Botin des Friedens

 

Der Jeep bewegte sich den kleinen Feldweg entlang die Anhöhe hinauf. Von dort ließ sich das Gelände gut überblicken. Zur Linken lag das Gehöft mit den zahlreichen Gebäuden, die sich in das Tal fügten. Zur Rechten die Getreidefelder, in dieser Jahreszeit im satten Grünton. Ein Armeejeep nährte sich ihnen mit hoher Geschwindigkeit, eine Staubwolke hinter sich herziehend.

Alle hielten den Atem an. 

Unmittelbar vor ihnen stoppte das Fahrzeug mit einer Vollbremsung. Eine kurze Weile, die allen wie eine halbe Ewigkeit erschien, geschah gar nichts. Dann endlich öffnete sich die Tür und ein Offizier entstieg dem Wagen.

Bei dessen Anblick wurde es Elena warm ums Herz, denn es war kein Geringerer als Ansgar, der sich ihnen näherte. Das Laufen fiel ihm offensichtlich schwer, denn er hinkte stark und musste einen Gehstock benutzen.

Ronald senkte seinen Kopf, so als ob er den Freund, der sich auf ihn zu bewegte, nicht sehen wollte.

Elena erkannte, dass es wieder einmal an ihr war, die Initiative zu ergreifen.

Sie öffnete die Tür und ließ sich schwungvoll aus dem Jeep gleiten. Draußen nahm sie Ansgar in Empfang.

„Ansgar? Das ist aber eine Überraschung! Was tust du hier?“

„Die Überraschung ist ganz auf meiner Seite. Das ich dich noch einmal wieder sehen darf. Ich hörte, dass du dich in der Gegend aufhältst, hielt es aber für ein Gerücht.“ gab der Überraschte zu verstehen.

„Ich bin es. Wie du siehst, handelt es sich nicht um ein Gerücht.!“

„Und stimmt es, dass du eine Vollmacht der Regierung hast? Das machte mich zunächst stutzig. Hast du dich mit Cornelius wieder versöhnt?“

" Wie du siehst! antwortet Elena, obwohl sie sich der Tatsache bewusst war, dass es nicht ganz der Wahrheit entsprach.

„Hm, dann kann ich dir versichern, dass du von unserer Seite nichts zu befürchten hast. Ich habe sogar Order, für deine persönliche Sicherheit zu sorgen und natürlich auch für das deiner Begleiterin. Was aber die anderen betrifft, so muss ich meinen Befehlen Folge leisten. Die Rebellen sind vollständig auszuschalten sowie deren Helfer, so es denn welche gibt. Es sei denn, sie ergeben sich bedingungslos.“ Ansgars Antwort klang hart und unmissverständlich.

„Deshalb bin ich hier. Ich sehe es als meine vordringlichste Aufgabe eine Eskalation der Gewalt zu verhindern. In meiner  Begleitung befindet sich jemand, den du sehr gut kennst und der dir auch etwas zu sagen hat.“ Elena wies mit dem Zeigefinger auf den Jeep, dem sie zuvor entstiegen.

Nur sehr zögerlich kam Ronald Elenas Aufforderung nach und kletterte widerwillig aus dem Fahrzeug.

„Ronald? Also ist es doch wahr. Ich wollte es nicht glauben, als man mir damals sagte, du hättest dich den Rebellen angeschlossen. Aber nun ist es wohl nicht mehr zu bestreiten.“ entfuhr es Ansgar beim Anblick des alten Freundes.

„Es entspricht der Wahrheit, wie du siehst! Nun ist es also soweit, wir stehen uns gegenüber. Wer hätte das für möglich gehalten. Die alten Kampfgefährten von einst, nun als unversöhnliche Gegner.“ entgegnete Ronald.

„Daran geht  kein Weg vorbei. Also, wenn du was zu sagen hast, tue es jetzt Ronald. Im günstigsten Fall ist es ein Übergabeangebot. Ich denke, das wäre in unser aller Interesse. Ich möchte den Kampf vermeiden. Ich finde kein Gefallen an einer weiteren Eskalation. Ich verspreche, das sich alles zum Guten wendet.“

„Dein Angebot ehrt dich und ich glaube dir, dass du kein Interesse an der Fortsetzung der Gewalt hast. Auch ich möchte das Kämpfen endlich beenden. 

Aber du wirst verstehen, dass für mich eine Kapitulation unter keinen Umständen in Frage kommt. Ich bin zu keinerlei Zugeständnissen bereit. Es geht für mich und meine Leute um alles oder nichts. Eine Unterwerfung ist demütigend. Wir kämpfen für die Ideale der Revolution, die Neidhardt verraten hat. Und was mich persönlich betrifft, so kann ich sagen, dass ich nichts mehr zu verlieren habe.“

Bedrückt senkte Ansgar den Kopf, er hatte gehofft, Ronald doch noch zum Einlenken zu bewegen.

„Das ist schade und sehr traurig, Ronald. Dann lässt du mir leider keine andere Wahl. In diesem Fall bin ich gezwungen, den Befehl zum Kampf zu erteilen. Du bist dir doch bewusst, dass ihr nicht die Spur eine Chance habt, wir sind euch um ein vielfaches überlegen.“

„Ich sehe deine Übermacht. Aber das ändert nichts an meinen Ansichten. Lieber in Würde untergehen, als in Schande und Knechtschaft leben.“

„Du nimmst also billigend in Kauf, dass durch dein Handeln auch die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen wird? Ich kann darauf leider keine Rücksicht nehmen.“ gab Ansgar zu bedenken.

„Dann tue, was du tun musst! Es wird auf deinem Gewissen lasten, nicht auf dem Meinen.“

„Jetzt ist es aber genug! Ich höre mir diesen Unsinn nicht mehr länger an,“ schaltete sich  Elena wieder ein.

„Ronald, was soll das? Hast du vergessen, was du mir versprochen hast? Du sichertest mir noch gestern zu, einem Friedensschluss nicht im Wege zu stehen und nun höre ich solche Worte. Warum tust du das? Und Ansgar, was dich betrifft, bin ich zutiefst enttäuscht. Du hast die Übermacht, es liegt in deinen Händen, den ersten Schritt zu tun.“

„Aber das habe ich doch! Mein Angebot war eindeutig. Es liegt an den Rebellen es an zunehmen oder abzulehnen, darauf habe ich keinen Einfluss.“Erwiderte Ansgar, der noch immer am Jeep lehnte und sich nun Elena näherte.

„Was mich betrifft, versprochen habe ich nichts! Dazu bin ich gar nicht imstande. Ich habe lediglich angeboten, bereit für Verhandlungen zu sein. Aber wie du dich überzeugen konntest, gibt es nichts zu verhandeln. Denn dazu gehören immer zwei Seite und wenn eine partout nicht will, ist die Grundlage für Verhandlungen nicht gegeben. Ich lehne jedwede Art von Unterwerfung ab, auch auf die Gefahr hin, damit meinen Untergang zu besiegeln. Gut, dann soll es eben sein.“ 

„Ein schöner Kommandant bist du. An deine Leute denkst du dabei überhaupt nicht? Von der Zivilbevölkerung ganz zu schweigen. Die haben auch ein Mitspracherecht, wenn es um ihr Leben geht.“ protestierte Elena aufs Schärfste, während sie Ronald am Arm packte.

„Elena, dein Engagement in allen Ehren, aber du scheinst hier vollkommen die Tatsachen zu verkennen." Meinte Ansgar während er sich beiden zuwandte. "Ich handele auf Befehl, ich kann nicht mal eben auf eigene Faust Frieden schließen. Zunächst  müsste  ich mich mit der Regierung in Verbindung setzen, doch das kann ich mir getrost ersparen, denn ich kenne deren Antwort schon jetzt. Es gibt keine Verhandlungen mit Konterrevolutionären, so lautet die Doktrin, keiner kann sich ihr widersetzen. Bedenke, ich stehe auf der Seite der Staatsmacht. Es waren die Rebellen, die den Aufstand anzettelten. Nun liegt es an ihnen, diesen wieder zu beenden und das können sie nur, indem sie ihre Kapitulation verkünden.“

„Du glaubst, dass du auf der rechten Seite stehst? Dass du dich mal nicht verkalkulierst, Ansgar. Diese Staatsmacht, deren Repräsentant du zu sein vorgibst, hat die Ideale der Revolution verraten. Wir sind es, die weiter daran festhalten und in deren Tradition handeln. Wir wollen zurück zu den Werten, die wir zu Beginn der Revolution erkämpfen konnten. Wer sich von uns beiden als rechtmäßig bezeichnen darf wollen wir doch mal sehen. Wer sind also die tatsächlichen Verräter? Doch wohl jene, die die Ideale der Revolution verlassen und in ihr Gegenteil gekehrt haben.“ konterte Ronald zynisch.

„Das sind doch  Haarspaltereien. Es liegt nicht an uns, darüber zu entscheiden. Fakt ist, ihr habt mit eurer Rebellion den Kampf begonnen, folglich seid ihr im Unrecht und das muss geahndet werden. Ich handele auf Befehl der Regierung, daran geht kein Weg vorbei.“ lehnte Ansgar weiter kategorisch ab.

„Wenn du schon von Rechtmäßigkeit sprichst, Ansgar, darf ich dich daran erinnern, wie und auf welche Weise Neidhardt die Macht ergriffen hat? Oder habt ihr das vergessen?

Es war ein denkwürdiger Tag damals und alle beide standet ihr auf Neidhardts Seite. Ein Staatsstreich. Neidhardt hat sich die Macht gewaltsam genommen. Rechtmäßig? Zu jener Zeit gab es eine Räteregierung, die wurde beseitigt. Wäre die nicht die einzig legitime Ordnungsmacht die es wieder in ihre Rechte einzusetzen gilt? Davor putschte sich der Blaue Orden an die Macht. Und davor? Wie weit reicht euer Erinnerungsvermögen? Es fand eine Wahl statt und es gab eine Siegerin und die steht jetzt vor euch.“ konfrontierte Elena die beiden mit der Wahrheit.

Betretenes Schweigen, beide versuchten sich offensichtlich durch die jüngere melancholanische Geschichte zu bewegen, die in der Tat ausgesprochen verwirrend erschien.

„Nun, ich denke, das geht entschieden zu weit. Zugegeben, deiner Theorie liegt eine gewisse Logik zugrunde. Wenn man es von der Warte aus betrachtet. Du hast die Wahl in jenen Tagen gewonnen, das ist richtig, wir unterstützten dich und beinahe hätte es eine neue Regierung gegeben, wären die Blauen nicht dazwischen gefahren. Aber seither ist viel Zeit vergangen. Wir haben heute eine völlig veränderte Situation. Keiner kann Vergangenes zurückholen.“ stellte Ansgar fest.

„Auch ich möchte das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Es bleibt aber eine Tatsache, dass sich keine der Konfliktparteien mit dem Attribut der Rechtmäßigkeit schmücken darf. Ihr alle habt irgendwann Unrecht begangen, auf welche Weise und an welchem Ort auch immer.

Mir wurde die Möglichkeit, meine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, genommen, von allen Beteiligten. Folglich steht es mir alleine zu, in diesem Konflikt das entscheidende Wort zu sprechen. Keiner von euch ist im Recht, keiner von euch ist der allein Schuldige. Alle tragt ihr gemeinsam die Verantwortung für den Konflikt und alle seid ihr aufgerufen, euren Beitrag zu leisten, diesen so bald als möglich zu beenden.“ forderte Elena.

„Du willst mir doch nicht allen Ernstes glauben machen, dass du Neidhardt für den Richtigen hältst, Ansgar. Nein, dafür kenne ich dich viel zu gut. Gibs zu, innerlich hast du ebenfalls lange schon mit ihm gebrochen. Dir fehlt nur der Schneid, dich offen zu bekennen.“ behauptete Ronald.

„Das ist eine böswillige Unterstellung! Wie kannst du es wagen, so etwas zu behaupten. Ich stehe noch immer loyal zur Regierung, sowie zu den Idealen der Radikal-Revolutionären Partei. Zu keiner Zeit hegte ich auch nur den geringsten Zweifel an deren Rechtmäßigkeit.“ wies Ansgar diese Behauptung vehement zurück, dabei bewegte er sich aufgebracht auf der Straße hin und her.

Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu erkennen, dass hinsichtlich seiner Aussage erhebliche Zweifel an seiner Seele nagten. In Wirklichkeit tat er ausgesprochen unwillig seinen Dienst und hoffte ebenso wie Ronald auf ein baldiges Ende der Konflikte. Neidhardts Regierungsstil kotzte ihn einfach nur noch an. Am liebsten hätte er alles hingeschmissen und sich zurückgezogen, sollten doch andere die Schmutzarbeit erledigen.

Doch noch besaß er nicht die Kraft zu solch entschiedenen Handeln.

Es lag wieder an Elena, zur Tat zu schreiten. Sie hakte sich bei Ronald unter, dann ging sie mit diesem im Schlepptau hinüber zu Ansgar, griff nach dessen Arm und zog ihn an sich .

„Ihr beide tragt eine große Verantwortung. Ihr seid imstande, hier und heute Geschichte zu schreiben. Schickt eure Soldaten nach Hause zu ihren Familien, wo sie hingehören. Macht dem unsäglichen Spektakel ein Ende. Danach laßt uns überlegen, wie wir eine Lösung finden, die alle zufrieden stellt.“

„Elena, ich habe dir doch erst gestern erklärt, dass das nicht so einfach ist. Wir sind Rebellen, verstehst du das denn nicht, Geächtete. Sobald ich dein Vorhaben in die Tat umgesetzt habe, wird sich der Sicherheitsdienst unser an nehmen. Das wird geschehen.“ lehnte Ronald erneut ab.

„Selber Schuld, Ronald. Niemand hat euch zu dieser unsinnigen Rebellion gezwungen. Ihr tut es freiwillig. Wenn ihr nun die Konsequenzen zu spüren bekommt, habt ihr es verschuldet.“ konterte Ansgar.

Doch bevor Ronald darauf eingehen konnte, fuhr Elena dazwischen.

„Ruhe jetzt! Ich hab genug von euren andauernden Schuldzuweisungen! Das ist ja nicht mehr auszuhalten.“ Sie schlug den Weg zum Gehöft ein und zog die beiden mit sich, die anfangs nur widerwillig, später aber ohne Widerstand folgten.

„Ronald, natürlich sehe ich dein Problem. Selbstverständlich ist das mit großen Risiken verbunden. Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da, aus diesem Grund habe ich auch die Hälfte davon genutzt, um gründlich zu überlegen. Madleen war nicht gerade begeistert davon.“

„Madleen? Deine neue Lebensgefährtin?“ erkundigte sich Ansgar.

„Sehr richtig! Aber langsam beginnt sie sich an meine nächtlichen Kreativschübe zu gewöhnen. Also, wie ihr beide wißt, besitzt die alte Abtei so eine Art von exterritorialen Status, zwar inoffiziell, aber immerhin etwas worauf man bauen kann. Cornelius hält seine schützenden Hand über uns und er hat mir zugesichert, dass sich das auch in Zukunft nicht ändern wird. Selbst Neidhardt kommt dagegen nicht an. Jede Person, die sich auf das Gelände der Abtei, also der nun bald wieder neu zu gründenden Kommune flüchtet, genießt dort Asyl.

Daran habe ich gedacht, Ronald, du wärst dort sicher. Das gilt natürlich auch für deinen Anhang.“

„Aber du kannst doch unmöglich so viele Leute unterbringen, sieh dir doch nur mal meine Truppe an. Ich denke das Gelände der Abtei, so groß es im Moment auch erscheinen mag, wird sich da kräftig übernehmen.“ zweifelte Ronald.

„Ich bin noch nicht fertig, Ronald! Natürlich sind das zu viele. Es gibt aber auch hier einen Ausweg. Einmal besteht doch sicher die Möglichkeit, für die einfachen Soldaten, also jene, die wir im allgemeinen Sprachgebrauch als Mitläufer bezeichnen, eine Art von Amnestie zu erwirken. So dass sich der Kreis der Asylsuchenden auf einen überschaubaren Kreis beschränkt. Ferner hege ich noch einen ganz anderen Plan, der muss natürlich gut durchdacht werden. Ich strebe eine Erweiterung des Abteigeländes an.“

„Eine Erweiterung? Wie soll ich das verstehen?“ Wollte Ansgar wissen.

" Den Anfang setzen wir hier! Seht ihr? Mit dem Gehöft, das sich da vor euren Augen erstreckt!“ Elena hielt an und wies mit dem Finger in Richtung Agrarkooperative.

„Hier oben werde ich eine Art von Testballon starten!“

„Einen was?“ Ansgar verstand im Moment offensichtlich nur Bahnhof.

„Passt auf! Die Kooperative wird sich bald schon dazu entschließen, sich dem Gebiet der Abtei anzuschließen. Ja, richtig gehört. Nicht nur Personen sondern auch Immobilien sollen die Möglichkeit erhalten, Teil der exterritorialen Kommune zu werden. Ein nicht ganz einfaches Unterfangen, zugegeben, aber es kommt auf den Versuch an und ich werde Cornelius solange löchern, bis er mir seine Zustimmung gibt. Notfalls gehe ich vor ihm auch auf die Knie, wenn er es wünscht. Ich habe noch eine Trumpfkarte und die werde ich zur rechten Zeit auszuspielen wissen.“ offenbarte Elena ihren abenteuerlichen Plan.

„Kein einfaches Unterfangen? Es ist schier unmöglich. Du glaubst doch nicht im Ernst, das Neidhardt seelenruhig zusieht, wie du ihm das Land unter dem Hintern stiehlst. Der wird dir was husten und die Rote Karte zeigen.“ widersprach Ronald.

„In diesem Falle muss ich Ronald vorbehaltlos zustimmen. Das ist nie und nimmer durchsetzbar.“ stimmte Ansgar der Aussage zu.

„Ich glaube aber doch daran. Denkt an Cornelius!“

„Cornelius ist ein alter Mann. Respektiert und unangefochten. Und sicher kann er auch noch einiges bewirken. Was das Asyl für Personen betrifft, die sich auf das Gelände der Abtei flüchten, gut, ich denke das ist möglich. Ich halte diese Lösung für dich, Ronald angebracht. Ich könnte dir auch dabei helfen. Aber was Immobilien betrifft, womöglich ganze Grundstücke, Siedlungen, vielleicht sogar Dörfer, Stadtteile etc. nein, ausgeschlossen. Selbst Cornelius kann da nicht über seinen Schatten springen.“

„Es kommt darauf an, die Regierenden zu überlisten.“ glaubte Elena die rechte Methode gefunden. Danach setzte sie sich mit den beiden wieder in Bewegung.

„Überlisten? Was meinst du mit überlisten?“ hakte Ronald nach.

„In dem ich den Regierenden einen richtigen Vertrag abringe, der mir die Zugeständnisse auch schriftlich bestätigt. Dürfte bei Cornelius so nicht schwierig werden hat er mir selber schon angeboten, als Absicherung für die Zeit nach ihm, wie er sich auszudrücken pflegte. Nun kommt es darauf an, wie ein solcher Vertrag zu formulieren ist. Also laßt mich überlegen.“

Die beiden Männer an ihrer Seite schwiegen, hatten offensichtlich erkannt, dass es keinen Sinn machte, Elena von der Unmöglichkeit ihres Vorhabens zu überzeugen. So schritten sie eine Weile wortlos voran, bis sie sich schließlich an der Eingangspforte des Gehöftes wiederfanden.

„Genau! Das ist es! Ich habs!“

„Du hattest einen Einfall? Dürfen wir in Erfahrung bringen, wie der aussieht?“ erkundigte sich Ansgar vorsichtig, aber voller Spannung.

„Ihr dürft! Also! Bisher lautet der Passus: Alle Personen, die sich unter den Schutz der Abtei, also der Kommune stellen, genießen Asyl, so hat es mir Cornelius per Geheimdiplomatie zugesichert. Fällt euch etwas auf an dieser Aussage?“

„Nein! Was soll  daran so außergewöhnlich sein?“ stellte Ronald fest.

„Kein Problem, dass es dir nicht aufgefallen ist, mir nämlich bisher auch nicht. Komisch, dass ich nicht schon viel früher daran gedacht habe. Es ist nicht die Rede davon, dass man sich unbedingt auf dem Gelände der Abtei befinden muss, um diesen Schutz zu genießen. Es könnte also theoretisch von jedem beliebeigen Ort in Melancholanien geschehen. Also, ein Beispiel: Die Leute dieser Agrarkooperative stellen sich per Antrag unter die Obhut der Abtei. Damit sind sie augenblicklich Teil der Kommune, und das, obwohl sie sich gar nicht auf deren direktem Territorium befinden. Oder noch besser ausgedrückt. Dieses Grundstück wird in jenem Augenblick Teil des Territoriums! Habt ihr verstanden? Ist das nicht grandios?“

Die beiden schwiegen und grübelten nach, es war scheinbar zu schwere Kost, um auf einmal verdaut zu werden.

„Klingt unwahrscheinlich? Kann ich gut verstehen! Ich bin auch noch nicht imstande zu sagen, ob es funktioniert, werde es aber auf jeden Fall in Erwägung ziehen. Zunächst kommt es darauf an, Ronald in Sicherheit zu bringen, ihn und seine unmittelbaren Mitstreiter. Danach müssen wir uns um die Amnestie bemühen, für die Mitläufer.“

„Langsam, langsam! Du tust ja so, als ob ich mich bereits entschieden hätte!“ wiegelte Ronald ab und entwand sich ihrem Arm.

„Hast du denn etwa nicht?“ wollte eine erstaunte Elena wissen.

„Ich stimme Elena zu, Ronald! Es ist im Moment die beste Lösung! Ich habe dir  vorhin angeboten, dir dabei behilflich zu sein, auch wenn es für mich ebenfalls ein Risiko bedeutet.“ pflichtete ihr Ansgar bei.

„Solltest du Schwierigkeiten bekommen, Ansgar, bist du ebenfalls willkommen. Es wäre mir ohnehin am liebsten, wenn ich euch beide mit zurücknehmen könnte.“ bot Elena dem erstaunten Ansgar an.

„Ronald, überlege doch einfach mal. Wie sieht die Alternative aus? Kämpfen, am Ende mit Sicherheit sterben? Ist es das, was du willst? Oder möchtest du nicht auch viel lieber im Leben bleiben? Möchtest Alexandra und die Kinder wieder sehen? Und all jene, die dir Freunde sind? Ich habe dir versprochen Alexandra in die Abtei zurück zu holen“

Elenas Angebot klang einfach zu verlockend, als dass es Ronald so einfach beiseite wischen konnte.

„Gerne würde ich darauf eingehen, ich hab schon mehrfach betont, dass ich des Kämpfens müde bin. Aber wie stehe ich denn da, vor meinen Leuten, als Feigling, der sich einfach aus dem Staube macht, wenn die Sachen anfängt, brenzlig zu werden. Ich kann nicht aus meiner Haut, so sehr ich es auch möchte.“

„Das typische Problem eines Mannes. Warum fragst du nicht einfach deine Soldaten. Hol dir deren Meinung ein. Ich könnte mir vorstellen, dass die sich in der Mehrheit verständnisvoller zeigen, als du glaubst. Es sind Menschen aus Fleisch und Blut und keine Roboter. Und du, Ansgar, solltest ebenso verfahren! Du glaubst zwar, dass du die besseren Karten hast. In Wahrheit jedoch unterscheidet sich deine Situation kaum von der Ronalds.“ schlug Elena vor.

„Ich steh hier im Auftrag der Regierung, das darfst du nicht vergessen. Wie oft soll ich das noch wiederholen. Täte ich, was du vorschlägst, würde auch ich zum Verräter. Ach so! Jetzt begreife ich. Darauf wolltest du von Anfang an hinaus. Nein, kommt nicht in Frage.“

 

Inzwischen befanden sich die Drei in Sichtweite, so dass die in der Küche versammelte Familie dem Geschehen zumindest optisch folgen konnte.

