weiter machen will, so lange es geht.“ erwiderte Alexandra.

„Naja, bis es soweit ist haben wir die Abstimmung abgeschlossen. Das spornt uns zusätzlich zur Tat an.“ Glaubte Elena zu wissen.

Die Tür öffnete sich, mit einem Ausdruck sichtlicher Erleichterung erschienen Chantal und Kyra wieder in der Runde.

„Alles in Ordnung! Uns geht es gut! Macht euch keine Gedanken! Wir sind beide voll einsatzfähig.“ Gab Chantal zu verstehen ohne eine diesbezügliche Frage abzuwarten.

Dann nahmen sie wieder ihre Plätze ein.

„Wir sind im Bilde! Euch beiden wünschen wir alles Gute! Ihr bestimmt selbst wie lange ihr zur Verfügung stehen wollt Wenn es beschwerlich für euch wird, werdet ihr selbstverständlich bis zur Entbindung beurlaubt. Auch eure Gefährtinnen werden von ihren Aufgaben frei gestellt um sich euch ganz widmen zu können.

Wir freuen uns mit euch und sind stets für euch da.“

„Du kannst dich auf mich verlassen Elena! Ich werde meine Aufgabe erfüllen.“ Versprach Chantal.

„Ich ebenfalls! Wenn ich auch noch nicht weiß, welche Aufgabe du mir konkret zugedacht hast.“ Schloss sich Kyra an.

„Danke euch beiden! Dann haben wir doppelten Grund zur Freude.“

 

Was Kyra betraf, war es nicht schwer zu erraten wer für ihre Schwangerschaft die Verantwortung trug. Folko und Kyra sprachen seit einiger Zeit davon dass sie sich ein Kind wünschten. Zudem bedrängte Alexandra ihre Geliebte sich nicht mehr allzulange Zeit damit zu lassen.

Doch andererseits war die Vorstellung Kyra bald mit Babybauch daher schreiten zu sehen schwer zu vermitteln. Sie war Frau, daran ließ sie bisher keinen Zweifel und ihr hübsches feminines Gesicht tat ein übliches. Doch die ganze Art wie sie sich gab, schien nicht recht mit einer künftigen Mutterrolle zu harmonieren. Kyra, die Kämpferin mit den stahlharten Muskeln, rassiger Kurzhaarfrisur und salopper, männlich wirkender Kleidung. Ihr lässiges und cooles Auftreten verstärkte diesen Eindruck nur noch um so mehr. Die perfekte Vorreiterin der androgynen Revolution, die sich Colette so sehr wünschte.

Ganz anders sah es bei Chantal aus, jener Femme fatale, die mit Charme und Intellekt auf alle Geschlechter gleichermaßen einen enormen Eindruck hinterließ. Die Männer lagen ihr zu Füßen und sie hätte jeden haben können, wenn sie es wünschte. Doch sie wollte nicht. Avancen aus dieser Richtung gab es mehr als genug, von ihr stets höflich aber bestimmt zurück gewiesen.

Chantal war derart auf ihre Gefährtin Eve fixiert, dass sie einfach keinen Bedarf an einer Zweitbeziehung zu einem Mann hatte.

Um so größer die Überraschung. Alle schien im Moment nur die eine Frage zu bewegen: Welches männliche Wesen hatte für Chantals derzeitigen Umstand gesorgt?

Wie hatte die vielbeschäftigte Medienministerin überhaupt die Zeit gefunden sich mit einem Mann einzulassen?

Doch es war nun einmal geschehen und in absehbarer Zeit würden man es deutlich erkennen.

 

„Gerade euch beide brauche ich für unsere Kampagne. Chantal, du wirst in deiner Eigenschaft als Medienverantwortliche die Hauptakteurin. Damit ist allerdings auch eine gewisse Zurückhaltung gefordert, denn ich gehe davon aus dass die Gegner der Anarchistischen Monarchie schon sehr bald mit eigenen Kampagnen auftreten. Auch denen müssen wir unseren Respekt zollen und ihnen ebenmäßige Möglichkeiten einräumen, auch wenn es manchmal schwer fallen sollte. Auch ich selbst darf, vor allem in der Anfangsphase, meine Sympathie für Colette nicht allzusehr in den Vordergrund rücken. Kyra, du begleitest derzeit keine Funktion in der Regierung, deshalb habe ich dich im Auge für eine Spezialaufgabe. Als Vertreterin der Schwesternschaft könnte es dir zukommen die Werbetrommel für Colette zu schlagen.“ Lautete Elenas Vorschlag.

„Mach ich doch glatt!“ Stimmte die Angesprochene in ihrer typisch coolen Art zu.“ Da bin ich dabei. Du kannst dich auf mich verlassen. Eine schöne Aufgabe, muss ich sagen.“

„Sehr gut! Du bist bekannt im ganzen Land. Die Leute mögen dich und deinen Punk. Ich könnte mir vorstellen dass ein paar Konzerte Wunder wirken.“ Glaubte Elena zu wissen.

„Ich denke das lässt sich organisieren. Ich habe da ohnehin Pläne für die Zukunft. Die richtigen Leute habe ich lange schon im Visier. Ich möchte gern Eve mit ins Boot nehmen, wenn es dir recht ist Chantal?“ meinte Kyra.

„Ja, natürlich! Das macht ihr sicher Spaß.“ Bestätigte die Angesprochene.

„Toll! Ja und Kim natürlich und einige andere vom gleichen Schlag.“

Kyra schien davon auszugehen dass alle wussten auf was sie hinaus wollte.

„Und es bleibt jetzt definitiv bei dem Termin Anfang Oktober?“ Wollte Gabriela wissen.

„Unbedingt! Eine weitere Verzögerung können wir uns nicht leisten. Die Gegner rüsten kräftig auf. Auf beiden Seiten. Wir haben jetzt Ende Juli. Wenn es nach mir ginge, würden wir die Abstimmung sogar vor ziehen. Dem Land droht eine Spaltung und dass könnte verheerende Folgen nach sich ziehen. „ Warnte Dagobert.

„Ich stehe voll hinter Colette, keine Frage. Wie könnt ihr euch aber so sicher sein, dass nach erfolgreichem Votum tatsächlich wieder Ruhe einkehrt und die streitenden Parteien zur Tagesordnung übergehen?“ Fragte Lars in die Runde.

„Sicher ist gar nichts! Aber ihr seid euch alle im Klaren darüber welch enormen Respekt Colette bei weiten Teilen der akratasischen Bevölkerung genießt. Das ist unsere Trumpfkarte.“ Gab Elena zu verstehen.

„Aber natürlich im Verein mit dir! Ich verstehe wirklich nicht warum du in der letzten Zeit ständig versuchst dein Licht unter den Scheffel zu stellen. Dich mögen sie nach wie vor.“

Glaubte Kyra einflechten zu müssen.

„Danke dir Schwester! Aber dir sind die beißenden Kritiken nicht entgangen die über mich in Umlauf sind und die teilweise hart unter die Gürtellinie gehen. Und sie nehmen an Heftigkeit zu. Ich bin daher ganz Dagoberts Meinung, dass es keine weitere Verzögerung mehr geben darf.

In einer Demokratie mag diese Art Streitkultur ihre Richtigkeit haben, für die Akratie ist sie jedoch ein Stachel im Fleisch, der uns ständig mahnt noch nicht alles getan zu haben um die Menschen zufrieden zu stellen.“ Wehrte Elena ab.

„Aus diesem Grund ist es von entscheidender Wichtigkeit gemeinsam mit dem Votum über Colette eine Aufklärungskampagne zu starten, in deren Verlauf wir den Menschen die Vorzüge einer Anarchistischen Monarchie nahe bringen. Das alles muss mit großer Sorgfalt vorbereitet und durchgeführt werden.“ Schlug Dagobert vor.

„Sehr richtig! Und wir müssen dabei verdeutlichen, dass es auf jeden einzelnen ankommt. Die Menschen müssen das Gefühl haben von Anfang an in den Entscheidungsprozess eingebunden zu sein. So viel wie nur irgend möglich an den unteren Stellen entscheiden. Deshalb habe ich in der Zwischenzeit die zahlreichen Arbeitskreise aufgefordert mit der Diskussion zu beginnen.“ Schaltet sich Ronald ein.

„Sehr gut! Ich sehe wir arbeiten gut zusammen. Wenn jeder seinen Teil erfüllt gelangen wir rasch an unser Ziel.“ Dankte Elena.

„Ja aber, wissen wir inzwischen was darunter zu verstehen ist? Wir tun alle so als ob. Wenn wir aber ehrlich zu uns sind, wissen wir es selber nicht genau. Es ist absolutes Neuland auf dem wir uns bewegen. Ist es so einfach eine neue Ideologie aus dem Hut zu ziehen?“

Grübelte Gabriela. Die anderen kamen nicht umhin ihr in Gedanken zu zustimmen. Doch wagte es keiner die eigenen Zweifel aus zu sprechen.

 

Nach Abschluss der Sitzung begab sich Elena zu Madleen, die ebenfalls zugegen war und auf der gegenüberliegenden Seite Platz genommen hatte. Zeit ihrer Frau wieder einmal die obligatorische Frage zu stellen, die immer dann im Raume stand wenn sich heraus stellte das eine der Schwestern in froher Erwartung war.

„Wie fühlst du dich mein Liebling!“

„Wie soll ich mich schon fühlen? Wie immer würde ich sagen.“ Antwortete die Angesprochene.

„Dir fehlt nichts?“

„Nein! Ich bin wunschlos glücklich?“

„Nun, ich meine in Anbetracht der Tatsache, dass gleich zwei unserer Schwestern in anderen Umständen sind, ist das ungewöhnlich.“ Glaubte Elena zu wissen.

„Aha! Ist es wieder mal soweit! Du möchtest mir die bewusste Frage stellen?“

„Ja, genau die!“

„Das brauchst du nicht! Denn meine Antwort ist die gleiche wie ehedem.“

Doch damit wollte sich Elena auf keinen Fall zufrieden geben.

„Ich kann deine Einstellung auch dieses Mal nicht recht nachvollziehen. Du möchtest wirklich kein eigenes Kind?“

„Nein! Ich möchte es nicht! Aus freien Stücken. Es gibt keinen Grund dir um meinetwegen Sorgen zu machen. Ich finde es toll wie es im Moment läuft. Gut, die Tatsache dass du eine Unmenge an Aufgaben um die Ohren hast und wenig Zeit für deine Familie erübrigen kannst ,ist schon ein Wermutstropfen. Es gab manchen Durchhänger. Aber ich habe gelernt damit umzugehen. Und seit einiger Zeit geht es wieder aufwärts. Nein, ich bin nicht wirklich unglücklich.“ Lautete Madleens Erklärung.

„Da bin ich schon mal beruhigt! Doch  andererseits? Wenn du ein eigenes Kind möchtest werden wir selbstverständlich eine Lösung finden. Überlege nicht mehr allzulange, du bist jetzt im besten Alter. Ich möchte auf keinen Fall dass du es irgendwann einmal bereuen musst, dann wenn es zu spät dafür ist. Und die Zeit vergeht rasch, viel schneller als uns lieb ist….“

„Elena! Ich weiß genau was ich tue! Ich habe kein Bedürfnis. Zumindest im Moment nicht. Wie sich die Zukunft entwickelt, wir wissen es nicht. Und sollte ich meine Meinung ändern, werde ich dich wissen lassen.“   

„Danke! Mit dieser Antwort kann ich leben! Vorerst!“

 

Etwa zur gleichen Zeit als im Grauen Wunder die Köpfe rauchten, vernahm Betül ein Klopfen an der Wohnungstür.

„Hallo Lukas! Na, was führt dich denn in dieser frühen Morgenstunde zu mir?“ Begrüßte sie den Besucher nachdem sie die Tür einen Spalt geöffnete hatte.

„Hm, ja, also! Ich wollte zu Colette! Ist sie da?“ Gab er kurz und knapp zu verstehen. Das schien eigentlich gar nicht zu seiner Art zu passen.

„Colette ist in der Eremo! Sie wollte dort mit sich und ihren Gedanken allein sein um etwas Kreatives zu schaffen. Das kann sie am besten in der Einsamkeit. Es ist noch viel Arbeit bis zur Abstimmung und auch sie möchte so viel als möglich dazu beitragen.“ Klärte Betül auf.

„Aber komm doch rein!“

Lukas folgte willig der Einladung.

„Ja…äh. Deshalb bin ich hier. Nee, eigentlich wollte ich eine Beschwerde vorbringen.“

„Eine Beschwerde? Was denn für eine Beschwerde? Und wenn, warum gehst du damit nicht zur Konfliktkommission. Die ist doch im Allgemeinen dafür zuständig.“ Wunderte sich Betül.

