Anarchistischer Katechismus

 Akratie lebt aus sich heraus, sie ist einfach vorhanden oder nicht. Es ist nicht möglich, sie per Dekret zu diktieren. Auch ist sie nicht wählbar oder mittels Volksentscheid einzuleiten.

Akratie bedeutet einen langen Weg des Werdens und Wachsens. Sie ist sowohl revolutionär als auch evolutionär.

Doch wo den Einstieg finden?

Wenn sie auch aus der Praxis lebt, ist doch eine gründliche Theoriebildung unverzichtbar, dessen war sich Kovacs bewusst und aus diesem Grund hatte die Gemeinschaft regelmäßige Treffen beschlossen um ein theoretisches Gerüst zu entwerfen. Vorrangiges Ziel war, sich erst einmal auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen.

Gerade die Zusammenkunft mit Cornelius und Neidhardt und das aus seiner Sicht Verhängnisvolle Bündnis verdeutlichte nur zu genau die Wichtigkeit eines eindeutigen Standpunktes.

Wie sich schon zu Beginn offenbarte, kam das der Quatratur eines Kreises gleich,zu unterschiedlich gestalteten sich die Lebensentwürfe der einzelnen Kommunebewohner.

Sicher, das Zeitgeschehen lieferte eine ganze Reihe positiver Beispiele, was ein Gelingen in Zukunft ermöglichte. Doch man musste das Rad der Geschichte schon weit in die Vergangenheit drehen um Erfolge aufzuweisen und selbst die waren vom Dunkel der Prähistorie verschleiert.    

Die Versuche jüngerer Zeitepochen waren  allesamt gescheitert. Doch wollte sich Kovacs  dadurch nicht entmutigen lassen und beschloss die Flucht nach vorne anzutreten. Einen Blick auf das, was sie womöglich erreichen konnten.

Über die Zukunft zu diskutieren ist immer einfach. Theoretische Konzepte können nach Herzenslust entworfen werden, denn die Bewährung in der Praxis stand noch aus und wann es soweit war konnte keiner mit Sicherheit sagen.

 

Mit größter Sorgfalt hatte Kovacs das Thema des Abends vorbereitet.

 

Seine These: „Eine anarchistische Gesellschaft existiert von dem Moment an, wo Menschen beginnen, ihr Leben in großem Maßstab selbst zu organisieren.“

 

„Ihr habt die These vernommen. Nun frage ich ganz locker in die Runde. Was haltet ihr davon? Könnte das tatsächlich stimmen? Wie geht es euch, wenn ihr das hört?“

Zunächst löste Kovacs Frage kaum eine Reaktion aus, verschwiegen blickten sich die Anwesenden um. Offensichtlich wartete jeder auf des anderen Wortmeldung.

„Also wenn ich dich recht verstanden habe, beginnen die Menschen erst in einer anarchistisch strukturierten Gesellschaft ihr Leben selbst zu organisieren und zu gestalten. Mit anderen Worten, sie haben es bisher nicht getan? Eine sehr gewagte These. Um nicht zu sagen eine anmaßende.“ wagte schließlich Folko den Einstieg.

„Na klar! Du musst wieder als erster provozieren.“ neckte Kyra ihren neuen Liebhaber, zu dessen Füßen sie im Schneidersitz Platz genommen hatte.

„Interessanter Einwand! Wir werden darauf zurückkommen. Aber zunächst müssen wir die Geschichte der Menschheit betrachten und analysieren, wie sich die Menschen bisher organisierten.“

„Das reizt mich zu einer Gegenfrage, Folko. In wie weit konnten Menschen in der Vergangenheit überhaupt ihr Leben selbständig gestalten? Und wie können sie es derzeit?“ setzte Ronald nach. In deutlichen Zügen kam hier natürlich wieder der Revolutionär zutage.

„Na endlich kommt Schwung in die Runde. Ich hatte schon die Befürchtung, dass ich euch mit diesen Fragen langweile. Aber ich sehe, dass ihr begriffen habt worauf ich hinaus will.“

„Ach! Und worauf willst du hinaus? Wenn die Frage erlaubt ist?“ warf Klaus in die Runde.

„Später! Darauf kommen wir später! Zunächst wollen wir sammeln um uns im Anschluss eine Antwort zu erarbeiten.“ wich Kovacs geschickt aus.

„Also! Die Menschen haben sich zu allen Zeiten organisiert. Aber dies geschah fast ausnahmslos auf der Grundlage von fest gefügten Hierarchien, also von herrschen und beherrscht werden. Es gab Führungskräfte, die den Ton angaben, die Autorität für sich in Anspruch nahmen. Und es gab eine große Masse, die Gefolgschaft zu leisten hatte, ohne die Autoritäten je in Frage zu stellen. Ohne auch nur darüber nachzusinnen, welchen Zweck eine Führung hatte. Organisiert wurde von den Eliten. Die Masse gestaltete gar nichts, sie wurde einfach gestaltet.“ stellte Elena fest.

„Soweit waren wir schon. Haben wir alles auf unserer letzten Zusammenkunft ausdiskutiert.“ meldete sich Leander zu Wort, dem die Langeweile schon jetzt ins Gesicht geschrieben stand. “Müssen wir denn alles x-Mal wiederholen?“

„Wiederholungen sind immer wichtig, Leander, müssen wir uns doch auf die zurückliegende Lektion berufen. Nur so kommen wir dem Ziel näher.“ mahnte Kovacs.

„Lass ihn doch erstmal ausreden, Leander. Ich finde es ganz und gar nicht langweilig. Ich bin gespannt, auf was er hinaus will.“ widersprach Ronald.

„Organisation gab es immer und wird es immer geben. Vor allem im kleinen Umfang ist sie unverzichtbar. Mir fällt bei deiner These auf, dass du es dabei offensichtlich auf den großen Maßstab abgesehen hast. Auf die Regionen, auf die Staaten, usw.“ glaubte Gabriela.

„Sehr richtig, Gabriela! Auf den Maßstab kommt es an. Seht her! Unsere kleine Gruppe  ist überschaubar. Hier ist es uns gegeben, alles im Plenum  zu regeln. Doch nun nehmt einmal an, unsere Gruppe vergrößert sich in kurzer Zeit sprunghaft und wir hätten auf einmal zehnmal so viele, ja womöglich noch mehr Mitglieder. Dann droht Selbstorganisation zum Selbstlauf zu werden.“ stimmte Kovacs begeistern zu. Doch in der Runde konnte man die Skepsis geradezu riechen.

Erneut meldete sich Folko zu Wort.

„Lieber Kovacs, das klingt alles sehr idealistisch. Kann es je eine ideale Welt geben? Was du hier anregst, setzt eine perfekte Menschheit voraus. Die Menschen sind aber nun mal alles andere als perfekt. Wir brauchen uns nur in unserer Runde umzusehen."

„Ich verstehe dich gut. Laßt mich hier ein wenig ausführlicher darauf eingehen.

Zu den besonders hartnäckigen Mythen gehört die Vorstellung, eine libertäre Gesellschaft müsse eine Gemeinschaft sein, ein Zusammenschluss von Überzeugungstätern. Nur wenn die Menschheit es schafft, sich auf möglichst viele Standpunkte zu einigen, kommen sie auch mit libertären Strukturen zurecht. Alle Menschen müssen sich auf eine verbindliche Norm festlegen, oder um es ganz simpel auszudrücken, sie müssen sich gleichmachen. Dem ist aber ganz und gar nicht so! Wir unterschieden uns in nichts von staatlichen Doktrinen, würden wir so etwas anstreben. Eine solche Gesellschaft könnte auch wieder nur mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden. Das aber wollen wir doch  gerade vermeiden. Unsere Vorstellungen basieren auf einer freiwilligen Vereinbarung. Die Akratie ist der Zusammenschluss freier autonomer Individuen mit zum Teil total unterschiedlichen , nicht selten sogar gegenseitigen Lebensentwürfen, die sich in unserer kleinen Gruppe  sehr deutlich anzeichnet . Keinesfalls ist die libertäre Gesellschaft eine ethnische Glaubensgemeinschaft.

Gerade aus einer solchen bunten Vielfalt kann die Akratie ihre Kraft ziehen.“

„Aber liegt nicht gerade hier die Sprengkraft? Wie sollen denn diese unterschiedlichen Individuen zusammenkommen? Birgt das nicht unendliches Chaos in sich? Ein Gebilde, das nach nur kurzer Zeit droht, den Geist aufzugeben?“ hakte Folko nach.

Den großen Skeptiker schienen auch noch so stichhaltige Argumente nicht zu überzeugen.

„So lautet  zunächst das altbekannte Vorurteil und ein Blick in die Geschichte scheint dir recht zu geben. Doch bei genauer Betrachtung kommt man recht schnell zu dem Schluss, dass nicht alles, was sich als libertär bezeichnet, auch tatsächlich als solches zu betrachten ist. Viele Ideologen gaben zwar vor, für die Freiheit zu kämpfen, taten aber im Endeffekt das genaue Gegenteil. Eine anarchistische Richtung, die auf dem Wege einer direkten Aktion die Herstellung gemeinsinniger Bedingungen anstrebt, verpflichtet sich zu folgenden Anliegen.

-Selbstorganisation statt einer Einordnung in eine von einer Elite konstruierten Ordnung.

-Die Schaffung kleiner überschaubarer Einheiten an Stelle großer anonymer Apparate.

-Mitbestimmung und Mitgestaltung auf allen Ebenen statt einsamer Entscheidung von Eliten an der Spitze.

Sämtliche Autoritären Tendenzen aus den politischen und ökonomischen Organisationen zu eliminieren, darin besteht die große Zielsetzung. Die libertäre Gesellschaft, die wir versuchen aufzubauen, bedarf keiner technokratischen Autoritäten. Dann werden Politik und Ökonomie, nach libertären Vorstellungen von der gesamten Gesellschaft in Selbstverwaltung übernommen. Ganz wichtig ist dabei dass sämtliche sozialen Aufgaben und Funktionen an möglichst viele Bürger delegiert werden, um nicht zu sagen an alle.“

„Also, ich komme langsam nicht mehr mit!“ unterbrach Kyra Kovacs Redefluss. “Uns allen ist hinlänglich bekannt, dass du ein findiger Geist bist. Aber ich muss dich wieder einmal daran erinnern, dass nicht jedem diese Gabe zu eigen ist. Versuche doch zunächst die wichtigsten Begriffe zu erläutern. Akratie, Anarchie. Mal sprichst du von einer anarchistischen, dann wieder von einer libertären Gesellschaft. Viele Begriffe! Meinst du nicht auch, es sind zu viele?“

„Wie ich immer wieder betonte, der Begriff Anarchie ist historisch betrachtet ausgesprochen negativ besetzt. Es gab Epochen, in denen Anarchisten, oder zumindest Leute, die vorgaben solche zu sein, zu gewaltsamen Methoden griffen, um ihre Ziele durchzusetzen. Sie bedienten sich Bombenanschläge, Attentate um eine neue Weltordnung herbei zu schaffen.