„Zum Teufel noch geht da vor? Was quatschen die so lange?“ fragte Madleen, während sie sich die Nase an der Fensterscheibe drückte.

„Wer ist denn der andere, den sie bei sich hat? Etwa der Kommandant der Regierungstruppen? Das wäre ja … . Nein, was für eine Frau. Wenn die es schafft, die Beiden zusammen zu bringen, dann können wir in der Tat hoffen.“ begeisterte sich Annett.

„Die schafft das, da kannste Gift drauf nehmen. Also wenn das noch länger dauert, dann gehe ich ebenfalls nach draußen.“ erwiderte Madleen voller Ungeduld.

„Das wirst du schön bleiben lassen, oder reicht dir das Erlebnis von gestern noch nicht.“ rief Thorwald aus dem Hintergrund.

„Wir bleiben alle hier und warten, Basta! Keiner verlässt die Stube!“

 

Die beiden müden Kämpfer wurden während dessen immer schwankender in ihrer festgefahrenen Meinung. Elena hoffte sie bald dort zu haben, wo sie sich beidewünschte.

Um sie noch weiter zu bringen, begann sie einfach eine Geschichte zu erzählen. Kovacs hatte ihr dereinst davon berichtet, nun griff sie auf dessen Methode zurück.

Elena hakte sich wieder bei ihnen unter, dann begann sie zu plaudern.

„Ich möchte euch eine Geschichte aus vergangenen Zeiten erzählen. 100 Jahre ist es her, damals tobte in Europa der 1. Weltkrieg.  Erster Kriegswinter. Wir schreiben den 24. Dezember 1914, ihr seid euch im Klaren, was für ein magisches Datum das ist.

Am Abend jenes 24. Dezember klart der Himmel an der Front in Flandern rund um Ypern auf. Frost senkt sich auf die Landschaft, die Sicht auf den Feind ist gut. Da sieht der britische Soldat Heath ein Flackern in der Dunkelheit. Er erstattete sofort Meldung, denn zu derart später Stunde war ein Licht im feindlichen Schützengraben selten. Da plötzlich leuchteten überall weitere Lichter auf. Schließlich, so berichtet Heath weiter, drang ein wohl einzigartiger Ruf an die Ohren. „English soldier, english soldier, a merry chrismas, a merry chrismas!“ Deutsche Soldaten näherten sich vorsichtig dem Todesstreifen. Sie kommen immer näher. Schritt für Schritt. Heath ist fassungslos. Aber das ist doch der Feind, hört er eine innere Stimme, doch das Gewehr, das er schon im Anschlag hat, lässt er sinken. Er und seinen Kameraden erkennen in diesem Augenblick in den armseligen verdreckten Gestalten, die da auf sie zukommen, sich selber wieder. Die sehen ja wie wir aus. Und genauso fühlen sie sich wohl auch, voller Wehmut, weil sie das Weihnachtsfest auch viel lieber in Frieden, mit ihren Familien daheim verbringen würden, so wie sie selbst es wünschen.

Die Deutschen haben ihre Tannenbäumchen auf die Wälle ihrer Schützengräben gestellt und Kerzen angezündet. Hell strahlen die Lichter in der Dunkelheit. Die Briten sind unschlüssig, vermuten zunächst eine Finte des Feindes. Wissen nicht, was sie tun sollen. Da plötzlich erklingt Gesang aus den Gräben. Stille Nacht, heilige Nacht! Das wohl berühmteste Weihnachtslied aller Zeiten. Die Briten beginnen nun mit eigenen Liedern zu antworten.

Was ihr könnt, können wir auch, Weihnachten habt ihr nicht für euch gepachtet, auch wir kennen den Zauber der Heiligen Nacht, scheinen sie zu denken. Über Stunden erklingen Männerstimmen über den Gräben, englisch und deutsch. Ein unbestimmtes Gefühl verbreitet sich über dem gefrorenen Sumpf zwischen den Linien. Für uns alle ist Heiligabend, das haben wir gemeinsam. Sie begannen miteinander zu feiern, verteilten untereinander kleine improvisierte Geschenke, reichten einander die Hände. In diesen Stunden dachte keiner daran, das Gewehr zu holen und auf den vermeintlichen Feind zu schießen. Nach Schätzungen legten in dieser Nacht etwa 100 000 Kämpfer ihre Waffen nieder, sie rauchten, tranken, sprachen miteinander über das Leben. Ein spontaner Waffenstillstand zum Entsetzen der Generäle. Was will ich damit sagen. Wenn Menschen es nur wollen, stoppen sie den Krieg, damals wie heute. Menschen sind fähig zur Gewalt, aber ebenso zu friedlichem Verhalten.

Nehmt euch ein Beispiel, wenn auch keine Weihnachten ist, tut es ihnen gleich. Setzt heute und hier ein Zeichen.“

Betretenes Schweigen, keiner der beiden mochte jetzt etwas auf diese Geschichte erwidern.

Elena sah sich langsam ihrem Ziel näher kommen.

„Also gut, meinetwegen, ich werde meine Soldaten fragen, was sie davon halten!“ durchbrach Ronald das Schweigen.

„Und du Ansgar, was ist mit dir?“ wollte Elena wissen.

„Ich will mal nicht so sein und werde ebenso verfahren. Auf keinen Fall  lasse ich  mir nachsagen, ich hätte nicht alles unternommen, um eine Eskalation der Gewalt zu verhindern.“

„Wunderbar, phantastisch! Das ist es, was ich hören wollte!“ begeisterte sich Elena, drückte dabei die beiden fest an sich.

„Langsam, Elena! Noch ist nichts entschieden. Ich kann nur für mich sprechen, muss erst das Wort meiner Leute abwarten.“ gab Ronald zu bedenken.

„Da mache ich mir keine Gedanken!“ glaubte sich Elena sehr siegessicher.

Nachdem sie noch eine ganze Weile gemeinsam spaziert waren, entließ Elena die beiden.

Die kehrten unverzüglich zu ihren Einheiten zurück und unterrichteten ihre Leute von dem seltsamen Vorgang, der sich gerade ereignet.

Elena war sich der Tatsache bewusst, dass noch nichts entschieden war. Trotzdem hatte sie ein gutes Gefühl. Vor allem wollte sie die anderen beruhigen und aufmuntern.

Nun lag es den Soldaten beider Seiten eine zu Entscheidung treffen. Jetzt musste  sich Elena zurücknehmen. Es galt abzuwarten.

Sie ließ sich einfach auf der Holzbank inmitten der Kastanienbäume nieder, die den Platz in der Mitte des Bauernhofes ausfüllten, zog die Schuhe von den Füßen und blickte gelassen den am Himmel entlang ziehenden Wolken nach.

Es dauerte nicht lange und Madleen gesellte sich ihr zu.

„Was ist denn, Elena? Darf man erfahren, was ihr besprochen habt, oder warum hüllst du dich in Schweigen?“

„Hm, erstmal abwarten angesagt. Ich hab den beiden gerade eine sehr rührende Weihnachtsgeschichte erzählt!“

„Eine Weihnachtsgeschichte? Du willst mich auf den Arm nehmen?“

„Hm, das tue ich heute Nacht!“ Mit einem Ruck zog Elena die Geliebte an sich, umschlang sie mit Armen und Beinen.

„Keine Sorge, Liebste. Es wird alles gut. Ich bin guter Zuversicht, dass die sich recht bald einig werden. Wir haben es allesamt mit Leuten zu tun, die des Kämpfens überdrüssig sind, die, um es mal salopp auszudrücken, einfach nur die Schnauze voll haben. Es findet kein Kampf statt, mein Wort drauf, weder heute noch sonst irgendwann. Und wenn hier alles erledigt ist, können wir getrost nach Hause fahren.“

„Nach Hause? Wo ist das? Ich bin hier zu Hause, war es zumindest mal. Habe ich nun bei dir ein neues gefunden?“ sinnierte Madleen.

„Bei mir? Bei uns wolltest du sagen. Zuhause ist da, wo man sich wohl fühlt, wo die echten Freunde wohnen und man geliebt und geachtet wird. Was dich betrifft, so kannst du dich in der glücklichen Lage wähnen, gleich zwei davon zu besitzen. Wenn wir wieder daheim sind, wird alles anders. Wir kehren immerhin als Liebespaar zurück.“

„Sind wir das nicht schon seit unserem ersten Zusammentreffen?“

„Sicher, nur waren wir uns dieser Tatsache nicht bewusst. In der Abtei wird sich einiges ändern. Ich geh auch davon aus, dass wir nicht allein zurückkehren, sondern in Begleitung von einigen neuen Mitbewohnern.“ klärte Elena auf.

„Ach ja? Und wer zum Beispiel?“

„Ronald wird mit Sicherheit mit kommen. Wo sollte er auch hin? Es ist nach wie vor auch sein Zuhause. Eine Reihe seiner Leute werden ihn begleiten. Was Ansgar betrifft, den Kommandanten der Gegenseite, den du gesehen hast, kann ich noch nicht mit Sicherheit sagen. Ich hoffe es inständig.Denn auch er konnte die Abtei eine Zeitlang seine Heimat nennen.“

„Heißt das, dass jetzt all jene zurückkehren, die damals fort gingen? Ich meine, die alte Besatzung der Kommune kehrt heim?“

„Das wäre mein Traum! Der Anfang ist gesetzt. Und wir können bei unseren Vorhaben viele helfende Hände gebrauchen.  Ich hoffe, dass alle heimkehren. Einige werden es nicht aus eigener Kraft schaffen, vor allem die Schwestern nicht, da werde ich mich ins Zeug legen und nachhelfen müssen.“

In Madleens Augen glänzte die Begeisterung. Wie eine Rakete fuhr sie nach oben.

„Die Schwestern? Du … , du meinst … du willst die Schwesternschaft wiederbeleben?“

„Es ist mir jetzt so rausgerutscht, eigentlich wollte ich damit noch warten. Aber da du schon mal eingeweiht bist.  So ist es. Aber ich bitte dich vorerst niemanden davon zu erzählen.“ sanft legte Elena ihren Zeigefinger auf den Mund der Geliebten.

„Ich bin platt, ich bin sprachlos! Das ist ja fantastisch!“

Wieder erinnerte sich Elena an Colette. Es galt, sie so bald als möglich zu finden. Die größte Hürde auf dem Weg zur Wiederbelebung der Schwesternschaft, denn ohne Colette keine Schwestern. Nur mit ihr an ihrer Seite konnte und wollte Elena diesen Schritt ein zweites Mal wagen. Was die anderen betraf, die noch in der Ferne weilen, auch sie sollten eine Einladung bekommen.

Alexandra sicher vordringlich.

„Bitte Madleen, keinesfalls deiner Mutter etwas sagen, sonst weiß es in Kürze ganz Melancholanien. Ich muss mir ganz sicher sein und noch vieles vorbereiten, verstehst du?“

„Ich werde schweigen wie ein Grab, darauf kannst du dich verlassen.“

 

Unterdessen hatten die beiden Kommandanten ihre Einheiten von dem wundersamen Gespräch mit Elena informiert und es schien sich zu bestätigen. Bis auf wenige Ausnahmen waren die meisten zum Friedensschluss bereit.

Als sich der Abend ankündigte, kam es auf der großen Wiese zur Rechten des Gehöftes zu einer Verbrüderung. Die noch bis vor kurzen tief verfeindeten Soldaten begegneten einander, so als ob es nie eine Auseinandersetzung gegeben hätte. Kunststück, es waren schließlich Landsleute. Nicht wenige fanden in den feindlichen Linien Verwandte, Bekannte, Freunde aus vergangenen Tagen wieder.

Niemand wäre unter diesen Umständen jetzt noch auf die Idee gekommen, das Kämpfen fortzusetzen.

Ein großes Feuer wurde entfacht und man schickte sich an ein Freudenfest zu feiern.

Obgleich Madleen noch immer Schmerzen hatte, ließ sie es sich nicht nehmen, am Feuer zu tanzen. Ihre blauen Flecken schienen im Scheine der lodernden Flamme verschwunden und sie wirkte sinnlich wie eine Primaballerina.