„Das…äh ist etwas persönliches. Na gut! Ich will nicht lange um den heißen Brei reden. Ich finde es nicht in Ordnung das wir Männer wieder mal außen vor sind.“ Begann Lukas sichtlich genervt.

„Außen vor? Wo seit ihr armen Männer außen vor?“

„Na bei Colette und der ganzen Aktion die derzeit vor sich geht. Ich finde es nicht in Ordnung, das es wieder nur eine Angelegenheit von Frauen und Kundras sein soll. Wir Männer möchten auch unseren Beitrag leisten!“

Auf Betüls Mundwinkeln bildete sich ihr zauberhaftes Lächeln.

„Aber das sollt ihr doch auch! Komm setz dich erst mal.“

Lukas platzierte sich auf dem alten Ledersofa direkt unter dem Fenster das den Blick zum Klostergarten freigab, der in dieser Jahreszeit in einem Blütenmeer zu schwimmen schien.

„Also! Colette würde sich darüber sehr freuen. Ja, sie wartet schon darauf. Niemand hat vor euch Männer auszuschließen. Ihr alle seit jederzeit herzlich willkommen.“

„Na? Ich weiß ja nicht! Gut, ich kann mich täuschen, aber es sah zumindest am Anfang wieder nach so einem Gekungel innerhalb der Schwestern aus. Ich spreche auch im Namen der anderen Männer. Wir haben in unserem Zentrum intensiv darüber beraten. Colette für alle? Das bedeutet auch Colette für uns Männer.“

„Aber sicher doch! Oder glaubst du es wäre nicht so?“ Meinte Kim, die plötzlich aus dem Nachbarzimmer auftauchte.

„Klar, du musst deinen Senf auch noch dazu geben. Aber….? Ihr beide seit hier? Und Colette ist allein in der Eremo? Das kann nicht sein. Seit ihr denn von allen guten Geistern verlassen.“ Entsetzte sich Lukas.

„Ich verstehe nicht warum du so ein Gedöns machst. Tauchst hier auf und machst Stimmung. Also drauf können wir gerne verzichten.“ Warf ihm Kim vor.

Noch bevor Lukas etwas erwidern konnte, griff Betül wieder ein.

„Stopp! Stopp! Ich glaube hier liegt ein Missverständnis vor. Also, es besteht kein Grund zur Sorge. Es gibt außer uns noch andere. Colette ist nicht allein in der Eremo. Heute Vormittag ist Eve bei ihr. Wir wechseln einander ab, was ihre Betreuung betrifft. Aber deine Sorge um unsere Königin ehrt dich.

Du bist uns willkommen. Ich kann es nur noch einmal betonen. Wenn du etwas für Colette tun willst, wir können weitere helfende Hände immer gebrauchen. Vor allem auch Männerhände.“

„Na da bin ich ja beruhigt. Zufällig mag ich Colette auch und möchte es ihr beweisen. Wann immer ihr mich braucht bin ich zur Stelle. Als Chauffeur, als Hausmeister, wenn es was zum Schleppen gibt und so weiter und so fort.“ 

„Prima! Dafür haben wir stets Verwendung. Aber eine andere Sache. Du bist nicht zufällig auch wegen Kim hierher gekommen? Ich denke ihr solltet euch mal gründlich aussprechen, oder?“ Schlug Betül vor.

„Also ich habe da im Moment überhaupt keinen Bedarf. Lass es doch so wie es ist, zumindest vorläufig. Ich bin über den derzeitigen Abstand ganz froh.“ Lehnte Kim sogleich ab.

„Natürlich bin ich auch wegen Kim gekommen. Ich wollte dich einfach mal wieder sehen, weil du dich die letzte Zeit kaum noch in der Gärtnerei blicken lässt. Aber wie ich sehe brauche ich kaum zu hoffen, dass sich das in nächster Zeit ändert. Gut, seis drum. Ich habe verstanden.“ entgegnete Lukas mit Enttäuschung in der Stimme.

„Gar nichts verstehst du! Warum spielst du immer gleich die beleidigte Leberwurst, wenn mal nicht alles nach deinen Vorstellungen geht. Ich brauche einfach den Abstand… Ach man, dass hat doch nichts mit dir zu tun. Ich muss einfach mal über einiges nachdenken.“ Konterte Kim

„Na, dann denke! Ich hoffe es kommt am Ende was Vernünftiges dabei raus.“

Lukas erhob sich und machte Anstalten zu gehen.

„Also gut, wenn ihr mich braucht. Ruft mich! Ihr wißt wo ich zu finden bin. Ich kann mich an eurem Colette-Bereitschaftsdienst ebenso beteiligen, auch wenn ich ein Mann bin.

Ich hoffe dir geht es nicht gegen den Strich Kim, wenn wir uns bei einer solchen Gelegenheit mal über den Weg laufen.“

„Ach du bist ein alter Quatschkopf! Warum sollte ich denn was dagegen haben!“

Betül sah sich genötigt einzugreifen! Sie erhob sich einfach, legte den Zeigefinger der linken Hand auf die Lippen und machte einfach „Psssst“

„Ich denke es reicht für heute! Lukas, ich danke dir für deinen Besuch und dein Angebot. Wir nehmen es von Herzen entgegen. Komm doch einfach Morgen vorbei, sagen wir mal so am frühen Nachmittag. Die Zeit bis zum Abend könntest du mit Colette verbringen. Für heute denke ich ist es besser wenn du jetzt gehst. Aber vergiss nicht, das dich Kim noch immer gern hat.“

„Ok! Geht klar! Dann bis morgen Nachmittag!“

Lukas schloss die Tür von außen.

„Also Kim! Du solltest wirklich nicht so mit ihm reden. Lukas ist mit ehrlichen Absichten gekommen. Das solltest du würdigen. „

„Ach der und ehrliche Absichten! Da lachen doch die Hühner!“

„Ich weiß nicht was zwischen euch vorgefallen ist. Das müsst ihr unter euch ausmachen. Auf keinen Fall möchte ich, dass ihr euch in Colettes Beisein streitet. Dir ist bewusst wie sehr sie auf Harmonie und Verständigung ausgerichtet ist. Dass könnte ihr bei ihrer angeschlagenen Gesundheit zum Schaden gereichen.“ Gab Betül zu bedenken.

„Mach dir keinen Gedanken. Das weiß ich zu vermeiden. Du hast Recht, das geht nur Lukas und mich etwas an und hat nichts mit unserer Arbeit für Colette zu tun. Ich zumindest halte mich daran. Aber ob es auch so sieht…“

Kim brach ab. Sie wollte sich im Moment nicht weiter damit belasten und Betül ebenfalls nicht.

 

Derweil hatte es sich Eve auf einer Decke bequem gemacht die sie auf dem Boden vor der Eremo ausgebreitet hatte. Lang streckte sie die Glieder von sich und ihr Blick fiel auf die majestätisch anmutenden Berggipfel die sich in nördlicher Richtung in den Himmel hoben.

Gedankenversunken, aber stets in Rufnähe zu Colette, sollte die ihrer Hilfe bedürfen

Was für eine bizarre Landschaft. Urwüchsig und Naturbelassen. So als gehöre sie nicht in diese Zeit.

Dabei erinnerte sie sich wieder ihres Ausfluges mit Elena. Damals, als sie noch nicht lange bei den Schwestern lebte und alles noch  so neu für sie war. Nicht selten rätselhaft und undurchsichtig.

Viel hatte sie lernen müssen, nicht nur die ungewöhnliche Sprache, dem deutschen zwar sehr ähnlich, aber doch eigenwillig.

Doch das lag in der Vergangenheit. Nun war sie schon seit geraumer Zeit ein Teil der Schwesternschaft, hatte sich hier eingelebt und fühlte sich geborgen und wohl.

Die kleine Lesbe, die nie ein richtiges Zuhause ihr eigen nennen konnte, hatte endlich eine  Familie gefunden. Eine Familie, die es in sich hatte. An Vorbildern und Leitfiguren mangelte es wahrlich nicht, an denen sie sich orientieren konnte. Vielmehr ein Überangebot.

Angefangen natürlich bei der schönen und begehrenswerte Partnerin an ihrer Seite. Voller Stolz blickte sie zu Chantal auf. Und wenn sich Eve auch alle Mühe gab, ähnlich wie Kyra, männlich zu wirken, etwa was Kleidung oder Auftreten betraf, in dieser Beziehung hatte Chantal die Hosen an. Eve ordnete sich ihrer Partnerin bereitwillig nach und akzeptierte deren Entscheidungen. Die Erfüllung eines Lebenstraumes. Sie verzehrte sich nach jedem Wort das über Chantals Lippen kam. Die einst Ausgestoßene und Verachtete durfte nun an der Seite dieser schönen, eleganten und intelligenten Frau leben.

Auch Kyra wurde schnell zu einem Fixpunkt in ihrem Leben. Die Ähnlichkeit mit ihr war so frappierend, dass man sie für leibliche Geschwister hielt. Eve genoss es, regelmäßig mit ihr verwechselt zu werden. Nun durfte sie bald in deren Band spielen.

Elena war die Lichtgestalt schlechthin. Das verstand sich fast von selbst. Und Colette, dieses große Mysterium. Sie durfte einer Königin Gesellschaft leisten.

Ging es ihr am Ende gar zu gut? Würde sie bald die Rechnung serviert bekommen?

Für einen kurzen Augenblick versank sie in einen leichten Schlummer.

Colette hatte sich an ihrer Seite am Boden platziert und lies einen Grashalm langsam über ihre Wangen gleiten.

Erschrocken öffnete sie die Augen und fuhr in die Höhe.

„Colette? Entschuldige! Ich muss eingeschlafen sein. Brauchst du mich? Ist etwas geschehen?“

Sanft bette Akratasiens Königin die kleine Kämpferin wieder auf die Decke.

„Kein Grund zur Beunruhigung! Ich wollte nur mal nachsehen wie es dir geht. Keinesfalls wollte ich dich erschrecken. Mir geht es gut. Ich habe dich schon eine Weile im Auge. Ein schöner, ein friedlicher Anblick wie du dich entspannst.“

Colette begann sich ebenfalls auf der Decke nieder zu lassen.

„ Ich kann immer wieder nur staunen über diese Landschaft. Ich meine das Gebirge. Als Kind wurde ich immer wieder von Träumen heimgesucht. Ich sah Berge, die denen dort oben total ähnlich sahen. Eigenartig, dass mir das jetzt erst richtig auffällt.“

Erstaunte sich Eve.

„Es war offensichtlich deine Bestimmung von Anbeginn und du bist ihr gefolgt. Du bist eine akratasische Tochter und du wirst es bleiben solange du lebst.“

„Es tut so gut bei euch zu leben! Aber was ist mit dir? Brauchst du wirklich keine Hilfe, Colette?“

Eng kuschelte sich Eve an ihre Königin.

„Im Moment wüsste sich nichts Spezielles! Ich bin beim Schreiben und hab wieder mal so einen kleinen Durchhänger. Dann heißt es unterbrechen. Pause machen.“

„Darf ich fragen, woran du gerade arbeitest? Oder stört es dich darüber zu sprechen?“

„Keineswegs! Im Gegenteil! Fragen und sich austauschen kann mir sogar sehr nützlich sein. Es spornt mich zu neuen Ideen an.“

Eve richtete sich auf so dass sie direkt zu Colette hinabschaute.

„Wer sind wir? Wo kommen wir her? Was macht uns zu dem was wir sind? All die Auseinandersetzungen der letzten Wochen und Monate haben mir mal wieder deutlich vor Augen geführt, dass es keinen geraden Weg zum Erfolg gibt. Unser Dasein gleich eher einer Spirale. Alles war schon einmal vorhanden, in welcher Form auch immer. Eine ständige Wiederholung. Auch oder gerade die Fehler der Vergangenheit kehren immer wieder.“

„Hast du Befürchtungen, dass Akratasien keinen dauerhaften Bestand haben könnte?“ Auf Eves Stirn bildete sich eine Sorgenfalte.

„Ich habe ein ungutes Gefühl. Es ist einfach nur fatal. Kaum haben wir die Diktatur überwunden und erfreuen uns weit reichender Freiheiten, brechen die alten Auseinandersetzungen wieder auf. Ein Blick in die Geschichte genügt und zu vergleichen. Überall auf der Welt ähnliche Situationen. Ist der gemeinsame Gegner überwunden,sind Eintracht und Harmonie nicht mehr gefragt.“

„Ich hege inzwischen auch so meine Zweifel. Damals nach Neidhardts Abgang, da schien alles so einfach. Und jetzt? Ich höre seit Wochen nichts anderes. Chantal ist ja kaum noch ansprechbar. Ständig unterwegs. Von einer Krisensitzung zur anderen. Nun sind wir schon so weit dass die sich am Samstagvormittag treffen. Aber wie ich die Sache einschätze, haben die auch heute kein Ergebnis vorzuweisen.“ Beklagte sich Eve.