Das war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Dieses Bild aber blieb in den Köpfen vieler Menschen haften, auch wenn sich der moderne Anarchismus längst von dieser unrühmlichen Phase distanziert hat. Aus diesen Grunde suchten die Protagonisten der anarchistischen Schulen stets nach alternativen Begriffen. Libertär heißt ja nichts anderes als Freiheitlich. Meint aber doch im Grunde das Gleiche. Auch Akratie, die bedeutet ja lediglich die Abwesenheit von Herrschaft.

„Also ich finde deine These interessant. Auch wenn ich mich mit dem Gedanken schwer tue, dass alle Bürger zu Regierenden werden. Eine schöne Welt, die du projizierst. Gern würde ich in einer solchen leben und arbeiten. Aber ich fürchte, nicht alle kommen damit zurecht. Ich kann mir nicht vorstellen, es praxistauglich zu gestalten.“ wollte Elena wissen.

„Wo soll ich beginnen?  Ein umfangreiches Gebiet. Ich denke hier zum Beispiel an Fabrikkomitees, kommunale Verwaltung für Bereiche wie Infrastruktur, Bildung, Gesundheit etc. Um eine erneute Hierarchiebildung von vornherein zu unterbinden schützt sich die Gesellschaft indem sie die politischen und wirtschaftlichen Leitungen durch Wahlen einsetzt und sich die Möglichkeit vorbehält Personen jederzeit wieder abzuwählen, sollten diese den Anforderungen nicht entsprechen.

Eine anarchistische Gesellschaft ist geprägt durch Föderalismus, das bedeutet das sich kleine Einheiten in einer losen Vereinigung vernetzen und austauschen, denen aber keinesfalls eine Weisungsbefugnis zusteht.“

„Mit anderen Worten. Es gibt kein Staatsoberhaupt, keine zentrale Regierung, kein Parlament. Nichts von alledem, was einen Staat als solchen ausmacht?“ wollte Leander wissen.

„Also auf keinen Fall in jener Art, wie wir es derzeit erleben. Was ein Staatsoberhaupt betrifft, überhaupt nicht. Wer braucht so etwas?“ Kovacs blickte in die Runde. Von dort war nur leises Achselzucken zu vernehmen.

„Ich für meinen Teil benötige keinen Präsidenten, oder wie man das auch noch bezeichnen mag,“ schaltete sich nun Colette in das Gespräch ein. „In Melancholanien ist das eh nur so eine Art  Grüßaugust, mit rein repräsentativen Aufgaben, ohne wirkliche Vollmachten. Hier mal Hände schütteln, da mal ein Bändchen durchschneiden. Vor allem stets und ständig geisttötende langweilige Reden schwingen, Mahnungen, Appelle, die eh nur überhört werden. Hin und wieder eine Unterschrift unter eine Gesetzesvorlage, damit es zumindest den Anschein hat, dass er  hin und wieder auch mal arbeitet. Weg damit! Ohne diesen Heini kommen wir viel besser zurecht!

„Also was unseren derzeitigen Präsidenten betrifft, auf den könnten wir allemal verzichten, da kann ich dir vorbehaltlos  zustimmen und ich denke die andern werden da auch mitgehen." Stimmte Kovacs zu.

Aber ganz auf eine Regierung verzichten? Das stelle ich mir problematisch vor. Wer sollte  dann z.B. die zugegeben sehr sinnvollen kleinen Einheiten autonomer Gemeinschaften zusammenhalten? Wer, wenn nicht eine übergeordnete Regierung könnte das gewährleisten?  Irgendjemand muss doch die  erforderlichen Gesetze erlassen. Und wer sorgt dafür, dass sie auch durchgeführt werden?“ zweifelte nun auch Elena.

„Ich wollte damit nicht sagen, dass wir überhaupt keine zentrale Regierung mehr benötigen. Nur sollte sich diese deutlich von dem unterscheiden, was unsere derzeitige Ministerclique so im allgemeinen an den Tag legt. Die Akratie, die Anarchie, oder wie immer wir es auch nennen mögen, geht andere Wege. Es versteht sich von selbst, dass es eine Verwaltung geben muss. Aber ich kann immer wieder nur betonen. Verwaltung darf nicht mit Herrschaft gleichgesetzt werden.

Es geht um nichts anderes als die Abschaffung der Fremdbestimmung. Wir nennen die neue Regierungsform Horizontale Vernetzung, die auf einer freiwilligen Autorität beruht. Um dorthin zu gelangen, muss es aber vorher eine Entflechtung der Gesellschaft geben.

Man könnte Entflechtung auch als Verkleinerung bezeichnen, verdeutlicht deren Anliegen sicher besser. Die gesamte anarchistische Gesellschaftskritik ist darauf ausgerichtet eine Selbststeuerung zu ermöglichen, indem Größe und Struktur der Gesellschaft verändert werden.

Um es noch einmal ganz simpel auszudrücken. Kleine Selbstverwaltungseinheiten schließen sich aufgrund einer freien Vereinbarung zu Netzwerken zusammen, die an die Stelle des alten Staates treten.“

Betretenes Schweigen erfüllte die Runde. Tiefe Zweifel gruben sich in die Hirne der Zuhörer

So etwas sollte funktionieren? Kovacs schien tatsächlich daran zu glauben. Er war ein Idealist und es gab im ganzen Lande noch eine ganze Reihe anderer seines Schlages. Möglicherweise vermochten die auch in einer solchen Art von Selbstverwaltung zu leben. Doch was war mit dem Rest? All jene, die es gewohnt waren, tagein tagaus Befehle entgegen zu nehmen und diese auszuführen bzw diese an die nächst untergeordnete Ebene weiter zu leiten.

Eine schöne Theorie, zugegeben, alles klang sehr positiv. Doch die Praxis? Eine allgemein zufrieden stellende Antwort vermochte wohl auch Kovacs nicht zu geben.

Es hatte den Anschein, als würde er mit der Beantwortung einer Frage bereits die nächste in den Raum stellen.

Folko fühlte sich erneut herausgefordert.

„Gut, gut! Langsam! Angenommen diese horizontale Vernetzung, wie du sie charakterisierst existiert tatsächlich in ferner Zukunft, wider allen Erwartungen. Wer bestimmt dann deren Zusammensetzung? Ich meine, die müsste doch aus allgemeinen Wahlen hervorgehen, nach jener Art, wie wir sie heute auch schon kennen. Schon jetzt werden wir alle paar Jahre dazu aufgefordert über die Zusammensetzung des Nationalforums  abzustimmen, oder auch der untergeordneten Körperschaften. Auch in der Akratie würde es dann so etwas wie ein Parlament geben müssen.“

„Richtig und falsch zugleich. Du hast, ohne es zu bemerken den gravierenden Unterschied bereits hervorgehoben Folko. Alle paar Jahre dürfen wir unser Kreuzchen machen. Alle 4 bis 5 Jahre haben wir für den Bruchteil einer Sekunde eine Stimme, halten wir kurzzeitig Macht in unseren Händen. Doch kaum haben wir davon Gebrauch gemacht, haben wir sie schon verloren. In jenem Moment da das Zettelchen in der Wahlurne verschwunden ist. Die Berufspolitiker, die uns ein paar Wochen mit allen möglichen Versprechungen köderten und umgarnen, sind in ihren schicken Büros verschwunden und unsere Belange gehen denen nichts mehr an. Das brauchen sie auch nicht, denn sie sind uns zu nichts verpflichtet. Einzig und allein ihr Gewissen ist es, dem sie sich verpflichtet fühlen, vorausgesetzt, sie besitzen überhaupt eines, was ich bei etwa 80% dieser Spezies nicht glauben kann. Es gab zu keinem Zeitpunkt ein einklagbares Recht auf Wahlversprechen." Meinte Colette.

Kovacs lächelte ihr zu und richtet den Daumen seiner rechten Hand nach oben.

"Sehr gut formuliert Colette! Wir verstehen uns. Du hast es genau erfasst. Besser hätte ich es nicht aus zu drücken vermocht."

Colette fühlte sich tief geschmeichelt und erwiderte das Lächeln auf ihre Art.

"Man bezeichnet den Zustand  den Colette eben ansprach im allgemeinem als Freies Mandat." Setzte Kovacs seinen Vortrag fort

Ganz anders die Akratie. Selbstverständlich wird es auch hier Wahlen geben, sehr viele sogar, auf allen Ebenen, Doch erhalten die Akteure dort ein so genanntes Imperatives Mandat.

Was bedeutet das?

Bei einem Imperativen Mandat ist der Abgeordnete an inhaltliche Vorgaben der von ihm Vertretenden gebunden. Der Abgeordnete ist dem direkten Willen der Wähler verpflichtet.

Folgt er dieser Verpflichtung nicht , kann er jederzeit abgewählt und durch eine andere Person ersetzt werden. Das trifft auf alle Ebenen zu, von der untersten Zelle bis nach oben, soweit es eben ein Oben in der heutigen Form  dann noch gibt.“

Diesem Ansinnen wurde durch ein deutliches Kopfnicken allgemeine Zustimmung zugesprochen.

„Dem kann ich  zustimmen! Wenn ich da an unsere letzten Wahlen denke. Immer die gleichen langweiligen Gesichter, ständig die gleichen Versprechungen, von denen  in der Tat bis heute kaum etwas verwirklicht wurde. Ein Politikwechsel ist unter diesen Umständen gar nicht möglich. Nach den Wahlen, Routine!  Abgeordnete, die sich auf Kosten der Steuerzahler ein angenehmes Leben machen mit Privilegien jedweder Art.

Aber einen  Abgeordneten einfach abwählen? Wie soll das funktionieren? Täten wir es jetzt, ich denke ein Chaos von gigantischem Ausmaß wäre die Folge. Ich schätze mal dass etwa 95% aller Mitglieder des Nationalforums Versager sind, die jede Bodenhaftung verloren haben. Würden die aber verschwinden, wer träte dann an ihre Stelle?“ dämmerte es Ronald. Auch dieser Aussage wurde Zustimmung zuteil.

„Genaue Analyse Ronald! Wir können eine libertäre Ordnung nicht im Hau-Ruck-Verfahren einführen. Und wir dürfen auf keinen Fall die jetzige Situation als Maßstab betrachten. Um dahin zu gelangen, bedarf es einer langwierigen Vorbereitung. Auch darauf habe ich schon mehrfach hingewiesen. Die Samen müssen heute ausgesät werden, im hier und jetzt, um es uns zu ermöglichen, in der Zukunft deren Früchte zu genießen. Die Art und Weise, wie wir uns gefunden haben, wie wir zusammenleben und was wir bisher schon erreichen konnten ist der Anfang. Eine kleine Zelle. Wenn unser Beispiel Schule macht und sich anderorts Menschen auf die gleiche Weise zusammen finden, um ähnliches aufzubauen, wobei sie in ihren Handeln völlig frei und autonom agieren können, dann sind wir auf dem richtigen Weg.