Bis tief in die Nacht setzte sich der Freudentaumel fort. Vergessen die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit. Verdrängt auch, zumindest für eine Weile, die Ängste vor einer ungewissen Zukunft. Ronald hatte zumindest sein Schicksal in Elenas Hände gelegt und musste, ob er wollte oder nicht, auf ihren Einfluss setzen. Still und nachdenklich wirkte er, wie er da so am Feuer saß und zögerlich eine Flasche Bier leerte.

Ansgar platzierte sich neben ihn.

„ Wollen wir hoffen, dass wir das Richtige getan haben. Ich schätze wir kommen beide nicht gut weg dabei. Ich habe, so wie es aussieht, ebenfalls meine Karriere hinter mir. Keine Verhandlungen, den Feind vernichtend schlagen oder unterwerfen, so lautete meine Order. Von Friedensverhandlungen war schon gar nicht die Rede.“ gestand Ansgar.

„Also sitzen wir in einem Boot, wolltest du damit sagen?“ glaubte Ronald zu wissen.

„Ich denke schon! Ich habe ohne Rücksprache mit dem Oberkommando gehandelt, das wird man als Verrat betrachten.“

„Und was willst du jetzt machen?“ erkundigte sich Ronald.

„Ich denke, das gleiche wie du. Was bleibt mir denn anders übrig. Ich unterstelle mich dem Schutz der Abtei.“

„Dann sitzen wir in der Tat in einem Boot!“

„Erst mal hin kommen in die Abtei. Ich habe ein ungutes Gefühl. Solange wir hier rumhängen, sind wir Freiwild für den Sicherheitsdienst. Erst auf dem Boden der Abtei können wir uns in Sicherheit wähnen.“

 

Währendessen beobachtete Elena wie sich eine ältere Frau durch die Reihen der Soldaten bewegte. Mit einer Flasche in der Hand. Von Zeit zu Zeit goss sie einigen Kämpfern etwas in deren Gläser. Elena hatte das Gefühl, diese Person schon einmal gesehen zu haben, doch so sehr sie ihre Gedanken auch bemühte, vermochte sie doch nicht zu sagen, woher.

Dem Gesicht haftete etwas Mysteriöses, fast Unheimliches an. Die stechenden Augen schienen sie förmlich zu durchdringen. Seltsam auch die Gewandung, sie trug alte abgewetzte Motorradkleidung, eine eng an liegenden Schnürlederjeans und eine Nietenlederlacke, darunter ein dicker grauer Pullover, an den Füßen Lederturnschuhe. Dichtes langes graues Haar fiel ihr in Locken über die Schultern und reichten ihr fast bis zur Taille. Elena konnte ihr Gesicht nicht von ihr wenden.

Sie stupste Madleen die zu ihrer Rechten saß mit dem Elenbogen.

„Sag mal, Madleen, die Alte dort drüben. Ist die dir bekannt?“

Diese blickte auf deren Konturen. Nach einer Weile verneinte sie.

„Nee, nicht das ich wüsste! Hab ich noch nie gesehen. Wieso, was ist denn so besonders an der?“

„Ach, nichts! Ist mir nur aufgefallen!“

Eine Weile betrachtete Elena die Alte weiter aus der Ferne, dann hielt sie es nicht mehr aus, erhob sich und bewegte sich zu ihr auf die gegenüberliegende Seite.

Dabei musste sie sich  durch die Reihen der Soldaten drängen, die dem Alkohol schon reichlich zugesprochen hatten. Immer wieder wurde sie zurückgedrängt, hielt aber die seltsame Frau in den Augen.

Endlich schien sie sich an ihr Ziel durchgekämpft.

„Langsam, Leute, jeder bekommt seinen Teil von meiner Zaubermedizin!“ hörte sie die Frau sagen, während sie die Flasche herumreichte.

Eigenartig, die schien wohl nie leerer zu werden.

Elena kam vor ihr zum Stehen um auf einen günstigen Augenblick zu warten.

Doch immer wieder wurde sie von den leicht angeheiterten Soldaten zur Seite geschubst.

Die Alte verhielt sich wie eine Marketenderin aus Napoleons Zeiten.

Plötzlich drehte die sich um und erblickte Elena. Komisch, jetzt auf einmal wirkte ihr Gesicht viel jünger. Sie mochte so Mitte, Ende 40 sein. Sanfte, fast edle Gesichtszüge und sinnliche Lippen. Und diese stechenden tiefblauen Augen.

„Hallo Elena, ich grüße dich. Hab schon auf dich gewartet. Schön, dass du gekommen bist.“

„Ich grüße dich auch, wer immer du auch sein magst!“ erwiderte Elena den Gruss, dabei bemerkte sie, wie ihr eine angenehme Wärme den Rücken hinunterfuhr. Überhaupt schien die Präsenz dieser Frau ein ausgesprochen positives Gefühl in ihr zu hinterlassen.

„Du kennst mich? Ich kenne dich leider nicht, obgleich ich das Gefühl habe, dir schon einmal begegnet zu sein. Ich kann aber beim besten Willen nicht sagen, wo und in welchem Zusammenhang.“ fuhr Elena fort.

„Hm, dich zu kennen ist nicht schwer. Wer kennt dich nicht in Melancholanien.  Schon möglich, dass wir uns begegnet sind. Ja, mit Sicherheit sind wir uns schon mal über den Weg gelaufen.“

Elenas Neugierde steigerte sich von Augenblick zu Augenblick. Die Frau hantierte immer noch zwischen den Soldaten herum. Es musste ihr gelingen, diese davon zu überzeugen, sich mit ihr gemeinsam an einen etwas ruhigeren Platz zurückzuziehen, um in Ruhe zu reden.

Ein größerer Trupp Soldaten bewegte sich auf die beiden zu, Elena verlor kurzzeitig die Übersicht. Plötzlich schien die Frau verschwunden.

„Verdammt!“ Elena fluchte leise vor sich hin, während sie sich in dem Gewühl erneut auf die Suche begab.

Plötzlich stand die merkwürdige Frau vor ihr, streckte ihr die Hand entgegen. Elena ergriff diese und wortlos schlenderten die beiden über die Wiese.

„Wer … wer bist du?“ wagte Elena nach einer Weile die alles entscheidende Frage. Ihr ganzer Körper schien zu vibrieren.

„Komm, lass uns ein wenig plaudern. Da unten, siehst du, neben der Scheune? Da habe ich mein Motorrad geparkt. Da sind wir ungestört, hoffe ich zumindest.“

Als die Motorradbegeisterte Elena die Maschine erblickte, begannen ihr Augen vor Begeisterung zu leuchten.

„Ich glaub es nicht! Das … das ist doch eine Mamasaki 1?“

Elena rannte auf das Fahrzeug zu und beugte sich über diese und begann den Lack wie ein Lebewesen zu streicheln.

„Die legendäre Mamasaki 1, nie hätte ich für möglich gehalten, nochmal eine mit eigenen Augen zu sehen. So eine habe ich mir schon immer gewünscht. Vor der Revolution sagte man, es gäbe noch ganze drei auf der Welt. Eine befinde sich im Besitz eines amerikanischen Ölmillionäres, eine weitere gehöre dem König von Spanien. Über den Verbleib der dritten gab es nur Spekulationen.“

Elena tastete sich über die Lenkstange.

„Nun, du siehst die dritte vor dir. Sie ist echt und  sie gehört mir. Ich habe sie gehütet wie meinen Augapfel all die Jahre.  Wenn du magst, können wir ne kleine Spritztour damit machen, oder hast du was anderes wichtigeres vor?“ bot die Frau spontan an.

„Echt? Oh ja, das wäre toll. Ich hab Zeit! Viel, viel Zeit!“ begeisterte sich Elena wie ein kleines Kind.

„Also dann! Aufgesessen!“

Die Frau schwang sich auf das Motorrad und startete es. Elena nahm auf dem Sozius Platz und umschlang vertrauensvoll  ihre Chauffeuse von hinten. Dann brausten sie davon.

Ein eigenartiges Gefühl, ansonsten war Elena stets die Fahrerin, die auf ihrer Maschine oft schon andere chauffieren konnte. Ein Gefühl totaler Hingabe erfüllte sie in diesem Augenblick der Nähe, ganz dicht schmiegte sie sich an ihre Vorderfrau. Der Fahrtwind zerzauste ihrer beiden Lockenmähnen. Die schienen sich zu vermischen. Elenas Kupferrot bildete eine merkwürdige Symbiose mit dem Hellgrau ihrer Fahrerin.

„Wie fühlst du dich, Elena? Geht es zu schnell? Wenn du Furcht hast, sag es einfach, dann drossele ich die Geschwindigkeit!“ meinte die Frau, während sie ihren Blick nach hinten richtete.

„Ist in Ordnung so! Ich kenne keine Furcht! Es ist ein atemberaubendes Gefühl! Ich habe volles Vertrauen zu dir!“ 

„So ist es recht! Genau das wollte ich von dir hören!“

Immer höher schienen sie nun auf zu steigen. Elena hatte das Gefühl, dass sie geradewegs in den Himmel fuhren. Die Häuser der einzelnen Gehöfte wirkten im Schein der Straßenlaternen wie aus einem Spielzeugland. Der weiße Flaum da unter ihnen, waren das etwa die Wolken? Es war eigenartig, denn in dieser Gegend gab es gar keinen so hohen Berg.

Endlich brachte die Frau die Maschine zum Halten.

„Wir machen einen Stopp! Ich denke, hier sind wir auf jeden Fall ungestört.“ meinte sie und schwang sich vom Sattel. Nach kurzem Zögern tat es Elena ihr gleich.

„Wie weit bist du denn gefahren? Ich scheine jede Orientierung verloren!“ gab Elena zu verstehen und blickte ein wenig verstört um sich.

„Weit genug, um mit dir allein zu sein, nahe genug, um dich ebenso sicher wieder abzuliefern!“

Die Frau half Elena vom Sozius herunter, dann ergriff sie deren Hände.

„Endlich begegnen wir uns auf reale Weise wieder. Lang, sehr lang musste ich auf diesem Moment warten.“

" Aber vielleicht sagst du mir erst mal, wer du bist und woher du mich kennst. Möglicherweise erinnere ich mich dann auch wieder!“

„Das wirst du erfahren!“ Die Frau ließ Elenas Hände los, bewegte sich um das Motorrad, holte aus einer dort angebrachten Tasche eine Thermodecke hervor.

„Komm Aradia … äh, ich meine Elena. Wir legen die Decke dort auf den Boden, dann machen wir es uns gemütlich.“

„Wie nanntest du mich eben?“

„Ach nicht so wichtig!“

 „Doch, das ist sogar sehr wichtig, du sagtest Aradia zu mir! Ich habe diesen eigenartigen Namen schon mehrfach gehört. Es ist, als sei er in irgendeiner Weise ständig in mir präsent, aber ich bin außerstande zu sagen, warum. Wie kommt es, dass du davon weißt? Davon kann man nicht wissen, auch wenn Elena noch so bekannt ist in Melancholanien.“

„Oh, ich weiß sehr viel über dich! Im Grunde sogar bedeutend mehr, als du selbst in Erfahrung bringen konntest.“ meinte die Frau weiter, während sie plötzlich einen prall gefüllten Picknickkorb von ihrem Feuerstuhl hob.

„Sag mal, wo holst du das denn alles her? Ich kann mich nicht erinnern, dass wir überhaupt Gepäck dabei hatten, als wir starteten?“ stellte Elena mit großer Verwunderung fest.

Die Frau öffnete den Korb und verteilte eine ganze Reihe ausgesprochener Köstlichkeiten auf der kuscheligen Thermodecke.

„Nimm Platz Aradia … äh Elena. Lass es dir schmecken!“

„Du hast mich ja schon wieder Aradia genannt!“

„So? Hab ich das? Ist mir gar nicht aufgefallen!“

„Also, ich denke auch, dass du bedeutend mehr über mich weißt, zumindest mehr, als du mir gegenüber zu zu geben bereit bist. Sag schon, lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.“

„Nimm doch erst mal Platz, Tochter, iss und trink, dann werde wir uns in Ruhe über alles unterhalten.“

Elena lies sich auf der Decke nieder, die andere nahm neben ihr Platz.