„Wir machen es falsch! Auf irgendeine Art machen wir es falsch. Ich versuche den Fehler zu finden, aber es gelingt mir nicht. Blockade. Früher, da half es wenn ich alleine mit mir war, mit mir und meinen Gedanken. Oder wenn ich zu langen Wanderungen aufbrach. Kann ich beides vergessen, bei meinem derzeitigen desolaten Gesundheitszustand.“ Erwiderte Colette.

„Wusste ich es doch! Dir geht es nicht gut!“

„ Sei ohne Sorge! Im Moment fühle ich mich ganz in Ordnung! Solange ich mich hier auf halte. Aber ich gebe dir Brief und Siegel. Sollte ich mich entscheiden zu einem Spaziergang aufzubrechen, komme ich nicht sehr weit. Das ist schlimm für mich. Ich fühle mich in meiner persönlichen Freiheit eingeschränkt.“ Klärte Colette auf. Dann richtete sie sich ganz langsam nach oben. Doch kaum dass sie auf den Beinen stand begann sie zu schwanken.

Geistesgegenwärtig postierte sich Eve an ihrer Seite.

„Siehst du! Das ist es was ich meine. Es kann von einem zum anderen Moment eintreten.“

Colette bewegte sich vorsichtig im Garten auf und ab.

„Auch wenn sich mein Königtum deutlich von jenem anderer gekrönter Häupter unterscheiden mag. Was bin ich denn für eine Königin? Außerstande sich gerade auf den Beinen zu halten? Mein Leben lang habe ich gekämpft, Höhen und Tiefen durchschritten,  bin über spitze Dornen gelaufen und habe in tiefe Abgründe geblickt. Doch ich vermochte es immer wieder aufzustehen. Und nun? Da ich am Ziel angekommen scheine, versagen die Beine ihren Dienst. Ich verspüre erstmals so etwas wie Spaß am Leben. Doch was wird mir die Zukunft bringen? Ich sehe es deutlich vor mir, immer dann wenn mich die Visionen überkommen. Das unentdeckte Land, dass wir zu erkunden suchen.“

„Noch immer gelingt es mir nicht eine klare Vorstellung von all dem zu entwickeln, was dahinter steckt. Ich war der Meinung, dass wir mit der Gründung Akratasiens das Neuland bereits betreten haben?“ Wunderte sich Eve.

„Das haben wir auch! Doch das war nur der Anfang. Es gehört nicht allzuviel dazu einen neuen Staat zu gründen. Alles nur äußere Fassade. Ein Flagge wird eingeholt, eine neue gehisst, ein paar patriotische Lieder werden gesungen und eine Regierung wird durch eine andere ersetzt

Und dann?“

„Ich weiß es nicht!“ Gestand Eve.

„Ich kann es dir sagen! Alles läuft weiter wie gehabt. Der alte Kreislauf. Nach der Anfangseuphorie folgt der Alltagstrott. Ich fürchte, dass es auch in Akratasien nicht wesentlich anders verläuft. Ach, was führten wir nicht alles für Diskussionen in der Vergangenheit um eben einen solchen Zustand zu verhindern. Vergebens! Wenn ich mir unsere derzeitige Situation betrachte.“

„Was gedenkst du zu tun? Gibt es schon einen Plan?“

„Pläne gibt es mehr denn je. Sie verstauben in den Schubladen ohne Hoffnung auf Erfüllung. Doch auf die Erfüllung kommt es an.

Zunächst müssen wir die Abstimmung abwarten. Dann ist es soweit. Pass auf! Ich stelle mir mehrere Anläufe vor, die, unabhängig von einander, parallel oder auch zeitlich versetzt an den Start gehen.“ Erläuterte die Königin selbstsicher.

„Du machst mich wirklich neugierig!“ Bekannt Eve.

„Das ist gut! Neugierde ist die beste Voraussetzung und ich glaube neben dir gibt es noch eine ganze Reihe weitere auf die ich setzen kann.

Da wäre zum einem die angestrebte androgyne Revolution. Du erinnerst dich an unser Gespräch vor einiger Zeit, mit Kyra, Kim und Betül?“

„ Du machtest damals solche Andeutungen. Akratasien sollte eine Heimstatt für androgyne, nicht-binäre, genderqueere Personen aus aller Welt werden, wenn ich dich richtig verstanden habe.“ Erinnert sich Eve.

„In der Zwischenzeit konnte ich meine Fühler weit in die Welt strecken. Es war nicht schwer Interessierte zu finden. Vorrang sollten jene haben, die aufgrund ihrer Lebensweise in Bedrängnis geraten sind. Das versteht sich von selbst. Unmittelbar nach der Abstimmung könnten die ersten eintreffen. Das ist meine Vorstellung einer gelebten Akratie. Sie wird bunt wie ein Regenbogen. Unsere einheimische Bevölkerung könnte davon nur profitieren “

„Das ist toll! Da bin ich total gespannt!“ Begeisterte sich Eve.

„Ich auch! Bis es soweit ist sollten wir mit den Planungen fortfahren. Die Leute müssen ja untergebracht werden. Ein Zentrum könnte, wie ich bereits erwähnte, hier auf dem Gelände entstehen. Noch haben wir freie Kapazitäten. Der Rest verteilt sich überall im Lande.“

„Klar, wir können ja nicht alle in Anarchonopolis unterbringen. Das würde mit der Zeit ein wenig eng.“ Fürchtete Eve.

„Genau!  Da kann ich gleich zu einem weiteren Projekt überleiten. Die Eremo soll ein Ort der Stille bleiben. Schon vorzeiten knüpfte ich Kontakte zu spirituellen Persönlichkeiten aus aller Welt. Zu meiner großen Freude wurde ich auch in dieser Hinsicht schnell fündig. Die leer stehenden Eremitagen könnten bald bezogen werden.“ Gab Colette zu verstehen.

„Echt? Und von wem zum Beispiel?“

„Von Menschen, die ein großes Charisma besitzen. Vertreter aller Weltreligionen, aber auch  bedeutende Philosophen etwa. Mit denen möchte ich hier vor Ort auf Augenhöhe kommunizieren.“

„Ich habe mir nie viel aus solchen Dingen gemacht. Du weißt ja, dass ich in dieser Angelegenheit ganz schön negativ vorbelastet bin. Es könnte sein, dass ich mich ein wenig schwer tue mit solchen Leuten umzugehen. Und wie ich die Sache einschätze wird es auch eine ganze Reihe anderer Bewohner von Anarchonopolis geben die ähnlich voreingenommen sind.“ Gab Eve zu bedenken.

„Dessen bin ich mir bewusst. Die Vertreter der säkularen Anarchie, werden protestieren. Damit kann ich leben. Das kann der freien Diskussion nur förderlich sein. Daran schließt sich mein nächster Punkt an.“

„Und der wäre?“

„Unser theoretisches Konzept weiter vertiefen. All die vielen Begriffe die seit Monaten kursieren. Eine wahre Begriffsinflation. „Regulierte Anarchie“ , „Gelenkte Akratie“ und schließlich „Anarchistische Monarchie“. Da könnte man leicht den Durchblick verlieren.

Wie ich in Erfahrung bringen konnte, ist zumindest darüber der Diskussionsprozess eingeleitet. Aber es liegt an uns, diesen ständig weiter mit Inhalten zu füllen. Gerade unsere einfach gestrickten Gemüter könnten sich hier leicht abgehängt fühlen und als Folge dessen in die Fänge der Populisten geraten. All jene Kräfte, die einfache Antworten zu geben versprechen. In Wirklichkeit jedoch nur weitere Fragen aufwerfen.“     

„Frage 10 Anarchisten was sie unter Anarchie verstehe und du bekommst 10 verschiedenen Antworten. Das kenne ich noch zur Genüge aus meiner Zeit in der autonomen Szene.“ Erinnerte sich Eve.

„Genau das ist das Problem. Sie geben vor undogmatisch zu sein, erheben aber allesamt ihren Standpunkt zum Dogma.“ Stimmte ihr Colette zu.

„Es gibt viel zu tun! Wo sollen wir beginnen? Aber wie gesagt zunächst müssen wir die Abstimmung verlaufen lassen.“

„Aber was wird geschehen, wenn diese ein negatives Ergebnis bringt? Wenn die Mehrheit einer anarchistischen Monarchie nicht zustimmen sollte?“ Wollte Eve wissen. Eine Frage die Colette in Erklärungsnot brachte.

Sie wollte gerade zu einer Antwort ansetzen als Chantal im kleinen Vorgarten erschien.

„Hallo! Schön dass ich euch noch antreffe. Wie geht es dir Colette!“ Sie begrüßte die Königin mit einem Kuss. Im Anschluss fiel ihr Blick auf ihre Gefährtin.

„Hallo Schatzi!“ „Schmatz, Schmatz!“

Eve schien ihrer Partnerin etwas reserviert. Colette bemerkte es sofort und schloss daraus, dass es zwischen den beiden derzeit Verstimmungen geben mochte. Noch aber wollte sie nicht darauf eingehen.

„Ich dachte mir, dass dich das derzeitige Meinungsbild interessiert. Deshalb bin ich nach der Kabinettssitzung direkt zu dir gekommen.“

„Immer! Na und was sagen die Zahlen?“ Erkundigte sich die Königin.

„Wir sind gut im Rennen! Weit über 50 %, aber eben noch keine zweidrittel. Ich bin mir aber sicher, dass unsere Kampagne bald greifen wird. Schon am Montag nehmen die Arbeitskreise ihre Tätigkeiten auf. Das könnte den erhofften Umschwung bringen.“ Informierte Chantal.

„Es hängt viel davon ab. Gerade eben habe ich mit Eve darüber gesprochen, was wir nach erfolgreichem Abschluss des Referendums zu tun gedenken. Bei einer Niederlage könnte sich das als außerordentlich schwierig erweisen.“ Erwiderte Colette.

„Hey, da machst du mich aber neugierig!“

„ Später! Ich bin etwas müde vom vielen philosophieren. Wie ich sehe könntest du auch etwas Ruhe vertragen. Holt euch Decken und macht es euch auf dem Rasen bequem. Genießt die Ruhe und den Frieden hier oben. Lass es dir doch einfach von Eve erklären, wenn ihr wieder für euch seid.“ Schlug Colette vor.

„Wenn sie überhaupt noch mit mir spricht, natürlich!“ Entgegnete Chantal und man konnte den Seufzer in ihrer Stimme deutlich hören.

„Was soll das heißen? Habt ihr im Moment Funkstille?“

„Noch nicht ganz, aber ich fürchte es könnte sich bald daraus entwickeln. Das geht schon seit ein paar Tagen so. Seit sie von meiner Schwangerschaft weiß.“ Versuchte Chantal eine Erklärung.

„Schwanger? Du bekommst ein Kind, Chantal? Hey Eve, warum hast du mir nichts davon berichtet? Das ist doch eine ausgesprochen positive Nachricht?“ Rief Colette erstaunt und stupste die neben ihr sitzende mit dem Zeigefinger an die Nase.

„Das ist Chantals Angelegenheit. Geht mich nichts an. Es ist ihr Kind und sie entscheidet wann und auf welche Weise sie andere darüber in Kenntnis setzt.“ Lehnte die Angesprochene ab, dann erhob sie sich abrupt und bewegte sich auf den Gartenzaun. Chantal folgte ihr und hielt sie fest.

„Eve! Warte! Warum sagst du so etwas? Mein Kind? Nein! Unser Kind sollte es heißen! Wir beide bekommen es und wir werden es als unser behandeln?“

Eve entwand sich ihrer Partnerin.

„Ach Unsinn! Es ist dein Kind! Du trägst es aus und wirst es unter Schmerzen gebären. Wenn es geboren ist, wirst du es an deiner Brust säugen und so weiter und so fort. Ach ja und dann gibt es noch einen Vater ohne dessen zu tun nichts dergleichen geschehen wäre. Und ich? Ich habe mit deinem Kind ebenso viel zu tun wie der Kaiser von China.“

„Da liegst aber total daneben. Denn, erstens gibt es in China schon seit über hundert Jahren keine Kaiser mehr und zweitens hast du sehr wohl etwas mit dem Kind zu tun. Du wirst es gemeinsam mit mir aufziehen. Du und kein anderer. Wir beide werden seine Eltern sein.“

Widersprach Chantal energisch.