Niemand ist verpflichtet, uns eins zu eins zu kopieren. Das Ziel ist die Einheit in der Vielfalt. Sich gegenseitig austauschen und ergänzen. Habt ihr euch das gemerkt? Wir kommen immer wieder auf das Thema Dezentralisierung zurück, oder Entflechtung, wie immer wir es nennen wollen. Der Föderalismus ist die Grundlage der Akratie, ohne ihn wäre sie nicht vorstellbar.“

„Also nicht durch eine Revolution, die unsere Verhältnisse schlagartig ändert? So, wie es Neidhardt beabsichtigt?“ wollte Leander wissen.

„Doch! Nur eine Revolution bringt uns zum Ziel. Das Alte muss verschwinden, radikal. Nichts darf mehr an das Vergangene erinnern. Ein totaler Systemwechsel ohne wenn und aber.

Lassen wir die alten Strukturen so, wie sie sind, werden die Anhänger des alten Regimes alles in ihrer Macht stehende anwenden, um wieder die Oberhand zu gewinnen.“ widersprach Ronald dem ganz energisch.

„Du hast wieder einmal nicht richtig zugehört, Ronald,“ unterbrach Kovacs. „Ich habe euch vorhin darauf hingewiesen, dass, um eine Akratie zu entwerfen, beides von Nöten ist. Revolution und Evolution gleichermaßen. Es ist undurchführbar, innerhalb weniger Wochen ein System völlig auf den Kopf zu stellen und alles zu erneuern, wenn nicht lange vorher  die notwendigen Strukturen geschaffen wurden. Wenn das, was du dir vorstellst einträfe, würde ein Vakuum entstehen. Aber die Gesellschaft akzeptiert kein Vakuum. Neue Hierarchien werden schon recht bald an die Stelle der alten treten. Möglicherweise würden die sich noch dramatischer gebärden als die vorherigen. Was hätten wir dann gewonnen? Meine Überlegungen gehen einen konkreten Weg. Der heißt: Erst die Evolution, dann die Revolution!“

„Also, ich glaube dich richtig verstanden zu haben. Wir bauen die neue Welt im Bauch der alten. So wie ein Kind im Mutterleib entsteht, langsam heranreift, geboren wird, aufwächst und, wenn die Zeit gekommen, als eigenständiger Mensch seinen selbst gewählten  Weg zu gehen imstande ist."

Brachte Colette ein plastisches Beispiel

 "Genau! Und immer mehr Zellen entstehen, ganz unabhängig von einander, wachsen, nähern sich an, bilden eine Zellenstruktur, also das von dir so bezeichnete Horizontale Netzwerk. Das entwickelt sich zu einer Art Staat im Staate. Es löst sich immer deutlicher von der alten Ordnung, obgleich es noch immer in diese eingebunden ist, bis zu einem Grad, da es imstande ist, vollständig losgelöst zu existieren, den alten Staat nicht mehr benötigt. Dann erst könnte eine Revolution kommen? Das Netzwerk wäre in der Lage den Platz des alten Staates einzunehmen, seine bisherigen Funktionen einfach zu übernehmen?“ glaubte Elena dem gehörten zu entnehmen.

„Sehr richtig, Elena! Wobei sich die Frage stellt, ob wir nach der Evolution dann überhaupt noch eine Revolution brauchen, die müsste sich nicht zwangsläufig einstellen. Doch das muss sich in der Praxis bewähren!“ begeisterte sich Kovacs.

„So ne Art von Inseln wären das, oder wie habe ich mir das vorzustellen? Wir treten aus dem heutigen System aus. Aber damit haben wir doch schon begonnen, oder? Ich meine, das, was wir um uns haben, was wir geschaffen. Die Siedlung hier und das ganze drum herum.“ fügte Kyra hinzu.

„ Zumindest sind die ersten Schritte in diese Richtung erfolgreich eingeleitet. Nun ist es an uns weiter daran zu arbeiten. Das bedeutet, immer am Ball bleiben, niemals nachlassen. Das wäre fatal.“ gab Kovacs zu verstehen.

Leander stellten die Aussagen nicht recht zufrieden.

„Eine ganz klitzekleine Kleinigkeit hast du aber vergessen, die hast du gar nicht in Betracht gezogen:“

„Aha, und die wäre?“

„Die Menschen Kovacs, die Menschen. Wer könnte es denn aufbauen, dein Horizontales Netzwerk oder wie immer du es auch zu nennen beliebst? Sieh dich doch um. Wir paar Hanseln sollen das bewerkstelligen? Wir, die wir  selber noch am Anfang stehen und uns außerordentlich schwer damit tun, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Ein solches Netzwerk ist etwas für eine Massenbewegung, eine Strömung und die sehe ich in unserem lieben Melancholanien ganz und gar nicht.“

„Eine Aussage, die nicht einer gewissen Logik entbehrt. Ich kann mich nur an schließen und dem Gehörten zustimmen. Auch ich glaube nicht daran, dass sich in absehbarer Zeit größere Bewegungen innerhalb der Bevölkerung formieren. Ich denke einfach, die Menschen in Melancholanien haben ganz andere Sorgen im Moment!“ pflichtet ihm Folko bei.

Kovacs sah sich in die Enge getrieben, denn die beiden sprachen die Wahrheit, dem musste er sich beugen. Es sah in der Tat ganz und gar nicht danach aus, dass die Bevölkerung des Landes besonders empfänglich für anarchistisches Gedankengut war, auch wenn es derzeitig in vielen Landesteilen zu Protesten kam.

Es schien, als gingen ihm die Argumente aus, doch Colette stärkte ihm erneut den Rücken.

„Natürlich habt ihr Recht mit euren Einwänden. Es existiert im Moment keine anarchistische Strömung und  das ist bedauerlich. Das muss aber keineswegs so bleiben. Manchmal genügt schon ein kleiner, auf dem ersten Moment unbedeutender Vorfall, um die Stimmung in null komma nix zu wenden. Elena hat durch ihren Auftritt einen solchen Stimmungswechsel hervorgerufen. Der Anfang wurde damit gesetzt. Nun heißt es darauf zu bauen. Wir dürfen nicht nachlassen in unseren Bemühungen, sonst droht am Ende wieder nur Stagnation. “

"Es kommt einzig und allein auf den richtigen Augenblick an. Die Stagnation wäre Folge großer Enttäuschungen. Ist das Volk enttäuscht wird es erst recht gefährlich." Fügte Kovacs hinzu.

„Das mag ja sein. Aber ich glaube nicht, dass das eine befriedigende Antwort auf die Frage ist.  Das sind doch eher Ausflüchte, Kovacs. Wie lange sollen die Menschen auf solch einen Augenblick warten, wenn die Frage gestattet ist. Monate, womöglich Jahre? Willst du die, die an dich glauben, wirklich so lange vertrösten? Wollen wir nicht lieber untersuchen, woran es liegt, dass sich in der Bevölkerung außer Unmutsäußerungen sehr wenig  regt." mischte sich nun auch noch Gabriela unter die Riege der Zweifler. Doch damit hatte sie dem Dichter unbemerkt einen Ball zugespielt und der verstand es, diesen geschickt zu seinen Gunsten einzusetzen.

„Eine Analyse meinst du? Eine kritische Betrachtung der derzeitigen Situation? Die kann ich euch gerne geben. Das ist auch gar nicht schwierig zu verstehen. Was fehlt, ist die Stille! Das ist es. Die Stille ist das Hauptopfer unserer modernen Kultur!“

„Die Stille? Jetzt versteh ich nur noch Bahnhof!“ wunderte sich Kyra.

Nun war Kovacs wieder in seinem Element.

„Wir leben in einem hektischen und aggressiven Zeitalter, in dem alles ans Licht gezerrt und dem sensationslüsternen Blick der Öffentlichkeit preisgegeben wird. Die ständige Globalisierung unserer Kultur verleiht dem Bild, dem Schein eine ungeheure Macht. Die Menschen in unserem Melancholanien werden von einer unglaublich wirkungsvollen Verwirrindustrie beherrscht, die alles, was in irgend einer Form auch immer Tiefe besitzt und in der Stille lebt, vollkommen ignoriert. Die Oberfläche unseres Geistes wird unaufhörlich von der Macht der Bilder verführt. Fortwährend wird das Leben des Menschen nach außen gezerrt, während die innere Welt der Seele unter der gedankenlosen Willkür ihrer neuen Hausherren leidet. Die Werbeindustrie, die Meinungsmacher, die seichte Unterhaltung, all das sind Faktoren, die einen immensen Schaden anrichten.“ Sein Blick schweifte zu Elena, die mit leicht errötetem Kopf schamvoll zum Boden blickte. Ihr war nur zu genau bewusst, wen oder was er damit meinte, war sie doch vor nicht all zu langer Zeit selber noch Teil dieser oberflächlichen Kultur, der Lüge, der Heuchelei, der Seifenblasen.

„Die Menschen nehmen sich hingegen viel zu wenig Zeit für die Stille, denn nur in ihr kann wahre Kreativität reifen. Eine Kreativität, die uns aus der Umnachtung befreien könnte. Nur in der Stille können wir Heilung erfahren, von den Wunden dieser Pseudokultur. Doch andererseits besteht die große Gefahr, dass viele Menschen überhaupt nicht geheilt werden wollen, denn das würde ja bedeuten, ins Unbekannte vorzustoßen.“

„Du brauchst mich gar nicht so anzusehen. Ich weiß, was du damit sagen willst. Ich gehörte dazu, ich war eine Meinungsmacherin, eine Verführerin. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen kann, ich meine…“

„Du brauchst gar nichts zu sagen, Elena. Denn du hast bereits alles gesagt. Vor einiger Zeit, bei deinem großen Auftritt. Niemand wird dir je wieder deine Vergangenheit vorwerfen. Du hast ein privilegiertes Leben freiwillig aufgegeben, um dich mit den Schwächsten der Gesellschaft zu verbinden. Würde dein Beispiel Schule machen, wir wären auf einmal alle unsere Probleme los.“ versicherte Kovacs.

„Aber gerade das ist das Problem,“ schaltete sich Kyra ein. „Es sind eben nicht alle wie Elena. Ich glaubte am Anfang auch nicht so recht an deine Wandlung. Nun konnte ich mich überzeugen, wie ernst es ihr tatsächlich damit ist. Aber es wird eine Ausnahme bleiben. Andere werden einen solchen Mut niemals aufbringen.“

„Was aber können wir tun, um die übergroße Mehrheit  in diesem Lande aus ihrer Lethargie herauszuführen? Das ist doch die Frage, die wir klären sollten. Kovacs, du hast richtig festgestellt, dass wir, bevor wir daran gehen können, die Welt zu ändern, erst einmal uns selber ändern müssten. Gib uns doch einen Rat. Sag, was sollen wir tun. Wie sollen Menschen ihre schlechten Eigenschaften, die sie ja nun mal besitzen, überwinden, um einen besseren Weg einzuschlagen?“ drängte Ronald.

„Die Seele hat eine paradoxe Eigenart. Je mehr wir uns bemühen, die unangenehme Eigenschaft von uns fernzuhalten oder los zu werden, desto hartnäckiger verfolgt sie uns. Der einzige Weg, das Unbehagen aufzulösen, besteht darin, es in etwas Kreatives und Positives umzuwandeln. Dass heißt, es in etwas zu verwandeln, das unsere Persönlichkeit bereichert.“ fuhr der Angesprochene fort.

