Aradias Fluch

,,Prolog — Aradias Fluch

Vor etwa 5000 Jahren im heutigen Anatolien,frühe Bronzezeit, während der neolithischen Revolution.

 

Aradia rannte um ihr Leben. Bisher konnte sie ihren Häschern entwischen, doch nun schienen die ihr bedrohlich nahe.

Ihre Glieder schmerzten, sie konnte kaum noch atmen, doch traute sie sich nicht eine Rast einzulegen. Zu viel wertvolle Zeit würde ihr dadurch verloren gehen.

Vor ihr tat sich der dichte Wald auf  der ihr, wenn auch nur für kurze Zeit, einen gewissen Schutz bieten konnte. 

Endlich befand sie sich vor dem kleinen Teich. Erschöpft ließ sie sich zu Boden fallen, kroch zum Wasser, schlürfte gierig, um ihre ausgetrocknete Kehle zu befeuchten.

Wieder etwas bei Kräften, erhob sie sich, umrundete den Teich bis sie vor dem großen Sandsteinmassiv angekommen war. Sie zog die bronzene Dopppelaxt aus ihrem Gürtel und legte sie vor dem größten der wuchtigen Felsen auf den Boden nieder. Sie hatte ihren letzten Kampf damit gefochten. Nun wollte sie nicht mehr, nie wieder würde Aradia kämpfen, so lange sie noch in diesem Leben wandelte. Noch deutlich geschwächt, wagte sie die Erdgöttin anzurufen.

„Große Mutter, ich bin verzweifelt! Wir haben gekämpft wie die Löwinnen, doch vermochte wir es nicht, deine heilige Ordnung zu verteidigen. Es ist zu Ende, deine Widersacher werden den Sieg davon tragen.  Ich bin die letzte Überlebende der Schwesternschaft. Die "Töchter der Freiheit" existieren nicht mehr. Sie haben alle umgebracht. In wenigen Augenblicken werde ich ihnen folgen.

Es ist zum Weinen. Ich habe keine Kraft mehr, ich kann es nicht ertragen mit anzusehen, wie all das, was seit Urzeiten unser Leben bestimmte, zunichte gemacht wird. Ich möchte sterben, denn  in der Welt von morgen gibt es keinen Platz mehr für Menschen wie mich oder meinen niedergemordeten Gefährtinnen."

Aradia sank zu Boden, ein Sturzbach bitterer Tränen entquoll ihren Augen.

Warum antwortete die Große Mutter nicht? Hatte sie sich schon zurückgezogen, weil die Menschen es immer deutlicher vorzogen, andere, verhängnisvolle Wege zu gehen?

Sollte sich die neue elitäre und patriarchale Ordnung durchsetzen dann Gnade der gesamten Menschheit. Ein neues, ein dunkles Zeitalter. Eine Zeit voller Gewalt, Tyrannei, Unterdrückung, Knechtschaft. Der egalitäre Frieden wäre dann nur noch ein blasser Schimmer im Nebel der Erinnerung.

In der Tat. Was würden sie hinter sich lassen, sollte nun eine neue Ära beginnen? Eine gesellschaftliche Form,  frei von Privilegien, Klassen und Hierarchien.  Ausbeutung und Ausgrenzung kannte man nicht in den zurückliegenden Jahrhunderten. Alles gehörte allen! 

Sie hatte Jahrtausende existiert. Eine Gesellschaft, die nicht auf Herrschaftsbeziehungen, sondern auf dem Solidaritätsprinzip beruhte. Die Natur nahm im kollektiven Gedächtnis ihren Platz als Mutter ein, die den Menschen in ihrem Schoss barg.

Die Menschheit lebte im Einklang untereinander und mit der Natur. Dies war ihre Religion. Eine Trennung zwischen Sakralem und Profanem kannte man nicht, die gesamte Umwelt galt als von einer Seele durchdrungen, nicht nur alle Menschen, sondern auch die Tiere, die Pflanzen, die Erde, die Mineralien.

Die große Mutter lebte somit ständig unter ihnen und bedurfte keiner besonders hervorgehobenen sakralen Orte oder Personen, wenn es auch wie im Falle jenes Teiches natürliche Plätze und Stellen gab, in deren Nähe man sich besonders mit der Mutter verbunden fühlte, diese standen jedem und jeder zu allen Zeiten offen.

Von einem Paradies konnte man deshalb noch lange nicht sprechen. Oft führten sie ein karges Leben voller Entbehrungen, im Schweiße ihres Angesichts rangen die Menschen der Erde ihre Erträge ab , dabei ständigen Gefahren ausgesetzt. Krankheiten griffen um sich und der Tod war allgegenwärtig.

Doch schweißten gerade diese ständigen Herausforderungen die Menschen zusammen. Das Bewusstsein, es nur im Verein zu schaffen. Jeder und jede leistete ihren Beitrag. Niemand wäre auf die Idee gekommen, mehr für sich zu fordern  als ihm zustand. Das Anhäufen von Besitz in den Händen einzelner oder weniger hätte das gesamte Gleichgewicht aus der Balance gebracht.

Doch irgendwann setzte ein bis dahin völlig unbekanntes Verhalten einzelner Clanmitglieder ein. Da gab es Männer die die Überzeugung vertraten, dass ihnen mehr vom gemeinsam erwirtschafteten Ertrag zustand, obgleich sie nicht mehr als die anderen leisteten. Im Gegenteil, einige begannen gar nicht mehr zu arbeiten, glaubten sich dem Müßiggang hingeben zu können, anderen ihren Teil der Arbeit aufbürden zu dürfen.

Zu diesem Zweck hatten sie neue, vor allem männliche Götter erfunden, sie behaupteten, diese verlangten nach einer besser gestellten Hierarchie, denn nur zu auserwählten Personen mit besonderen Fähigkeiten wollten sie von nun an in Kontakt treten. Aufgrund dessen sollten jene Personen von ihrer Arbeit freigestellt werden, um sich ganz den besonderen Aufgaben zu widmen 

Die neuen Götter verlangten nach eigens geschaffenen heiligen Bezirken, in denen dann besonders privilegierte Priester Opferhandlungen vornahmen, um die zornigen Götter milde zu stimmen.

 

Die bisherige egalitäre Gesellschaft kannte nicht nur keine sozialen Klassen sondern auch keine sozialen, politischen oder kulturellen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Männer und Frauen lebten völlig gleichberechtigt in Harmonie miteinander. Auch dieses Prinzip wurde zugunsten einer einseitigen Bevorzugung der Männer aufgegeben. Frauen galten fortan als minderwertig und zweitrangig in allen Belangen.

 

Lange konnten sich Aradia und ihre Gefährtinnen der Rebellion in ihrer Siedlung widersetzen, immer wieder gelang es ihr, die Bewohner davon zu überzeugen, sich nicht der neuen Ordnung zu unterwerfen, die in vielen benachbarten Ansiedlungen schon verwirklicht war.

Schließlich siegte aber auch hier der neue elitäre und patriarchale Ungeist.  Um die neue Ordnung zu festigen  verbreiteten die neuen Machthaber allerhand Lügen, von einer angeblichen Bedrohung von Seiten der Nachbarsiedlungen etwa oder dem Erwirtschaften eines Mehrproduktes für eventuell schlechtere Zeiten und natürlich von den neuen Göttern, deren Zorn es zu besänftigen galt.

Wer sich weigerte den Forderungen Folge zu leisten, wurde einfach aus dem Clan ausgeschlossen, das kam einem Todesurteil gleich, denn allein auf sich gestellt, ohne die Geborgenheit des Clans, konnte niemand überleben.

Die Geburtsstunde der "Töchter der Freiheit." In vielen Siedlungen und den sich langsam entwickelnden Stadtstaaten verweigerten sich vor allem junge Frauen der Unterwerfung, flohen und lebten zunächst in einem losen Verbund mit einander. Die alte egalitär-solidarische Gemeinschaft existierte hier weiter. Schließlich gelang es Aradia gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Inanna die Frauen davon zu überzeugen eine feste Schwurgemeinschaft ins Leben zu rufen. Sie wollten nicht tatenlos zu sehen wie die Tyrannei der neuen Herrscher immer weiter um sich griff und die Welt in ein Sklavenhaus verwandelte. Unermüdlich warben sie für die Rückbesinnung auf die seit Urzeiten gültige anarchistische, egalitäre und matriarchale Lebensweise.  Bald waren es hunderte die ihren Beispielen folgten, indem sie sich dem Herrschaftsanspruch der neuen selbsternannten Stammesfürsten entzogen und in eine der zahlreichen freien Siedlergemeinschaften flohen die allesamt unter dem Schutz der "Töchter der Freiheit"standen. Der Geist von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit lebte in diesen Siedlungen weiter.  Bald erstrecken sich diese Gemeinschaften über weite Teile des Landes und bildeten eine lockere Föderation.

Inanna und Aradia  fungierten als deren ungekrönte Königinnen, denn ein eigentliches Oberhaupt sollte es ja gerade nicht geben. Privilegien beanspruchten sie keine, lebten so bescheiden, wie die Kämpferinnen an ihrer Seite.

Aradias Streitmacht wuchs von Woche zu Woche, bald vereinigten sich einige Tausende unter ihrem Oberkommando, auch hier betrachtete sie sich als Gleiche unter Gleichen wenn auch die Kriegerinnen ihr bedingungslos gehorchten. Eine Arme die ausschließlich aus Frauen gebildet wurde. Sie wurden zur Legende, Amazonen nannte man sie in späteren Zeiten.  Eng an liegende und bis zu den Knöcheln reichende Leggins aus dunkelbraunen Wildleder, dazu eine hochgeschlossene Weste aus dem gleichem Material, ein schwarzer Ledergürtel mit kupferner Schnalle um die Hüften und an den Füße bequeme Bundschuhe. Aradias legendäre Tracht übernahmen bald auch alle anderen Kämpferinnen. Ihre kupferroten Lockenmähne trug Aradia entweder offen oder nach hinten zu einem Zopf geflochten. Ihre Waffe, die bronzene Doppelaxt wurde zum Symbol der Schwesternschaft schlechthin, keine verstand diese so schwungvoll zu führen wie Aradia. Die Fahne der Schwesternschaft hatte sie selbst entworfen und gefertigt, Ein Tuch aus groben Leinen gewoben, eine Hälfte färbte sie grün, grün die Farbe des Ursprungs, die Farbe der Natur, der Erdgöttin und der Verbindung allen Lebens auf der Erde. Die andere in ein helles violett, das violett der weiblichen Kraft des untergegangenen Matriarchates und der davon ausgehenden egalitären Ordnung die es zurückzuerobern galt. Diagonal in zwei Dreiecken gegenüber liegend, darauf nähte sie in weißer Farbe das Symbol einer Doppelaxt. Das Zeichen der Schwesternschaft,ewige Treue bis in den Tod . Der Amazonenbund stand über allen familiären Bindungen. Nation, Rasse, Religiöse Überzeugung, Klassenzugehörigkeit, spielten keine Rolle mehr. Die Schwestern waren jetzt eine Familie in guten wie in schlechten Tagen. Solidarität und gegenseitige Hilfe ihr einigendes Band. Die freie, egalitäre und herrschaftslose Gesellschaft ihr Ziel.

 Wo auch immer dieses Symbol am Horizont erschien,sorgte es für Entsetzen bei den neuen Eliten. Gefürchtet, gehasst und verflucht war Aradia bei den Stammesfürsten, der neuen Priesterkaste und deren Lakaien. Geliebt und verehrt wie eine Göttin wurde sie dagegen von allen Erniedrigten, Gedemütigten, Geschundenen und Ausgegrenzten.