„Und was ist mit dem Vater? Hat der etwa keine Rechte? Du willst mir ja nicht einmal seinen Namen nennen.“   

„Das ist doch völlig ohne Belang. Es kann dir im Grunde piepegal sein, wer mich geschwängert hat. dass tut überhaupt nichts zur Sache.“ Konterte Chantal, doch wollte sich Eve noch immer nicht damit zufrieden geben.

„Da bin ich aber ganz anderer Ansicht! Ich sehe darin einen Vertrauensbruch. Wir wollten stets offen mit einander umgehen. Wollten uns alles sagen. Es sollte keine Geheimnisse geben. Dein Verhalten stellt alles in Frage. Ich meine….“

Colette klatschte in die Hände und beendete damit die Zwistigkeit.

„Schluss jetzt mit dem Zankt. Hört auf damit. Ihr befindet euch hier auf einem Ort der Stille.

Los kommt her ihr zwei. Setzt euch zu mir!“

Colettes Aufforderung klang wie ein Befehlt und die beiden gehorchten widerspruchslos. Die Natürliche Autorität wirkte.

Chantal ließ sich zur Linken des Liegestuhls auf dem Gras nieder, Eve tat es zur Rechten.

Akratasiens Königin atmete kurz durch, dann begann sie mit ihrer Standpauke.

„Wie ihr euch sicher noch erinnern könnt, habe ich damals einiges in die Waagschale geworfen um euch zusammen zu bringen. Das ist der Grund warum ich ein persönliches Interesse daran habe, dass eure Partnerschaft funktioniert und ihr glücklich miteinander seid.

Erlaubt mal. Immerhin hätte ich damals durchaus meine Freiheit verlieren können.“ Ein ironischer Unterton mischte sich in die Stimme.

„Ich betrachte mich in gewisser Hinsicht als Patin eurer Beziehung. Und was eine richtige Patin ausmacht, ist auch die Fähigkeit Streitigkeiten zu schlichten.

Ich kann euer beider Reaktionen nicht ganz nachvollziehen. Du sagst, ihr hättet euch gründlich ausgesprochen, Chantal?“

„Ja! Mit allem was dazu gehört. Und da Eve sich nicht vorstellen konnte ein Kind auszutragen, habe ich mich dazu bereit erklärt. Die Sache hatte natürlich einen Haken. Wo bekomme ich den entsprechenden Samen her?“ Antwortet Chantal.

„Klar! Wie gut dass es noch Männer gibt die mit entsprechendem aushelfen können. Aber ich sehe noch immer nicht das Problem dabei!“ Hakte Colette nach.

„Die Vorstellung dass Chantal, dass die Frau die ich über alles liebe, mit einem Mann zusammen war, tut mir einfach weh.“ Bekannte Eve.

„Aber was hätte ich denn tun sollen? Dazu gehören nun mal Mann und Frau, auch Anarchonopolis kann an dieser Tatsache nichts ändern. Sollte ich mich am Ende künstlich befruchten lassen, wie eine Zuchtstute. Das kann doch nicht dein Ernst sein, Eve. Bei all den vielen Männern die hier zur Auswahl stehen?“

„Aha! Daher weht der Wind! Eifersucht! Die alte Sucht die Leiden schafft. Jetzt beginne ich zu verstehen. Doch andererseits wieder nicht. In Anarchonopolis herrscht das Prinzip der „Freien Liebe“. Wieder einmal mehr ein Beweisdafür dafür, wie weit Theorie und Praxis noch immer auseinander klaffen. Auch heute noch, nach so langer Zeit.“ Schien es Colette zu dämmern.

„Ich habe einfach nur Angst, dass ist alles!“ Eve wischte sich eine Träne aus dem Auge.

„Angst dass alles zu Ende geht und ich wieder allein auf weiter Flur stehe.“

„Aber deine Angst ist vollkommen unbegründet.“ Chantal griff nach Eve`s Hand doch die entzog sie ihr.

„Colette, wie kann ich dieser süßen kleinen Maus, diesem reizenden Wesen dort sagen, wie sehr ich sie liebe? Ich will nur sie allein. Ich habe keinerlei Verlangen nach einer Zweitbeziehung.“ Klagte Chantal

„Also gut! Hört mein Wort! Eve, du tust Chantal Unrecht. Sie liebt dich wirklich, das hat sie immer getan. Wer könnte es besser beurteilen als ich. Du hättest sie sehen sollen, so kurz nach der Grenzbefestigung, als sie befürchten musste dich nie wieder zu sehen. Völlig am Boden zerstört, kreidebleich und depressiv. Ich konnte es nicht mehr länger mit ansehen und fühlte mich genötigt einzugreifen. Und wie groß war die Freude des Wiedersehens. Was die Schwangerschaft betrifft, hat sie richtig gehandelt. Eine natürliche Empfängnis ist einer künstlichen Befruchtung immer vorzuziehen. Die freie Vereinigung zweier erwachsener Menschen. Bei dem Überschuss an gut aussehenden Männern hier in Anarchonopolis wäre es reine Verschwendung an etwas künstlich herbei Geführtes auch nur zu denken.

Aber dir Chantal muss ich sagen, dass ich Eve ebenso verstehe. Du darfst ihr den Namen des Vaters nicht verschweigen. Sprecht euch aus, nicht hier, sondern wenn ihr wieder unter euch seid. Ich brauche es nicht zu wissen, und auch kein anderer. Eve hat ein Recht es zu erfahren. Ihre Angst ist auch nicht von der Hand zu weisen. Du solltest dich wieder bedeutend mehr Zeit für sie nehmen. Die Politik muss hinten anstehen. Auch die Kampagne für mich darf euer Wohlergehen nicht zerstören.“

„Ich verspreche es!“ Gelobte Chantal. „Ich nehme mir die Zeit, koste es was es wolle.“

„So möchte ich es hören! Und? Was ist mir dir Eve!“

„Ich glaube dir Chantal!“ Bekundete diese.

„Richtig so! Heute Nacht werdet ihr euch auf besondere Art lieben. Gebt euch der Liebe hin und denkt dabei an mich und welche Freude ihr mir damit bereitet.“ Lautete Colettes Rat. Die beiden würden ihn mit Freude befolgen.

 

Während der Hochsommer langsam in einen schönen angenehmen Spätsommer überging, lief die Kampagne auf Hochtouren. Die Vertreter des Kabinetts, die beiden Regierungsparteien, aber auch die Schwesternschaft, alle brachen auf, um überall im ganzen Land für die Anarchistische Monarchie zu werben. Bis in die kleinsten Winkel wollten sie ihre Botschaft tragen. Sie besuchten die Menschen in den kleineren Städte und Dörfern und teilten deren Leben, arbeiteten gemeinsam mit ihnen und kamen so miteinander ins Gespräch. Kein Regierungsmitglied war sich für diese Aufgabe zu schade. Alle Beteiligten konnten davon profitieren und zu dem machte es Spaß: Sie schlugen gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Auf diese Weise kamen ihnen auch die aktuellen Sorgen und Nöte der Menschen zu Ohren.

Im Gegensatz zu den Wahlkämpfen der vorrevolutionären Zeit, sollte die Bevölkerung aktiv in die laufende Aktion einbezogen werden. Ein Kreuzchen auf einem Wahlzettel, falten und in die Wahlurne stecken. Und dann? Im früheren Melancholanien oder in vielen Ländern der Erde war es so. Die gewählten Mandatsträger hatte was sie wollten, entsprechend interessierte ihnen Volkes Sorgen nur noch herzlich wenig, solange bis die nächste Wahl vor der Türe stand.

Diese Abstimmung sollte sich deutlich davon abheben. Es war die erste ihrer Art seit Elenas Regierungsantritt, eine Premiere in jeder Hinsicht. Elena war froh über den Umstand, dass es nicht um ihre Person ging. Niemand käme auf die Idee einem Menschen wie Colette Machtbesessenheit vorzuwerfen. Das sollte sich als großes Plus erweisen.

Gleichzeitig mit der Reklame für Colette als Person erfolgte die Werbung für die Inhalte und Ziele der neuen ungewöhnlichen Regierungskonstellation. Bisher konnte sich darunter kaum jemand etwas vorstellen. Ein Manko, dem man versuchte damit bei zu kommen.

Es würde eine Unmenge an Überzeugungsarbeit benötigen. Um so mehr, da die Gegner ihrerseits mit ihren jeweiligen Kampagnen begonnen hatten. Fünf Minuten vor zwölf.

Kamen sie etwa zu spät? Eine durchaus gerechtfertigte Befürchtung, die sich aber nicht zu bestätigen schien. Überall wurden sie mit Freude und Begeisterung aufgenommen und viele Menschen konnten zur Mitarbeit gewonnen werden. Elena und ihr Anhang stellten mit Zufriedenheit fest, dass die Regulierte Akratie allem Anschein nach Fuß gefasst hatte.

Nun galt es das zarte Pflänzchen in seinem stetigen Wachstum zu unterstützen.

Wie aber war eine Gelebte Akratie an der Basis vereinbar mit dem Gedanken einer Königin an der Spitze. Wozu brauchte man diese? Es schien doch hervorragend ohne zu  funktionieren? Der Antagonismus trat offen zu tage. Doch nur für den ersten Moment. Für Menschen, darin geübt in größeren Zusammenhängen zu denken, erschloss sich deren Sinn schon nach kurzer Analyse.

Gleichnisse dienten als Metaphern, um den Zweck verständlich zu machen. Etwa jener simple Vergleich mit einem Gewächshaus. Das schützende Dach eines Gewächshauses ermöglicht es den Pflanzen ungestört und geschützt vor den Unbilden der Umgebung und den Launen der Natur langsam aber stetig zu wachsen, an Größe und Stärke zu gewinnen, um schließlich zur Blüte zu gelangen, die nach einer bestimmten Zeit in die reife Frucht mündet. Das Dach ist dabei stets passiv. Es entwickelt keine Eigendynamik, greift nie ein, ist dazu gar nicht imstande. Alles was sich darunter vollzieht, obliegt der Eigenentwicklung. Die Pflanzen gedeihen selbständig. Dem Dach kommt lediglich eine Schutzfunktion zu.

Die Anarchistische Monarchie symbolisiert das Dach, das sich, gleichsam wie ein Netzwerk, über alle autonomen Körperschaften ausbreitet und Schutz gewährt, jedoch nach Möglichkeit niemals unaufgefordert eingreift.

Solche Bilder vermochte jeder zu verstehen. Hingegen groß angelegte theoretische Lehreinheiten, gespickt mit reichlich Fach-und Fremdwörtern, wenig fruchten konnten und sich nur einer kleinen intellektuellen Elite erschlossen.

 

In Akratasien bestanden unterschiedliche Entwicklungsstufen. Während jene, die schon während Neidhardts Diktatur der Akratasischen Föderation anhingen deutlich fortgeschritten waren, was den Grad der Autonomie betraf, steckte dieser in anderen Regionen noch in den Kinderschuhen. Dem galt es Rechnung zu tragen. 

Überhaupt stellte Akratasien alles andere als ein homogenes Gebilde dar. Sehr unterschiedliche Mentalitäten und Befindlichkeiten galt es unter einen Hut zu bringen.

Keine leichte Aufgabe für Elena und die Ihren.

Ihre Gegner respektierten sie als Person. Das stand außer Frage. Viele ehemalige Kampfgefährtinnen –und Gefährten waren darunter. Doch sie glaubten den eingeschlagen Weg nicht mitgehen zu können. Wollten die Akratie jetzt, ohne Wenn und Aber, ohne ein schützendes Dach. Die Menschen würden in absoluter Freiheit leben, ohne einer Regierung zu bedürfen die über deren Wohl und Weh zu wachen hatte.

Elena sah die Gefahr. Es tat ihr weh, Kovacs Traum von der puren Freiheit einschränken zu müssen. Doch sie hatte in den zurückliegenden Monaten hinzugelernt und musste schmerzliche Erkenntnisse akzeptieren. Die grenzenlose Freiheit war nicht zu haben, sie blieb ein schöner Traum, dem es sich zu nähern galt, dessen volle Erfüllung jedoch unter den derzeitigen Umständen nicht zu haben war. Unbegrenzte Freiheit barg große Gefahren in ihrem Inneren. Wer würde im Möment wirklich von ihr profitieren? Man brauchte nicht lange nach der Antwort zu suchen. Es waren wieder einmal die Starken, die Durchsetzungsfähigen und Intelligenten. Ein Umstand der sich seit geraumer Zeit in den zahlreichen Arbeitskreisen, Komitees und Syndikaten abzeichnete, die wie Pilze aus dem Boden schossen und begannen, dem Land eine neue Struktur zu verleihen. Diese leisteten ausgezeichnete Arbeit und Elena war sehr zufrieden mit dieser Entwicklung. Doch da gab es schon wieder zahlreiche Verlierer. All jene, denen es nicht gegeben war sich in den Vordergrund zu spielen und bei jeder passenden Gelegenheit das Wort zu ergreifen. Jene Stillen, Introvertierten, die durchaus einiges zu sagen hatten, sich aber nicht trauten, weil es nicht ihrer Natur entsprach. Jene Sensiblen, die durch ihre Ruhe und Besonnenheit zu einem Leben in Harmonie und Verständigung beitragen konnten, blieben weitgehend ungehört.