„Ach, und wie machen wir das? Einfach beschließen, die negative Energie, die uns umgibt, in positive umzuwandeln? Ist das so einfach? Von einem auf den anderen Moment, so wie wir eine Lichtschalter ausknipsen?“ zweifelte Leander.

„Wir alle tragen jede Menge seelischer Wunden mit uns herum. Wir müssen sie pflegen und ihnen erlauben, auszuheilen!“ schlug Kovacs vor.

„Wir alle haben nur ein Leben und es wäre schade, es durch Angst und eingebildete Zwänge einzuschränken. Viele Menschen, ich möchte behaupten die große Mehrheit, führen nicht das Leben, dass sie sich sehnlichst wünschen. Wir sind aber in der Weltgeschichte, damit wir alles, was auf uns zukommt und alles, was in uns erwacht, vollständig ausleben.“

„Sehr gut gesprochen, Kovacs! Aber wie? Sag uns doch einfach, wie?“ beharrte Leander weiter.

„Lass ihn doch einfach mal ausreden! Er versucht es uns doch gerade zu verdeutlichen!“ wies ihn Klaus zurecht.

„Ich kann mir vorstellen, was dich bewegt, Leander. Du selbst gehörtest ja zu denen, die sich in Sehnsucht nach einem anderen Leben verzehrten. Mehr als einmal hast du mir das versichert. Daher verstehe ich deine Ungeduld. Lieben wir unsere Arbeit? Das was wir tun?

Die Menschen müssen arbeiten, sie müssen ihren Lebensunterhalt verdienen, das gehört zum Leben. Das wird auch immer so bleiben, ganz gleich in welcher Gesellschaft wir leben.“

„Das stimmt wohl nur zum Teil. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die sehr gut ohne Arbeit auskommen in unserem lieben Melancholanien und trotzdem aus dem Vollen schöpfen können.“ gab Ronald zu verstehen. Doch Kovacs lies sich nicht aus dem Konzept bringen.

„Doch bleiben wir dabei, alle müssen arbeiten. Aber es kommt auf das wie an. Eine der wichtigsten Forderungen der anarchistischen Philosophie ist denn auch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, gelingt ihr das nicht, dann sind auch alle andern Bemühungen vergebens. Es ist, wenn ich es mal so betrachte, eine Kernforderung.“

In Gedanken schweifte Leander in der Vergangenheit. Er hatte seine monotone Arbeit am Band oder der Seilerei vor Augen und die damit verbundenen Exzesse. Wie in aller Welt gedachte Kovacs das zu ändern? Doch er beschloss, seine Zweifel vorerst nicht mehr kundzutun.

„Eine Erscheinungsform von Ungerechtigkeit in unserem Wirtschaftssystem ist, dass der Mensch in ihr wenig bedeutet. Die ökonomische Logik fordert von ihm dass er sich den Bedürfnissen des Produktionsprozesses anzupassen hat. Die umgedrehte Form, also, dass sich die Form zu arbeiten den Menschen anzupassen hat, wird im allgemeinem als naiv eingestuft.

Einzig die Profitmaximierung ist Ziel und Inhalt. Ermüdende, stumpfsinnige und oft auch gefährliche Arbeit bestimmt für viele den Alltag. Der Mensch ist nur noch ein winziger Teil jenes Prozesses, zu dem er so gut wie keine Beziehung mehr hat und oft auch keine Ahnung. Das ist wirkliche Entfremdung." Klärte Kovacs auf.

"Entfremdete Arbeit aber macht weder Spaß, noch ist sie körperlich und geistig dem Menschen angemessen. Die Arbeitskraft wird zur Ware, zu einer scheußlichen Sache, die kaum einer gerne oder freiwillig tut. Die Beziehung zwischen Mensch und Arbeit wird auf ein Geschäft reduziert, das auf dem Markt stattfindet.  Und eben jener Markt bestimmt alles, in Melancholanien ist er allmächtig.“ Stimmte ihm Colette zu.

Da hatte der große Dichter den Nagel auf den Kopf getroffen. Eine gute Analyse, dachte Leander. Doch wo waren Alternativen zu finden?

„Das mag sein. Das ist bedauerlich, zugegeben. Ich habe mich früher nie mit diesem Problem auseinander gesetzt. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass es Menschen gibt, die solcherlei Arbeiten verrichten. Ich beachtete sie nicht. Ich sah nur meine Arbeit und die machte mir Spaß, ich konnte mich in ihr kreativ entfalten, sie war ein Teil meines Lebens. Ich ging davon aus, dass es bei allen so sei. Wie naiv ich war. Erst hier in den letzten Wochen erkannte ich meinen Irrtum und  konnte diesen revidieren.“ bekannte Elena.

„Und es gibt mit Sicherheit eine ganze Reihe von Menschen, denen ihre Arbeit Freude bereitet und die sie auch bereitwillig tun. Die darfst du keineswegs aus den Augen lassen. Die wird es immer geben.“ wandte Folko ein.

„Natürlich wird es die immer geben und das ist  auch gut so. Ich wollte damit ja nicht zum Ausdruck bringen, dass Arbeit generell entfremdet. Es kommt  nur auf den Blickwinkel an. Genau da wollen wir hin. In der Welt der negativen Arbeit, in der jeder einzelne kontrolliert wird, in der starre Machtstrukturen herrschen und der Mensch nur noch ein kleines Rädchen im Getriebe darstellt, gilt kein anders Ethos als extremer Wettbewerbsgeist." Antwortete Colette.

"Hingegen in der kreativen Arbeit jede individuelle Gabe zum sinnvollen Einsatz und zur vollen Entfaltung kommt, ein Konkurrenzdenken ist dort völlig unnötig. Die Konkurrenz wird gleichsam transformiert, es gilt dann die Devise, je mehr ich habe, desto mehr haben alle.

Wo dagegen Produktivität zum Götzen erhoben wird, schrumpft das Individuum zum bloßen austauschbaren Funktionsträger zusammen.

Stellt euch vor, Arbeit die Spaß macht. Wäre es nicht schöner den Arbeitsplatz eines jeden so zu gestalten, an dem Kreativität gefragt ist? Die Fähigkeiten würden geschätzt, die Beiträge aller anerkannt und gewürdigt. Das ist wahre Anarchie.

Denn immerhin hat jeder eine besondere ihm eigene Begabung. Es gibt keine Menschen, die nicht begabt sind. Auch der kleinste Beitrag trägt bei zur allgemeinen Bereicherung.

Unser Leben verliefe weit befriedigender und erfreulicher, wenn unsere Gabe am Arbeitsplatz die Möglichkeit erhält, zu wachsen und sich auszudrücken. Wir wären dann frei und könnten auch Anregungen und Inspirationen von den Kollegen akzeptieren. Das ist wirkliche Freiheit.

Und nicht diese uns ständig gebetsmühlenartig gepredigte Pseudofreiheit, die nichts kostet und zu nichts verpflichtet.

Zwischen den Kollegen brauchte kein Konkurrenzgeist mehr zu herrschen, da ja jeder Beitrag den der einzelne am Gesamtsoll leistet, einzigartig wäre. Der Arbeitsplatz könnte so zu einem idealen Betätigungsfeld für die Energie und die Gaben der Seele werden.“ Kovacs Begeisterung schien keine Grenzen zu kennen.

Leander fühlte sich herausgefordert und  konnte nicht mehr an sich halten.

„Bravo! Ich habe nie etwas Besseres gehört. Ich kann mir eine solche Welt sehr gut vorstellen. Eine gerechte Welt, eine schöne Welt. Eine Welt, einfach zu schön um wahr zu sein. Wenn ich noch länger zuhöre, komme ich ebenfalls ins Schwärmen.“

„Sei doch nicht immer so sarkastisch Leander!“ sprach ihn Elena von der Seite an.

„Ich habe Kovacs These sehr wohl verinnerlicht. Was er damit sagen will, ist doch einleuchtend. Arbeit soll nicht nur den Besitzenden zugute kommen, sondern allen, der ganzen Gemeinschaft. Alle Beteiligten sollen am erwirtschafteten Profite teilhaben. Arbeit könnte als Beitrag zur Steigerung der Kreativität und des Wohlbefindens aller verstanden werden. Das hängt natürlich davon ab, wie die Phantasie eingesetzt und die Seele entwickelt ist. Wenn wir aber unter jemandes Kontrolle stehen, werden wir von ihm eher als Objekt, denn als eigenständiges Subjekt behandelt.“

„Ich habe es auch verstanden, Elena und das, obgleich ich kein Intellektueller bin. Glaubst du denn, ich würde eine solche Gesellschaft nicht auch begrüßen? Ich möchte meinen Beitrag leisten, um in einer solchen anzukommen. Aber es wird ein steiniger Weg. Das können wir nicht mal so eben in einem Spaziergang herbeizaubern.“ hielt ihr Leander entgegen.

„Ich stimme Leander zu. Denkt doch einmal nach. Es sind die Machtmenschen, denen wir ausgeliefert sind. Bei der arbeit, aber auch darüber hinaus, im Allgemeinen. Wie überwinden wir die oder bringen sie dazu, um zudenken?  Oder glaubt ihr etwa, die geben ihre Macht freiwillig in andere Hände?“ kam Kyra Leander zu Hilfe.

„Lasst mich darauf direkt eingehen!“ übernahm  Kovacs wieder das Gespräch.

„Machtmenschen entwickeln oft einen unheimlichen Instinkt, wie sie das System oder bestimmte psychische Mechanismen gegen ihre Untergebenen arbeiten lassen können. Wir sind dazu verurteilt, fast immer für Leute zu arbeiten, die Macht über uns ausüben. Sie haben die Macht, uns auf die Straße zu setzen, uns zu kritisieren, zu schikanieren, zu demütigen, wann immer es ihnen beliebt. Kein Mensch kann sich auf Dauer an so einem Arbeitsplatz wohl fühlen. Doch denkt tiefer. Haben denn die Machtmenschen manchmal nur deshalb Macht über uns, weil wir es ihnen gestatten, weil wir ihnen unsere Macht abtreten?

Doch sind Machtmenschen wirklich immer stark? Häufig sind mit Machtbefugnissen ausgestattete Leute gar nicht so stark, wie sie gerne erscheinen möchten. Wer nach Macht hungert, ist oftmals sogar sehr schwach. Er strebt nach Macht, nach einer einflussreichen Position, um dadurch seine Zerbrechlichkeit zu kompensieren.

Jede Frage, jeder Alternativvorschlag und erst recht jede konstruktive Kritik wird als Bedrohung seines Standes und seines Herrschaftsanspruches betrachtet. Genau da müssen wir ansetzen, die Wunden offen legen. Müssen unsere Stärke zeigen, aber das können wir nun mal nur im Verbund miteinander.

Als Ort der Macht ist der Arbeitsplatz zugleich Ort der Kontrolle. Diese Kontrolle ist es, die unsere Autonomie und Unabhängigkeit einschränkt und sich oft verheerend auswirken kann.