Bechtar, ihr stolzer Hengst, mit seinem schwarzglänzenden Fell und seinen feurigen Augen, war das einzige männliche Wesen das sie in ihrer Nähe duldete. Seit sie als kleines Mädchen von Lato dem Oberpriester des neuen brutalen Kriegsgottes geschändet wurde, wollte sie von Männern nichts mehr wissen. Aradia lebte mit Frauen, sie kämpfte mit Frauen und sie schlief mit Frauen. 

Niemals wurde ein erobertes Dorf geplündert. Statt dessen erkundigte sich Aradia sofort nach den Notleidenende und wo ihre Hilfe benötigt wurde.

Es lies sich nicht vermeiden, dass die Herrschenden Eliten die haarsträubensten Lügen über Aradia in Umlauf brachten, sie als grausame Schlächterin verunglimpften, deren Treiben so bald als möglich Einhalt zu gebieten sei.

Aradia war eine Kämpferin wider Willen, sie liebte den Frieden. Sie liebte Harmonie und Ausgeglichenheit. Nur all zu gerne hätte sie die Doppelaxt aus der Hand gelegt um fortan ein friedvolles Leben als Hirtin zu führen. Ein Stück Land mit ein paar Ziegen und Schafen darauf, eine kleine Hütte, wo sie mit ihrer Gefährtin leben konnte, würde ihr schon genügen.  Von Sonnenaufgang bis zu deren Untergang im Einklang mit der Natur leben. Mit den Tieren sprechen, auf ihrer selbstgefertigte Rohrflöte musizieren. Ein Wettstreit mit den Vögeln die sich zwitschernd durch die Luft bewegten. Im Gras liegen und  gemeinsam mit ihrer Geliebten den am Himmel dahin ziehenden Wolken nachschauen und des Nachts leidenschaftlich deren Körper liebkosen.

Aradia erhob sich und schritt am Ufer des Teiches entlang, bis sie sich am Fuße des großen dunklen Sandsteins befand, der majestätisch in den Himmel ragte. Sie breitete ihre Arme aus und schmiegte sich an das Felsmassiv, so als beabsichtige sie den Stein umarmen, was ihr aufgrund des gewaltigen Umfanges natürlich nicht gelang.

„Lass mich sterben, nimm mich auf in dein Reich, wo immer das auch sein mag. Zu groß ist die Schuld die ich auf mich geladen.“ sprach sie in dem Bewusstsein,  doch keine mehr Antwort zu bekommen.

Ja, die Göttin wohnte hier nicht mehr, sie hatte sich längst in ihr Schattenreich zurückgezogen, um nicht mit an sehen zu müssen, wie ihre eigene Schöpfung entartete.

Was sollte Aradia auch noch hier? Die Schwesternschaft war ihre Familie, dort fühlte sie sich zu hause und angenommen, doch jene Heimat existierte nicht mehr.

Alle waren sie tot. Inanna, die große Schwester, voller Bewunderung hatte Aradia schon als Kind zu ihr aufgeschaut. Sie war Leitfigur, Vorbild, jemand der Orientierung  und Sicherheit in allen Belangen bot.  Alles was sie zum Leben brauchte lehrte sie die geliebte Schwester. Das kämpfen, das reiten, aber auch das meditieren und noch viel mehr. Unzertrennlich waren sie und so sollte es bleiben. Auch Leila ihre treue Geliebte und Gefährtin in der letzten Zeit,lebte nicht mehr. Wie viele andere war Leila von Aradia aus der Sklaverei befreit worden und hatte sich der "Töchtern" angeschlossen. Nun war Aradia die Lehrerin und unterwies sie in allem was für das kämpfen erforderlich war. Bald entdeckten beide das nicht nur freundschaftliche oder geschwisterliche Bande zwischen ihnen wirkte.  Sie wurden ein Liebespaar. Hier an diesem Teich, vor der Kulisse der Sandsteinfelsen hatten sie sich lebenslange Treue geschworen, vor noch gar nicht langer Zeit. Doch das Glück war nur von kurzer Dauer.

Stattdessen wurde der Kampf zu ihrem bestimmenden Lebensinhalt.

Du kannst nicht ewig kämpfen. Hatte ihr Inanna ans Herz gelegt. Es ist an der Zeit Frieden zu schließen.  Die Freie Föderation hatte sich beachtlich ausgeweitet. Inanna war des Kämpfens müde.  Nun war es an der Zeit das errungene Terrain zu sichern und zu festigen. Die Gegner zerstritten und geschwächt. So etwas galt es auszunutzen. Eine solch günstige Gelegenheit würde sich sobald nicht wieder ergeben. Aradia hätte der Zeit ihren Stempel aufdrücken und den Stammesfürsten und der korrupten Priesterkaste ihre Bedingungen diktieren können. Gewalt oder Gewaltloser Widerstand. An dieser Frage schieden sich die Geister. Immer häufiger geriet sie mit der geliebten großen Schwester in Streit.

Seit dem gewaltsamen Tod der Eltern, Aradia war zu jenem Zeitpunkt erst 8 Jahre alt, trug Inanna die alleinige Verantwortung für die kleine Schwester, musste ihr sowohl die Mutter als auch den Vater ersetzen. Keine leichte Aufgabe für eine Jugendliche, die eigentlich noch selbst einer schützenden Hand bedurfte. Die Not war ihre ständige Begleiterin in den ersten Jahren, doch gerade das schweißte die Schwestern unverbrüchlich zusammen.  Wild und ungestüm, kaum zu zähmen, zielstrebig und voller Tatendrang, so entwickelte sich Aradia. Inanna hingegen die Besonnenere von beiden, ruhig und ausgeglichen, ein Ruhepol den die Jüngere so dringend bedurfte. Aradia die kompromisslose Anarchistin, die stets ihren Kopf durchsetzte. Nur bei Inanna machte sie eine Ausnahme, deren Rat und Meinung war ihr heilig. Nie unternahm sie etwas ohne sich vorher mit der großen Schwestern zu beraten und nicht selten konnte diese überzeugend auf die Jüngere einwirken.

Doch nun geriet das Gleichgewicht aus den Fugen indem sich Aradia der natürlichen Hierarchie verweigerte. Ein nicht wieder gut zu machender Fehler.

 Aradia wollte weiterkämpfen, bis auch der letzte Strammesfürst das Feld würde räumen müssen. Unaufhaltsam trieb sie ihre Streitmacht voran, kaum dass sie sich selbst oder den ihren eine Ruhepause gönnte.

Als ihre Geliebte Leila getötet wurde war es gänzlich aus. Aradias Seele tief verwundet. Nun kannte sie nur noch eins: Rache, Rache und nochmals Rache. Der bohrende Schmerz in ihrer Brust ließ sie nun tatsächlich zur Furie werden. Gnadenlos und unbarmherzig stürzte sie sich in den Kampf und verlor dabei jedes Augenmaß. 

So entging ihr die Gefahr, die sich wie ein drohendes Gewitter über ihrem Kopf zusammenballte.

Die  Stammesfürsten und die Oberhäupter der zahlreichen großen und kleineren Stadtstaaten, ansonsten untereinander Spinnefeind, überwanden ihre gegenseitige Aversion, verbündeten sich und bildeten eine gewaltige Streitmacht. Angetreten um der Amazonenarmee den Todesstoß zu versetzen. Aradia hörte nicht auf Inannas Rat. Die ansonsten so kluge Strategin stellte sich dem Kampf, ein Hinterhalt.  Ihre gesamte Streitmacht wurde niedergemacht.

 

Nun war Aradia ganz allein. Einsam und verlassen und des Lebens überdrüssig. Die letzte ihrer Art. Mit ihrem Tod würde das Kapitel"Töchter der Freiheit" für immer geschlossen. Sie hatte durch ihr unbesonnenes Verhalten nicht nur ihre Gefährtinnen sinnlos geopfert, sondern auch die Dörfer und Siedlungen der Freien Föderation im Stich gelassen. Fortan jeglichen Schutzes beraubt, würden diese schon in naher Zukunft eine leichte Beute für die gierigen Fürsten. 

„Hast du es so eilig damit, Aradia? Du warst doch immer ein so lebensfroher Mensch, voller Freude, voller Hoffnung. Nun suchst du den Tod? So einfach ist das nicht. Sterben müssen alle Menschen, doch keiner weiß um seine Stunde.“

„Mutter, du bist noch da? Ich bin  so froh, dass du wenigstes noch zu mir sprichst. Du hast uns also doch noch nicht vergessen!“ freute sich Aradia.

„Ich werde euch nie vergessen, auch wenn sich die meisten Menschen bald von mir abwenden werden. Ich werde immer sein, die ich war, ich werde immer bei euch bleiben, auch in den finstersten Epochen und von denen wird es wahrlich viele geben in der kommenden Zeit.“

Der Schmerz in Aradias Brust begann sich zu lösen, nachdem sie diese Worte vernommen hatte. Sie erkannte ihren großen Fehler. Der Hass und der Rachegedanke hatte ihre Seele vergiftet. Das hätte sie niemals zulassen dürfen. Doch für eine Umkehr war es zu spät. Die Würfel waren gefallen. Der letzte Akt kündigte sich an. Ihr Schicksal war besiegelt. In diesem Leben konnte sie keine Sühne leisten. Angst bemächtigte sich ihrer. Aradia die Furchtlose, auf einmal fühlte sie sich wieder hilflos wie ein kleines Mädchen.

„Du machst mir Angst, Mutter! Ich fürchte mich so schrecklich.  Seit langer Zeit spüre ich wieder entsetzliche Furcht. Ich will doch gar nicht sterben, ich möchte leben. Ich liebe das Leben! Ich liebe die Blumen, die Vögel, wenn sie sich singend in den Himmel schwingen. Ich liebe das Reh, den Fuchs und alle Tiere des Waldes, ich liebe die Bäume, die sich so kraftvoll in der Erde verwurzelt und ich liebe die Menschen. Das heißt, ich habe sie geliebt. Bisher! Aber nun? Wie kann ich lieben ohne meine Schwester, meine Gefährtin und die vielen anderen die sich einst mit mir verbanden. Sie starben durch meine Schuld. Wie kann ich leben mit dieser übergroßen Schuld die wie ein Mühlstein auf meiner Seele lastet. Wie kann ich leben in einer Welt, die voller Tyrannen ist?“

„Ich weiß, in einer solchen Welt zu leben ist unerträglich. Du brauchst es nicht, denn ich nehme dich aus diesem Leben. Deine Aufgabe ist erfüllt.  Aber Generationen von Menschen werden es erdulden müssen, weil ihnen gar keine andere Wahl bleibt  und sie sich womöglich ein anderes Leben kaum mehr vorstellen können.“

„Aber warum lässt du es denn zu? Warum schreitest du nicht ein? Warum kann nicht alles so bleiben, wie es ist? Wie es war seit Urzeiten? “ klagte Aradia an.

„Ganz einfach! Die Menschen wollen es so. Schon lange sind die meisten unzufrieden mit dem, was sie haben, es verlangt ihnen nach mehr. Ja, sie wollen herrschen, sie wollen besitzen, so glauben sie besser und schneller voran zu kommen, sich ein angenehmeres Leben zu gestalten. Ich habe beschlossen, sie gewähren zu lassen, damit sie selbst erkunden, ob sie sich damit einen Gefallen tun.“

„Und tun sie sich einen damit?“ wollte Aradia wissen.

„Ganz und gar nicht! Wie ich schon sagte, es werden schlimme Zeiten  kommen, entsetzliches Leid, verursacht von Menschen, deren Ehrgeiz, deren Neid, Habsucht, Herrscherdrang keine Grenzen kennt. Reiche werden kommen und wieder vergehen. Ideen werden auftauchen und wieder dahin schwinden, Religionen werden kommen und wieder im Dunkel der Geschichte versickern. Sie alle dienen nur einem Zweck, Besitz und Herrschaft zu schaffen, zu sichern, zu vermehren und zu verteidigen.