Die Gefahr einer Polarisierung lag in der Luft. Elena und die Schwestern gedachten sich solchen Entwicklungen zu widersetzen. Es bedurfte einer Person deren Charisma Ruhe, Gelassenheit und Ausgeglichenheit ausstrahlte. Eine natürliche Autorität, über jeden Zweifel erhaben. Colette war dafür geradezu prädestiniert. Selbst ihre angeschlagene Gesundheit stand dem nicht im Wege, im Gegenteil. Gerade weil sie eben keine Superfrau präsentierte, die über den Dingen zu stehen schien, sondern sich wie jeder andere sterbliche Mensch mit Anfechtungen jedweder Art auseinanderzusetzen hatte, wirkte sie authentisch. Colette lag es fern jemals Herrscherallüren zu entwickeln, oder sich übermäßige Privilegien zu sichern. Ihre franziskanische Genügsamkeit lies solche Ambitionen gar nicht zu und hatte sie zur Königin gemacht, lange bevor irgend jemand auf den Gedanken gekommen war sie als eine zu bezeichnen. Nein, diese Würde stand nicht im Widerspruch zur Akratie. Vielmehr sah sie sich selbst als oberste Dienerin einer von Herrschaft befreiten Welt. Unter ihrem Schutz und Schirm sollte die Akratie wachsen und gedeihen.

Blickte Elena hingegen auf sich selbst, so musste sie sich eingestehen wie weit sie doch von diesem Ideal entfernt war. Obgleich sie einen weiten Weg der Läuterung gegangen war, von schweren Schicksalsschlägen immer wieder zur Ordnung gerufen und man ihr die Wandlung zu 100% abkaufte, sie war und blieb die Außergewöhnliche. Elena die geborene Anführerin und Managerin. Eben die ideale Königin schlechthin, aber gerade dieser Umstand verbot es ihr als solche in Erscheinung zu treten. Würde sie es tun, setzte sie sich beständig der Gefahr aus, dem Rausch der Macht doch irgendwann zu erliegen.

Davon musste sie vor allem die überzeugen, die sie selbst auf dem Thron zu sehen wünschten. Auch derer gab es mehr als genug. Während auf der anderen Seite jene unverbesserlichen Anarchisten befriedigt werden mussten, die überhaupt niemanden an der Spitze sehen wollten.

All das kam der Quadratur eines Kreises gleich.

 

Den Auftakt der landesweiten Kampagne gab es, wie nicht anders zu erwarten, in Anarchonopolis, in der Basilika der Alten Abtei, dort wo vor Zeiten die Anarchistische Monarchie ihren Anfang nahm, an jenem denkwürdigen Tag als Akratasien aus der Taufe gehoben wurde, als Reaktion auf die Grenzbefestigung von Seiten der Neidhardt-Administration. Damit verbunden Colettes Proklamation zur Königin.

Welcher Ort wäre wohl besser geeignet?

Eine offene Diskussion zu der unterschiedliche Initiativen ihre Hauptakteure entsandt hatten. Elenas Hoffnung auf einen friedlichen und harmonischen Verlauf der Aussprache schien sich zunächst zu bestätigen. Die gegensätzlichen Standpunkte wurden in einer sachlichen Atmosphäre vorgetragen und debattiert.

Im Prinzip waren sich alle einige, dass sich die Kritik nicht gegen Colette als Person richtete, sondern, dass es sich allein um die Funktion handelte, die sie zu begleiten gedachte, bzw. schon einnahm, wie Elena immer wieder versuchte zu verdeutlichen.

Colette wurde von allen hoch geschätzt und verehrt.

Im Vorfeld gab es lange Auseinandersetzungen darüber, ob man die Rechtspopulisten einladen sollte oder nicht. Man entschied sich kurzerhand dagegen, mit dem Argument dass man ihnen kein Podium zur Verfügung stellen wollte um ihre menschenverachtenden Theorien zu verbreiten.

Toleranz den Intoleranten? Die alte Frage harrte bisher noch ihrer Beantwortung. Wie sollte man mit denen und ihren Ansichten umgehen? Es ließ sich nicht von der Hand weisen, dass diese Bewegung immer deutlicheren Zulauf bekam, vor allem von Menschen die sich, in welcher Form auch immer, abgehängt fühlten. Die Einfältigen vor allem, die mit der neuen Ordnung und den damit verbundenen Freiheiten nicht umzugehen verstanden.

Diese galt es zurück zu gewinnen. Aber wie?

Konnte Colette des Rätsels Lösung sein?

In der Tat. Sah man sich unter den in der Basilika Versammelten um, erblickte man vor allem Akratasiens neu gebildete Eliten. Jene die es verstanden zu diskutieren, schlagfertig zu argumentieren, stetes zur rechten Zeit mit dem rechten Wort aufzuwarten.

Die einfach gestrickten Gemüter fanden ihren Weg nicht in die heiligen Hallen der Mütter und Väter der Akratie.

Oder hatte man sie vergessen einzuladen?

Auf dem Platz vor dem Portal hatte sich eine Gruppe Rechtspopulisten eingefunden, lautstark ihre Argumente in deren Richtung skandierend

Als sich Elena und ihr Anhang den Weg durch die Versammelten bahnte, wurde sie mit Buhrufen empfangen und beschimpft. „ Weg mit Akratasiens Diktatorin! Lang lebe Melancholanien!“, rief einer aus der Menge. Solche Worte stachen wie Wespenstiche.

„Mach dir nichts drauf Elena! Die vertreten nur eine kleine Minderheit! Versuchte Gabriela die alte Freundin aufzumuntern, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten.

„Ja, aber Minderheiten wachsen, wenn man ihnen das Futter nicht entzieht!“ Erwiderte die Kanzlerin resignierend.

Die Aussprache war bereits im Gange. Alexandra leitete diese vom Podium aus, das sich in der Apsis befand. Elena hatte darauf bestanden, ohne sie zu beginnen. Das sollte noch einmal unterstreichen, dass sie sich nicht als unentbehrlich betrachtete.

Gleiche unter Gleichen wollte sie sein, ein Umstand den ihr keiner so recht abzunehmen schien.

Sie platzierte sich nicht auf dem Podium sondern in einer der vorderen Bankreihen im Kirchenschiff, darauf wartend dass ihr das Wort erteilt würde.

Dagmar, die Vordenkerin der Bewegung „Akratie jetzt!“ war gerade dabei ihre Ansichten zu verkünden. Sie gehörte der Schwesternschaft an, hatte es aber bisher nicht geschafft in deren inneren Kreis vorzudringen.

Es gab nicht wenige die versteckt oder auch ganz offen ihre Vermutung bekundeten, dass sich Dagmar für diesen Umstand rächen wollte, indem sie als Hauptinitiatorin dieser Protestbewegung agierte und ihre Angriffe offen auf Elena richtete.

„Wir alle erinnern uns noch gut an jene Zeiten, da wir gemeinsam für die Akratie stritten, sie gegen Neidhardts Vereinahmungsversuche verteidigten und somit die Idee am Leben erhielten. Unsere Kommunen dienten als Experimentierfeld, als Labor für die neu zu schaffenden Gesellschaft. Unter den widrigen Bedingungen der Blockade und Abschottung von Seiten der Diktatur entwickelten wir unser Konzept und konnten es erfolgreich in die Tat umsetzen. Wir waren nie einer Meinung darüber, was Akratie oder Anarchie wirklich bedeute und auf welchem weltanschaulichen Fundament wir sie zu bauen gedachten, aber Konsens bestand darüber, dass wir nach Beendigung der Diktatur ohne Umschweife dazu übergehen die Akratie in dem neu geschaffenen Gebilde Akratasien ausrufen und festigen. Sofort und ohne längere Zeiten des Übergangs.“     

Elena reckte ihren rechten Arm weit in die Höhe und signalisierte dem Podium dass sie auf diese Behauptung direkt einzugehen gedachte.

Alexandra erteilte ihr das Wort.

„Du weißt sehr gut dass das nicht stimmt Dagmar! Es war zu keinem Zeitpunkt die Rede davon, die Akratie sofort auszurufen. Wir gingen immer davon aus dass es einer langen Periode des Übergangs bedurfte bis zu deren vollen Verwirklichung. Niemals wurden konkrete Termine benannt. Sicherlich waren wir in der Anfangsphase manchmal etwas zu euphorisch in dieser Hinsicht, damals als Kovacs noch unter uns weilte. Doch mit der Zeit setzte sich die Erkenntnis durch, langsam und mit Vernunft und Augenmaß zu operieren.“

Elenas Aussage wurde mit viel Beifall honoriert.

Dem glaubte sie zu entnehmen dass sie offensichtlich die Mehrheit der Versammelten hinter sich wusste.

„So? Da bin ich aber ganz anderer Ansicht. Auch wenn ich nie zu deinem inneren Kreis gehörte, entgingen mir deine Auseinandersetzungen mit Kovacs hinsichtlich dieser Tatsache, nicht. Er wollte die Akratie und zwar ohne Wenn und Aber. Deine Kanzler-Kandidatur bei den letzten Wahlen im vorrevolutionären Melancholanien hat er ausdrücklich abgelehnt. Das scheint dir vollkommen entfallen zu sein.“ Konterte Dagmar geschickt.

„Was soll das? Du kannst doch die Situation von damals nicht mit der späteren, zu Zeiten der Diktatur vergleichen. Und schon gar nicht mit der heutigen. Wir befanden uns in jenen schicksalhaften Wochen in einer Notlage. Elena erklärte sich bereit zu kandidieren, um der Protestbewegung neuen Auftrieb zu verschaffen und um zu verhindern, dass die beiden Altparteien die Machtfrage wieder einmal unter sich aushandelten. Elenas Kandidatur bildeten den Grundstein für die spätere Revolution. Ohne sie, keine tiefgreifenden Umwälzungen. Das scheint dir nun wieder entgangen zu sein.“ Sprang Gabriela in die Presche.

„Genau! Dann füge aber auch gleich eine weitere Tatsache hinzu. Nämlich jene, dass Elena zumindest indirekt für Neidhardts spätere Diktatur die Verantwortung trägt. Ihre Kandidatur ebnete den Radikal-Revolutionären den Weg an die Macht. Sie erklärte sich damals bereit eine Koalitionsregierung mit diesen Linksterroristen einzugehen. Und? Wenn ich mich so umsehe.

Die sitzen noch immer einträchtig in einer Regierung zusammen. Einer Regierung die bis zu diesem Tag  noch  immer nicht durch ein Votum der Bevölkerung legitimiert wurde.“  Wandte Viktor ein, Elenas früherer Gegenspieler bei den letzten Wahlen zum vorrevolutionären Nationalforum hatte sich zum Anführer der neuen Bürgerdemokratischen Partei gemausert. Einer Formation in der sich Superdemokraten und Musterdemokraten zusammengeschlossen hatten, um gemeinsam für  das zu streiten, was sie unter Demokratie verstanden.

Demonstrativ richtet er einen anklagenden Blich auf Elenas jetzigen Stellvertreter Dagobert, der hier als Vertreter der Radikal-Revolutionäre saß. Dem schien dass jedoch nicht aus der Ruhe zu bringen

„Das ist unerhört! Ich habe dir noch nicht das Wort erteilt Viktor! Wozu haben wir eigentlich eine Rednerliste, wenn hier jeder unaufgefordert seinen Senf dazu gibt.“ Rief Alexandra ihn zur Ordnung.

„Und was diese Anschuldigungen betrifft. Die kann ich nur in aller Entschiedenheit zurückweisen. Elena als Wegbegleiterin der Diktatur? Das ist ja wohl das letzte. Ich verbiete mir solche Behauptungen. Dagmar du bist weiter an der Reihe. Wir hören dein Statement.“

„Danke! Auch mich bringen solche Vergleiche einfach nur auf die Palme. Ein weiterer triftiger Grund dafür, die volle Entfaltung der Akratie sobald als möglich auf die Tagesordnung zu setzen. Elena, du selbst warst es, die immer wieder darauf hingewiesen hat, das die Akratie keineswegs die Abschaffung der Demokratie zur Folge hat, sondern ganz im Gegenteil, deren Erfüllung. Setzen wir sie also jetzt in Kraft, könnte das allen politischen Lagern die es derzeit gibt, entgegenkommen. Allen, mit Ausnahme der Rechtspopulisten natürlich, deren Vorstellungen weder mit der Demokratie noch mit der Akratie harmonieren.“

„Elena? Möchtest du direkt auf diese Aussage eingehen?“ Erkundigte sich Alexandra.