Wir werden auf eine infantile Rolle zurückgeworfen, wenn uns jemand ständig kontrolliert, uns auf die Finger sieht, uns Misstrauen entgegenbringt. Das ist vergleichbar mit einem Kind, das mit einer Autoritätsperson zu tun hat. Wir werden so eines Großteils unserer Individualität und Handlungsfreiheit beraubt. Es gibt viele Menschen, die ihre Beziehung zu ihren Eltern noch nicht richtig aufarbeiten konnten und die aufgrund dessen eine solche Autoritätsperson zu einem Reisen aufblasen. Versteht ihr, der Vorgesetzte nimmt die Stellung ein, die früher den Eltern zukam. Hier können wir deutlich den Unterschied zwischen Macht und wahrer Autorität erkennen.“

„Dann musst du uns nur noch erklären, was denn genau der Unterschied ist zwischen Macht und „wahrer“ Autorität oder wie immer du es bezeichnest.“ wollte Kyra wissen.

„Natürlich tue ich das! Wahre Autorität, besser gefällt mir der Begriff, Natürliche Autorität gründet sich nicht auf einen Erzwingungsmaßstab. Das beste Beispiel, das euch sicher allen geläufig ist, das Alter. Ein erfahrener alter Mann,oder eine ebenso erfahrene alte Frau genießen in der Familie eine Autorität, das war schon der Fall, lange bevor es Staaten im heutigen Sinne gab und man nicht auf Polizei, Justiz oder ähnliches zurückgreifen konnte.

In der Sippe, im Stamm, oder mit was sich die Menschen damals noch so identifizierten, gab es oft einen Ältestenrat. Die natürliche Autorität, die sie vertraten, war eine Verbindung von Ratgeben auf der einen Seite und dem freiwilligen Akzeptieren auf der anderen. Und da die Freiwilligkeit die Grundlage bildete, brauchte man dem Rat auch nicht zu folgen. Das ergibt eine ganz andere Gesellschaftsstruktur, die nach anderen Regeln organisiert ist als der von Herrschaft durchzogene Staat. Oder eben auch ein streng hierarchisch organisiertes Unternehmen in der Wirtschaft.

Erstaunlicherweise wurden die Ratschläge in den vorstaatlichen Kulturen fast immer angenommen, da die Ältesten bei den Sippen- oder Clanmitgliedern ein großes Vertrauen genossen.

Damit erkennen wir auch das Hauptkriterium, auf der jede natürliche Autorität beruht, nämlich dem Vertrauen. Fehlt dieses Vertrauen, funktioniert auch die natürliche Autorität nicht. Neben dem Vertrauen ist vor allem die Kompetenz hervorzuheben. Alter, das heißt Lebenserfahrung,  heißt über Kenntnisse verfügen, die an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wird. Erfahrungen über Lernprozesse, über soziale und natürliche Zusammenhänge, ein Wissen über spezielle Techniken oder Künste, wir können die Liste beliebig weiterführen. All dieses Wissen, all diese Erfahrung war für die Menschen so wichtig, dass sie ohne all dies nicht überleben konnten.

Nun frage ich euch, sind die melancholanischen Politiker in ihrer Mehrheit kompetent, genießen sie Vertrauen?“

Ein eindeutiges Kopfschütteln durchzog die ganze Runde.

„Sind die großen Chefs in Melancholaniens Unternehmen kompetent, genießen sie Vertrauen?“

Wieder nur folgte ein Kopfschütteln.

„Begreift ihr nun worauf ich hinaus will? In unserem Land sind Menschen mit Machtfülle ausgestattet, die ihnen nicht zukommt, da sie über keine ausreichende natürliche Autorität verfügen. Folglich ist es auch nicht anrüchig, ihnen die Gefolgschaft zu verweigern.“

„Langsam, ganz langsam! Ich habe den Faden verloren. ich kann mir nicht helfen aber es scheint das du immer deutlicher vom Thema abschweifst Kovacs. Die Sache mit der Arbeit ist wichtig. Aber wolltest du uns nicht etwas über deine Visionen  über die eine neue Gesellschaft berichten? Das Thema Demokratie bewegt mich ständig. Ich kann dir nicht folgen, was deine Einschätzung betrifft. Ich halte die Demokratie für ein hohes Gut. Die Art wie du damit umgehst irritiert mich. Vor allem das Thema Wahlen, auf das du am Anfang eingingst.“ beschwerte sich Klaus.

„In unserem Lande finden Wahlen statt. Die Bevölkerung hat die Möglichkeit abzustimmen, sich ihre Repräsentanten frei zu wählen, die Entscheidungen zu treffen haben. Aus deiner Einstellung entnehme ich dass du die Legitimation von demokratischen Wahlen in Zweifel ziehst!“

Hier hatte er erneut jenes heiße Eisen angefasst an dem sich noch immer die Geister schieden. Waren Anarchisten antidemokratisch? Eine Frage, die sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte zog. 

Doch verstand es Kovacs geschickt, darauf einzugehen.

„Wahlen? Also ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube feststellen zu können das in den letzten Jahren, Jahrzehnten in keinem melancholanischen Großkonzern, oder sonstigen Unternehmen Wahlen stattfanden. Oder verfügt ihr über Kenntnisse darüber, dass sich auch nur ein Konzernchef je hat wählen lassen?“

„Natürlich nicht!  In der Wirtschaft finden doch keine Wahlen statt. Ich meine die staatliche Ebene, von der kommunalen bis ganz nach oben. Bürgermeister, Landräte, Abgeordnete, etc.! Lass uns doch einfach wieder darüber sprechen!" Forderte Klaus.

"Das ist zunächst natürlich richtig! Aber überlegt doch mal. Die Menschen verbringen einen Großteil des Tages, ja ihres gesamten Lebens, am Arbeitsplatz. Der ist ein ganz dominanter Faktor, wie wir  soeben feststellten. Ist es denn nicht eigenartig, das  ein so wichtiger, so entscheidender Bereich unserer Lebenswelt, eine Demokratiefreie Zone bildet? Dort wo wir uns mit am längsten auf halten, keine demokratische Legitimation. Die Chefs, die Direktoren, aber auch die untergeordneten Vorgesetzten sind allesamt kleine Diktatoren, die uns nach Belieben dirigieren können, uns demütigen, uns entlassen können und damit unserer Existenzgrundlage berauben. So etwas ist legitim in einer Gesellschaft, die sich demokratisch nennt?“

„Aber bedenkt! Wer sollte denn die Konzernleitungen anweisen, sich wählen zu lassen. Freiwillig würden die das bestimmt nicht tun. Zumindest nicht jene, die ich kenne und das sind nicht wenige!“ bekannte Folko und bemerkte zu spät, dass er sich dabei fast um Kopf und Kragen redete. Wie konnte er nur so unvorsichtig sein, er der ansonsten mit allen Wassern Gewaschene.

„Die Revolution könnte das alles ändern. Nach deren erfolgreichen Verlauf wird die neue Regierung alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um die Konzerne unter Druck zu setzen. Die werden sich anpassen oder ihr Eigentum einbüßen. Basta! Ich verstehe das ganze Problem nicht, das ihr damit habt!“ gab nun auch noch Ronald zum Besten.

„Ronald, wir kennen deine Sympathien für revolutionäre Umgestaltungsmaßnahmen, das ist aber nicht Gegenstand unsrer Diskussion. Und du Folko hast natürlich recht mit deiner Betrachtung. Niemand gibt freiwillig, ohne triftigen Grund, seine Machtfülle aus der Hand.

Da beginnt das Dilemma, wie bringen wir die Leute dazu, freiwillig, womöglich auch noch gern, auf  Privilegien zu verzichten. Ich muss gestehen: Ich weiß es nicht!“ bekannte Kovacs und alle waren sichtlich erstaunt ob dieses Bekenntnisses.

Das konnte nicht sein. Kovacs, der keinen Ausweg wusste? Der große Theoretiker, der immer auf alles eine Antwort parat zu haben schien? Ein Novum!

„Das glaube ich dir nicht, Kovacs! Du und ratlos? Nein, du hast mit Sicherheit schon eine Antwort im Ärmel.“ bekundete schließlich auch Kyra ihren Zweifel.

„Es kommt der Tag, an dem die Mächtigen ihre Macht abgeben! Sie werden es freiwillig tun und sie werden es gerne tun. Sie werden teilen, was sie besitzen und es wird ihnen Freude bereiten. Woher nehmen sie die Kraft? Ganz einfach, weil sie etwas geschenkt bekommen, was man auch mit noch so  viel Geld nicht erwerben kann und das ist das Gefühl, dazu zu gehören.“ Glaubte Colette zu wissen.

„Dazu gehören?  Das musst du uns näher erklären Colette! Eine sehr interessante These!“ forderte Elena.

„Eines der elementarsten Bedürfnisse ist die Zugehörigkeit. Jeder möchte irgendwo dazu gehören, zu einer Gruppe, zu einer Familie, zu einem Ort, an dem er arbeitet und sich wohl fühlt. Aus dieser Quelle könnte ein ungeheurer Kreativschub fließen. Stellt euch vor, wäre es nicht schön, einen solchen Ort zu finden, wo wir einfach nur wir selbst sein könnten und unsere Fähigkeiten und unsere schöpferische Phantasie zum Ausdruck käme.

Es liegt an uns, so etwas zu entwerfen, wir können es auch Heimat nennen.“ Fuhr Colette fort.

„Ja, wir alle möchte uns zugehörig fühlen. Es gibt kaum ein negativeres Gefühl als das der Heimatlosigkeit. Aber wenn wir etwas besitzen, mit dem wir uns identifizieren können, etwas, das uns das Gefühl tiefer Geborgenheit verleiht, ein Gemeinschaftsgefühl. Ich glaube  zu wissen, was du uns sagen willst!“ gab Elena zu verstehen.

„So ist es! Denkt doch nach! Ein jeder von uns hat etwas hinter sich gelassen, hat sich auf den Weg begeben, das Unbekannte zu suchen. Ein Aufbruch ins Ungewisse. Aber eine Kraft leitet uns, sicher ans Ziel zu gelangen. Es gibt einige, die haben viel zurück gelassen, eine sichere Existenz, Privilegien. Anderen, die wenig oder gar nichts besaßen, fiel es leichter, los zu lassen, weil es so gut wie nichts loszulassen gab.“ Kovacs Blick fiel auf Kyra und Kim, die sehr genau wussten, worauf er hinaus wollte

„Kyra, fühlt ihr euch zu Hause bei uns? Habt ihr den Eindruck, dass ihr dazu gehört? Fühlt ihr euch wohl in unserer Gruppe? Ist sie für euch so etwas wie eine Familie geworden?“

„Ich hatte nie eine Familie, also keine richtige, mit allem was dazu gehört! Daher kann ich nicht beurteilen was das heißt, Familie! Das bedeutet, ich konnte es bisher nicht, denn seit ich hier lebe verspüre ich zum ersten Mal so etwas wie ein Heimalgefühl. Komisch, jetzt, da du es sagst, wird mir das erst richtig bewusst. Vorher habe ich mir kaum Gedanken darüber gemacht. Na, und Kim, der geht es doch ebenso. Oder? Ist doch so, Kim? Sag doch auch mal was!“ meinte Kyra und blickte zu ihrer Freundin, die sich gerade an Colettes Schulter schmiegte.