Es wird nicht mangeln an mutigen Geistern die sich zu Wort melden um diesem Treiben Einhalt zu gebieten, aber es wird ihnen nicht gelingen. Gewiss, auch hoffnungsvolle Zeitalter wird es geben, da wähnen sich die Menschen schon in einer Art von Paradies, doch denen ist nur eine kurze Dauer beschieden.

Immer wieder bricht das alte Gift hervor und verdirbt die Charaktere. 

„Das ist alles so traurig! Gibt es denn gar keine Hoffnung? Wird es jemals möglich sein, wieder in einem Reiche zu leben, in dem du alles in allem bist?“

„Diese Zeit wird kommen, aber bis dahin verstreichen Tausende von Jahren. Am Ziel, nach unendlich erscheinenden Prüfungen, werde ich in einem entfernten Land in der Zukunft  meinen Mantel ausbreiten und meinen Platz  unter den Menschen einnehmen.“

„Da bleibt zumindest die Hoffnung! Ach, wie gerne würde ich das noch erleben, aber in ein paar tausend Jahren, da wird  nicht einmal ein Staubkorn von mir übrig sein.“ bedauerte Aradia.

„Du irrst dich! Du wirst es erleben! Du warst meine treuste Freundin.   Auch wenn du schwere Schuld auf dich geladen hast,lasse dich ich dich nicht im Stich. Ein tiefer Schmerz verwundete deine Seele und warf dich aus der Bahn. Das entlastet dich schon erheblich. Du wirst mich begleiten auf meiner großen Reise durch die Zeit.

Ich habe beschlossen, dich unsterblich zu machen. Ich höre sie schon, deine Verfolger, sie sind nahe, sie wollen dich töten, weil du ihren Herrschafts-und Besitzanspruch in Frage stellst. Du bist ihnen gefährlich, weil in deinem Blut die Kraft der Freiheit fließt.

Hab keine Furcht wenn sie kommen, bleibe möglichst nahe bei diesem Stein. Ja du wirst sterben, doch nach wenigen Augenblicken wieder auferstehen, mit einem unsterblichen Leib. Den vermag dir niemand mehr zu nehmen.

Meine Botschaft sollst du in die Welt tragen und die Menschen immer wieder daran erinnern, woher sie kommen und wohin sie wieder zurückkehren, wenn es an der Zeit ist.  In dem entfernten Land in der Zukunft, von dem ich eben sprach, wirst du dich dann endgültig manifestieren in einer wunderschönen Frau, die nach längerer Prüfung den Menschen den egalitären Frieden wiederbringen wird.

Zunächst aber musst du auf deiner langen Reise durch die Zeit Erfahrungen sammeln, aus den Fehlern der Geschichte lernen, Neues entwerfen. Dir begegnen viele interessante Menschen, Leute die ganz ähnlich denken. Du wirst sie erkennen, wenn du vor ihnen stehst. 

Doch mache dich jetzt bereit, denn deine Verfolger nahen. Bedenke meinen Rat und sei ohne Angst.

Die Stimmen ihrer Verfolger drangen an ihre Ohren. Die hatten sie entdeckt und eilten am Ufer des Teiches entlang. Grondar, ihr Anführer, Stammesfürst der nächst liegenden Stadt, nahm bedrohlich vor ihr Aufstellung. Er war ein behaarter Rohling mit stechenden hervorquellenden Augen, sein verfilztes blondes Haar fiel ihm über die Schultern. Man sah ihm die Unverschämtheit an, mit der er sich durchs Leben schlug. Ein Mann wie geboren zum Befehlen und Kommandieren. Schon eine ganze Reihe von Siedlungen und sogar Städte hatte er mit seiner Truppe erobert. Keiner wagte es ihm zu trotzen. Keiner, außer Aradia. Er musste sie beseitigen, um seinem Führungsanspruch in Zukunft Geltung zu verschaffen. Lange schon war er ihr auf den Fersen. Nun wähnte er sich am Ziel. Wenn es ihm gelang die gefürchtete Anführerin der "Töchter der Freiheit" zu beseitigen, konnte er sein Ansehen erheblich steigern und in der Hierarchie der Stammesfürsten weit nach oben klettern, womöglich erkannten sie ihn dann sogar als eine Art König an.

„Da ist sie ja, unsere kämpfende Furie. Hier endet deine Flucht, Aradia. Aber ich will noch einmal Gnade walten lassen. Zum letzten Mal gebe ich dir die Möglichkeit, dich zu unterwerfen. Erkenne mich als deinen Anführer an und der Kriegsgott, dem ich diene, wird dir gnädig sein. Tust du es nicht, wirst du sterben!“

„Niemals! Nicht einen Tag möchte ich leben in einer Welt, in der du herrschst Ich bin bereit in den Tod zu gehen.“ hielt ihm Aradia die Widerpart.

„Ja, wenn das so ist, dann sollst du es auch. Ihr alle seid meine Zeugen. Ich habe ihr ein faires Angebot unterbreitet. Aber sie selbst hat sich ihr Todesurteil gesprochen.“ meinte Grondar zu seinen Begleitern gewandt.

„Töte mich, Grondar, und du machst mich dadurch unsterblich. Ich warne dich! Ein ewiger Fluch wird über dich und deinesgleichen kommen!“

„Hahaha! Habt ihr das gehört? Sie will mir drohen. Wer will mich verfluchen, deine Erdgöttin etwa? Das kann sie nicht! Der Kriegsgott hat sie längst entmachtet. Sie ist nur noch ein Schatten in der Nacht.“ glaubte Grondar zu wissen.

„Täusch dich nicht, Grondar! Lass ab von mir und sie wird vielleicht vergessen, was du eben sprachst.“ Noch immer klammerte sich Aradia an den Felsen, doch die Angst schien sich von ihr zu lösen.

„Es ist schade um so ein Geschöpf. Du siehst hübsch aus. Ja, das warst du schon immer. Aber stets hast du mich abgewiesen, erinnerst du dich? Statt in den Tod zu gehen könntst du meine Frau werden. An meiner Seite kannst du herrschen über meine Stadt, über unseren Clan und über die Nachbarclans die wir gemeinsam unterwerfen Du würdest eine gute Herrscherin. Warum also ziehst du den Tod einem solchen Leben vor?“ wunderte sich Grondar.

„Weil niemals ein Mensch über einem andern stehen sollte. Wir alle kommen aus der Göttin und zu ihr kehren wir zurück, wie Tropfen fließen wir zum ewigen See. Wir alle sind gleich, unser aller Blut ist rot. Warum sollte einer mehr besitzen als der andere? Oder das Recht haben, Befehle zu erteilen. Herrschen, kommandieren, ja, nur das hast du im Sinn. Dich bedienen lassen, über anderen stehen. Dort ernten, wo du nicht gesät hast. Wenn das die Zukunft ist, dann gibt es hier für mich keinen Platz mehr.“

„Eines muss man dir lassen. Mut hast du! Wirklich schade, dass du so verstockt bist. Du lässt mir keine andere Wahl!“

„Dann tu was du tun musst!“ Aradia war bereit, sie hatte mit allem abgeschlossen.

„Bevor du stirbst, will ich dich nehmen, es ist mein Recht als Herrscher, alle Frauen zu nehmen, die mir gefallen. Bei dir mache ich den Anfang.“ Er griff nach ihr und riss ihren Körper an sich.

„Wehr dich nicht, dann hast du es schneller hinter dir!“

Aradia musste unbedingt mit dem Felsen in Verbindung bleiben, deshalb durfte sie sich nicht zu weit davon zu entfernen, somit war es ihr auch nicht möglich  sich entsprechend zu wehren.  Noch vor Tagen hätte es kein Mann gewagt die gefürchtete Amazonenkönigin auch nur lüstern anzusehen, geschweige dem sie auf so brutale Art zu nehmen. 

„Lass mich los! Gewähre mir wenigstens einen würdevollen Tod!“

„Den Gefallen kann ich dir leider nicht tun! Wer sich so hartnäckig weigert, stirbt einen zweifachen Tod!“

Aradia holte aus und versetzte ihm einen Schlag zwischen die Beine. Vom Schmerz gebeugt schrie Grondar auf und schleuderte sie in einer Reflexhandlung mit voller Wucht an den Stein. Der Aufprall war so stark, dass Aradias Genick brach und sie tot zusammenbrach.

Es war vollbracht. Grondar beugte sich über ihren am Boden liegenden Körper und konnte nur noch feststellen, dass ihre Seele dem Körper bereits entschwunden schien.

„Dann eben nicht, du falsche Schlange. Du hast es so gewollt. Nun ist der letzte Widerstand gebrochen. Die Anführerin ist tot. Nun sind wir die gesamte Brut ein für alle mal los. Meiner Herrschaft wird sich nun keiner mehr entziehen. Laßt uns unsern Sieg gebührend feiern.“

Die Umstehenden jubelten ihrem Häuptling zu und somit auch dem nun wohl allmächtigen Kriegsgott, dem sie sich verbunden fühlten.

„Was machen wir mit ihr?“ wollte einer seiner Begleiter wissen. „Lasst sie hier liegen, die Tote bei ihrer Toten Erdgöttin, sie kann ihr Gesellschaft leisten, soll sie hier langsam vermodern.“ befahl Grondar.

Sie begaben sich ans andere Ufer des Teiches. Dort ließen sie sich nieder. „Was ist? Was haben wir hier noch verloren? Wollen wir zur Siedlung zurück?“ fragte ein anderer Begleiter. „Gleich! Lasst uns einen Moment rasten! Lange waren wir unterwegs. Nun haben wir unser Ziel erreicht. Ein guter Tag. Wir haben nun nichts mehr zu befürchten. Niemand kann uns gefährlich werden, deshalb besteht kein Grund zur Eile.“ erwiderte Grondar.

"Nie hätte ich es für möglich gehalten einmal höchstpersönlich die Anführerin dieser Bestien zu töten." 

 

Da saßen sie und rasteten , entfachten ein kleines Feuer und verzehrten den mitgebrachten Proviant. Nichtsahnend, was sich hinter ihrem Rücken abspielte. Denn am anderen Ufer begann Aradia zum neuen Leben zu erwachen. Sie öffnete die Augen, sie war die Gleiche wie noch vor wenigen Augenblicken, doch war sie gleichermaßen eine Andere.

Langsam richtete sie sich auf, bewegte den Kopf hin und her, keine Schmerzen, keine Wunde. Sie betrachtete ihre Hände. Alles wie bisher. Sie erhob sich und blickte gen Himmel, jetzt erkannte sie den Unterschied, denn sie sah den Himmel offen, wenn sie wollte. Sie blickte in die Vergangenheit, sie blickte in die Zukunft. Sie sah längst Verstorbene und noch nicht Geborene einträchtig miteinander kommunizierend. Sie vermochte die Sprache der Tiere zu verstehen. Sie spürte keine Kälte mehr und keinen Hunger. Sie fühlte sich geborgen und vollendet.

Langsam schritt sie zum Teich und blickte auf die am andere Ufer sitzenden Männer. Das dauerte eine Weile, bis einer den Kopf drehte und zu ihr blickte. Der erschrak gewaltig. „Seht Aradia! Sie ist nicht tot! Sie lebt! Sie wird uns allen zürnen. Wir haben unser Leben verwirkt.“ „Bleibt hier! Niemand rührt sich von der Stelle! Sie kann uns nichts tun. Selbst wenn sie ein Geist ist. Der Kriegsgott wird uns behüten, wenn wir bereit sind mit ihr zu kämpfen.“ brüllte Grondar.