„Befangenheit!“ Schrie Viktor und riss beide Arme in die Höhe.

„Hier geht es keineswegs der Reihe nach! Mir das Wort verbieten, aber Elena bevorzugen. Ihr habt es alle gehört. Ich protestiere auf das Schärfste. Du bist keine neutrale Sitzungsleiterin. Du bevorzugst ganz offen deine Leute und das widerspricht eindeutig den Regeln.“

„Ich habe nie behauptet dass ich neutral bin! Wie könnte ich auch. Wie jeder andere Mensch habe auch ich ein Recht auf eine politische Meinung, die ich ganz klar bekunde. Mein Herz schlägt für die „Töchter der Freiheit“ und für die Allianz. Hat noch irgend jemand etwas dagegen?“ Entgegnete ihm Alexandra wütend und schlug mit der Handfläche auf den Tisch.

Außer einem Gemurmel gab es keine Einwände.

Wortlos nickte Alexandra der Schwester zu.

Elena erhob sich und trat an eines der Rednerpulte die im gesamten Kirchenschiff verteilt standen.

„Ich kann dir in dieser Ansicht  vorbehaltlos zustimmen Dagmar. Auch ich sehe das so. Die Akratie ist in der Tat die Erfüllung. Es handelt sich dabei um die am weitesten entwickelte Form der Demokratie überhaupt.* Erst in ihr kommen demokratische Grundsätze voll zur Geltung.

Alle politischen Kräfte könnten sich einbringen und ihren Beitrag zur vollen Entfaltung leisten. Niemand soll ausgeschlossen werden!“

„Wirklich niemand? Du willst damit doch nicht andeuten dass du auch den Rechtspopulisten eine Mitarbeit anbietest? Oder wie habe ich das zu verstehen?“ Wollte Dagmar wissen, die ihr nun vis a vis gegenüberstand.

Eine schwierige Frage. Elena schien sich in die Ecke gedrängt. Wie sollte sie sich dieser unangenehmen Situation entziehen?

„Damit sprichst du einen wunden Punkt an. Ich lege mir diese Frage andauernd vor und finde doch keine zufrieden stellende Lösung. Auf der einen Seite darf die Akratie niemanden ausschließen, aus dem einfachen Grund, da es ja keine Herrschaft mehr geben wird und alle gleichwertig auf Augenhöhe kommunizieren sollen.

Andererseits müssen wir uns fragen ob die Toleranz auch den Intoleranten gilt, jenen also, die sich offen für die Errichtung einer diktatorischen oder zumindest kryptodiktatorischen** Staatsform aussprechen und alles in Frage stellen was uns wichtig und teuer ist.

Damit müssen wir uns eingehender auseinandersetzen. Gerade diese Angelegenheit verdeutlicht uns einmal mehr die Gefahr die sich dahinter verbirgt. Wir können einer Entwicklung nicht vorgreifen und müssen uns weitere Übergangsphasen sichern, bevor wir uns endgültig entscheiden.“

„Diese Antwort ist unzureichend Elena. Du versuchst mir auszuweichen. Du benutzt die Rechtspopulisten als Vorwand um dich vor einer Entscheidung zu drücken. Da brauchen wir nicht lange zu überlegen. Rechtspopulismus, Rechtsextremismus oder wie auch immer sind keine politischen Meinungen sondern Verbrechen***. Und mit Verbrechern arbeitet niemand zusammen. Damit wäre alles gesagt.“ Widersprach Dagmar.

Damit hatte sie Elena ungewollt einen Ball zugespielt.

Doch wie sollte sie darauf reagieren. Nahm sie ihn auf, würde sie ihn auch auf eine bestimmte Weise zurückspielen müssen. Es bestand die Gefahr sich schnell in dem Ränkespiel zu verheddern. 

„Du als die Befürworterin einer schnellst möglichen Herbeiführung der Akratie sprichst dich für ein Verbot bestimmter politischer Organisationen aus? Nun wird es aber auf der Grundlage der Akratie niemanden mehr geben dem es obliegt, bestimmte Dinge zu verbieten. Keine Regierung, keinen Verantwortlichen, der von oben herab eine dies bezügliche  Entscheidung zu treffen hätte.

Das Wesen der Akratie besteht ja gerade darin, dass es eine perfekte Ordnung gibt, die aus sich selbst heraus funktioniert. Deine Ansicht ist widersprüchlich.“

Nun befand sich Dagmar im Zugzwang. Elena hatte sie geschickt ausmanövriert. Man konnte nicht auf der einen Seite den Staat anzweifeln und dessen Abschaffung fordern, wenn man andererseits dessen Eingreifen zugunsten der eigenen Interessen einforderte.

„Sieh es ein Dagmar! Dein Idealismus in allen Ehren. Du bist von deiner Sache überzeugt und diese Tatsache ehrt dich. Aber es ist einfach noch zu früh. Wir müssen mit Vernunft und Augenmaß agieren. Das Übergangsstadium wird noch eine Weile Bestand haben! Wie lange vermag niemand im Voraus zu sagen. Wir müssen daran arbeiten und uns langsam auf unser Ziel bewegen. Wir alle gemeinsam. Stück für Stück. Viele Strukturen konnten schon geschaffen werden, bzw. haben sich selbst erschaffen, denn darauf kommt es an. Unsere Regierung ist aufgefordert alles Erdenkliche zu tun, damit das auch weiter so funktioniert.“

Noch ehe Dagmar etwas erwidern konnte hatte sich Viktor erneut zu Wort gemeldet.

„Von der Diktatur zur Akratie und wieder zurück? Das verstehe wer will. Das Volk wird wieder einmal nicht um seine Meinung gefragt, wenn die Experten streiten. Warum lasst ihr nicht abstimmen, ob die Menschen diese Akratie überhaupt wollen. Die Antwort darauf bleibt ihr bis heute schuldig. Aber ihr braucht sie gar nicht zu geben, ich kann es an euer statt.

Ihr fürchtet das Volk Volk, ihr fürchtet euch vor einer drohenden Niederlage. Die Menschen können eure idealistischen Ergüsse nicht nachvollziehen und wünschen sich einfache aber feste Strukturen. Eine Regierung des Vertrauens, die in ihrem Sinne wirkt.

Nein, euch interessiert Volkes Wille nicht im Geringsten. Ihr habt nur eure hochfliegen Ideen im Sinn."    

„Oh, wir haben es offensichtlich mit einem wahren Volkstribunen zu tun. Einen, der sich berufen fühlt, für das Volk zu sprechen. Eigenartig nur dass man solche Töne früher von dir nie zu hören bekam. Damals, in der von dir so beschworenen guten alten Zeit, gingen dir Volkes Angelegenheiten völlig ab. Es ist erstaunlich wie Menschen im Stande sind ihr Fähnchen schnellstmöglich in der richtigen Windrichtung zu postieren. Volkes Meinung kümmert dich heute ebenso wenig wie damals. Dir geht es einzig und allein um die Wiedererlangung von Privilegien. Für dich und deinesgleichen.“ Schmetterte ihn Elena schnell ab.

„Unsere Regierung wird auch in Zukunft darauf bedacht sein Gerechtigkeit auf allen sozialen Ebenen sicher zu stellen. Es gilt die Errungenschaften zu verteidigen, die in Folge der Revolution erzielt werden konnten. Einen Rückfall hinter schon Erreichtes kann und darf es nicht geben.“ Schaltete sich Dagobert ein, der bisher vorgezogen hatte zu schweigen.

Tat er Elena damit einen Gefallen oder leistet er ihr am Ende einen Bärendienst?

Immerhin war er unbestreitbar der Vertreter des alten diktatorischen Regimes, den man seinen Wandel bis heute keinen rechten Glauben schenken mochte.

„Unsere beiden politischen Formationen werden auch weiterhin für Stabilität und Ordnung sorgen. Das vermögen sie natürlich nur, so lange es ihnen gestatte ist, im Amt zu bleiben und ihre Arbeit fortzusetzen. Ob und in wie weit andere dazu in der Lage sind, vermag ich nicht zu sagen.“ Setzte er seine Ausführungen fort.

Elena stand unter Druck. Alle erwarteten, dass sie darauf einging. Dagobert war ihr Stellvertreter im Kabinett.

„Ich kann mich der Meinung des Vizekanzlers anschließen. Wir werden fortfahren mit unserer Politik. Aber das tun wir in dem Bewusstsein, welchem Ziel wir entgegen streben. Niemals dürfen wir das Ziel aus den Augen verlieren.“

„Und dieses Ziel heißt Akratie!“ Vollendete Dagmar quasi Elenas Aussage.

„Du sagst es! Ganz gleich, wann und unter welchen Bedingungen sie auch kommen mag.“ Nahm Elena den Faden wieder auf.

Die beiden Frauen schienen sich anzunähern, das konnte als Erfolgt betrachtet werden, doch hatte Dagoberts kurzes Auftreten schon wieder eine Polarisierung zur Folge.

Mit lautem Krachen wurde das Portal der Basilika aufgestoßen und ein Vertreter der Rechtspopulisten stürmte in das Kirchenschiff. Ein kleiner, untersetzter Endvierziger, der auf den ersten Blick wie ein Buchhalter wirkte.

Außer Puste kam er vor dem Podium zu stehen und rang nach Luft. Es schien, als habe ihn jemand zuvor mit Luft aufgepumpt die er nun in leichten Dosen von sich zu geben gedachte.

„Was hier vor sich geht ist eine Schande. Dem Vertreter des alten entmachtenden Regimes wird das Wort erteilt und er kann hier offen seine Ansichten verkünden, während aufrechte Patrioten daran gehindert werden. Man ihnen nicht einmal Zutritt zu dieser Versammlung gewährt.“ Dabei richtete er den Zeigefinger seiner rechten Hand direkt auf den Vizekanzler.

 „Sieht so die schöne neue Welt der Gleichheit aus? Akratie, welche lächerliche Häresie. Akratie ist Diktatur. Ja, alle hier Versammelten sind die Vorboten einen neuen Form von Willkür. Wir aber vertreten die Freiheit!“

Eine Aussage die ein stürmisches Hohngelächter zur Folge hatte.

Es schien niemand bereit sich der Diskussion zu stellen. Schon waren zwei Ordner zur Stelle und geleiteten den selbsternannten. Patrioten zum Portal zurück.

„Jetzt könnt ihr mich verbannen. Aber die Zeit wird kommen, da ich zurückkehre und mit mir Tausende. Dann wird sich zeigen ob euch noch immer zum Lachen ist.“

Eine offene Drohung. Doch was konnten diese Leute wirklich ausrichten. Welche Kräfte standen hinter ihnen?  Der Blaue Orden existierte nicht mehr. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass sich dieser  reorganisiert hatte. Doch auszuschließen war das keineswegs.

„Ihr habt die Drohung gehört! Ich sage euch, keine Toleranz den Intoleranten. Um auf deine Frage einzugehen Elena. Selbstverständlich nutzt ein formelles Verbot gar nichts. Da hast du mich missverstanden. Ich meine damit, dass wir ihnen unter keinen Umständen Podium bieten dürfen, so wie heute.“ Schlug Dagmar vor und erntete von der Mehrheit Zustimmung.

Elena versuchte das Thema in eine andere Richtung zu lenken. Solange wie sie sich in der Basilika befand hatte noch keiner über Colette gesprochen.

„Wir haben uns heute hier eingefunden um über Colette und die Anarchistischen Monarchie zu sprechen. Ich gehe sicher recht in der Annahme, dass ihr das vor meinem Eintreffen bereits getan habt. Diese Frage gilt es zu diskutieren, heute und in den folgenden Tagen und Wochen, überall im ganzen Land.“

„Wir haben vorhin schon ausführlich darüber gesprochen, Elena. Aber wie du dir sicher denken kannst ,liegen die Meinungen auch bei diesem Thema weit auseinander. Heute werden wir mit Sicherheit keinen Konsens finden.“ Klärte Alexandra auf.

„Davon bin ich auch nicht ausgegangen. Es ist richtig, sich für dieses Thema ausreichend Zeit zu nehmen. So wie für alle wichtigen Entscheidungen die anstehen.“ Entgegnete Elena.