„Ja, sicher! Mir geht es gut! Ist mir nie besser ergangen. Habe ich letztes Mal schon erwähnt. Ist einfach nur ne feine Sache, die ihr euch ausgedacht habt. Manchmal habe ich Angst, eines Morgens zu erwachen und festzustellen, dass alles nur ein Traum war.“ äußerte sich nun auch die andere Angesprochene.

„Es ist kein Traum, Kim, es ist Realität. Und glaube mir, wir werden alles daran setzen, dass diese Realität erhalten bleibt. Das ist es, was ich meine. Wir haben uns entschlossen, neue Wege zu einzuschlagen, etwas zu schaffen, das Identität stiftet, in einem Umfeld, in dem man sonst nur vergebens nach Identifikationsmustern sucht. Langfristiges Ziel bleibt, einmal soweit zu gelangen, dass die übergroße Mehrheit dieses Landes ebenfalls nach einer wahren Identität sucht und diese schließlich auch findet.“ Antwortete der Dichter.

„Aber diese Identität, wo nimmst du sie her? Was ist sie? Wer ist sie? Mit wem sollen wir uns, sollen sich die Menschen überhaupt identifizieren?“ setzte Leander wieder nach.

„Einfach nur das wirkliche, das wahrhaftige Leben. Das was einen Menschen tatsächlich ausmacht, was ihn zum Menschen macht. Um das zu erreichen, müssen wir den Menschen befreien, wirklich frei machen von allen Zwängen, die ihn daran hindern , wirklich zu sein.

Das was uns hindert, wir selbst zu sein, ist ein System von Zwängen und Unterordnung.

Die Menschen heute gehören einem übergeordneten System an, weil sie gezwungen und von fremden Kriterien reglementiert werden. Das Erschreckende daran ist, dass dieser Zustand durch die unmittelbaren Betroffenen durch ihr Desinteresse unterstützt wird. Eingebunden in das System sind die Menschen,  regelrecht mit ihm verwachsen. Der Mensch liefert sich einem äußeren System aus, weil er sich davor fürchtet, sein eigenes Leben zu leben.

Erst wenn die Seele erwacht, sind wir imstande zu sehen, dass nur unsere innere Heimat der wahre Ort unserer Zugehörigkeit ist. Von dieser Innerlichkeit kann uns keine äußere Macht verschleppen, ausschließen oder verbannen.

Ach ja, und nun will ich erneut auf das Thema Wahlen zurückkommen, das du vorhin ansprachst, Klaus.“ beendete Kovacs abrupt seine Ausführungen. Das schien im ersten Augenblick zu passen wie die Faust auf das Auge. Doch dann setzte er wieder an.

„ Können wir einen solchen Zustand  wie ich ihn eben beschrieb durch Wahlen herbeiführen?“

„Wohl kaum! Aber es gibt eine andere Möglichkeit! Die Revolution!“ glaubte Ronald.

„Weder noch, Ronald! Und doch mit beiden zugleich!“ erwiderte Kovacs kurz und knapp.

„Die anarchistische Gesellschaftstheorie wäre in der Lage, uns hierfür ausreichend Modelle an zu bieten. Ihr überreicher Fundus an Ideen, Experimenten und Erfahrungen ist viel zu schade um in irgendwelchen Schubladen zu verstauben. Wir brauchen das Rad nicht noch einmal neu zu erfinden, müssen  statt dessen nur die alten Ideen entstauben und in unsere Zeit, unsere derzeitige Situation transformieren. Ich habe diese Theorien doch  nicht erfunden, auch ich habe sie nur wiedergefunden,  ganz unten, musste mich dabei durch meterhohen Schutt bewegen, der sich dort in Jahrzehnten ablagerte. Jahrzehnte sinnlosen Vergeudens von Kraft und Energie, anstatt sich auf das Wesentliche zu besinnen.

Ihr mögt mich als überspannten Schwärmer und hoffnungslosen Idealisten abtun, sei's drum. Ich jedenfalls hoffe auf eine anarchistische Renaissance. Aber nicht, weil diese Idee so perfekt und seine Bewegung so faszinierend ist. Sondern einfach deshalb, da seine Inhalte aus purer Not gebraucht werden. Es ist durchaus möglich, dass die Menschheit auch ohne Anarchismus zu ähnlichen Strukturen gelangt. Was aber sind die Strukturen ohne die passende Ethik. Freiheitstaugliche Strukturen ohne Freiheit mögen vielleicht das nackte Überleben sichern, bringen aber mit Sicherheit keine bessere Lebensqualität.

Die Zukunft wird anarchistisch sein und zwar deshalb, weil die Natur weiter bestehen wird. Ob der Mensch dann noch dabei ist, wissen wir nicht. Sollte er tatsächlich noch vorhanden sein, hat er die Chance, eine anarchistische Gesellschaft zu schaffen, aus all dem was sich ihm bietet. Er ist ein Lebewesen, das durchaus in der Lage ist, die Freiheit zu genießen. Warum sollte er also darauf verzichten?“

„Gern werde ich dir zur Hand gehen, denn mir wird deine Zukunftsvision immer sympathischer. Ich möchte mit gestalten, möchte aktiv ein greifen ins Geschehen. Auch wenn ich mir bewusst bin, das wir dabei eine steile Wand zu nehmen haben.“ versichertet Elena

„Das möchte ich auch Elena, lieber heute als morgen. Aber das erklärt noch immer nicht wie wir dorthin gelangen. Also nicht durch Wahlen, auch nicht durch Revolutionen. Wie dann?

Ich kann mir nicht erklären, warum wir überhaupt dieses Bündnis schlossen. Ich meine das mit Cornelius und Neidhardt. Der eine steht für Wahlen, der andere für Revolution. Was bringt uns das?“ konterte Leander wieder.

„Es ist ein Weg, wie wir richtig feststellen konnten. Allein sind wir derzeit kaum imstande etwas zu verbessern. Aber im Verbund mit anderen kritischen Bewegungen könnten wir zunächst die gröbsten Missstände beseitigen. Anarchisten brauchen immer Verbündete um mit denen bestimmte Problemfelder zu beackern. Sie dürfen sich nur nicht vereinnahmen lassen und das Ziel aus den Augen verlieren. Es gibt eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten mit Cornelius Ansichten, auf die müssen wir blicken und nicht vorrangig auf die Unterschiede, wenn wir etwas erreichen wollen. Also helfen wir dabei, ihn an die Macht zu bringen, als Gegenleistung erwarten wir von ihm die Zusicherung, das wir unter seiner Leitung damit beginnen, unsere Projekte aufzubauen und voran zu bringen. Danach können wir nur abwarten in welche Richtung die Entwicklung geht. Zunächst jedoch muss der übermächtige, gefährliche Gegner in die Schranken gewiesen werden, so dass von ihm keine Gefahr mehr ausgehen kann.“

„Und Neidhardt? Was ist mit dem? Gibt es da auch Überscheidungen zu seiner Bewegung?“ wollte Ronald natürlich wissen.

„Selbstverständlich gibt es auch die! Aber da sehe ich große Schwierigkeiten auf uns zukommen. Sicher, während der Zeit eines Kampfes werden wir zusammenarbeiten, aber danach? Ich kann mir nicht vorstellen, dass uns Neidhardt irgendwelche Zugeständnisse macht. Die Ideologie, derer er sich verpflichtet fühlt, duldet nun mal keine Alternativen, sie gründet auf einem Absolutheitsanspruch. Von ihm und seinen Leuten haben wir nichts zu erwarten.

Autonome Projekte in einem autoritär strukturierten Staat, kaum zu realisieren.“

„ Aber warum haben wir  schon jetzt  begonnen, eine solche Kommune zu bilden. Sollten wir nicht damit warten, bis nach eventuellen Wahlerfolgen seitens Cornelius die Bedingungen deutlich zu unseren Gunsten ausschlagen?  Warum einer Sache vor greifen, die noch gar nicht aus gegoren ist?“ schlug nun Alexandra vor, die sich bisher noch nicht an der Diskussion beteiligt hatte.

„Eben nicht, Alexandra! Gerade jetzt müssen wir damit beginnen, die Saat zu legen. Wie es Colette vorhin so schön formulierte. Im Bauche des Alten reift langsam das Neue heran. Wir müssen den Grundstein im hier und jetzt legen auf dem wir später weiterbauen. Und hier ist Neidhardts Irrtum begründet, wenn er glaubt, das Neue quasi aus dem Nichts herbeizaubern zu können.

„Also mit anderen Worten, im Prinzip  leben wir schon jetzt in der neuen Zeit, greifen ihr vor und sind der Entwicklung weit voraus:“ glaubte Colette zu wissen.

„Genau das! Nur so können wir einem späteren Vakuum vorbeugen, sollte es wirklich zum Äußersten kommen. Wir haben dann funktionierende Einheiten, die sich selber tragen und die imstande sind, auch das Umfeld zu versorgen. Allem voran, was die Versorgung der Menschen mit dem Lebensnotwendigen betrifft.“

„Jetzt dämmert es mir?“ unterbrach ihn Kim. „Deshalb hast du auch ständig die Beispiele aus dem Arbeitsleben angeführt.“

„Grundlage einer jeden gelungenen anarchistischen Gesellschaft ist eine funktionierende Ökonomie. Wenn wir nicht wissen, wie wir unseren Lebensunterhalt verdienen sollen, helfen auch noch so schlaue Theorien nicht weiter. Die Grundbedürfnisse müssen abgesichert sein, darauf baut alles weitere auf. Jeder Mensch braucht Nahrung, Kleidung, Wohnung, braucht medizinische Versorgung und Pflege im Alter oder bei Behinderung und die Kinder müssen ja auch betreut und erzogen werden. Dass ist die Basis. Erst dann können wir die Stufenleiter nach oben klettern und uns über die weiterführenden Bedürfnisse Gedanken machen.“

„Ich habe es damals  nicht  verstanden, als du die Ansicht vertratst, dass jeder in unserer Gruppe etwas Sinnvolles tun sollte. Doch recht bald stieg ich dahinter. So können wir alle unseren Beitrag  für den Erhalt der Gruppe leisten, alle und nicht nur jene, die das Privileg haben, über ausreichend Geldreserven zu verfügen. Wir sichern den Lebensunterhalt gemeinsam und haben damit die Egelität  der Gruppe gewährleistet. Niemand braucht sich überflüssig zu fühlen. Alle tragen auf je eigene Weise zum Lebensunterhalt bei.“ erwiderte Elena.

„Unsere kleine Gruppe fungiert beispielgebend für spätere Zeiten. So wie es hier im kleinen Umfang funktioniert, kann es später auch in größerem Maßstab laufen. Jeder von uns tut etwas, etwas das seinen Neigungen und Fähigkeiten entspricht. Ich zum Beispiel unterrichte gemeinsam mit Gabriela und Klaus Pariakinder, Elena hat ihre Sozialstation, wo sie zusammen mit Kyra, Leander und Kim sowie vielen Freiwilligen medizinische Dienste an bietet. Ronald setzt alte Kraftfahrzeuge instand, Folko und Colette kümmern sich um Kinder und Jugendliche, Miriam betreut alte Menschen, Alexandra ist unsere Sekretärin.