„Wenn du glaubst dass ich mit dir kämpfe, dann täuschst du dich. Das habe ich nicht mehr nötig. Kampf, das ist die Sache eures Kriegsgottes, nicht der Erdgöttin, der Erhalterin des Friedens. Kampf, das wird euer ständiger Begleiter sein, in der Zeit die nun vor euch liegt. Ich brauche keine Hand an euch zu legen, das werdet ihr selber zur Genüge tun.“ sprach Aradia, während sie um den Teich auf die Männer zu schritt. Vor ihnen angekommen erhob sie die Hände. „Hör meine Worte, Grondar! Fluch wird über dich kommen! Über dich und deine Begleiter, über dich und alle die so denken und handeln wie du, überall auf der Welt und  zu allen Zeiten. Fluch über alle Herrscher und Tyrannen auf allen Kontinenten. Fluch über alle, die mehr besitzen wollen, als sie verbrauchen können, denn dieser Besitz wird sie nicht glücklich machen, sondern Neid, Gier, Missgunst, Eifersucht und das Streben nach immer mehr wird ihr Leben bestimmen und zur Hölle machen.“

„Du kannst mich verfluchen, wie du willst! Ich fürchte deinen Zauber nicht! Mein Kriegsgott hat mich stark gemacht. Solange ich ihm opfere und ihm meine Ehrerbietung leiste, werde ich seine Gunst nicht verlieren.“ wehrte Grondar ab.

„Dein Kriegsgott ist ein Abbild deiner selbst. Ein Gott den sich die Menschen selbst geschaffen haben. Ein Gott der den Menschen Schlechtes tut, der die Menschheit mit Krieg überzieht, der Knechtschaft und das Anhäufen von Reichtum verlangt, der nur bestimmte Menschen annimmt, andere aber ausgrenzt und demütigt, ist kein Gott. Die große Mutter liebt alle gleich, sie zieht niemand vor, sie lässt allen Menschen die Freiheit, sie möchte, dass die Menschen zusammenhalten, sich in gegenseitiger Hilfe bei stehen, alles gemeinsam erwirtschaften und gebrauchen. Sie bedarf keiner herausragender Gestalten, die glauben, über anderen erhaben zu sein.“ verkündete Aradia.

„Deine Göttin ist schwach. Wir werden sie besiegen. Wir werden alle unterwerfen, die noch zu ihr beten. Damit stoßen wir sie in die Finsternis. Du bist jetzt schon dort, du bist tot, du kannst mir nicht schaden:“ glaubte Grondar.

„Du glaubst dass ich keine Macht habe? Ich stehe vor dir, da ich doch tot sein soll, ist das nicht Machtbeweis genug? Aber bitte, wenn du noch mehr sehen willst!“ Aradia erhob die Arme gen Himmel. Plötzlich erhob sich ein heftiges Brausen aus allen Richtungen, ein Sturmwind von gigantischem Ausmaß fegte durch den Wald und über den Teich. Grondars Gefährten ließen alles stehen und liegen und suchten fluchtartig das Weite.

Nun fuhr auch Grondar der Schreck in die Glieder. „Dann hat mich der Kriegsgott verstoßen! Dann musst du mich töten!“ „Du bist auf dem Holzweg, wenn du glaubst, ich würde dich töten. Dann wäre ich ja keinen Deut besser als du und deinesgleichen. Nein, du sollst leben, aber mit der Gewissheit, dass dein Leben sich als schwere Bürde erweisen wird. Du wirst mächtig und reich unten in der Siedlung, du wirst dein Ziel erreichen. Aber dein Triumph wird nicht von Dauer sein. Schon nach kurzer Zeit wird man dir deinen Reichtum, deine Macht und deine Stellung neiden. Eifersucht macht sich breit unter deiner Gefolgschaft. Andere wollen auf deinen Platz. Einer wird dich stürzen und beseitigen. Die Mörderhand gehört einem deiner engsten Vertrauten. Unrühmlich wirst du enden. Unrühmlich werden auch die meisten Gewaltherrscher enden, die dir in den Jahrtausenden folgen. Nun geh, beginne dein Werk, versklave all jene, die sich bisher in gegenseitiger Hilfe beistanden. Verlange den gesamten Ertrag für dich allein, er wird dir nicht bekommen.“

Grondar richtete sich auf und taumelte am Ufer des Teiches entlang, bis er schließlich im Unterholz verschwand. Schon wenig später flaute der Sturmwind ab und Frieden zog wieder ein. Aradia ließ die Arme sinken. Nun war sie allein mit sich und ihrer neuen Existenz. Erst jetzt wurde sie sich der ganzen Tragweite bewusst. Wie ging es jetzt weiter?

„Große Mutter! Hier bin ich, was ist mit mir? Wo bin ich? Wer bin ich? Noch die gleiche wie vorher? Wo soll ich hin? Ich habe kein Zuhause mehr!  Ich bin tot! Ich war tot, doch nun lebe ich!“ „Du wirst leben, anders als bisher, obgleich dein neues Leben dem vorherigen gar nicht so wird, das kommt ganz auf die Umstände an.“ hörte Aradia eine Stimme aus dem Dickicht des Waldes, die sich ihr langsam näherte.

„Wo bist du?“ „Hier!“ Hinter einem Haselnussstrauch lugte eine Gestalt hervor. „Bist du die große Mutter, zu der wir immer gesprochen haben?“ wollte Aradia wissen. Vor ihr stand eine Frau in den mittleren Jahren, etwa um die 40 , für das Steinzeitalter also schon recht alt. Trotzdem zeichnete sie ein hübsches Gesicht aus. Blaue Augen so klar wie ein Bergsee, dazu ein sinnlicher Mund mit Grübchen in den Winkeln. Langes grau-schwarz gemischtes Haar fiel ihr in Locken wallend über die Schultern bis fast zur Taille. Sie trug ein langes, etwa bis zu den Knöcheln reichendes Gewand aus braunen Pelz, ohne Ärmel, in den Hüften mit einem schwarzen Wildlederband zusammen gehalten. Sie lief barfuß.

„Entspricht das in etwa dem Bild, das du dir in deinem Bewusstsein von mir gemacht hast ?“ „Ja, so habe ich dich immer gesehen! In Gedanken oder auch in meinen Träumen!“ bestätigte Aradia. „Das ist schon mal eines der Privilegien die du von nun an besitzen wirst, mich zu sehen, ganz nach deinen Vorstellungen, mit mir zu sprechen wie eine reale Person. Keinem Sterblichen ist das möglich. Auch meinen Namen sollst du erfahren, den Sterblichen verschlossen, da sie sonst Macht über mich bekämen und nur Unfug damit treiben würden. Ich bin Anarchaphilia.“

„Was für ein seltsamer Name: Aber ein schöner .“ „Er bedeutet Liebe zur Nichtherrschaft!“ " Und was heißt das?“ „ Jene Lebensform, die du als eine der letzten verteidigt hast, du, deine Gefährtinnen und wenige andere auf der Welt. Ich habe geherrscht und doch auch wieder nicht, ich weiß, es ist kompliziert. Zu kompliziert für die Einfältigen unter den Menschen, deshalb können sie nichts mehr damit anfangen. Sie sehnen sich nach Führung, nach Anleitung, nach der starken Hand  die ihnen den Weg weist. Nach Leuten die ihnen sagen wo es langgeht, damit sie ihr Hirn nicht mehr selbst bemühen müssen. Du gehörst nicht zu denen, deshalb haben sie dich ausgeschlossen und schließlich sogar ermordet. So wird es in Zukunft allen gehen, die sich noch meiner erinnern.“ klärte Anarchaphilia auf.

„Sag mir wie es nun weitergeht mit mir! Wo werde ich leben? Von was werde ich leben, allein so ganz ohne Clan?“ bohrte Aradia verständlicherweise weiter nach. „Überall und nirgendwo! Mache dich vertraut mit den Gedanken, dass die Eingrenzungen der irdischen Welt keine Bedeutung mehr für dich haben. Raum und Zeit existieren nicht mehr. Daran musst du dich gewöhnen, aber es ist nicht schwer. Gemeinsam werden wir durch die Welt und die Zeit reisen. Einige Jahrtausende gilt es dabei zu bewältigen!“ „Jahrtausende? Aber wird das nicht endlos öde und langweilig?“ „Nicht im Geringsten! Im Gegenteil! Hast du zugehört? Die Zeit hat keine Bedeutung, du bist ihrem Wirken enthoben. Schwer vorstellbar, ich weiß, aber du wirst dich schnell damit vertraut machen. Pass auf!“

Anarchaphilia erhob die Hände und formte in der Luft einen Kreis . Es geschah erst mal nichts. Doch ein paar Änderungen im Gelände gab es, vieles war verschwunden, was eben noch vorhanden. Da kamen plötzlich Männer aus dem Gestrüpp und liefen an ihnen vorbei. Die waren seltsam gekleidet. Grüne eng anliegende Kleidung, ebensolche grüne Hüte auf dem Kopf. So etwas hatte Aradia noch nie gesehen. Über der Schulter trugen sie merkwürdig aussehende glänzende Stäbe. „Keine Sorge, die können uns nicht sehen. Wir sind für die nicht vorhanden.“ Versuchte Anarchaphilia zu beruhigen. „Was sind das für Leute? Warum sehen die so merkwürdig aus? Die kommen nicht aus Gronars Siedlung aber auch nicht aus einer anderen mir bekannten. Offenbar von weit angereist schätze ich!“ vermutete Aradia. „Ja so könnte man es ausdrücken! Sie kommen aus der Zukunft. Wir haben einen gewaltigen Sprung gemacht. Etwa 5000 Jahre nach vorn. Siehst du, so schnell kann das gehen, wenn du willst.“ erläuterte Anarchaphilia. Plötzlich nahm einer der Männer seinen Stab von den Schultern legte an und es donnerte gewaltig, so dass Aradia erschreckte. Es waren Jäger aus dem 20. Jahrhundert, die sich hier auf der Pirsch befanden.

„Lass uns zunächst in deine Zeit zurückkehren!“ Anarchaphilia bewegte ihre Arme in der Luft und schon befanden sie sich wieder in ihrer Zeit, ohne auch nur einen Schritt zu tun. „Mir wird schwindelig! Ich muss mich setzen!“ gab Aradia zu verstehen und ließ sich auf den Boden nieder. „Das ist alles zu viel für dich, oder?“ meinte Anarchaphila, während sie neben ihr Platz nahm. „Das kann ich verstehen! Aber sei ohne Sorge, du wirst schon bald alles begreifen und imstande sein, es zu meistern. Wir bleiben zunächst noch kurz in dieser Zeit, bis ich dich in alles eingeweiht habe, dann wirst du imstande sein alleine deinen Weg fortzusetzen..“ fuhr die alte Erdgöttin weiter fort.