„Jetzt hast du mich Tochter genannt.“

„Weil du meine Tochter bist, weshalb sollte ich dich dann nicht so bezeichnen? Also darf ich mich vorstellen, ich bin deine Mutter.“

Elena, die gerade im Begriff, war einen Becher mit lieblichem Wein zu leeren, verschluckte sich erst mal.

„Also gut! Das wars! Du hattest deinen Spaß! Du willst mich zur Närrin machen, wie es den Anschein hat. Ich hab genug. Ich möchte wieder zurück. Komm, lass uns aufsteigen, bring mich zurück, so wie du es versprochen.“ empörte sich Elena nachdem sie ausgehustet hatte.

Dann erhob sie sich ruckartig, doch die Frau zog sie wieder nach unten.

Sanft legte sie ihren Arm um Elena, diese fühlte sich darauf wieder ausgesprochen erregt.

„Entschuldige meine Direktheit! Es tut mir leid! Aber ich wüsste nicht, wie ich mein Verhältnis zu dir sonst umschreiben sollte. Sieh doch mal, ich kenne dich seit deiner Geburt. War ständig bei dir, war um dich, immer, nie warst du in deinem Leben wirklich allein. Mein Segen hat dich immer begleitet.“

Zärtlich glitten ihre Finger durch Elenas Locken, danach strich sie deren Wangen.

„Warum? Warum tust du das? Wer bist du? Was machst du hier mit mir?“ hauchte Elena voller Erregung in der Stimme.

„Ich habe dich niemals wahrgenommen, all die Jahre. Du warst in meiner Nähe, sagst du?

Wie soll ich das verstehen? Du bist kein normaler Mensch, soviel leuchtet mir auch schon ein. Aber wer bist du dann? Was bist du? Eine Sinnestäuschung? Träume ich? So wie in jenen Wochen und Monaten, da ich der Umnachtung ausgeliefert war?“

„Mein Name ist Anarchaphilia! Möglicherweise hast du ihn schon mal in irgendeinem Zusammenhang gehört. Aber das ist auch nicht weiter wichtig. Die Zeit wird kommen, da du dessen Bedeutung entschlüsseln kannst. Es gilt, behutsam damit umzugehen. Langsam, nur ganz langsam musst du dich dem Mysterium nähern, sonst droht es dich zu verbrennen.“

„Anarchaphilia? Ich weiß nicht, ob ich ihn schon mal gehört habe. Er sagt mir nichts, das ist richtig und doch kommt es mir so vor, als kenne ich ihn. Aber woher?“

„Gut, das ist gut! Du darfst dich nicht überanstrengen. Du wirst alles erfahren, wenn die Zeit gekommen ist. Ich bin heute hier aufgetaucht, um damit zu beginnen, dein Erinnerungsvermögen zurückzurufen. Heute ist ein wichtiger Tag. Du hast dich ausgezeichnet bewährt, hast den Menschen meine Friedensbotschaft verkündet. Dieser sinnlose Kampf ist zu Ende. Eine wichtige Etappe ist genommen. Nun kehrt Ruhe ein. Du möchtest die Schwesternschaft reaktivieren. Hervorragend! Der nächste ganz bedeutende Schritt und ich werde dir dabei behilflich sein.“

Sie griff nach einem Bündel Weintrauben, zog eine ab und steckte diese Elena in den Mund.

„Schmeckst du die Süße? Genauso kann das ganze Leben schmecken, würden die Menschen denn verstehen es in der rechten Weise zu leben.“

Sie nahm einen Becher mit Wein und ließ Elena davon trinken.

„Der Wein macht trunken, wenn wir zu viel davon nehmen, in Maßen genossen bewirkt er jedoch wohlige Freude.“

Elena bemerkte plötzlich, wie Müdigkeit von ihr Besitz ergriff.

„Wenn du müde bist, dann komm in meine Arme, lass dich einfach fallen, vertraue auf die sicheren Hände, die dein Leben behüten und bewahren.“

Elena versank in Anarchaphilias Armen.

„Warum bist du so lieb und zärtlich zu mir?“

„Hab ich dir doch schon gesagt, Liebes, weil du meine Tochter bist!“

„Aber meine Mutter starb, als ich noch ein ganz kleines Mädchen war, drei Jahre. Ich kann mich kaum noch an sie erinnern.“

„Siehst du! Genau das ist es, was in deinem Leben fehlte . Ich versuche es zu ersetzen. Ich bin deine Mutter, glaube mir, nicht körperlich, nein, du musst das rein geistig betrachten, emotional, transzendent. Dein Leben als Kind und Jugendliche verlief lieblos. Dein Vater steckte dich in Internate, eine richtige Familie hast du nie besessen. Das aber ist es, wonach du dich immer sehntest.“

„Ja, so ist es! Ich … ich hab noch nie mit jemanden darüber gesprochen. Nicht einmal mit Madleen. Ich konnte es einfach nicht, es tat zu weh.“ gestand Elena und die Tränen liefen ihr dabei über das Gesicht.

Anarchaphilia wischte diese mit dem Zeigefinger weg.

„Nun bekommst, du was dir fehlte. Madleen ist deine große Liebe?“

„Das kann man wohl sagen. Nie habe ich für einen Menschen soviel empfunden. Der Pfeil hat mich bis ins Mark getroffen.“

„Ich habe ihn in dein Herz gesandt. Du und Madleen ihr seid ein wundervolles Paar, es tut gut, euch zu betrachten. Sie wird dir eine Gefährtin fürs Leben sein. Durch Höhen und Tiefen werdet ihr laufen, harte Prüfungen müsst ihr noch bestehen, doch am Ende wartet der Triumph. Eure Zuneigung für einander ist zu groß, als dass man imstande wäre, euch zu trennen. Und mit Madleen bekamst du eine ganze Familie im Gepäck. Du wurdest hier voller Freude und Begeisterung aufgenommen von ihren Angehörigen. Vor allem von Annett, sie wird dir eine irdische Mutter sein. Du hast sicherlich schon bemerkt, wie sehr sie dich vergöttert. Hm, ich könnte fast neidisch werden, wenn ich auf euch blicke.“

„Genauso ist es! Ich fühle mich wie neu geboren. Ich merke wie eine Kraft in mir arbeitet und mich zu neuen Taten anspornt.“

„Genau das war meine Absicht! Es ist der Familienverbund, der dir fehlte. Du hast versucht, die Kommune und die Schwesternschaft aufzubauen. Der erste Versuch scheiterte. Alles brach auseinander. Die Theorie war stimmig, allein an praktischer Erfahrung mangelte es. Die konntest du hier oben finden und du hast die Zeit ausgezeichnet zum lernen genutzt.

Der zweite Versuch wird gelingen. Du wirst eine neue Familie schaffen, eine Wahlfamilie, offen für alle. Und sie wird von Dauer sein.“

„Ich sehne mich danach, die Schwesternschaft neu zu beleben. Hier oben ist es mir wieder ins Bewusstsein gerückt. Ich kann ohne mein Werk nicht leben. Ich möchte die verstreuten Schwestern zurückholen und anschließend die Gemeinschaft ausbauen.“

„Das ist auch meine Absicht. Du hast hier oben zu dir zurückgefunden, nachdem dich das Schicksal drohte aus der Bahn zu werfen.“

„Aber warum diese Schicksalsschläge? Warum musste Leander sterben und Kovacs und all jene, die mir ans Herz gewachsen? Ich habe Leander so sehr geliebt. Warum wurde er mir genommen?“ Tränenbäche ergossen sich aus Elenas Augen, Anarchaphilia hielt sie fest in den Armen und streichelte ihre Wangen.

„Es ist schwer, das zu erklären, aber diese Prüfungen waren nötig, um deinen Initiationsweg zu sichern. Nur aus dem Leid kann neue Kraft geboren werden. Und der Tod gehört nun mal zum Leben. Der Tod anderer weist dein Leben in eine ganz bestimmte Richtung. Nimm zum Beispiel deine Beziehung zu Madleen. Eure Liebe ist so stark, ihr seid so sehr aufeinander fixiert. Wäre da im Moment Platz für eine weitere Person? Möglicherweise hättest du Madleen gar nicht kennen gelernt, sie wäre nicht in dein Leben getreten, weil du gar nicht nach ihr gesucht hättest. Dir fehlte nichts, denn Leander war dein Leben. Wäre er noch hier, dein Leben hätte einen völlig anderen Verlauf genommen. Um es aber in die gewünschte Bahn zu lenken, war ein radikaler Einschnitt von Nöten, so leidvoll sich dieser auch im Moment noch in präsentieren mag. Nur mit Madleen an deiner Seite bist du imstande, deine Aufgabe zu erfüllen. Sie kannst du voll und ganz in die Schwesternschaft integrieren. Wäre das mit Leander möglich?“

„Natürlich nicht! Aber was tut das zur Sache. Musste er deshalb gleich sterben? Es hätte doch sicher eine andere Möglichkeit gegeben. Man kann doch gleichzeitig zwei oder noch mehr lieben. Es gab Mehrfachbeziehungen in der Kommune und ich denke, es wird sie auch wieder geben!“

„Das ist eine entscheidende Frage. Natürlich wird es solche Beziehungen geben, sie sind wichtig und ich begrüße sie ausdrücklich. Sie können sehr entkrampfend wirken. Andererseits verlangen sie den Beteiligten eine ganze Menge ab. Da ist immer auch die Saat für neues Leid gelegt. Sobald es einen Verlierer in solchen Beziehungen gibt, ist es aus mit der schönen Harmonie. Die Freie Liebe birgt die Eifersucht in sich, wie die Regenwolke den Regen. Es gilt immer mit Vernunft und Augenmaß vor zugehen. Es sind nur Menschen, die dir an vertraut sind, du darfst sie nicht überfordern. Leander hätte in einer Dreierkonstellation schon bald den Kürzeren gezogen, wäre irgendwann daran zerbrochen.  Das wollte ich ihm ersparen, deshalb wurde er aus der Schusslinie gezogen. Der Tod ist bei weitem nicht so schlimm als das, was ihn erwartet hätte.“

„Nein, ich glaube, es hätte noch eine Möglichkeit gegeben. Er hätte doch eine oder einen andern lieben können nur um ein Beispiel zu nennen.“

„Elena, glaubst du das wirklich? Du wurdest zu Leanders Göttin, er hätte ohne dich nicht leben können, er war total auf dich fixiert, so wie es jetzt bei Madleen der Fall ist. Du musst dich damit abfinden. Es wäre unmöglich. Es hätte zu enormen Spannungen in der Gemeinschaft geführt, die daran hätte zerbrechen können. Auch das galt es zu verhindern.“

„Aber die Kommune, die Schwesternschaft sind doch zerbrochen. Was sollte denn noch Schlimmeres geschehen?“

Elena wollte sich einfach nicht mit den Tatsachen abfinden.

„Die Schwesternschaft ist nicht zerbrochen, sie ruht derzeit in sich. Es liegt an dir, sie wieder zu beleben und das willst du ja auch, durch die neuen Konstellationen ist es dir möglich.

Leander kannst du nicht mehr helfen, er lebt jetzt in einer anderen Welt und bedarf deiner Hilfe gar nicht mehr. Eine andere Person jedoch wartet voller Sehnsucht auf ihre Rettung.“

„Du meinst Colette, nicht wahr?“ tippte Elena richtig.