Alle sind gleichwertig, auf Augenhöhe. Niemand wird bevorzugt. Wir erheben nicht die Kopfarbeit und werten gleichzeitig die Handarbeit ab.

Wir greifen ins Geschehen ein, tun etwas Sinnvolles, das den Menschen nützt. Sitzen nicht wie Neidhardt und seine Leute in elitären Zirkeln zusammen und versuchen die Weltrevolution herbei zu reden.

Ich habe einen Traum: Irgendwann in fernen Zeiten, da könnte es geschehen, das sich ein breites Netzwerk solcher Körperschaften über das Land ausbreiten und allen, die es wollen, eine sichere Perspektive bietet. Ich betone nochmals, allen die es wollen, denn Zwang darf es nicht geben. Sie werden unserem Beispiel folgen. Deshalb sind wir zusammen gekommen, wir sind die Wurzel aus der alles hervorgeht. Eine Idee kann nicht von oben nach unten durchgepeitscht werden, so wie sich das Neidhardt vorstellt. Eine Pflanze wächst im Normalfall von unten nach oben. So in etwa könnt ihr euch das vorstellen.“

Kovacs hatte den Punkt erreicht, da er ins Schwärmen kam und eigenartigerweise schien er die anderen damit anzustecken. Zumindest hatte es den Anschein, dass sich  für einen kurzen Moment die Zweifel in Luft auflösten. Niemand wollte jetzt widersprechen, selbst Leander nicht, der sonst ständig von Zweifeln Geplagte. Alle spürten das Bedürfnis, sich der Aufgabe zu stellen, die hier auf sie wartete.

„Sind erst mal die Grundbedürfnisse abgedeckt, können wir in kleinen Schritten weiterbauen.

Da gibt es die so genannten Kulturbedürfnisse,selbst die Paria besitzen solche, obgleich es ihnen nach wie vor von den Meinungsmachern abgesprochen wird. Menschen die anderen das Recht auf Kultur absprechen, haben selbst nie eine solche besessen. Wir werden in den neuen Gemeinschaften eine Kreativität von nie gekannten Dimensionen kennen lernen, weil sie einfach allen offen steht. Wer hat denn heute Zugang zu Kunst und Kultur? Die elitäre Oberschicht!

Und die anderen? Fehlanzeige! Die Akratie kennt solche Unterschiede nicht, alle kommen in den Genuss,  mehr noch, allen wird die Möglichkeit zuteil, selber kreativ zu werden?“

„Alle? Du meinst jeder kann mit seiner Kunst aufwarten und sie zum Besten geben. Ich denke da konkret an meine Musik. Du glaubst, dass ich dann einfach so auf treten kann, ohne Beschränkung.“ wollte Kyra wissen.

„Du bist eine begnadete Musikerin, wir alle wissen das zu schätzen. Du wirst deine Auftritte bekommen, wirst auf der Bühne stehen und alle mit deinem Können verzaubern, dafür wird man dich im Beifall baden.  Heute gibt dir keiner eine echte Chance. Andere glauben ihre subjektive Meinung zum Maß aller Dinge zu erheben indem allein ihr persönlicher Geschmack darüber entscheidet, wer begabt oder unbegabt sei.

Die Kultur gehört allen, folglich muss sie auch von allen gestaltet werden. Und das ist nur eines von vielen Beispielen, die ich hier noch anführen könnte.“

„Und es ist keiner da, der eine Richtung weist? Keine Vorgaben an welche Ethik wir uns zu halten haben? Ich meine, da müsste doch etwas geschehen. Die Menschen brauchen eine Art von Anleitung?“ erkundigte sich Gabriela.

„Eine einheitliche Ideologie kennt der Anarchismus nicht. In weltanschaulichen Fragen muss  jeder und jede nach der eigenen Fasson selig werden, um einmal ein zugegebenermaßen altertümliches Zitat zu gebrauchen. Niemand schreibt uns vor, woran wir zu glauben haben oder an was nicht. Ein allgemeines Vorurteil besteht in der Ansicht Anarchismus sei identisch mit Atheismus. Das ist keineswegs der Fall. Jeder kann nach eigenem Ermessen nach der Wahrheit suchen, nach dem Urgrund allen Seins, nach Sinn, nach dem Göttlichen, oder wie immer wir es bezeichnen wollen. Libertär heißt eben frei. Frei von, aber auch frei für etwas. Du kannst frei von Religion leben, du kannst aber auch frei in der Religion sein. Der Anarchismus ist imstande überall anzudocken, wo die Freiheit und Gleichheit aller Menschen gewährleistet wird, auch an eine Weltanschauung, auch an eine Spiritualität, an ein religiöses Bekenntnis. Es gibt keine Glaubenshüter oder Ideologen, die über die Reinheit einer Lehre wachen.

Auch die Meinungsfreiheit bekommt  erst dann ein ganz neues Gewicht.Jede Meinung zählt. Jeder kann publizieren was ihm beliebt, jenseits von Staat und Markt. Es können Vereine, Initiativen für alles Mögliche gebildet werden und alle tragen zum Gemeinwohl bei.

Wir können noch bis ins Unendliche weiter diskutieren, die Basis von alledem aber ist, dass die Grundbedürfnisse aller Menschen gleichermaßen abzusichern sind.“

Schweigen erfüllt den Raum, alle lauschten jetzt schon fast andächtig Kovacs Zukunftsvisionen. So unterschiedlich auch die Lebensentwürfe, aus denen sie kamen, es gab wohl keinen in der Runde, bei dem das so eben Vernommene nicht eine positive Emotion auslöste.

„Man sollte sich wirklich eingehender mit dieser Thematik auseinandersetzen. Aus diesem Blickwinkel ergibt sich ein völlig neues Bild. Anarchismus, damit assoziierte ich bisher vor allem Gewalt, Chaos, Unordnung jedweder Art. Hier eröffnen sich mir erstmal Einsichten in ungeahnte Tiefen.“ gestand Klaus.

„Damit hast du wieder einen sehr wichtigen Anstoß gegeben. Wie halten es Anarchisten mit der Gewalt? Echter Anarchismus ist immer gekoppelt mit Gewaltlosigkeit. Nur so macht er überhaupt Sinn. Auch hier liegt wieder eines der größten Missverständnisse der Geschichte vor. Anarchismus sei gewalttätig. Ich habe euch schon das letzte Mal darauf hingewiesen.

Gewalt gehört nicht zum Anarchismus. Ein friedliches Einvernehmen ist die Grundvoraussetzung für das Gelingen jeder libertären Ordnung. Auch deshalb müssen wir das Bündnis mit Neidhardt ausgesprochen kritisch begleiten, denn der hat sich bis heute nicht von seinen Gewaltvorstellungen gelöst. Und ich wage zu bezweifeln, dass er es jemals tun wird, auch wenn er im Moment vorgibt, sich dahin gehend zu bewegen.“

„Aber du musst zugeben, das es in der Geschichte immer wieder Gruppierungen gegeben hat, die aus anarchistischen Beweggründen terroristischen Aktionen durchführten, Bombenanschläge, Attentate und auch gewaltsame Aufstände. Also  ganz  so jungfräulich scheint mir die anarchistische Philosophie auch nicht mehr zu sein.“ sprach Folko dieses heikle Thema an.

„Die hat es in der Tat gegeben und das ist sehr bedauerlich, denn sie haben das Bild des Anarchismus wesentlich geprägt und zwar auf negative Weise. Und dieses Bild steht den Menschen auch heute noch vor Augen, wenn sie das Wort Anarchismus  hören. Die übergroße Mehrheit aller libertären Strömungen hat sich längst davon distanziert. Doch die Medien stört das nicht. Die schüren das Feuer natürlich weiter und betiteln jeden terroristischen Akt überall auf der Welt als anarchistisch, selbst wenn die aus völlig andern Motiven handeln, Nationalismus zum Beispiel, oder auch religiöser Fundamentalismus, die haben nicht mal eine Ahnung, was Anarchismus bedeutet, werden aber als solche bezeichnet.“

„Und warum wehren sich die Anarchisten nicht gegen diese Art von Verleumdung? Ich meine, da sollte doch etwas unternommen werden, um dieses Zerrbild aus der Welt zu schaffen.“ empörte sich Colette.

„Das tun sie ja auch! Leider aber hört sie keiner! Anarchistische Thesen werden in den Medien in der Regel totgeschwiegen. Die bekommen gar kein Podium, um ihre Ansichten zu verbreiten. Das leitet mich schon wieder zum nächsten Punkt.“ klärte Kovacs auf.

„Ja, und der wäre?“ fragte Kyra, der offensichtlich die viele Theorie bereits in den Kopf gestiegen war.

„Eigene Medien, das ist es, was wir schaffen müssen. Eine Gegenöffentlichkeit muss installiert werden, um für Aufklärung zu sorgen und zwar auf möglichst breiter Ebene. Hier nun käme Elena wieder ins Spiel. Wir brauchen ein tragfähiges Konzept, um auf diese Weise agieren zu können:“

„Deswegen zerbreche ich  mir beständig den Kopf. Was können wir tun? Ich kann nicht einfach in den Sender gehen und den Menschen mit anarchistischen Idealen kommen, die schmeißen mich raus. Eigene Presse, ein eigener Sender womöglich, ich werde sehen, was ich machen kann. Und da hätten wir auch noch dieses neue Medium, das sich verstärkt zu Wort meldet. Dass  Internet . Ich denke, das ist für unsere Positionen am deutlichsten geeignet.“ versprach Elena.

„Stimmt! “ bestätigte Gabriela. „. Dort können wir unsere Gedanken frei publizieren, sehr kostengünstig und ohne Zensur. Ich beschäftige mich seit einiger Zeit damit. Wenn du willst, können wir da gemeinsam etwas erarbeiten.“

„Das dürfte aber unseren Meinungsmachern in TV und Presse gar nicht gefallen. Die haben doch eine Art Monopol in der Hand. Wenn jetzt auf einmal jeder X-beliebige seine eigenen Nachrichten verbreiten kann, wozu benötigen wir dann noch diese abgegriffenen Magazine und Nachrichtensendungen, von denen ja eh jeder weiß, dass die lügen wie gedrückt.“ vermutete Ronald.

„Schön wäre es, Ronald! Aber so einfach ist das nicht, denn die Anschaffung der dazu gehörigen Geräte ist noch sehr teuer, für Menschen mit wenig Geld, von denen es in Melancholanien reichlich gibt, im Moment noch kaum erschwinglich. Zudem benötigt man schon ein hohes Wissen, um mit den komplizierten Programmen umzugehen. Also Leute ohne entsprechende Ausbildung dürften es da sehr schwer haben. Ansonsten natürlich eine gute Sache. Da könnte man einiges an fangen. Aber wie gesagt, es müsste allen zugänglich sein, preiswert und leicht zu handhaben. Ansonsten droht schon wieder eine neue Form der Spaltung in der Gesellschaft, in jene, die Internet benutzen, und jene, die keinen Zugang haben und damit außen vor bleiben. Ich denke, es wäre nicht zu weit gegriffen, wenn ich das Internet als anarchistisches Medium par exellence benenne. Aber erst in einer Libertären Gesellschaft könnte es seine Wirkung voll entfalten, nämlich  dann, wenn es von jeglicher Kommerzialisierung befreit ist.“ entgegnete Kovacs.