„Allein? Du kommst nicht mit?“ sorgte sich Aradia. „Ich bin stets bei dir, aber ich werde mich nicht ständig in dieser Form manifestieren. Wir treffen uns wieder zu gegebener Zeit. Du brauchst mich nicht, du bist selber eine Art von Göttin. Pass auf, du kannst dich bewegen wie ein Mensch, ganz normal, wenn du willst, du bist aber auch imstande, andere Möglichkeiten der Fortbewegung zu nutzen, etwa fliegen. Du kannst sichtbar werden und unsichtbar, wie es dir beliebt. Du kannst große Entfernungen zurücklegen ohne Schwierigkeit und die Zeit ist wie schon erwähnt bedeutungslos. Es wird dir möglich sein länger in einer Zeitepoche zu verweilen, alles genau zu studieren, du kannst auf interessante Leute treffen, im Prinzip wie ein normaler Mensch leben. Es ist aber ebenso möglich alles im Zeitraffer an dir vorbei laufen zu lassen und die Zeit nach Belieben auswählen. Nichts ist unmöglich. Du bist unverwundbar, Krankheiten gibt es für dich nicht und sterben kannst du ohnehin nicht mehr. Du spürst weder Kälte noch Hitze, bewegst dich immer in einer konstanten angenehmen Temperatur. Im Grund brauchst du nicht mal Nahrung aufzunehmen. Du kannst es aber trotzdem, wenn du magst. Du solltest die Zeitalter genau studieren und dich mit deren Lebensgewohnheiten vertraut machen, denn nur so wirst du imstande sein, zum endgültigen Ziel zu gelangen.“

„Ziel, welches Ziel? Also gibt es doch eine Ende der Zeit für mich?“ „Ja das gibt es!“ „Sprich weiter! Lass mich nicht im Unklaren darüber!“ drängte Aradia.

„Irgendwann, in fernen Zeiten, da könnte es geschehen, dass Siegel wird gebrochen und die Menschen werden ihren langen, Jahrtausende währenden Irrweg erkennen, sich ihrer Unzulänglichkeit bewusst werden und der Herrschaft, wie auch immer sie sich gebärdet, überdrüssig sein. Alternativen werden gesucht und offenbar auch gefunden. Dabei werden ihnen aber wieder große Fehler unterlaufen. Deine Aufgabe besteht darin diese Fehler in der Geschichte eingehend zu untersuchen, zu analysieren und deine Schlüße daraus zu ziehen. Die gewonnene Erfahrung kannst du mit dir nehmen und für spätere reifere Epochen bewahren. Eines Tages könnte sich die Gelegenheit in einem kleinen eher unscheinbaren Land bieten, deine gewonnene Erkenntnis zu bündeln und gezielt anzuwenden.“

„Und wo soll das geschehen? Wie heißt dieses rätselhafte Land in der Zukunft?“ versuchte Aradia ungeduldig in Erfahrung zu bringen. „Nicht einfach ist es, in die Zukunft zu blicken, ständig ist sie im Fluss, Zeit ist ein dynamischer Prozess, abhängig von vielen Faktoren. Ich sehe eine Möglichkeit in etwa 5000 Jahren. Ich habe den Zeitsprung eben nicht zufällig in diese Zeitepoche gewählt. Da könnte sich die Gelegenheit in einem Land auf einem anderen Kontinent bieten. Die Konditionen dafür stehen sehr günstig. Trotzdem gibt es auch dort keine Garantie für einen Erfolg und es bedarf eines langen Prozeßes der Entwicklung, um dorthin zu gelangen, zahlreiche Rückschläge nicht ausgeschlossen. Es kommt ganz darauf an, wie du dich darauf vorbereitest.“ setzte Anarchaphilia ihren Vortrag fort.

„Aber wie werde ich dort eingreifen?“ „Du wirst deinen jetzigen Zustand beenden, noch einmal neu geboren werden, ganz natürlich, wie das bei Menschen so üblich ist. Du wirst heranwachsen und entwickelst dich zu einer Frau von außergewöhnlicher Schönheit, Anmut und Intelligenz. An deine frühere Existenz kannst du dich dann allerdings nicht mehr erinnern. Wenn du alt genug bist, so etwa um die 30, also im gleichen Alter wie du es vorhin bei deinem irdischen Tod warst, werden die Kräfte wieder von dir Besitz ergreifen und langsam, ganz langsam in dein Bewusstsein zurückkehren. Schritt für Schritt, das wird Jahre in Anspruch nehmen. Denn auf einen gewöhnlichen Menschen mit all seinen Unzulänglichkeiten, könnte zu viel Erkenntnis auf einmal gefährlich sein. Doch schon bevor du dir deiner Herkunft bewusst bist, wird es dir möglich sein ins Geschehen deines Landes einzugreifen und es auf den Weg in die Zukunft zu geleiten. Eine Zukunft ganz ohne Herrschaft. Ein Land des Friedens, ein Land der Gleichheit, der Freiheit und der Geschwisterlichkeit. Und du wirst deine alten Gefährtinnen wieder finden. Die "Töchter der Freiheit" können nach unendlich langer Zeit im neuen Gewande und unter neuen Vorzeichen ihre Wiederauferstehung feiern."

"Wirklich??? Ich werde Inanna wiedersehen und Leila und all die anderen die ich so sehr liebte?" Begeisterte sich Aradia.

"Ja! Aber lange wirst du brauchen um sie als solche  wieder zu erkennen. Eben weil dir die Erkenntnis über deine früheren Leben langezeit verschlossen bleiben."

„Also dann wird alles wieder wie es einmal war?“ „Nicht ganz! Du musst dir vor Augen führen, dass zwischen dem Jetzt und Hier und der Zukunft dort etwa fünf Jahrtausende liegen. Über 5000 Jahre Geschichte, die erst mal bewältigt werden wollen. Die Erkenntnisse aus dieser unendlich anmutenden Zeitspanne müssen akzeptiert und integriert werden. Wichtig nur ist, das Wesentliche zu erfüllen und das ist die Nichtherrschaft. Ob und wie sich diese konkret verwirklichen lässt, dass müsst ihr dann vor Ort entscheiden. Kommt Zeit, kommt Rat.“

„Ich kann kaum glauben, was ich hörte. Ich soll das federführend mit herbeiführen?"

" Hab keine Furcht! Du wirst es schaffen! Du warst in deiner vergangenen Existenz eine Kämpferin und du sollst es auch in der nun folgenden sein. Du bist imstande viel zu lernen, es wird dir wie Schuppen von den Augen fallen. Du bist jetzt meine Tochter, ich habe dich an Kindes statt angenommen. Somit hast du Anteil an meinem universalen Wissen.  Im Laufe der Jahrhunderte, der Jahrtausende kannst du alles nur Erdenkliche in Erfahrung bringen und es wird dir keine Mühe bereiten. Dir stehen einige Jahrtausenden zur Verfügung, nutze sie. Welcher Sterbliche könnte auch nur annähernd auf solche Möglichkeiten zurückgreifen?“

„Aber werde ich mich nicht trotzdem einsam und verlassen fühlen?“ „Da wo es keine Zeit gibt, existiert auch die Langeweile nicht. Und die Einsamkeit ist die Schwester der Langeweile. Sie wird dich nicht heimsuchen. Des Weiteren habe ich dir erklärt, dass du vielen interessanten Leuten der Geschichte begegnen wirst, na, wenn dass nicht verlockend klingt? Freu dich einfach auf die Reise durch Raum und Zeit! Lasse einfach alles auf dich zukommen!“

„Ich werde es versuchen! Aber du bist weiter in meiner Nähe, wenn ich dich doch brauchen sollte!“ „Ich bin die Schönheit der grünen Erde, der weiße Mond unter den Sternen, das Geheimnis der tiefen Wasser, die Sehnsucht des menschlichen Herzens. Ich war mit dir von Anbeginn und ich bin die, die du finden wirst am Ziel deiner Sehnsucht. Ich bin über dir, ich bin in dir und ich bin an deiner Seite.“ versicherte Anarchaphilia.

Aradia ließ sich auf den Boden gleiten und blickte gen Himmel. Sie sah ihn auch jetzt offen. „Werde ich denn den Himmel immer offen sehen? Mit all den vielen Existenzen, die da waren und die noch kommen werden?“ „Wenn du willst, kannst du das jederzeit, wenn nicht, brauchst du es nicht!“ Aradia schloss die Augen und öffnete sie gleich wieder, sie blickte in einen reinen blauen Himmel, auf dessen Oberfläche sich lediglich ein paar Schönwetterwolken tummelten. „So ist es mir lieber!“

„Gut, wenn du noch Fragen an mich hast, dann rufe mich an. Ich stehe dir gerne noch weiter mit Rat und Tat zur Seite.“ Anarchaphilia machte Anstalten, sich zurückzuziehen. „Du willst schon gehen? Aber ich dachte, du willst mich erst unterweisen? Was soll ich denn sonst tun?“ „Such dir erst mal einen schönen Platz zum Verweilen, dann werden wir weitersehen. Ich komme, sagen wir, in ein paar hundert Jahren zurück, um nach dir zu sehen?“ erwiderte Anarchaphilia.

„In ein paar hundert Jahren?“ rief Aradia entsetzt. „Tochter, was habe ich dir eben gesagt? Zeit spielt keine Rolle in deinem neuen Leben, du musst dich damit vertraut machen. Tausend Jahre sind für uns wie ein Tag, hundert sagen wir, eine Stunde? Entscheide selbst, du hast die Macht dazu!“ Schon war Anarchaphilia verschwunden.

Aradia blickte sich um. Alles schien ihr zu gehören. Sie brauchte sich gar keinen Platz zu suchen, denn sie hatte ihn längst gefunden. Hier an diesem vertrauten Teich mit seinem Felsmassiv im Hintergrund würde sie sich für die nächsten Jahrtausende niederlassen. Das heißt, er würde ihr als Ausgangspunkt für ihre Zeitreisen dienen. Langsam umschritt sie den Felsen, schnell hatte sie das Zeitloch entdeckt. Während ihrer irdischen Existenz konnte sie hier nur eine etwa zwei Meter hohe und etwa zehn Meter lange Höhle erkennen. Nun blickte sie in die Zukunft. Dynamisch sei diese, so hatte Anarchaphilia betont, ständig im Flusse, ständig in Bewegung. Erst mal schauen, dann der erste Versuch.

Aradia bewegte sich vorwärts, doch was war das? Schwerter blitzten, hieben aufeinander, Hunderte von Männern im Kampf, Aradia hatte sich ausgerechnet in den Trojanischen Krieg verirrt, schnell wieder zurück. Verschnaufen, dann noch ein Versuch, zaghaft unternahm sie den ersten Schritt, was würde wohl als nächstes geschehen? Wieder ein Gewimmel von Menschen, ein heilloses Durcheinander, das war aber kein Krieg, wie sie schnell feststellen konnte, sondern der Alltag der Menschen im 20 Jahrhundert, sie war auf dem Kurfürstendamm im Berlin des Jahres 2000 gelandet.

Nein, das war auch nicht das Richtige. Diese ferne Zeit würde noch eine ganze Weile auf sie warten. Wieder zurück. Aradia nahm vor dem Zeitloch Platz, um jetzt ganz intensiv eine Zeit auszusuchen, die ihrer eigenen am ähnlichsten schien, dann sollte es der Reihe nach gehen. Diese Lösung schien ihr am plausibelsten. Der dritte Versuch. Der schien Erfolg versprechend. Eine menschenleere Einöde, sie befand sich auf einem Berg, im Tal vor ihr entdeckte sie eine Siedlung, die starke Ähnlichkeiten mit ihrem Zuhause in der irdischen Welt aufwies.

Aradia brachte in Erfahrung, dass trotzdem schon tausend Jahre vergangen waren. Die Menschheit hatte sich noch nicht wesentlich weiter entwickelt. Doch konnte sie, bei genauer Betrachtung den Unterschied deutlich erkennen. Da waren sie, die Herrscher, die stolzen Müßiggänger, die hatten in der Zwischenzeit ihre Machtposition erheblich ausgebaut. Da war nicht mehr viel  übrig von der egalitären Freiheit.

Was hatte Anarchaphilia gesagt? Die Verhältnisse genau studieren und die daraus gewonnenen Erkenntnisse anwenden.