„Genauso ist es. Du musst sie finden und nach Hause bringen, denn nur mit ihr kannst du die Schwesternschaft wirklich neu formieren. Colette ist das Salz in der Suppe, wenn du verstehst, was ich meine. Was glaubst du wohl, warum Kovacs sie zur Bewahrerin seiner Lehre bestimmt hat? Colette ist eine Kundra, in ihr vereinigen sich weibliche und männliche Energie, sie ist das perfekte Abbild der neu zu erschaffenden Welt, einer Welt, in der es keine Geschlechter mehr geben braucht, sondern nur noch Menschen. Kannst du nachvollziehen, welchen Schatz du mit ihr verloren hast? In den frühen Kulturen, da galten Kundras als Wesen mit besonderen Fähigkeiten, als Menschen, die einen ausgeprägten Sinn für das Transzendente, das Übersinnliche besaßen. Sie waren begehrt als Priester, Seher, Heiler, galten als heilig, eben weil sie weder dem einem noch dem anderen Geschlecht zugeordnet wurden. Unsere angeblich so aufgeklärte westliche Zivilisation hat diesen Faden durchtrennt, hat die Kundras entehrt und der Lächerlichkeit preisgegeben, hat sie in den Dreck gezogen und besitzt die Frechheit, sie für ihr Schicksal  selbst verantwortlich zu machen. Kundras sind hochsensibel, sie leben in ihrer eigenen Welt, du kannst sie nicht mit anderen Menschen gleichsetzen. Was für gewöhnliche Menschen ein Spaß, ist für eine Kundra eine Demütigung und umgekehrt. Mehr noch als alle anderen Menschen bedürfen sie einer Umgebung, die ihnen entgegenkommt, in der sie ihre Fähigkeiten zur Entfaltung bringen können. Finden sie diese, blühen sie auf und können ihre Talente auch nutzbringend für andere einsetzen, können segensreich für die Gesellschaft wirken. Finden sie diese Umgebung nicht, so welken sie dahin, wie eine Rose im Herbst. Kundras haben ungeheuer viel zu geben, wenn man sie denn ließe. Aber bevor sie geben können, müssen sie erst einmal nehmen.

Du, Elena hast die Möglichkeit, in der neu zu schaffenden Gemeinschaft einen Platz für sie zu finden, eines Tages wirst du dafür  reich beschenkt.“

„Aber das weiß ich doch! Es vergeht kein Tag, an dem ich ihrer nicht gedenke. Ich vermisse sie so sehr. Ich möchte sie finden und nach Hause bringen. Ich bin mir lange schon bewusst, dass es ohne sie keine Reaktivierung der Schwestern geben kann. Sie hat Enormes geleistet und ich habe es nicht anerkannt. Hätte ich doch nur ein kleines Zeichen von ihr, einen Anhaltspunkt, wo sie sich derzeit aufhält. Noch in diesem Augenblick würde ich aufbrechen und wenn ich ganz Melancholanien durchqueren müsste, um sie zu finden, um sie in unser gemeinsames Heim zurückzubringen. Aber ich weiß nicht, wo sie ist und das macht mich unendlich traurig.“

„Du wirst ein Zeichen von mir bekommen, in absehbarer Zeit. Du musst auf sie zugehen. Sie wird nicht von alleine kommen, das kann sie nicht. Eine Kundra ist nicht imstande, den ersten Schritt zu tun, der muss stets von andern ausgehen.“

„Ich gelobe, dass ich sie suche und finde, koste es, was es wolle! Alles andere ist dieser Aufgabe nachgeordnet! Mehr noch, ich werde Platz dafür schaffen, dass noch weitere Kundras bei uns ihre Zuflucht finden können, aus Melancholanien, ja aus der ganzen Welt. Ich möchte mich dafür einsetzen, dass sie sich dort ihre Welt errichten können.“

„So ist es recht Elena!"

„Das hast du nun schon einige Male geäußert. Andererseits bist du mir noch immer eine Antwort schuldig. Gut, ich kenne inzwischen deinen Namen, der mir zwar nicht viel sagt, aber trotz allem seltsam bekannt vorkommt. Ich sitze bzw. liege hier und tausche mit dir Dinge aus, die ich bisher nicht einmal den engsten Freunden an vertraute. Ich war ehrlich zu dir, meinst du nicht, dass es an der Zeit wäre, auch mir gegenüber den Schleier fallen zu lassen?“ forderte Elena nun, während sie sich aufrichtete, immer noch mit Tränen in den Augen.

„Du tauchst einfach wie aus dem Nichts  hier auf und sprichst in Rätseln zu mir. Sag doch einfach nur die Wahrheit!“

„Was ist Wahrheit? Ich kann es dir noch einmal sagen, auch wenn ich mich dabei wie ein Papagei wiederhole. Die Wahrheit, liebste Tochter, ist so gigantisch, so unwahrscheinlich, dass sie dich zu erschlagen droht. Ich kann sie dir nur in kleinen Dosen verabreichen. Heute setzen wir den Anfang. Ich werde in bestimmten Abständen erscheinen und dir die weiteren Lektionen erteilen. Du bist außerdem imstande, den Kontakt zu mir herzustellen, Übung hast du schon, durch Meditation. Übe dich weiter darin, regelmäßig und du wirst dich stufenweise in die Materie einarbeiten. Außerdem glaube ich nicht, dass du noch nie von mir gehört hast. Oder ist es dir in der Zwischenzeit entfallen, wovon unser gemeinsamer Freund Kovacs immer wieder sprach? Fortwährend erwähnte er mich, bzw. das, was er dafür hielt.“

„Dich erwähnt? In welchem Zusammenhang denn?“ Elena rieb sich mit den Handflächen den Kopf.

„Na, dann überlege mal ganz scharf!“

Elena begann ihre kleinen grauen Zellen auf Höchstleistung zu trimmen, da plötzlich schien es ihr zu dämmern.

„Du bist … nein das kann nicht sein! Du willst sagen, du bist diese unbekannte Göttin, an die Kovacs glaubte und von der er immer wieder berichtete?“

„Du sagst es!“

„Da bin ich platt! Das pflegt Madleen immer zu sagen, wenn sie etwas umhaut. Das bedeutet, dass es dich also wirklich gibt?“

„Mich gibt es! Wie du siehst, sitze ich leibhaftig vor dir. Zumindest in einer Manifestation, die deiner Auffassungsgabe entspricht.“

„Wir haben den Erzählungen Kovacs mit vollem Interesse gelauscht. Aber wir waren nicht ausreichend imstande, dem Gehörten Glauben zu schenken. Wir verwiesen seine Aussagen ins Reich der Phantasien eines hoffnungslos romantischen Dichters. Möglicherweise hielten wir es auch für Metaphern um seinen politischen Überzeugungen einen besonderen Nachdruck zu verleihen. Die meisten von uns sind oder waren eben recht weltlich und materialistisch eingestellt, mich inbegriffen, auch wenn ich schon vor langer Zeit begann zu meditieren. Das tat ich vor allem aus Eigennutz, um meine Leistungsfähigkeit zu steigern. Doch jetzt, wo du es sagst, fällt mir ein, dass ich schon seit geraumer Zeit eine mir bisher unbekannte Energie in mir spüre. Unbekannte Kräfte, die mir wohl etwas sagen möchten.“ offenbarte sich Elena, nachdem sie sich wieder in Anarchaphilias Arme sinken ließ.

„Ja, diese Energiequelle kommt  von mir, ich sende sie dir schon lange, einige Jahre, deine große Wende wäre ohne diese gar nicht zustande gekommen. Sie hat dir den Pfad zur Wahrhaftigkeit gewiesen und sie wird dich fortan weiter leiten. Es kommt auf dich an, wie oft du von ihr Gebrauch machst. Nutze die Fähigkeiten gut, vor allem auf die Dosierung kommt es an. Du kannst sie nutzbringend für andere anwenden. Auch das hast du, zumindest unbewusst, schon des Öfteren getan. Denke nur an den heilsamen Beischlaf, den du praktizierst. Du bist imstande, Menschen von ihren schweren seelischen Nöten zu heilen, indem du mit ihnen schläfst und zärtlich zu ihnen bist. Du überträgst auf diese Weise die heilenden Energien auf andere. Durch regelmäßige Meditationen kannst du die Kräfte immer weiter steigern. Keiner wird dir widerstehen können. Nicht einmal Neidhardt kann sich ihnen auf Dauer entziehen. Auf diese Art wird sich das Reich der Freiheit immer weiter ausdehnen bis es die  Tyrannenherrschaft dauerhaft besiegt.“

"Hört sich phänomenal an. Es fällt mir noch immer schwer, dir zu folgen. Doch es hört sich einfach zu gut an, als dass es nur dem Reich der Phantasie entspungen sein sollte.“

„Mache dich einfach in aller Ruhe damit vertraut. Tue es aber wirklich und regelmäßig. Übe dich in Meditation, zapfe die Batterien an, die dir zur Verfügung stehen und immer tiefer wirst du vordringen. Für heute soll es genügen. Ich werde dich jetzt zurückbringen. Ruhe dich aus, ich denke, du wirst sicher müde sein.“

Anarchaphlilia strich mit dem Zeigefinger über Elenas Mund, dann küßte sie diesen. Ein wahrer Strom an Emotionen entlud sich darauf in Elenas Körper und sie fiel in einen tiefen Schlaf.

Als sie erwachte, fand sie sich auf der alten Holzbank wieder, vor dem Kuhstall, jenem Ort, von dem sie vorhin mit Anarchaphilia auf dem Motorrad gestartet war. Sie kniff die Augen zusammen und schüttelte sich. Ihr war heiß, Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, mit einem Tuch entfernte sie diese. Dann erhob sie sich, taumelte zunächst heftig, bevor sie den Halt wieder fand. Wie viel Zeit war vergangen? Von der Wiese drang noch immer Stimmengewirr und Musik zu ihr. Die Soldaten schienen noch immer dort versammelt.

Um es auszukundschaften, beschloss sie, sich auf den Weg zu machen.

In ihren Körper schienen die Glückshormone zu tanzen.

Während sie so über ihren Zustand sinnierte, erreichte sie das Lager der Soldaten. Alles schien unverändert. Sie fand Madleen vor, wie sie diese verlassen. Das musste doch inzwischen eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen.

„Entschuldige, dass ich dich solange alleine ließ. Ich habe einfach das Zeitgefühl verloren.“

„Hä, wieso entschuldigst du dich so überschwänglich. Du warst doch gerade mal fünf Minuten weg. Ist eh nichts besonders geschehen. Na, hast du die eigenartige Frau angetroffen?“

„Äh, wie? Ach so ja, hab ich, hab ich!  Wirklich erst fünf Minuten. Es kam mir bedeutend länger vor.“

„Na, is ja egal, du bist wieder hier!“ 

In Gedanken befand sie sich noch immer in dem Gespräch mit dieser seltsamen Erscheinung, Frau, Göttin. Anarchaphilia hatte viele Seiten.

Sie erinnerte sich Kovacs Worte, der vorgab, ihr auch schon einmal begegnet zu sein. Zeit spiele in ihrem Reich wohl keine Rolle, so behauptete der Dichter zumindest. Vor wenigen Augenblicken konnte sie sich von der Richtigkeit dieser Aussage überzeugen.

Dem weiteren Geschehen am Lagerfeuer maß sie nicht mehr allzuviel Bedeutung bei.

Schließlich konnte sie Madleen dazu bewegen, sich mit ihr gemeinsam zu entfernen. Sie war guter Zuversicht, dass der gerade errungene Frieden auch ohne ihre Präsenz fortbestehen würde.

Der Energiestrom in ihrem Körper hatte auch ihr sexuelles Verlangen angefeuert und sie konnte es kaum erwarten, Madleen unter die Decke zu ziehen. Es folgte eine sinnliche Liebesnacht.

 

Schon Tags darauf hatte es Elena ausgesprochen eilig, nach Hause in die Abtei zurückzukehren. Das löste allgemeine Verwunderung aus. Man erklärte sich das vor allem aus der Tatsache, dass sie schon zu lange von Tessa getrennt war und sie ihre Tochter natürlich wiedersehen wollte. Doch das war keineswegs der alleinige Grund. Die Begegnung mit Anarchaphilia hatte in Elena einen gewaltigen Prozess ausgelöst. Sie war erfüllt von einem nie gekannten Tatendrang. Und in der Tat, gab es auch jede Menge zu erledigen.

Einiges konnte sie noch von ihrem derzeitigen Standort aus bewerkstelligen.