„Die Kosten laßt meine Sorge sein, das bekomme ich schon hin.  Wenn du mit hilfst Gabriela und womöglich findet sich ja noch der eine oder die andere, könnten wir ein richtige Arbeitsgruppe auf die Beine stellen.“ bot Elena erneut an.

„Darf ich auch mitmachen?“ warf Kim in die Runde.

„Meinst du denn dass du damit umgehen kannst?“ antwortete die erstaunte Kyra.

„Ja, warum  denn nicht?“

„Natürlich kannst du mitmachen! Keine Frage! Und wenn dir etwas unklar erscheint , werden wir es dich lehren. Wir alle haben auf dem Gebiet noch zu lernen. Tun wir es eben gemeinsam.“ stimmte Elena unumwunden zu.

„Dann schließe ich mich auch noch an, dann sind wir schon zu viert!“ gab auch  Colette ihr Einverständnis.

„Das klappte doch schon wie am Schnürchen. Habt ihr es bemerkt? Ein praktisches Lehrstück. Wir haben unsere erste AG, eine Arbeitsgemeinschaft. Und dieser werden in Kürze weitere folgen. AG`s, die sich mit ganz unterschiedlichen Sachverhalten befassen. Wer Lust hat und natürlich auch die entsprechende Neigung ist eingeladen, sich ein zubringen. Die entsprechende Sachkenntnis ist immer von Vorteil. Aber wie gehört, wir sind lernfähig.

Und so wird es eines Tages funktionieren. Solche Arbeitsgruppen werden wie Pilze aus dem Boden schießen und die kulturelle Szene aufmischen. Kreativität und Innovation werde sich auf diese Weise ihren Weg bahnen. Da es Menschen ohne Kenntnisse oder Fertigkeiten nicht gibt, ist Platz für jeden einzelnen.“

Kovacs drohte vor lauter Schwärmerei ab zu heben.

Folko fühlte sich wieder einmal herausgefordert, ihn auf den Boden der Realitäten zurück zu holen.

„Also wenn man dich so reden hört, könnte man versucht sein zu glauben, vor uns liegt das Paradies und es liegt nur an uns, es einfach in Besitz zu nehmen. Es dürften in so einem Gesellschaftsmodell eigentlich keine Konflikte mehr geben. Zumindest dann, wenn alles eintrifft, was du prognostizierst. Wie kannst du dir da so sicher sein?“

„Eine Garantie gibt es nicht, die kann es nicht geben. Wir sind Menschen, mit Schwächen und Fehlern. Rein theoretisch dürfte es keine Konflikte geben, da denen der Boden entzogen wäre. Dort, wo allen Menschen die gleichen Rechte zustehen, wo alle auch ihren Platz gefunden und deren Existenz dauerhaft gesichert, müsste das Konfliktpotenzial spürbar sinken. Aber diese Theorie droht beständig an den Klippen der Praxis zu zerschellen, weil wir, wie Leander vorhin so treffend charakterisierte, einfach nur Menschen sind. Es bedarf einer Unmenge an Geduld, die Menschheit darauf vorzubereiten, sich selbst zu regieren. Ich habe die Probleme schon angesprochen und will mich nicht wiederholen. Denn ich denke, wir haben erst einmal genug theoretisiert heute.  Ich hoffe ihr habt die Lektion verinnerlicht. Theoriebildung ist sehr wichtig, gerade in der Anfangsphase, deshalb ist es auch weiterhin erforderlich, dass wir uns zusammensetzen und uns mit der Materie vertraut machen.“

„Das hört sich erst mal gut an! Ich muss zugeben, es hat mich ein wenig ermüdet, aber andererseits war es ausgesprochen interessant, Kovacs. Ich danke für deine Lektion. Ich bin schon jetzt neugierig darauf, wie es weitergeht.“ dankte Kyra.

„Danke! Gern geschehen! Du nimmst mir das Schlusswort schon vorweg. Ich möchte euch keineswegs mit meinen Ausführungen langweilen. Sollte ich es wider besseren Wissens doch tun, unterbrecht mich einfach und weist mich in die Schranken. Denn auch das gehört zum Anarchismus, dort gibt es keine allmächtigen Lehren, folglich auch keine allmächtigen Lehrer.“

„Ich denke, ich spreche im Namen aller, wenn ich versichere, dass es bei dir niemals langweilig wird. Du hast uns noch so viel zu geben. Im Grunde ist es doch ganz einfach, was du lehrst. Es sind reihenweise Selbstverständlichkeiten, die aber aus unterschiedlichen Gründen vollständig im Dunkel der Geschichte versanken. Wir alle werden sie, mit deiner Hilfe, bergen.“ begeisterte sich nun auch Elena.

 

Dem war nichts mehr hinzuzufügen. Die Runde begann sich langsam aufzulösen. Einige gingen sogleich, andere setzten in gemütlicherer Form die Debatte fort. Es gab aber keinen in der Runde, den das Gehörte  vollständig kalt lies.

Es würden weitere dieser Zusammenkünfte folgen. Jene legendären Kreise, von denen in späteren Zeiten so ehrfurchtsvoll berichtet würde. Jene Kreise, die zum Modell für die Organisation des späteren Gemeinwesens avancieren sollten.

Ein Gründungsmythos war geboren.

 

 

Der Abend war weit fortgeschritten, als sich Leander in den Bungalow begab, den er seit einiger Zeit mit Elena bewohnte. Der Herbst war eingekehrt. Die Bäume begannen sich zu färben und es wurde merklich kühler. Früher Einbruch der Dunkelheit, schlechtes Wetter. Zeit des Rückzuges, Zeit der Einkehr. Über all dem lag ein Hauch von Mystik, das nahm alles schon quasireligiöse Züge an, das bereitete Leander Unbehagen. Ihm war Kovacs Neigung zu spirituellen Dingen wohl bekannt. Kovacs als Sektengründer? Unsinn! Es kann keine anarchistische Sekte geben, das wäre ein Antagonismus. Andererseits war es nicht von der Hand zu weisen, dass der große Dichter eine charismatische Persönlichkeit war, die es verstand, andere zu beeindrucken und für sich einzunehmen. Er kannte ihn ja schon seit geraumer Zeit, glaubte ihn einschätzen zu können. Hatte er sich verkalkuliert?

Was aber konnte er tun? Er würde weiter den Zweifler geben. Einer musste das ja tun, warum also nicht er? Immer wieder nachhaken, die schöne Theorie in Frage stellen, das hatte er sich zur Aufgabe gemacht. Er war nicht der einzige, der zweifelte, Folko konnte sich  ebenfalls nur schwer mit einer libertären Idee anfreunden, aber dem schien  auch etwas Mysteriöses anzuhaften.

Die Tür öffnete sich und Elena betrat den Bungalow.

Von hinten umschlang sie seine Taille und schmiegte sich eng an ihn heran, wippte dabei hin und her.

„Was iss`n los mit dir? Mein alter Zweifler! Immer noch misstrauisch allen großen Theorien gegenüber?“

„Ich darf dich daran erinnern dass du, vor gar nicht  langer Zeit, Kovacs als größten Spinner aller Zeiten betitelt hast. Erinnerst du dich? Ein wenig ist er das ja tatsächlich. Ich kann seine Schwärmerei einfach nicht so vorbehaltlos teilen.“

„Stimmt! Das habe ich mal von ihm behauptet! Aber er hat mich in der Zwischenzeit überzeugt. Ist doch ne feine Sache, sich von Zeit zu Zeit von besseren Argumenten überzeugen zu lassen.“

„Glaubst du, dass sich Kovacs Vorstellungen jemals realisieren lassen? Ich kann es mir nicht vorstellen. Das liefe einfach zu glatt.“ gab Leander von sich, der kaum noch imstande war, seine Sinne zu beherrschen.

„Wieso? Bisher läuft es doch gut! Was willst du mehr? Ich glaube daran, dass es zumindest möglich ist. Es liegt an uns. Es kommt darauf an, was wir daraus machen. Ob es uns gelingt, die Mehrheit der Bevölkerung zu begeistern.

„Und du bist dir da sicher, dass sich die Leute umstimmen lassen, einfach so von ihren lieb gewonnenen Gewohnheiten ablassen?“

„ Das glaube ich! Aber mit Sicherheit nicht mehr heute Abend. Ich habe keine Lust mehr auf Politik und anarchistische Philosophie. Jetzt möchte ich gerne was anderes tun und ich bin mir sicher, du willst es auch!“

Elena warf Leander auf das Bett und beugte sich über ihn, so dass ihre kupferroten Haarsträhnen sein Gesicht fast vollständig bedeckten.

„Jegliches zu seiner Zeit. Es gibt Zeit für Politik, für Philosophie und es gibt Zeiten für das.“

Nun begann sie Leander die Kleidung vom Leibe zu ziehen, erst langsam, dann immer schneller, er ließ es geschehen, da es ihm gefiel, außerdem machte das auch gar keine Sinn, denn hier war eine Frau am Werk, die es gewohnt war sich zu nehmen, was sie wollte. Fragen hatte sie bis heute nicht gelernt.

Sie war die Aktive in dieser Beziehung und daran ließ sie keine Zweifel. Kein Mann konnte diese Frau dominieren. Leander am allerwenigsten.

Danach Stille, überirdische Ruhe. Den Schwebezustand verinnerlichen.

Sich fallen lassen, ganz einfach, nichts tun, alles nur mit sich geschehen lassen.

Auch als er einschlief, war sie noch über ihm. Konnte Mann sich mehr wünschen?

Es waren zwei Lektionen die Leander heute in sich aufzunehmen hatte. Kovacs zwar interessante, aber zuweilen etwas ermüdende Theorie von einer zukünftigen, herrschaftsfreien und gewaltlosen Welt. Einer Welt von überreicher Glückseligkeit, womöglich. Und dann die eben erlebte viel direktere Lektion. Er teile sein Bett mit einer Frau, die ihm in jeder Hinsicht überlegen war. Er musste sich ihr unterordnen, in allen Belangen, nur so würde es ihm dauerhaft möglich sein zu genießen.

Ihm kam, wenn überhaupt, nur eine Statistenrolle zu. Eine Frau wie Elena konnte man nicht besitzen und schon gar nicht dominieren. Undenkbar, dass sich Elena je von einem Mann würde führen lassen. Das käme einem Adler gleich, der sich von einem Sperling in die Kunst der Jagd einführen ließe.

Elena  passte perfekt in Kovacs neue Welt, sie war die geborene Anarchistin, ohne sich dessen bewusst zu sein. Kein Wunder, dass sie Gefallen fand an den Schwärmereien dieses Ausnahmephilosophen.  Schon jetzt war sie , die unangefochtene Ikone der zukünftigen Akratie.