 Also dann auf ans Werk. Nun begann die große Reise durch die Zeitalter der Menschheit. Einfach nur hochinteressant, was sie so alles erleben durfte. Sie folgte Anarchaphilias Rat. Die Zeitepochen präsentierten sich sehr verschieden, wie sie feststellen musste. Jahrhunderte von tiefer Stagnation geprägt, wechselten mit dynamischen Zeiten voller epochaler Sprengkraft. Eine gerade Linie gab es nicht. Zivilisationen entstanden und verfielen wieder, meist folgten darauf Verwahrlosung und Verfall. Aradia suchte sehr genau. Nicht alle Zeitabschnitte waren dafür geeignet, dort länger als nötig zu verweilen.

Nach langer Anlaufphase schien jetzt alles in Schwung zu kommen. Staaten entstanden, lösten das alte Stammes-und Clansystem langsam aber sicher ab. Die Herrschaftsformen verfestigten und verfeinerten sich. Immer deutlicher hoben sich nun die Eliten von den übrigen Bevölkerungsteilen ab und bildeten ein hermetisch abgeschlossenes Eigenleben.

Nach dem sich Aradia mit der Materie vertraut gemacht hatte, startete sie durch. Wollte sie eine Epoche genauer kennen lernen verweilte sie dort länger, mischte sich unter die Menschen, lebte dort wie eine unter vielen, imstande, jederzeit zu verschwinden. Die von Stagnationen gekennzeichneten Abschnitte durchschritt sie quasi im Zeitraffer, derer gab es viele, zu viele.

Zwischendurch hielt sie immer wieder inne, um das Zeitloch zu verlassen, dann pausierte sie in ihrer Höhle an der Felsformation, durchdachte noch einmal genau das Erlebte. Von Zeit zu Zeit wurde sie dort von Anarchaphilia aufgesucht. Dann saßen sie beisammen, tauschten sich aus über die Welt, wie sie nun einmal war. Ein schönes Leben, wie Aradia bald feststellte. Anarchaphilia hatte Recht, Langeweile gab es nicht. Sie lernte die Pharaonen im alten Ägypten kennen, sah, wie die Pyramiden errichtet wurden und Moses zog mit dem Volk Israel durch das Rote Meer. In Griechenland konnte sie mit den bedeutenden Philosophen diskutieren. In Indien lernte sie Gautama Buddha kennen, welch interessante Lehre er doch verkündete.

Aradia wähnte sich hier zum ersten Mal am Ziel. Konnte dessen Lehre nicht der Welt den Frieden bringen? Das setzte natürlich voraus, dass die Menschen auch tatsächlich danach lebten und handelten, das gelang aber nur wenigen. Es hieß also weiterziehen. Das römische Imperium stellte alles in Schatten, was Aradia bisher an Herrschaftsvarianten erkundet hatte, sie fühlte sich abgestoßen und angezogen zugleich von der Zivilisation die sie dort vorfand. Aus diesem Grund beschloss sie, hier länger zu verweilen. Ein Heer von Sklaven schuftete hier für den Reichtum einiger weniger Müßiggänger. Ständig waren die Römer in Kriege mit ihren Nachbarn verwickelt und weiteten ihr Imperium aus. Immer wieder kam es zu Sklavenaufständen, der größte unter der Führung von Spartacus erwies sich als besonderes Lehrstück für Aradia, sie ritt mit Spartacus in die Schlachten, konnte aber dessen Niederlage nicht verhindern.

Frustriert zog sie sich nach Palästina zurück, dort schloss sie sich einem jungen Rabbi mit Namen Jesus an. Erneut glaubte sie sich vorzeitig am Ziel, denn große Übereinstimmung konnte sie erkennen zwischen seiner Lehre und der ihrigen. Er sprach von einem Gott der Liebe, der Verzeihung. Alle Menschen seien gleich vor ihm, sollten sich in gegenseitiger Nächstenliebe beistehen. Das waren doch haargenau die Forderungen Anarchaphilias. Doch schon bald ereilte diesen Rabbi ein gewaltsamer Tod. Seine Nachfolger, bzw. jene Leute die vorgaben, in seiner Nachfolge zu stehen, verkehrten seine Lehre schon bald in ihr Gegenteil und wieder nur bildete sich eine neue Form der Unterdrückung und Ausgrenzung.

Enttäuscht ging Aradia in die keltischen Siedlungsgebiete. In Britannien wurde sie Schülerin der Druiden. Deren Naturmystik sprach ihr direkt aus der Seele. Doch deren Kultur war dem Untergang geweiht, die Römer machten alles platt, zwangen den Völkern ihr Glaubens-und Rechtssystem auf. Doch auch das römische Imperium konnte sich seinem Schicksal nicht entziehen. Es zerfiel, nun folgten dunkle Jahrhunderte der Barbarei.

Elena verließ Europa, in Arabien geriet sie in den Kreis um den Propheten Mohammed , dessen Botschaft sie stark an den Rabbi aus Jerusalem erinnerte. Auch hier konnte sie Parallelen zu ihrer Mission erkennen. Doch alles war so kriegerisch, so voller Eroberungsvorstellungen. Nein, immer deutlicher ging ihr ein Licht auf. Auch die Religionsstifter verfügten über keine eindeutigen Antworten auf die offenen Fragen. Sie spalteten die Menschheit, statt diese zu versöhnen. Alle wähnten sich im Recht, nur ihr Glaube sei der einzig wahre. Was für ein Unsinn, dachte sich Aradia, sie wusste es besser. Anarchaphlia stand jedem zur Verfügung, sie breitete ihre Arme über alle aus, forderte dafür keine neuen komplizierten Glaubensregeln und Bestimmungen.

Die Urwahrheit hinter allen Teilwahrheiten blieb den meisten Menschen verborgen. Nur besonders geschulte Geister erfreuten sich der Gnade dieses Wissens. Aradia lernte viele von ihnen kennen. Die geheime Schwesternschaft, von der Anarchaphlia gesprochen hatte, existierte tatsächlich. Da aber die technischen Möglichkeiten in jenen Zeiten nur begrenzte Aktivitäten zuließen, war es außerordentlich schwierig, gemeinsame Aktionen zu planen.

Im Laufe der Jahrtausende verabschiedete sich die Idee von der Akratie, der Nichtherrschaft immer deutlicher aus dem Bewusstsein der Menschen. Immer ausgeklüngelter funktionierten die Herrschaftsmodelle. Alte verschwanden und wurden durch Neuere ersetzt. Aber das Prinzip von herrschen und beherrscht werden blieb.

Aradia setzte ihre Reise fort. Immer deutlicher erweiterte sie ihren Wissenshorizont. Die Welt vergrößerte sich, neue Kontinente wurden entdeckt. An Bord von Kolumbus Santa Maria gelangte Aradia schließlich nach Amerika. Die dortige Bevölkerung hatte sich zu mindest zum Teil noch die alten Traditionen bewahrt und lebte mit der Natur im Einklang. Aradia beschloss, diese neue Welt genauer unter die Lupe zu nehmen, blieb lange dort. Sie traf auf Stämme, die, abgeschottet von der Außenwelt, in Gesellschaften lebten, die einer Akratie recht nahe kamen, in anderen Gegenden wie etwa in Mexiko oder Peru entstanden Großreiche, die ihren Zenit schon überschritten hatten, die nicht anders als in Europa, ihre Herrscher als gottgleiche Wesen betrachten. Reiche, die schon vom Zerfall geprägt, eine leichte Beute für die Spanier wurden, die hier innerhalb weniger Jahrzehnte die Bevölkerung dezimierten und ganze Kulturen ausrotteten.

Europa versank in jenen Tagen immer tiefer in Aberglauben und Fanatismus. Scheiterhaufen brannten, Religionskriege wurden blutig ausgetragen. Die Herrschereliten hatten mit ihren Untertanen kaum noch etwas gemein. Keine guten Zeiten. Aradia wich nach China aus, aber auch dort hatte sich ein Riesenimperium entwickelt. Die Religionen Europas hatten diese Gegend noch kaum berührt mit ihrer Intoleranz, doch auch hier ging es keineswegs humaner zu. In Afrika traf Aradia hingegen wieder auf Stammeskulturen, die wiederum Ähnlichkeiten mit ihrer alten vergessenen aufwiesen. Leider aber würde auch dieser Kontinent nicht von Eroberungen verschont bleiben.

Europa feierte inzwischen die Aufklärung. Zum ersten Mal in der Geschichte glaubten die Menschen, dass es sich auch ohne Religion ganz gut leben ließ. Viel war da die Rede von Freiheit und Menschenrechten. Aradia horchte auf, wieder ein Hoffnungszeichen? Doch das blieb zunächst nur Geplänkel Intellektueller, die sich selber gerne reden hörten.

Aradia ging wieder in Richtung Amerika. Eine schöne Episode, ihr Leben als Kapitänin eines Freibeuterschiffes in der Karibik. Dort führte sie ein verwegenes Leben mit einer Gruppe von Piratinnen, kaperte die Schiffe der großen Seefahrernationen und verwendete den Erlös für die Unterstützung der Not leidenden Bevölkerung dort. Von da aus ging es in die neu gegründete USA, mit George Washington verfasste sie die Unabhängigkeitserklärung. Wieder keimte Hoffnung in ihr auf. Gleiche Rechte für alle, keine Aristokraten mehr, Menschen die sich ihre Regierung selbst wählen? Klang zunächst einmal sehr gut. Doch bald musste sie erkennen, dass jene Rechte nur den wohlhabenden freien weißen Männern zugute kam, während andere gar nicht erst in Betracht gezogen wurden.

In Paris konnte Aradia gerade noch rechtzeitig eintreffen, um beim Sturm auf die Bastille dabei zu sein. Revolution, einfach Schluss machen mit den Despoten. Gründlich aufräumen, das hatte Europa dringend nötig. Als jedoch die ersten Köpfe unter der Guillotine rollten und sich neue Tyrannen auf die verwaisten Throne setzten, suchte Aradia das Weite.

Von nun an überschlugen sich die Ereignisse. Was in früheren Zeiten Jahrhunderte bedurfte, um zu reifen, entwickelte sich nun innerhalb weniger Jahrzehnte. Technischer Fortschritt, Industrialisierung, Urbanisierung. Rasanter Aufstieg ganzer Nationen auf der eine Seite, Verarmung, Verwahrlosung , Massenelend auf der anderen. Geradezu eine Inflation neuer Ideen und Weltanschauungen überflutete Europa und Amerika. Hier musste sich dass große Ereignis abspielen, dem Aradia entgegenfieberte. Im 19. Jahrhundert lebte sie wieder in England, dort traf sie auf Karl Marx und seinen Anhang. Sie unterstützte ihn bei der Abfassung seines Hauptwerkes, dem „Kapital“,  konnte sie dort doch viele ihrer Ansichten wiederfinden. Doch wann und wo sollten sich die verwirklichen und vor allem auf welche Weise? In England traf sie wenig später auch den russischen Großfürsten Peter Kropotkin. Jetzt glaubte sie sich endgültig am Ziel. Hatte Karl Marx die Idee, die politische Macht durch das Volk erobern zu lassen und eben jenes Volk mit Herrschervollmachten auszurüsten, sprach Kropotkin davon, die Herrschaftgänzlich abzuschaffen, ja, den Staat als Instrument der Herrschaft überflüssig zu machen, an dessen Stelle sollten kleine überschaubare, sich völlig autonom verwaltende Kommunen treten, die keinerHierarchien bedurften.

Endlich geschafft, endlich am Ziel. Das konnte nur die reine Akratie bedeuten. Hier atmete der Geist Anarchaphilias. Im 20. Jahrhundert würde sie fündig. Gut, die alte Göttin hatte zwar vom 21. gesprochen, aber was bedeuteten schon 100 Jahre Differenz in Anbetracht der bisher zurückgelegten 5000? Mit Kropotkin ging Aradia nach Russland. In St.Petersburg wurde sie Zeuge der Revolution.