„Unsere Initiative hält die Anarchistische Monarchie für überflüssig. Sie bedeutet einen Widerspruch in sich selbst und ist mit den Grundzügen des historischen politischen Anarchismus nicht in Einklang zu bringen. Die lassen sich ebenso wenig vereinen wie Feuer und Wasser. Wir sollten die gesamte Diskussion ad acta legen. Das kann niemand nachvollziehen, weder hier in Akratasien noch im Ausland.“ Beharrte Dagmar weiter unnachgiebig auf ihren Standpunkt.

„Hast du etwas gegen Colette persönlich?“ Provozierte Elena.

„Was soll die Frage? Du bist unsachlich! Das hat selbstverständlich nichts mit Colette als Person zu tun. Ich schätze Colette, als Mensch, als Schwester, als Ratgeberin und auch als Natürliche Autorität wenn es sein muss. Niemand von uns zweifelt an ihren Fähigkeiten.

Warum aber sollen wir sie als unsere Königin betrachten? Was ändert dieser Titel? Nein, die Akratie bedarf überhaupt keiner besonders Berufenen an der Spitze. Weder Colette noch irgend ein anderer.“ Wies Dagmar den Vorwurf  zurück.

„Mit dem anderen meist du nicht zufällig mich, oder?“

„Selbstverständlich meine ich dich! Wen denn sonst?“

„Darauf wollt ihr hinaus, du vor allem Dagmar. Ich glaube dir, dass du Colette magst, du und die anderen. Aber letztendlich geht es euch gar nicht um Sie. Es geht um mich und die Position die ich derzeit einnehme. Wenn du der Ansicht bist, dass ich daran klebe irrst du dich gewaltig. Ich würde sie frei machen, im nächst besten Augenblick der sich bietet.

Den ersten Schritt habe ich bereits getan, indem ich die Personalunion Staatsoberhaupt-Kanzlerschaft wieder trennte. Colette wird die Funktion in Würde einnehmen.“

„Aber warum Königin? Sag, warum muss es eine Monarchie sein?“ Dagmar ließ nicht locker.

„In dieser Hinsicht muss ich meiner Vorrednerin ausnahmsweise beipflichten. Auch wir von den Bürgerdemokraten sind der Ansicht dieses Vorhaben noch einmal gründlich zu überdenken. Wir favorisieren eindeutig ein auf Zeit gewähltes Staatsoberhaupt, das würde der Demokratie erheblich besser zu Gesichte stehen.“ Argumentierte Viktor sehr zu Elenas Überraschung. Bisher hegte sie die Hoffnung, dass von dieser Seite mit erheblich weniger Widerstand zu rechnen sei. Jedoch sprach Viktor nicht wirklich für „seine Leute“ auch wenn er das stets und ständig betonte

Die Diskussion hatte sich festgefahren, daran bestand kein Zweifel. Kein gutes Vorzeichen.

Wollten sie zwei Drittel bei der Abstimmung erreichen, musste sich die Schwesternschaft in den folgenden Wochen noch mächtig ins Zeug legen.

Alles kam auf die tatsächliche Meinung der Bevölkerung an. Die galt es zu erreichen. Die Anarchistische Monarchie war ein Experiment, aber eines das lohnte sich zu verfestigen, doch dafür musste es zunächst in die Probephase gehen.

„Ich bleibe dabei! Wir streben das Referendum an. Alle sollen entscheiden, jede Stimme ist gleich wichtig. Damit kommen wir euch von den Bürgerdemokraten entgegen, die ihr immer so sehr nach Abstimmungen ruft. Euch von den Vertretern der Radikalen Akratie kommt dieses Votum ebenfalls gelegen, auch wenn ich mir der Tatsache bewusst bin dass ihr wenig von Mehrheitsentscheidungen haltet. Ich dachte noch vor Zeiten ähnlich. Aber glaubt mir, wer erst einmal in Verantwortung steht, sieht die Welt mit anderen Augen. Die Akratie gegen den Willen der breiten Mehrheit durchsetzen zu wollen ist ein Trugschluss, der entweder in die Diktatur oder ins Chaos mündet. Mit der Anarchistischen Monarchie könnten wir eine Gesellschaftsform kreieren, in der sich alle wieder finden. Alle Strömungen im Lande werden eingebunden. Colette wird zur Symbolfigur des neuen auf Harmonie, Verständigung und Gerechtigkeit aufbauenden Systems.“

Die einfachen Menschen würden diese Aussage verstehen. Und um diese ging es Elena letztendlich. Die würden Colette akzeptieren, welchen Titel sie auch immer  zu tragen gedachte. Jene einfachen Menschen, denen man im allgemeinen Bildungsferne nachsagte und die wieder einmal ausgesprochen unterrepräsentiert waren. In jeder Gesellschaft wurden sie vernachlässigt, wurde ihnen kaum Beachtung zuteil. Auch in Akratasien drohte ein solcher Umstand. Die einfach gestrickten, die Genügsamen, waren leicht zufrieden zu stellen. Warum sollte es dabei nicht auch etwas emotional zugehen dürfen? Eine Königin konnte ihnen jene Autorität schenken, derer sie bedurften, um sich in dem neuen Gesellschaftssystem zurecht zu finden.

Elena verließ ihren Platz am Pult und begab sich wieder in die Bankreihe zurück. Ein Schlusswort? Hatte sie gesprochen und die anderen mussten sich dem fügen? Nein! Die Diskussion konnte weiter gehen, aber ohne ihre Mitwirkung. Sie hatte genug gesagt. Mehr als sie  anfangs gedachte einzubringen. Die anderen aus der Schwesternschaft konnten ebenso gut argumentieren.

 

„Wenn ich dich richtig verstanden habe, möchtest du dich für heute aus der Diskussion herausnehmen, Elena?“ Erkundigte sich Alexandra und die Angesprochene signalisierte Kopf nickend ihre Zustimmung.

„Gut! Dann kommen wir jetzt zum nächsten Punkt! Ich erteile Gabriela das Wort, sie vertritt die erst kürzlich gebildete „Kommission für die Erforschung der historischen Akratie.“ Bitte Schwester, kläre unsauf um was es sich dabei handelt und welche Aufgaben dieser Kommission zukommen.“

Gabriela gbegab sich zu einem Pult in der Mitte des Kirchenschiffes, gut sichtbar für alle.

„Ich möchte mich kurz fassen, obgleich es eine Menge zu berichten gäbe. Elena, Colette, ich und einige andere haben sich schon vor geraumer Zeit darüber Gedanken gemacht, ein eigenes Institut ins Leben zu rufen, dessen Aufgabe es werden könnte, die historischen Grundlagen der Akratie, Anarchie, oder ähnlicher Gesellschaftsstrukturen zu erforschen.

Die Idee reicht dabei weit zurück in die Anfangszeit unserer Kommune, damals als wir uns gerade gefunden und um den Dichter Kovacs scharten. Er gab uns einst das geistige Fundament auf dem wir heute bauen können.

Wir waren damals noch nicht in der Lage seinen Aussagen im vollen Umfang zu folgen. Dafür bedurfte es viel Zeit und Überlegung.

Er wies uns ständig drauf hin, dass es nicht notwendig sei, das Rad noch einmal neu zu erfinden. Viele sind womöglich noch heute der Meinung die Akratie sei ein Konstrukt von Intellektuellen aus dem 19 Jahrhundert. Das ist ein Irrtum, wie wir längst begriffen haben.

Die Akratie ist viel älter. Letztendlich so alt wie die Menschheit selbst. Sie stellt die Urform allen Zusammenlebens dar. Weltweit war sie einst anzutreffen vielen Völkern und Kulturen. Darum soll es gehen. Das werden wir wissenschaftlich erforschen.

Doch wollen wir bei aller Wissenschaftlichkeit offen bleiben. Es darf auch emotional oder spirituell zugehen. Das Wesen der Akratasischen Föderation soll ja darin bestehen, Ideen und Vorstellungen zusammen zu bringen, statt zu spalten. Unterschiedliche Meinungen und Standpunkte sind ausgesprochen erwünscht. Am Ende strebt alles dem anvisiertem Ziel entgegen. Im Grunde ist es ein zurück, eine Rückbindung an das Ursprüngliche, das, was unser Wesen in Wirklichkeit ausmacht.“

„Das klingt ja fast wie Religion. Genau genommen bedeutet Rückbindung an das Ursprüngliche Religion, wenn wir diesen Begriff einmal wörtlich übersetzen.“ Glaubte sich Dagmar zu erinnern.

„Das ist richtig! Damit bringst du mich gleich zu einer Grundaussage die in den Ohren einiger wie reine Ketzerei klingen mag. Der Mensch ist von seinem Ursprung ein spirituelles oder religiöses Wesen. Ich bin mir bewusst dass unsere radikalen Anarchisten dagegen protestieren. Meinetwegen, sollen sie, es ist ihr gutes Recht. Aber es ändert nichts an den Tatsachen. Die Urgesellschaft, der Urkommunismus oder eben die Urakratie waren spiritueller Natur. Für die Menschen früherer Zeitperioden war ein Leben ohne spirituelle Durchdringung  undenkbar. Auch wenn marxistische Philosophen die ur-und frühgeschichtlichen Bewohner der Erde im nach hinein zu Atheisten deklarierten und davon ausgingen dass sich Religion erst im Zuge der Ausprägung der Klassengesellschaft entwickelte, können wir heute sagen, dass dem mit Sicherheit nicht so war. Wir heutigen Menschen sollten uns hüten in unseren Vorfahren primitive Wilde zu sehen mit einem Hang zu Aberglauben, unfähig zu logisch-rationaler Denkweise. Möglicherweise waren sie rationaler als wir uns vorstellen können. Doch ihre Ratio stand nicht im Widerspruch zum emotionalen und spirituellem Bewusstsein. Vielmehr bildeten sie eine Einheit.“

„Du willst uns damit verdeutlichen dass wir uns auf den Weg machen sollten dorthin zu gelangen. Das waren auch Kovacs Ideen. Auch wenn ich nie in den erlauchten inneren Kreis eintauchen durfte, habe ich mich sehr eingehend mit seinen Anschauungen beschäftigt. Da ist schon einiges dran. Das will ich gar nicht bestreiten. Doch bin ich der Ansicht, dass unsere heutige moderne, aufgeklärte Zeit eine solche Vermischung nicht mehr nötig hat.“ Brachte sich Dagmar erneut ins Spiel. Sie schien Gefallen an der Rolle der großen Widersacherin gefunden.

„Darüber könnten wir Abend füllende Gespräche führen. Das wollen wir auch, die Arbeitskreise stehen jedem offen. Kontroversen sind von vorn herein einkalkuliert.

Aber ich möchte nochmals betonen. All diese Erkenntnisse sind nicht auf unseren Mist gewachsen. Wir berufen uns dabei auf  Forschungsergebnissen die im Laufe des 20 Jahrhunderts von namhaften Wissenschaftlern gemacht wurden und sich erst in unserer Zeit voll zu erschließen scheinen, aufgrund der technischen Möglichkeiten die sich heute bieten.

So stieß ich in den zurückliegenden Wochen bei meinen Recherchen immer wieder auf den

Aradia-Mythos. Jene Sagen umwobene Gestalt aus dem Dunkel der Geschichte von der man noch immer nicht mit Gewissheit sagen kann ob es sich dabei um eine historische Person oder nur um eine Legende handelt.  Wir wissen nicht ob Aradia und ihr Gefolge tatsächlich existierten. Aber allein die Tatsache dass sich diese Legende so hartnäckig halten konnte sprich dafür.“

Beim Hören des Namens Aradia durchfuhr Elena ein eigenartiges Gefühl, dass sowohl Beklemmung als auch tiefe Sehnsucht in ihr auslöste. Sie fühlte sich einem Weinkrampf nahe und drückte instinktiv beide Hände vor den Mund.

„Du glaubst an diesen Mythos? Eine schöne Geschichte zugegeben. Zu schön um wahr zu sein, würde ich sagen. Schade. Ich habe mich auch eingehend damit beschäftigt und halte es für reine Legende. Man stelle sich vor, 4000 Jahre vor unserer Zeit, eine gewaltige Streitmacht, ausschließlich aus Frauen bestehend, die für eine gerechte, egalitäre und libertäre Gesellschaft streiten. Das ist schon fast Hollywoodreif.“ Bekundet Dagmar ihren Zweifel

„In jeder Legende, in  fast allen Sagen und Mythen, steckt oft ein wahrer Kern. Ich bin mir sicher, dass wir davon ausgehen können, dass es Amazonen gab. Auch Aradia könnte eine historische Person gewesen sein. Um die im Laufe der Jahrtausende natürlich ein ganzer Kranz von Legenden gestrickt wurde und ihr Leben verklärt. Die tatsächliche Gestalt dahinter wurde auf diese Weise immer weiter in den Hintergrund gedrängt. Vor allem ihre erwartete Wiederkunft im 21 Jahrhundert, also unserer derzeitigen Zeitperiode, gehört sicher ins Reich der Phantasie. Kovacs glaubte daran. Er ging sogar davon aus das sich diese Prophezeiung in Melancholanien, bzw. Akratasien erfülle. Unsere Zweifel konnte er nicht ausräumen. Ich bin der Ansicht, unserer libertäre Revolution ist ein reines Produkt der Gegenwart und keine Fortsetzung von Ereignissen die im Dunkel der Geschichte liegen. Trotzdem können wir uns daran orientieren, wenn es etwa darum geht unsere Vorstellungen zu verteidigen.“

Erwiderte Gabriela.