Da war zunächst die Frage der Amnestie für die rebellierenden Soldaten. Sie trat mit Cornelius in Verbindungen, machte ihm Versprechungen hinsichtlich seiner Wünsche ihr gegenüber, ohne wirkliche Absicht diese auch einzulösen. Doch es funktionierte.

Sämtliche Rebellen erhielten Pardon, unter der Voraussetzung, dass sie sich so bald als möglich in die Gesellschaft reintegrierten. Das galt natürlich nicht für Ronald, dem man riet, ins Exil zu gehen und noch für einige andere der höheren Ränge. Elena stellte alle unter die Obhut der Abtei. Auch Ansgar musste mit einem Verfahren wegen Befehlsverweigerung rechnen, nach einigen Überlegungen entschloss er sich ebenfalls zum Exil in der Abtei.

Elena konnte somit wiederum einen Erfolg verbuchen, wenn auch nur teilweise, denn Ronald, Ansgar und die andern durften Zeit ihres Lebens das Gelände der Kommune nicht wieder verlassen, ansonsten riskierten sie ihre Verhaftung.

Schon aus diesem Grund sah sich Elena in der Pflicht, den Einflussbereich der neu zu formierenden Kommune ständig zu erweitern. Den Anfang machte die Agrarkooperative, auf deren Gelände sie sich gerade befand. Alle Bewohner waren sich einig und stellten den entsprechenden Antrag. Und das Wunder geschah, dem Antrag wurde stattgegeben. Natürlich hegte die Regierung die Hoffnung, Elena mit diesen Zugeständnissen ruhigzustellen. Dem war natürlich nicht so, im Gegenteil, es wurde ein Präzedenzfall geschaffen, der sich schon bald vielen anderen als Vorbild diente.

Elena spürte die gewaltige Energiequelle in ihrem Inneren.

Sie kam der Aufforderung Anarchaphilias nach und nahm sich die entsprechende Zeit regelmäßig zu meditieren, zumindest versuchte sie es. Doch es gab einfach zu viel der Ablenkung. Sie glaubte, dass sie die entsprechenden Bedingungen derzeit nur auf dem Gelände der Abtei finden konnte.

 

Die Heimfahrt war nicht ganz frei von Risiken, aus diesem Grund vollzog sich diese in Etappen. Sämtliche Offiziere der Rebelleneinheit, die sich unter die Obhut der Kommune begaben, waren schon vor Tagen abgereist und hatten sicher ihr Ziel erreicht. Als Fracht getarnt schleuste man sie heraus und erregte keine Aufmerksamkeit.

Doch es war damit zu rechnen, dass der Sicherheitsdienst nach diesem gelungenen Coup um so genauer hinsah. Ronald und Ansgar erhielten kein Pardon, Neidhardt bestand auf ihrer Auslieferung.

Die beiden wurden im Wohnmobil versteck, im Vertrauen darauf dass schon Elenas fahrbarer Untersatz als exterritorial betrachtet und somit nicht einer Überprüfung unterzogen werden durfte. Darauf verlassen konnte man sich allerdings nicht.

Des Weiteren begleiteten auch Madleens jüngster Bruder Björn und dessen Frau Valeria den Zug, sie wollten sich ebenfalls der Abtei zur Verfügung stellen, eine Tatsache, die sowohl Elena als auch Madleen hoch erfreute.

Beide waren gelernte Gärtner und brannten darauf, den gewaltigen Klosterpark neu zu gestalten. 

Somit würde binnen kurzer Zeit die Bewohnerzahl der Kommune beachtlich steigen. Viele helfende Hände, deren man dringend bedurfte, um Elenas zukunftsträchtige Pläne in die Tat umzusetzen.

„Aber ihr meldet euch umgehend, wenn ihr zu Hause angekommen seid?“

Annetts Aufforderung war eindringlich.

„Natürlich melden wir uns! Was dachtest du denn!“ bestätigte Madleen, während sie die letzten Gepäckstücke in die Kabine des Wohnmobiles wuchtete.

„Ich werde den ganzen Tag keine ruhige Minute haben, bis ich Gewissheit habe, dass ihr sicher euer Ziel erreicht habt. Ich traue diesen Schakalen vom SIDI nicht über den Weg, ich könnte mir vorstellen, dass die schon seit geraumer Zeit in der Gegend auf der Lauer liegen.“

„Du sollst dir nicht immer solche Gedanken machen, Mutti, das ist unnötig, wir können schon auf uns aufpassen.“

„Ich denke, es wird keine Schwierigkeiten auf der Fahrt geben, Annett, ich habe mir vorsorglich noch mal per Fax eine Depesche von Cornelius besorgt, selbst Neidhardt kann dagegen nichts ausrichten.“ versuchte Elena zu beruhigen.

„Ach, es ist auch so, dass ich dich so ungern wieder hergebe, Elena. Du musst mir einfach versprechen, sobald du es einrichten kannst, wiederzukommen.“

Elena schloss Annett in die Arme.

„Ich würde mich ebenso freuen, wenn ich dich, bzw. euch demnächst auf dem Gelände der Abtei begrüßen kann. Ihr seid doch sicher auch gespannt, wie es dort weitergeht.“ lud Elena ein, was Annett sichtlich mit Freude erfüllte.

„Madleen wird dich auch mit Freude begrüßen!“

„Aber sicher doch, ich brenne geradezu darauf!“ erwiderte Madleen mit ironischem Unterton.

„Ich komme sehr gern, ich kann es kaum erwarten dein Werk zu begutachten. Ach ja, am liebsten würde ich auf der Stelle mit euch kommen.“ gestand Annett mit einem Seufzer in der Stimme.

„Kann ich mir vorstellen, das könnte dir so passen! Wer weiß, am Ende willst du gar nicht mehr nach Hause. Was hältst du davon, Elena, deine Schwiegermutter stets und ständig um dich zu haben.“ stichelte Madleen weiter.

„Ich bin eigentlich keine große Liebhaberin von Schwiegermüttern, aber bei dieser hier mache ich sehr gerne eine Ausnahme.“ Daraufhin drückte Annett sie ganz fest an sich.

„Schluss jetzt mit dem Abschiedszeremoniell. Mensch, wir sind doch nicht außer der Welt.

Wir müssen uns nun wirklich zum Aufbruch rüsten.“ gab Madleen zu bedenken.

„Dann verschwindet am besten ganz schnell, bevor ich noch zu heulen beginne.“ gab Annett zu verstehen.

„Wie sieht es da hinten bei euch aus? Seit ihr auch sicher verstaut?“ rief Elena ins Innere der Wohnkabine.

„Naja, unter bequem verstehe ich etwas anderes, aber ich denke, es wird schon gehen. Einen alten Kämpfer haut so schnell nichts um!“ antwortete Ronald aus dem Bettkasten. Den hatte man für die Fahrt eigens präpariert, so dass sich Ronald und Ansgar dort verstecken konnten, sollte es eine Kontrolle geben.

„Ich denke, während der Fahrt könnt ihr sicher die Kästen verlassen. Ihr müsst nur bei Gefahr flugs wieder unterkriechen.“ meinte Elena.

Schließlich setzten sich die Fahrzeuge in Bewegung. Mit Tränen in den Augen sah ihnen Annett noch lange nach, bis sie das Eingangstor passiert hatten.

 

Die Fahrt verlief entgegen den Befürchtungen problemlos. Björn und Valeria folgten in ihrem eigenen Fahrzeug. Es gab im Gegensatz zur Hinfahrt keine längeren Aufenthalte, das konnten sie nicht riskieren. Diesmal wechselten Madleen und Elena mit dem Fahren einander ab.

Es war noch sehr früh, als sie ihr Ziel erreichten. Die Sonne erhob sich gerade aus ihrem Wolkennest als sie vor der Abtei zum stehen kamen.

Elena stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie die schon in der Ferne sichtbaren Dächer der Basilika erblickte. Geschafft!

Über dem gesamten Gelände lag eine wohltuende Ruhe, als sie ihren Fahrzeugen entstiegen. Besonders Ansgar und Ronald stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben.

„Noch niemand auf! Kein Wunder, fünf Uhr morgens ist es, da horchen alle noch an ihren Matratzen, mit Ausnahme von Pater Liborius, der um jene Zeit schon seine ersten Gebete verrichtet, obgleich ihn niemand dazu drängt. Ich schlage vor, wir hauen uns selber noch ein wenig aufs Ohr.“ schlug Elena vor.

„Das müssen wir auch, ich bin todmüde!“ stellte Madleen fest.

„Zu müde, um mich zu lieben?“ neckte Elena.

„Nein, mit Sicherheit nicht!“

„Dann darf ich dich in dein Gemach geleiten?“

„Oh, warum so förmlich, Elena?“

„Als Freundinnen brachen wir von hier auf, vor einiger Zeit, als Liebespaar kehren wir nun heim. Ich denke, da hat sich einiges verändert.“ erinnerte sich Elena.

„Stimmt! Dann lieben wir uns zum ersten Mal auf dem Boden der Abtei!“

„Das muss doch gefeiert werden, denke ich! Aber erst, wenn wir ausgeschlafen sind!“

Alle entschwanden in ihre Wohnbereiche und gaben sich entweder der Ruhe oder der Liebe hin.

Arm in Arm glitten Elena und Madleen schon nach kurzer Zeit in einen tiefen Schlummer.

Erst um die Mittagszeit wurden sie von einem sanften Klopfen an der Tür geweckt.

Zaghaft betrat Gabriela das Schlafgemach, um hier zwei eng umschlungene nackte Frauenkörper vorzufinden.

„Haben sie es endlich vollbracht! Na, wurde auch langsam Zeit!“ sprach Gabriela zu sich selbst, als sie sich dem Schlafgemach näherte.

„Gabriela? Wie … wie spät ist es denn?“ begrüßte Elena noch schlaftrunken ihre Freundin.

„Gleich halb eins! Aber keine Hektik, schlaft euch erst mal richtig aus, ich kann mir vorstellen, wie kaputt ihr nach der langen Reise seit.“ flüsterte Gabriela.

Madleen schnurrte wie ein Kätzchen und schmiegte sich an Elenas Brust.

„Gibt`s was besonders? Ich meine etwas Wichtiges, dass keinen Aufschub rechtfertigt!“

Elena richtete sich auf und entblößte ihre sinnlichen Brüste. Madleens Kopf hielt sie in den Armen und strich sanft durch das pechschwarze Lockenhaar.

„Nein, nicht das ich wüsste. Ach ja, Besuch haben wir seit gestern, sind einen Tag zu früh hier angekommen, aber macht nichts, die wollen sich eh hier niederlassen!“

„Wer denn?“

„Zwei gute alte Bekannte von dir, äh, von uns, sollte ich lieber sagen.“

„Doch nicht etwa Colette?“ entfuhr es Elena heftig, so dass Madleen um noch lauter stöhnend protestierte.

„Nein, leider nicht!“

„Alexandra?“

„Auch nicht! Kyra ebenfalls nicht!“

„Dann ist es keiner, der mich interessiert!“

„Ich denke doch! Es sind Cassandra und Luisa!“

„Hä? Was zum Teufel wollen die beiden hier?“

„Das sollen sie dir selber sagen! Alles positiv, hört sich gut an, was die beiden hier vorhaben!“

„So jetzt habt ihr`s geschafft, jetzt bin ich wach, dann können wir eh auf stehen!“ beschwerte sich Madleen und streifte sich die Decke von ihrem zarten Körper.

„Das tun wir, aber nicht, bevor wir Gabriela auf gebührende Weise begrüßt haben!“ schlug Elena vor.

„Wie? Ach so, das meinst du! Klar, tun wir!“ bestätigte Madleen.

Mit einem Ruck zogen sie Gabriela zu sich auf das bequeme Doppelbett und badeten diese in einer Flut von Küssen und Zärtlichkeiten.

 

Groß waren Elenas Erwartungen an den unverhofften Besuch, als sie die große Haupttreppe des Konventsgebäudes hinuntereilte. Zu beiden hatte sie schon seit ewigen Zeiten keinen Kontakt mehr und sie freute sich auf ein Wiedersehen. Doch in welchem Zusammenhang standen die zueinander?