Doch Kropotkin hatte sich geirrt. Sein Vision konnte sich hier nicht durchsetzen. Wieder entmachteten die Revolutionäre die Herrscher, nur um sich anschließend deren Machtfülle anzueignen Das 20. Jahrhundert erwies sich als reine Katastrophe. Es war die Zeit der großen Tyrannen und Diktatoren, die Europa, ja die ganze Welt mit blutigen Kriegen überzogen und ganze Länder in Schutt und Asche legten. Die Menschheit schien der Akratie jetzt auf einmal entfernter denn je. Aradia verzweifelte. Wo sollte da noch ein kleines Fünkchen Hoffnung glühen?

Doch nichts desto trotz wurde sie fündig. Das kleine unscheinbare Melancholanien, am Rande Europas gelegen, barg das große Hoffnungszeichen. Aradia glaubte zunächst an einen Scherz, als sie zum ersten Mal das Leben dort in Augenschein nahm. Hier gab es nichts von weltgeschichtlicher Bedeutung. Hier schienen sich im wahrsten Sinne des Wortes Fuchs und Hase gute Nacht zu wünschen. Tödliche Langeweile, wohin man auch blickte. Der Grund lag auf der Hand. Melacholanien rühmte sich als erster Staat der Welt, das Ende der Geschichte erreicht zu haben, die so genannte posthistorische Epoche. Lebte Aradia während ihres kurzen irdischen Lebens in einem Zeitalter, dass man gewöhnlich als prähistorisch bezeichnet, also vorgeschichtlich, hatte sie gerade das lange historische Zeitalter durchwandert, die Geschichte schlechthin, fand sie hier einen Staat vor, der von sich behauptete, die Geschichte überwunden zu haben. Was brachte die Verantwortlichen dieses merkwürdigen Staatswesens auf diese abstruse Idee? Als ob man sich einfach aus der Weltgeschichte verabschieden könne.

Aradia hatte gerade in Erfahrung bringen können, wie verwoben alles miteinander war, wie sich Abläufe der Geschichte immer am großen Ganzen orientierten. Außer Versatzstücken aus zurückliegender Zeit gab es in Melancholanien nichts mehr, das die früheren Zeitalter auszeichnete. Keine echte Weltanschauung mehr, keine Ideen, Visionen auch keine Religion. Die Staatsdoktrin bestand aus vier Worten: „Es gibt keine Alternative!“ Das genügte.

Andererseits konnte man von Staatsdoktrin nicht wirklich sprechen. Denn der Staat war im Grunde ohne wirkliche Macht. Ein Nachwächterstaat. In Melancholanien herrschte der Markt. Dieser wurde regelrecht angebetet. Die tatsächlichen Machthaber waren die Inhaber einiger Dutzend Großkonzerne, die den Staat nach Gutdünken steuerten und manipulierten, so  wie sie es für richtig erachteten. Melancholanien war keine Diktatur, nein, im Gegenteil. Die Freiheit wurde ganz groß geschrieben. Eine demokratischere Ordnung hatte die Welt noch nicht gesehen.

In früheren Zeiten herrschten auch hier diktatorische Hierarchien, doch die hatte man überwunden, man bedurfte ihrer nicht mehr. Die Verantwortlichen erfanden die viel effektivere Herrschaftsform, die sie einfach als regenerative Demokratie bezeichneten. Eine Demokratie, die sich stets neu erfindet, vor allem dann wenn keiner mehr an sie glaubt.

Das war der ganz große Wurf, verkaufe einfach das Alte im neuen Gewand. Die Bewohner Melancholaniens bildeten eine Solidargemeinschaft wie aus einem Bilderbuch. Die Bevölkerung teilte sich in drei soziale Kasten. Da waren zunächst die Privo, die Oberschicht, jene, die nicht gezwungen waren ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sondern über alternative Einkommensvarianten verfügten. Sie konnten sich dem Müßiggang hingeben, widmeten sich den schönen Künsten, der Wissenschaft, dem Sport, der Politik und soweit noch vorhanden, den Überresten von Religion und Weltanschauung. Wer von ihnen doch arbeitete, hatte natürlich ausschließlich die höhergestellten Posten und Funktionen inne. Sie lebten in eigens für sie errichteten Siedlungen in die außer ihnen niemand Zutritt hatte. Sie machten etwa 30% der Bevölkerung aus.

Den größten Anteil an der Bevölkerung nahmen die Preka ein, sie stellten etwa 50% der Gesamtbevölkerung. Es handelte sich bei ihnen um die Nur-Arbeiter, also jene, die durch ihre Arbeit zum Wohlstand des Staatswesens beitrugen. Die Preka waren bescheidene Leute, die wussten, was sich gehörte, außer ihrer Arbeit besaßen sie kaum einen nennenswerten Lebensinhalt. Sie schufteten tagein, tagaus, lebten in Wohnsilos, Plattenbauten mit 10-15 Stockwerken. Aufgrund dessen, dass sie die meiste Zeit des Tages an ihren Arbeitsstellen verbrachten, störte diese triste Umgebung kaum, sie kamen im Grund nur zum Fernsehen und Schlafen nach Hause.

Privo und Preka bildeten die idealen Sozialpartner. Die Einen erwirtschafteten den Gewinn, der den Andern zum Verbrauch zur Verfügung stand. Die Preka fügten sich, wollten sie nicht die Leiter nach unten fallen. Denn dort unten warteten die Paria, die dritte Sozialgruppe, sie erreichten eine Anzahl von etwa 20 %.

Sie wurden auch die Nichtexistenten genannt, denn für die Gesellschaft existierten sie nicht mehr. Sie arbeiteten nicht, also stand ihnen auch nichts zu. Sie lebten in Abbruchhäusern, leer stehenden Fabrikhallen, Wohnwagensiedlungen, wo sie eben noch Platz finden konnten. Sie erinnerten die Preka immer daran, was mit ihnen geschehen könnte, sollten sie das Wagnis eingehen sie sich  der bestehenden Ordnung zu verweigern. Somit erfüllten die Paria im gewissen Sinne doch eine Funktion.

Niemand wollte mit den Paria etwas zu tun haben, sie galten als Abschaum der Gesellschaft. Bildeten notgedrungen eine Parallelgesellschaft, um überleben zu können. Das empfanden die andern Kasten als direkte Bedrohung ihrer eigenen Lebensgrundlage. Vor allem die Preka ließen kaum eine Gelegenheit aus, sich offen zu ihrer Abneigung gegenüber den Paria zu bekennen. Privo und Paria verband die Tatsache, dass sie in vollkommener Freiheit lebten. Ein Zustand, den sich die Preka nicht vorstellen konnten, war deren Leben doch derart reglementiert, dass der Begriff Freizeit fast zu einem Fremdwort wurde. Doch die Preka waren stolz auf ihre Arbeit, ihre Firma war ihr Leben.

Aradia wunderte sich nicht schlecht über derartige Zustände. Wie konnte das auf Dauer funktionieren? Sie wurde auch bei dieser Frage schnell fündig. Es gab verschiedene Scharnierelemente. Zunächst die schon genannte Demokratie. Diese funktionierte schon seit fast 150 Jahren im immer gleichen Rhythmus. Es gab zwei politische Parteien im Lande, da waren einmal die Musterdemokraten, zum anderen die Superdemokraten. Zwei Parteien aus einem Guss. Ihre jeweiligen Programme stimmten zu 99,99% miteinander überein. Unterschiede waren nicht vorgesehen, denn das hätte die Staatsdoktrin untergraben.

Alle vier Jahre stellten sich diese Parteien zur Wahl und exakt alle vier Jahre gab es einen Regierungswechsel. Das vermittelte den Eindruck, als habe das Volk tatsächlich entschieden und könne durch sein Wahlverhalten die Tagespolitik mitbestimmen. In Wirklichkeit war das natürlich ein Trugschluss. Gerade weil sich die beiden Parteien in nichts unterschieden, konnte es auch keinen Politikwechsel geben. Das garantierte, dass trotz erfolgtem Regierungswechsel stets alles beim Alten blieb. Politiker rekrutierten sich fast ausschließlich aus der Privokaste, bis auf ein paar Alibi-Preka, denen hin und wieder der Aufstieg gestattet wurde. Somit konnte der Öffentlichkeit die viel gepriesenen Chancengleichheit vorgegaukelt werden.

Natürlich gab es noch ca. 100 weitere politische Parteien, die sich ebenfalls alle vier Jahre zur Wahl stellten. Doch die waren ohne Hoffung auf Erfolg. Noch nie hatte eine von denen ein Mandat erringen können. Die Hürden dafür lagen unerreichbar hoch. Aber immerhin, Melancholaniern war eine Demokratie und alle waren stolz, in einem solch vollkommenen Gemeinwesen leben zu können.

Eine ganz wesentliche Scharnierfunktion erfüllte das Unterhaltungwesen. Das war vor Zeiten an die Stelle der Religion getreten, die nur noch in Nischen existierte. Ganze Industriezweige widmeten sich der Unterhaltung der Bevölkerung. Ablenkung, eine Schein– und Traumwelt konstruieren war deren Funktion. Der Fernseher wurde gleichsam zum Hausaltar. 24 Stunden Programme auf über 1000 Kanälen. Wer konnte sich dem entziehen? Eine hervorragende Strategie, um von den Defiziten der Gesellschaft abzulenken.

Neben der sozialen Spaltung war das Land auch schon vom Verfall geprägt. Vor allem kleine Dörfer und Städte verödeten, starben aus. Der rücksichtslose Raubbau an der Natur führte dazu, dass ein ökologischer Kollaps kaum noch aufzuhalten war. Ökonomie kam stets vor Ökologie. Eine offensive direkte politisch-ideologische Propaganda wurde vermieden, schließlich war Melancholanien ein freies Land und stolz auf seine Meinungsfreiheit. Zumindest im dafür peinlichst abgesteckten Rahmen. Kritik am Bestehenden konnte jederzeit in der Öffentlichkeit geäußert werden.

Schwer geahndet wurde jedoch, wer es wagte, Alternativvorschläge zu unterbreiten. Wer dies tat, galt als Terrorist, der die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährdete. Solche Leute wurden mit drakonischen Methoden verfolgt. Demokratiefeinde fielen unter die Null-Toleranz-Regel.

Die Unterhaltungsprogramme im TV zogen es vor, das Gift der Propaganda raffiniert getarnt, indirekt unter das Volk zu bringen. Besonders die Preka waren als Zielgruppe im Visier der Meinungsmacher. Hier galt es zu manipulieren, zu schönen, zu verdummen. Zwietracht wurde gesät um einen Entsolidarisierungsprozeß am Laufen zu halten. Nichts fürchteten die Privo mehr als die Masse der Preka geeint. Das musste unter allen Umständen vermieden werden.

In den letzten Jahren richteten sich alle Augen auf eine bestimmte Person. Die perfekte Meisterin der Manipulationen und Volksverdummung: Elena. Aradia zuckte zusammen, als ihr Anarchaphilia die Hand auf die Schulter legte. „Ich habe dich gar nicht kommen hören! Ich war so vertieft in mein Studium.“ „ Wie ich sehe hast du dein neues Ich gefunden. War nicht leicht, oder?“ flüsterte ihr Anarchaphilia ins Ohr. „Das kann man wohl sagen. So viel Zeit, da kann man sich leicht verlaufen. Das ist also die Frau, mit der ich verschmelzen soll?“ „Das wäre sie, wenn du dich entschließt, deinen Auftrag anzunehmen. Du musst nicht! Wir können auch weiter suchen, wie ich schon erwähnte. Zeit ist etwas Dynamisches, stets und ständig im Fluss. Es besteht die Möglichkeit noch weiter in die Zukunft zu blicken um dort etwas Geeignetes zu finden.“ klärte Anarchaphlia auf.