Elena hielt es nicht mehr aus. Als sie sich erhob stellte sie fest dass es ihr schwindelig war.

Aufgrund der Tatsache, dass das Hauptportal der Basilika noch von den Rechtspopulisten belagert wurde, strebte sie dem Seiteneingang zu, der direkt in den Kreuzgang führte.

„Elena, was ist mit dir? Fühlst du dich nicht wohl? Können wir helfen?“ Rief ihr Alexandra nach.

Doch die Angesprochene winkte nur ab und verließ scharfen Schrittes die Versammlung.

 

Im Kreuzgang angelangt, musste sie erst einmal tief durchatmen und lehnte sich dabei an eine der im romanischen Stil errichteten Säulen, den Blick in den Lichthof gerichtet, dessen Springbrunnen dort friedlich vor sich hin plätscherte.

Da plötzlich drang ein klopfen an ihre Ohren, es hörte sich wie der Hufschlag eines galoppierenden Pferdes an. Schließlich tauchte vor ihrem inneren Auge diese mysteriöse Gestalt aus ihren Träumen auf. Aradia. Die stolze Kriegerin aus grauer Vorzeit, die ihr geradezu erschreckend ähnlich sah, hoch zu Ross, dabei eine grün-rosa farbige Fahne in der linken Hand haltend.

„Hmmm!“ Erneut schluchzte Elena auf und lies sich auf den Boden gleiten. Zwischen ihr und Aradia schien ein Band von enormer Dichte zu bestehen. Es hatte den Anschein als bildeten ihre Herzen eine Einheit. Zwei aus einem Guss.

„Aradia, Aradia nimm mich mit!“ Vernahm Elena eine Stimme aus ihrem Inneren.

„Das kann ich nicht!“ schien diese ihr zu antworten. „ Von dort wohin ich mich jetzt begebe, gibt es keine Wiederkehr. Mein Gefährtinnen und ich reiten direkt in unser Verderben, in den sicheren Tod. Unsere letzte Schlacht. Dann müssen wir unsere Träume begraben. Wir haben versagt! Wir konnten sie nicht zurückgewinnen, die verlorene Welt des Friedens, der Freiheit, der Harmonie und der Verständigung. Du aber musst leben Elena, denn in dir lebe ich weiter. Du bist ein Teil von mir, so wie ich von dir!“

Elena wurde von einem Gefühl unerträglicher Traurigkeit erfasst, in dessen Folge sich ein heftiger Weinkrampf löste. Ihr Schluchzen war bis in den unteren Flur des Konventsgebäudes zu hören.

„Elena, mein Liebling, was ist mit dir? Hörst du mich? Ich bin es Madleen!“ Die Gefährtin hatte das laute Weinen zufällig mitbekommen als sie das Büro verließ um sich in die Wohnung im darüber liegenden Stockwerk zu begeben.

Auch Kim schien es mitbekommen zu haben und eilte in die Richtung und fand das Paar am Boden sitzend vor.

„Elena komm zu dir! Es ist alles in Ordnung! Du bist bei mir! Zuhause, in Sicherheit!“

Madleen nahm den Kopf ihrer Frau in beide Handflächen und schüttelte diesen leicht.

„Was ist geschehen? Meine Güte! Elena!“ Entsetzte sich Kim nachdem sie zur Stelle war.

„Ich weiß es nicht! Ich habe keine Erklärung für diese Zusammenbrüche. Schon seit Tagen geht das so. Bisher geschah es immer nur nachts. Da schreckt sie aus dem Schlaf, weint, ringt nach Luft, ist schweißgebadet und glüht als ob sie hohes Fieber hat. Jetzt ist es schon am helllichten Tag soweit. Was soll ich nur machen?“ Beklagte sich Madleen.

„Das ist eigenartig! Betül hat sich erst gestern beklagt dass es ihr mit Colette ebenso ergeht. Auch der scheint es seit Tagen nicht gut gehen. Was Betül berichtete, denkt sich vollkommen mit deiner Aussage.“ Erinnerte sich Kim.

Nun begann Elena zu zittern, krallte sich wie besessen an Madleen. Die wusste sich nur noch eines Mittels zu bedienen und verpasste ihrer Liebsten zwei saftige Ohrfeigen.

Das half. Langsam schien Elena die Fassung wieder zu erlangen, verstört und ungläubig um sich blickend und nach der Hand ihrer Frau greifend.

„Ma… Madleen? Was…was ist? Wie… wie komme ich hier her? Was ist geschehen? Warum hast du mich geohrfeigt?“

„Du warst wieder einmal weggetreten. Da hilft nur noch rohe Gewalt.“

Madleen schlang die Arme um ihre Geliebte und drückte sie fest an sich.

„Es ist genug Elena! Das musste ja so kommen. Du bewegst dich beständig auf den Absturz zu. Du bist völlig erschöpft. Ich bin keine Ärztin, aber was mit dir geschieht, sieht jeder Laie. Ein Burn Out würde ich sagen und zwar eines dass es in sich hat. Du rackerst wie eine Besessene, schonst dich überhaupt nicht mehr. Du kennst nur noch deine Arbeit. Als ob das noch nicht genügt, beschäftigst du dich jede freie Minute mit diesem Mystizismus. Diese Aradia verfolgt dich auf Schritt und Tritt, lässt dich nicht mehr los. Du bist ja vollkommen besessen von ihr. Man könnte ja meinen ihr seid ein und dieselbe Person!“ Madleen konnte nicht ahnen wie richtig sie mit dieser Ansicht lag.

„Genau! Auch Colette erzählt ständig von dieser Aradia. Nur bei ihr klingt es etwas anders, sie tut so als ob sie die Verantwortung für sie trüge, als sei sie eine kleine Schwester oder so.“

Fügte Kim hinzu.

„Ihr seid krank, du und Colette. Beide bedürft ihr dringend der Erholung, jede auf ihre Art. Der Unterschied ist, dass Colette ihre Krankheit akzeptiert und sich einigermaßen danach richtet. Bei dir ist es bedeutend komplizierter. Du musst das akzeptieren erst noch lernen. Auch für die starke Elena gibt es Grenzen des Zumutbaren. Du meine Wunderschöne hast diese schon lange überschritten. Nun bekommst du die Quittung dafür.“ Mahnte Madleen eindringlich.

„Du hast Recht mein Liebling! Mit jedem Wort. Ich spüre das seit geraumer Zeit schon.

Ich habe mich selbst überschätzt. Ich werde kürzer treten. Großes Ehrenwort!“

„Höre gut zu Kim! Es trifft sich ausgezeichnet, dass du hier aufgetaucht bist, denn ich werde dich als Zeugin benötigen. Bei dieser sturen Frau braucht man so etwas. Schon in ein paar Tagen wird sie sich dieser Worte nicht mehr erinnern.“ Zweifelte Madleen.

„Diesmal nicht. Ich sehe meine Schwächen. Ich habe es zu weit getrieben. Meine Energiereserven sind tatsächlich so gut wie aufgebraucht. Ich nehme mir frei, die kommen in der Regierung auch mal ohne mich aus. Damit du mir glaubst, werden wir schon heute Abend damit beginnen, mein Rehkitz. Ich begebe mich ganz passiv in deine zärtlichen, liebenden und heilenden Hände.“

„ Eine passive Elena? Das hat Seltenheitswert. Kim, du wurdest gerade Zeugin eines Wunders. Dann habe ich Hoffnung für dich, meine schlaue Füchsin. Das alte Dilemma, die große Heilerin die es nicht vermag sich selbst zu heilen. Wie gut , dass ich so allerlei bei dir lernen konnte.“ Entgegnete Madleen.

„Ich setze volles Vertrauen in deine Heilkraft. Du bist mir darin  völlig ebenbürtig.“

Elena machte Anstalten sich zu erheben. Die beiden anderen halfen ihr auf die Beine. Auch dass ein Novum. Eine Elena, unfähig sich alleine auf zu richten, gab es nicht, bis jetzt.

Sie stützte sich mit beiden Armen auf die Mauer zwischen den Spitzbögen und atmete nochmals durch, danach strich sie sich mit beiden Händen ihre Lockenmähne aus dem Gesicht.

Im Anschluss betastete sie ihr Gesicht.

„Dein Krafttraining wirkt sich aus Madleen! Wusste gar nicht, dass du schon so weit fortgeschritten bist. Deine Ohrfeigen hat gesessen, alle Achtung.“

Elena hakte sich bei den beiden Schwestern unter und gemeinsam schritten sie den Kreuzgang entlang, bis sie in den Flur des Konventsgebäudes einbogen.

In der Wohnung angekommen ,brauchte Akratasiens Kanzlerin zunächst Abstand und zog sich auf ihr Zimmer zurück. Sie musste das Erlebte verarbeiten.

Es bestand kein Zweifel, die Visionen von denen sie in letzter Zeit immer häufiger heimgesucht wurde, verdichteten sich. Bei jeder erneuten Erscheinung sickerte etwas mehr durch. Der Pfad  vor ihr tat sich auf und wies ihr die Richtung, sein Ende aber lag weiterhin in dunkle Schleierwolken verhüllt.

Aradia! Wer war sie? Was war sie? Bestand eine Verbindung zu Anarchaphilia? Warum meldete die sich nicht mehr in ihrem Bewusstsein?

Wie kam es, dass Colette von ähnlichen Erlebnissen berichtete? Und selbst Gabriela fühlte sich immer deutlicher von dieser Legenden behafteten Amazonenkönigin aus der Frühgeschichte angezogen.

Hatten sie mit ihrem Zirkel etwa die Geister der Vergangenheit beschworen. Geister die sie riefen, am Ende aber nicht mehr los wurden? Wie konnten sie mit Sicherheit sagen, dass jene Wesenheiten positiver Natur waren?

Bestand am Ende gar Gefahr für sie und die gesamte Kommune?

Elena schob diese Gedanken beiseite. Die Empfindungen die sie mit Aradia machte, überstiegen alles bisher Erlebte. Kein Liebeszauber, nicht einmal die Erfahrung mit Anarchaphilia, vermochten derartige Emotionen hervor zu rufen. Aradia war ihre Meisterin, eine Meisterin die aus ihrem Selbst zu ihr sprach. Handelte es sich dabei etwa um ihr eigentliches Ich? War ihr derzeitiges am Ende reine Illusion? All das war einfach zu gigantisch um es sich nur vorzustellen.

Sie musste sich unbedingt mit Colette austauschen. Die große Schwester würde sie verstehen. Die Ruhe und Einkehr, die sie sich zu nehmen gedachte, wollte sie sinnvoll nutzen um sich mit diesen Dingen noch eingehender aus einander zu setzen.

 

 

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* Staatstheorie des Nationalökonomen Franz Oppenheimer 1864-1943, nach dessen Meinung war die Herrschaft nie etwas anderes als die rechtliche Form einer wirtschaftlichen Ausbeutung.

 Die politische Aufhebung der Klassengesellschaft setzt ihre ökonomische Überwindung voraus. Bei voller Verwirklichung der Demokratie hört die Demokratie auf, -Kratie zu sein und wird zur A-Kratie. Die A-Kratie ist nach Oppenheimer das Ideal einer von jeder wirtschaftlichen Ausbeutung erlösten Gesellschaft. Erst auf deren Basis können die Reste oligarchischer Strukturen vollständig beseitigt werden.

 

 

** Kryptodiktatur- eine diktatorische Herrschaft die sich zum Schein ein demokratisches Mäntelchen überwirft und sich zum Beispiel durch Wahlen legitimieren lässt.

Derzeit bekannteste Kryptodiktatoren sind Erdogan in der Türkei und Putin in Russland

 

*** Nach Ansicht verschiedenen Vertreter der politischen Linken sind rechtspopulistische Parteien vollständig zu isolieren und nicht an Gesprächen zu beteiligen.  Statt dessen werden deren Veranstaltungen mit teils massiven Gegendemonstrationen belagert. Dabei übersehen die Linken die Tatsache, dass die politische Rechte durch solcherlei Aktionen erst recht gestärkt wird. Linke Gegenaktionen können somit indirekt zur Stärkung der Rechten führen.