Cassandra, das berüchtigte kurvenreiche Glamourgirl aus den vergangenen Tagen, Sexsymbol und männermordende Nymphomanin. Ihre einstige Busenfreundin und zeitweilige Geliebte, die an ihrer Seite so manche Nacht durchzechte und am Folgetag ihre prallen Brüste auf den Titelseiten der Boulevardpresse darbot.

Und Luisa, das schüchterne unterwürfige Dienstmädchen, abgehärmt und aschgrau im Gesicht mit strähnigem, braunem, schulterlangem Haar, zumeist recht altbacken zu einem Kränzchen zusammengesteckt. Magersüchtig und mit schwarzen Rändern unter den Augen

Eine Befehlsempfängerin, auserkoren anderer Leute Dreck zu entsorgen, dabei stets dem Spott und der Häme ausgesetzt.

Was in aller Welt brachte die zusammen?

Als Elena das Refektorium betrat, saßen beide bei einem Kaffee und flaxten angeregt.

Schon der erste Blick signalisierte Elena, dass sie sich offensichtlich gut verstanden.

„Na, da laust mich doch der Affe. Cassandra, Luisa, das ist aber eine Überraschung, euch zu sehen. Was treibt euch nach so langer Zeit in mein Reich?“ begrüßte Elena die beiden mit weit ausgebreiteten Armen.

„Elena, grüß dich. Da haben wir ja Glück, dich anzutreffen. Ich freue mich, dich endlich wieder zu sehen.“

Cassandra sprang auf und fiel Elena um den Hals, verabreichte ihr einen geräuschvollen Kuss, während Luisa ihr mit glänzenden Augen zulächelte, dann zaghaft die Hand reichte.

Elena ergriff deren Hände, zog sie an sich und schenkte auch  ihr einen sanften Kuss.

„Ich freue mich, dich wieder zu sehen, Elena!“ entfuhr es Luisa leise.

„Ich mich auch, ihr zwei!“

Noch ein wenig außer Atem blickte Elena hastig von der einen zur andern und zurück.

„Also jetzt müsst ihr mir nur noch verständlich machen, was ihr zwei mit einander zu schaffen habt!“

„Hm, eine berechtigte Frage! Nun, es ist eine etwas längere Geschichte, ich kann dir gerne Bericht erstatten!“ bot Cassandra an.

„Ich brenne darauf, hinter euer Geheimnis zu kommen. Aber setzt euch doch erst mal wieder.“

Wie auf Befehl nahmen alle drei gleichzeitig Platz und musste ein wenig über diesen Umstand kichern.

„Also, ähm … ich fange mal kurz an mit guten Neuigkeiten, Elena.“ hakte sich Luisa in das Gespräch ein.

„Ein Großteil des Vermögens, das du mir damals an vertrautest, ist gerettet. Ich habe getan, was du vorgeschlagen. Auf ausländischen Konten sicher deponiert, hat es schon beachtliche Zinsen gebracht. Auch deine alte Villa ist noch in gutem Zustand, ich dachte, dass es dich interessiert. Wenn du sie wieder nutzen willst, steht sie zu deiner Verfügung.“

„Mein Geld? Aber Luisa, ich habe es dir übereignet, nicht geliehen. Es gehört dir, auch die Villa. Ich benötige sie nicht mehr, du siehst, ich habe ein neues Zuhause gefunden.“ antwortete Elena sichtlich überrascht.

„Elena, Luisa will es dir zurückgeben, zur freien Verfügung, dafür möchte sie in deiner Gemeinschaft leben und ich möchte es auch, wenn es möglich ist.“ führte Cassandra weiter aus.

„Ob es möglich ist? Aber selbstverständlich! Ihr seid willkommen, alle beide. Ihr könnt einziehen, wann immer ihr wollt. Noch steht es euch frei, was die Wohnung betrifft. Platz haben wir genug, hier im Konventsgebäude, als auch in den Nebengelassen.

Ich freue mich. Ich bin sprachlos! Aber das beantwortet noch immer nicht meine Frage, was euer gemeinsames Auftreten betrifft.“

„Also, dann will ich mal ausholen!“ meinte Cassandra und lehnte sich im Sessel weit nach hinten.

„Deinen Weggang damals konnte ich nicht nachvollziehen. Ich fand keine Erklärung für dein Verhalten, brach daher den Kontakt zu dir ab. Wie kann die Elena so einen Weg ein schlagen? Du kennst das Gezeter in den Reihen der Privo?“

„Natürlich, klingt mir noch immer in den Ohren,  als ob es gestern wäre.“

„ Dann gab es Putsche, Gegenputsche, Revolution und Bürgerkrieg, Neidhardts Machtergreifung. Nun, ich tauchte ab. Man sah mich in zu großer Nähe zu den Blauen und ihrem Treiben. Zugegeben, ich verdiente gut durch die, aber Anhängsel war ich zu keiner Zeit. Doch die neuen Machthaber schenkten dem verruchten Busenwunder und Schickimickihure, wie sich mich nannten, keinen rechten Glauben. Es gelang mir gerade noch rechtzeitig, mein Vermögen in Sicherheit zu bringen, ein beachtliches Sümmchen, wie du dir vorstellen kannst. Das brachte die erst recht auf die Palme. Die griffen mich und sperrten mich ein, aber ich habe denen nichts preisgegeben. Irgendwann gelang mir die Flucht. Aber wohin, die Grenzen waren dicht. Ich bin nicht unbedingt, das was man eine Heldin nennt. Ich wollte mein Leben nicht aufs Spiel setzen. Einer Eingebung folgend fuhr ich zu deiner alten Villa und traf dort auf Luisa, bat sie, mich zu verstecken. Vorbehaltlos tat sie das, entzog mich dadurch dem Zugriff des Sicherheitsdienstes. Ich lebte von nun an mit ihr eng beieinander. Es dauerte gar nicht lange und wir waren dicke Freundinnen. Ja, und es ließ sich nicht vermeiden, dass sich noch mehr daraus entwickelte. Wir sind ein Paar, Elena.“

Cassandra griff nach Luisas Hand und drückte die ganz fest, warf ihr dabei einen verführerischen Blick zu.

„Das ist ein Ding! Da wäre ich nie im Leben drauf gekommen. Du und Luisa? Also ich bin gerührt. Ich gratuliere euch.“ begeisterte sich Elena.

„Mensch, Luisa, ich freue mich für dich. Für dich ganz besonders. Schön, dass du wieder bei mir bist. Wie fühlst du dich?“

„Also mir geht es bestens! Nie in meinem Leben habe ich mich besser gefühlt. Cassandra ist ein Schatz. Es ist, als blühe ich in ihrer Nähe auf.“ bestätigte Luisa.

„Jetzt da du es sagst, fällt es mir auch auf. Du siehst echt gut aus. Cassandra hat wohl ihre sinnliche Kraft auf dich übertragen?“

„Hm, ich denke schon! Aber Spaß beiseite. Luisa und ich lieben uns. Wir möchten zusammenbleiben und wir haben uns entschlossen, es auf deinem Gelände zu tun. Als Dank übereignen wir dir unser beider Vermögen.“ lautete Cassandras Angebot.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll! Danke! Einfach nur danke! Ihr kommt geradezu wie gerufen. Wir können eine Finanzspritze dringend gebrauchen. Das wäre wirklich eine tolle Sache.

Vor allem schon der umfangreichen Baumaßnahmen wegen, die wir anstreben.“

„Wir haben gehört, dass die Abtei als eine Art von exterritorialem Gebiet zu betrachten sei. Stimmt das auch?“ wollte Luisa wissen.

„Das ist richtig! Ihr seid hier absolut sicher, zumindest, solange Cornelius lebt und in Amt und Würden bleibt. Ich stehe in Verhandlungen mit ihm, um diese Autonomie noch weiter auszubauen. Derzeit erarbeiten wir einen Finanzplan für die Zukunft. Wir sind auch in der Lage, unsere Geldgeschäfte unabhängig von staatlicher Bevormundung zu tätigen. Ich kann euch versprechen, euer Geld ist hier absolut sicher und vor allem gut angelegt. Ach, richtig, Cassandra, du warst doch im früheren Leben mal Börsenmaklerin, ich könnte mir vorstellen, dass du deine Kenntnisse von einst hier gut einbringen kannst, wenn du willst, natürlich.“ stellte Elena fest.

„Ich konnte mir denken, dass du drauf anspielst. Ist aber schon ne ganze Weile her, musst du bedenken. Ich kann es versuchen, aber ich muss mich einarbeiten, brauche Zeit. Aber du hast natürlich Recht. Wenn ich hier lebe, möchte ich auch was tun.“ entgegnete Cassandra.

„Als Fotomodell hast du natürlich viel einfacher dein Geld gemacht. Fotografieren tun wir hier auch.“ meinte Elena.

„Nun, das Leben ist für mich vorbei. Ich hatte in Luisas Obhut genügend Zeit, über vieles nachzudenken. Auch ich hab so ne Art Lebenswende hinter mir, wenn auch nicht annähernd so spektakulär  wie die deine. Vor allem möchte ich an Luisa wiedergutmachen, was ich ihr früher so alles zumutete.“

„Lass doch die alten Geschichten. Hab ich doch längst vergessen!“ unterbrach Luisa, der es offensichtlich unangenehm war über diese Zeit zu sprechen.

„Ich weiß, dass du dich nicht gern daran zurück erinnerst, Liebes. Aber ich hab von dir nur Gutes erfahren, in der Zeit, als es mir dreckig ging. Nun ist es mir möglich, mich dafür zu revanchieren. Meine Güte, welch blöde Kuh war ich doch in all den Jahren. Da suche ich mein Glück im Jetset, auf Glimmerpartys jedweder Art. Sex hatte ich zur Genüge, aber eines fand ich erst bei Luisa, nämlich wahre Liebe. Dabei kannten wir uns schon. Wie oft war ich Gast in deinem Haus, Elena, und nächtigte bei dir unter der Decke. Luisa ist mir niemals wirklich aufgefallen. Dabei ist sie wunderschön!“

Luisa errötete und senkte ihren Blick.

„Das Glück wartete im Dienstbotengemach und ich war zu dämlich, das zu kapieren.“

„Hier findet ihr eine Umgebung, die eurer Beziehung entgegen kommt. Menschen unterschiedlicher Herkunft begegnen sich hier auf Augenhöhe. So hab ich es mir immer gewünscht.“

„Hört sich gut an! Wir helfen dir sehr gern beim Aufbau eines solchen Paradieses!“ erwiderte Cassandra.

„Ich will nicht von einem Paradies sprechen, dass wäre eine Versuchung. Es wird nicht immer paradiesisch zugehen, aber dafür umso menschlicher. Viel Arbeit liegt vor uns. Dafür benötige ich drei Dinge. Viele neue, gute Ideen, jede Menge Leute, die bereit sind mitzumachen und nicht zuletzt die finanzielle Grundlage. Ihr zwei habt mich gerade mit allen dreien reichlich ausgestattet.

Tun das alle, die in Zukunft kommen, dann werden wir schon bald ein prosperierendes Gemeinwesen schaffen.“ gab Elena zu verstehen.

Elenas Worte sollten sich als prophetisch erweisen, denn Cassandras und Luisas Idee sollten bald schon Schule machen. In der Folgezeit entschlossen sich eine ganze Reihe ehemaliger Privo zu diesem ungewöhnlichen Schritt. Weil durch die fast undurchdringlich gewordene Grenze eine äußere Emigration so gut wie ausgeschlossen war, blieb nur die innere. Als Angehörige der Kommune genossen sie Schutz vor den Nachstellungen des Sicherheitsdienstes und konnten sich zumindest einigermaßen frei bewegen. Bevor sie ihr Vermögen Neidhardt in den Rachen schmissen, lieferten sie es bei Elena ab, eine simple Lösung, die wesentlich mit dazu beitrug, dass sich die Kommune auf dem Gelände der Abtei und später dann auch darüber hinaus prachtvoll entwickeln konnte.