Aradia betrachtete Elenas Bild im Zeitloch. „Sie ist wunderschön! Während meiner langen Reise durch die Zeit ist mir keine Person begegnet, die ihr auch nur annähernd gleichkommt. Vielen schönen Frauen bin ich dort begegnet, Nofretete, der schönen Helena, Kleopatra, Kaiserin Sissy, Marilyn Monroe, keine kann ihr das Wasser reichen. Und in diesen Körper soll ich schlüpfen? Ich wage gar nicht, daran zu denken. Wer möchte nicht mit so einem Körper und mit so einem Gesicht durchs Leben gehen.“

„Ja, sie ist in der Tat bildhübsch, zudem zeichnet sie eine außergewöhnliche Intelligenz aus und reich ist sie auch noch. Wie du vielleicht schon bemerkt hast, hat sie einen ausgesprochen miesen Charakter, das ist ihr Makel.“ antwortet Anarchaphilia. „ Das ist schade! Was aber könnte ich daran ändern?“ „Alles! Wenn du dich mit ihr vereinigst, kannst du in ihr wirken. Dann hat sie die Möglichkeit eines Tages zu einem neuen Leben  zu erwachen. All ihr Wissen, ihre Fähigkeiten, ihren enormen Einfluss auf Politik und Wirtschaft kann sie dann zum Positiven einsetzen. Lehne ab und ihr Leben wird  weiter so dahin plätzschern und sie wird ihre Fähigkeiten permanent vergeuden.“

„Da bleibt mir  wohl kaum eine andere Wahl, oder?“ Aradia senkte den Blick. „Doch! Ich sagte es dir eben, du kannst ablehnen! Wenn du dich aber dafür entscheidest, sei gewarnt. Es wird nicht so wie bisher, dass du nach Belieben die Zeiten wählen konntest und wenn es dir unangenehm oder langweilig erschien mal so eben durch das Zeitloch verschwinden. Hier wirst du auf ganz natürliche Art wieder geboren,bist erneut dem Diktat von Raum und Zeit unterworfen, wie ein ganz normaler Mensch. Ein Flüchten  aus jener  Daseinsform ist dann nicht mehr möglich.“ erläuterte Anarchaphilia.

„Hm, eine schwerwiegende Entscheidung! Wie ginge es dann weiter? Werde ich die sein, die ich immer war und noch bin, oder ganz in ihrer Persönlichkeit aufgehen?“ wollte Aradia wissen. „Du bleibst was du bist und bist doch eine andere!  Du wirst geboren, wächst heran, entwickelst dich. Deine Präexistenz  bleibt deinen Mitmenschen verborgen.

Wenn du um die 30 Jahre alt bist, werden die Kräfte beginnen in dir zu wirken. Ganz langsam, am Anfang kaum wahrzunehmen. Durch äußere Ereignisse getrieben, beginnst du langsam dein Leben zu ändern, am Anfang ganz, ohne den Grund dafür zu kennen. Im Laufe der Zeit kehren die Erinnerungen in dein Bewusstsein zurück, Stück für Stück, immer tiefer dringst du in das Mysterium ein, während sich die Umwelt ebenfalls stark verändert, vor allem durch dein Handeln.

Irgendwann bildet sich wieder eine Schwesternschaft. Die „Töchter der Akratie“. Frauen werden sich um dich sammeln, die von einem ähnlichen Geist beseelt sind. In einigen davon wirst du deine Gefährtinnen aus deinem früheren Leben wieder erkennen. Später, wenn die rechte Zeit gekommen, wird der Schleier fallen und du kannst mit neuen Augen sehen und  dir deiner Identität im vollem Umfang bewusst werden. Das Land wird dann ebenfalls schon kaum noch wiederzuerkennen sein.“ gab Anarchaphilia zu verstehen.

„Aber warum muss das so lange dauern? Hier war ich der Zeit entbunden, ich konnte mit endlos erscheinenden Zeitabschnitten spielend umgehen. Aber über 30 Jahre Wartezeit. Ich weiß nicht, wird mir das nicht endlos öde erscheinen im Vergleich zu dem, was ich im Zeitloch für Abenteuer erleben durfte?“ „Keine Sorge! Um dich zu schützen wirst du dich nicht an deine Präexistenz erinnern folglich wird dir auch nichts fehlen. Wenn sich dein Bewusstsein wieder einstellt, wird es dir vorkommen, als sei seit deiner Geburt nur eine kurzer Windhauch vergangen, ein Erwachen nach einer ruhigen traumlosen Nacht. Du musst bedenken, dass du wieder ein Wesen aus Fleisch und Blut bist, einen Körper besitzt, der sich seinen Organen fügen muss. Es besteht die Gefahr, dass du wahnsinnig wirst, wenn dein Gehirn zu schnell mit der Erkenntnis von 5000 Jahren konfrontiert wird. Deshalb werden sich die Erinnerungen nur langsam und in Etappen einstellen.“

„Da bin ich ja beruhigt! Also gut! Ich bin bereit! Ich werde mit Elena verschmelzen. Sag mir, was ich tun muss!“ bekundete Aradia ihre Bereitschaft.

„Also, zunächst drehen wir die Zeit zurück!“ Anarchaphilia hielt den Chronometer bei einem ganz bestimmten Tag an. Aradia blickte in einen Kreißsaal. Sie wurde gerade Zeugin einer Geburt, Elenas Geburt, also auch ihrer eigenen neuen. „Siehst du, das ist Elenas Mutter, jeden Moment kann Elena das Licht der Welt erblicken. Das ist dein Zeitpunkt, in dem Moment, da Elena dem Mutterleib entschlüpft, hüpfst du in ihren Körper. Alles muss korrekt verlaufen, nur eine Sekunde später und du verfehlst sie, dann ist es zu spät, dann müssen wir wieder auf eine andere Gelegenheit warten.“

„OK, ich bin bereit!“ „Gut, dann leg dich auf den Boden und schließe die Augen, gleich wirst du in einen tiefen Schlaf sinken. Aufwachen wirst du in jenem Moment, da Elena sich ihrer Präexistenz bewusst wird. Ich bin immer bei dir! Niemals wirst du ohne Beistand sein. Ich wünsche dir viel viel Glück, meine Tochter!“

Anarchaphilia bette Aradias Kopf in ihrem Schoß, streichelte mit ihren Handflächen sanft deren Wangen, küßte sie zum Abschluss auf die Stirn, die Augen die Nase und den Mund.

Aradia tat wie ihr geheißen, langsam, immer tiefer glitt sie in einen Schlummer. Ihr Bewusstsein vereinigte sich mir Elenas. Sie drang immer weiter nach vorn, sie wurden nun zu einer einzigen Person, Aradia gab es nicht mehr, sie war jetzt Elena und Elena war Aradia. Nun konnten die Dinge ihren Lauf nehmen. Es hatte funktioniert. Aradia war in Elena wiedergeboren und wie ein normales Kind aufwachsen. Das heißt, nicht ganz, denn Elenas Mutter starb, als diese gerade mal drei Jahre alt war. Elena musste als Halbwaise aufwachsen.

Ihr Vater, ein gefühlskalter Technokrat und Intellektueller kümmerte sich recht wenig um sein einziges Kind. Eine normale Kindheit wäre ihr also  nicht beschieden. Abgeschoben in Eliteinternate schulte sie frühzeitig ihren Intellekt, wuchs dort zu jener Traumfrau heran, die Aradia aus der Ferne so bewunderte. Sie ahnte nichts von den Kräften, die in ihr schlummerten. Doch nach außen ließ sie schon früh eine dominante Persönlichkeit erkennen. Der Mangel an Liebe und Geborgenheit ließ ihr Gefühlsleben verkümmern, so dass sie sich zu einer arroganten hochmütigen Zicke entwickelte, taub und blind für die Sorgen und Nöte derer, die es nicht so gut getroffen hatten.

Sie studierte zunächst Medizin und wurde Ärztin, doch schon bald hängte sie den Beruf an den Nagel und wurde Moderatorin in Melancholaniens TV. Hier stieg sie quasi zur Hohepriesterin der Manipulation auf. Alle kannten Elena, alle mochten Elena, eigenartigerweise, trotz ihrer erheblichen Defizite. Elena war ein Star. Wer sich dahinter verbarg, blieb den Menschen verborgen.

Der Dichter Kovacs, ein geheimer Anhänger der Akratie, hatte in Träumen und Visionen von der Existenz einer geheimen Schwesternschaft erfahren. Er war aber außerstande, tiefer vorzudringen, doch er beschäftigte sich intensiv mit Akratie oder Anarchie, mit egalitären Gesellschaften, oder wie immer man es auch nennen mochte. Er hoffte, noch zu Lebzeiten hinter das Geheimnis zu kommen. Er schrieb zahlreiche Bücher darüber, die aber bei der weitgehend desinteressierten Bevölkerung kaum punkten konnten. Er würde Elena eines Tages begegnen, und sie wiedererkennen. Doch wann?  Das stand noch in den Sternen.

Es gab andere, die sich mit den bestehenden Verhältnissen ebenfalls nicht abfinden wollten. Cornelius, ein alter, bisher geachteter Wissenschaftler hatte eine Bürgerrechtsbewegung ins Leben gerufen, die auf friedlichem Wege Reformen einforderte. Dafür wurde er in den Medien mit Hass und Hohn überhäuft, als Feind der Demokratie gebranntmarkt. Trotzdem konnte seine Bewegung in der letzten Zeit einen enormen Zulauf verzeichnen.

Neidhardt, ein anderer Dissident, versuchte mit einer revolutionären Untergrundbewegung einen gewaltsamen Umsturz herauf zu beschwören. Bei der Bevölkerung stieß er aber im Moment auf taube Ohren.

Und da gab es noch den okkulten Blauen Orden, eine  rechtsextreme Organisation der Privo, die vorgab, die alte Ordnung zu schützen, da ihrer Meinung nach die Regierung zu wenig gegen terroristische revolutionäre Elemente unternahm. Sie strebten langfristig eine elitäre Diktatur im Lande an.

Die Angehörigen der geheimen Schwesternschaft der Akratie schliefen noch, ähnlich wie Elena. Sie würde erst durch deren Eingreifen erneut ins Leben gerufen. Aradia schlummerte, Elena lebte. Sie lebte ein verschwenderisches Leben in Luxus und Pomp. Sie kostete alles, was sich bot, aus. Ließ sich von reichen Gönnern aushalten und mit teuren Geschenken überhäufen. Viele Geliebte hatte sie, männliche und weibliche, aber eine wahre echte Liebe blieb ihr bisher verschlossen. Nun war sie etwa 30 Jahre alt, in ihrem Inneren bereiteten sich die geheimen Kräfte darauf vor, ihre Wirkung zu entfalten. Das sollte ihr Leben grundlegend verändern.

 

Dies geschah im Verborgenen, die Menschheit ahnte nichts von Aradia. Nur in Mythen und Legenden hörte man von ihrem Leben und ihren Taten. Die Wissenschaft bestritt die Existenz  der Amazonenkönigin und ihrer Gefährtinnen. Eine Frauenliebende Aussteigerin und kompromisslose Kämpferin für eine freiheitliche egalitäre Ordnung und die Gleichwertigkeit der Geschlechter, entsprach so ganz und gar nicht dem Geschmack von Historikern die sich  einer elitär-paternalistischen Weltanschauung verpflichtet fühlten. Nach dem Motto "es kann nicht sein, was nicht sein darf" verbannte sie Aradia und die "Töchter der Freiheit"  in das Schattenreich der Träume.