Colette - Kein Platz für Träumer

 

„Entweder du bringst dich in unsere WG mit dem gleichen Enthusiasmus ein, wie es die übrigen tun, oder wir müssen uns ernsthafte Gedanken darüber machen uns zu trennen.“ drohte Peter, während sich die Bewohner der politischen Wohngemeinschaft zu ihrem wöchentlichen Hausplenum versammelt hatten.

 

Nun war es also aus raus. Vermutet hatte Colette schon seit langem, dass man sie loswerden wollte. Sie war darauf vorbereitet, trotzdem schmerzte die kalte Wahrheit.

„Aber ich habe mich doch eingebracht. „ Widersprach die Angefochtene mit leiser Stimme. „Immer wieder und immer von Neuem. Ständig versuchte ich alles nach besten Kräften zu handhaben. Trotzdem seid ihr unzufrieden?“

„Weil wir dich darauf hingewiesen haben. So geht das aber nicht! Du musst sehen wo es fehlt. Verstehst du! Selbstständig erkennen und richtig handeln! Nur so kann Gemeinschaft funktionieren.“ Konterte Iris während sie dabei den Zigarettenrauch häppchenweise auspustete, damit Colette, die Nichtraucherin auch eine gehörige Portion davon abbekam.

„Wir können dir nicht ständig hinterherlaufen, wo kommen wir da hin. Wenn das nun alle machen würden. Du bist einfach nicht gewillt die dir gestellten Aufgaben anzunehmen, das ist alles.“ Gab nun auch noch Marcus seinen Senf dazu.

„Aber jeder Mensch sieht anders. Niemals sehen zwei Leute das Gleiche. Dem einen fällt  eine Ungereimtheit auf, dem anderen nicht. Wir sind alle nur Menschen. Wenn ich einen Fehler begangen habe, dann sagt es. Ich dränge mich niemals auf. Ich frage lieber einmal mehr, als das ich etwas tue, das sich im nachhinein als Fehlentscheidung erweist.“ Versuchte sich Colette erneut zu verteidigen. Doch schien all das  kaum von Nutzen. Sie hatten sich auf sie eingeschossen und da halfen auch noch so scharfe Argumente nicht weiter.

„Warum bist du überhaupt hierher gekommen? Das würden wir alle gerne wissen. Liegt dir überhaupt etwas an unserer politischen Arbeit, oder hast du am Ende nur einen billigen Platz zum Wohnen gesucht? Immer dann  wenn wir dich danach fragen, weichst du uns aus oder gibst irgendwelche fadenscheinigen Ausreden. So kann das einfach nicht mehr weiter gehen!“ Schimpfte Peter energisch.

„Erklären musst du dich! Verstehst du? Uns darüber aufklären was du für Vorstellungen hast. Wir alle haben ein Recht darauf das in Erfahrung zu bringen.“ Pflichtet ihm Iris bei nachdem sie die Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt hatte.

Erklären sollte sich Colette. Ständig redete man auf sie ein, seit sie vor etwa einem Jahr hier eingezogen war. Warum nur konnten sie keine Ruhe geben? Was in aller Welt hatte sie verbrochen? Nur weil sie nie viel redete, sich nicht in den Vordergrund drängte und lieber aus der Distanz ins Geschehen eingriff?

In einem Buch das sie vor kurzem las, stieß sie auf ein hochinteressantes Zitat.

„Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss!“ Wahr gesprochen! In diesem  Augenblick wurde ihr bewusst das sie nie eine Heimat hatte und allem Anschein nach auch niemals eine besitzen würde . Denn erklären musste sie sich seit sie denken konnte.

Colette war eine Kundra, so nannte man in Melancholanien all jene Menschen deren Körperliches Geschlecht nicht zu ihrer Seele gehörte, sich im falschen Körper geboren fühlten, oder sich gar keinem der beiden Geschlechter zuordneten.

Colette hatte einen männlichen Körper aber eine weibliche Seele. Sie fühlte sich als Frau und lebte in dieser Identität.

Die Gesellschaft Melancholaniens hatte keinen rechten Bezug zu Menschen ihrer Art und lehnte sie ab. Sie wurden toleriert aber nicht wirklich akzeptiert. Verband in eigens für sie vorgesehene Refugien, fristeten die meisten von ihnen eine Schattenexistenz. An den Rand gedrängt und ausgegrenzt. Gesellschaftliche Anerkennung kannten sie nicht, ein beruflicher Aufstieg unter diesen Umständen so gut wie unmöglich.

Der gesellschaftliche Status bestimmte weitgehend ihr Dasein. Kamen sie aus den Reihen der Privo konnten sie sich ihrem Lebensraum kaufen und sich ganz angenehm darin einrichten. Fernab von allen Lästermäulern.

Waren sie jedoch gezwungen ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu bestreiten, sahen sie sich nicht selten einem beispiellosen Mobbing ausgesetzt, vorausgesetzt natürlich sie fanden überhaupt eine Arbeit. Überdurchschnittlich viele Kundras rutschen daher in die Kaste der Paria ab, der Nichtexistenzen ganz unten. Meist waren dann Bettelei, Gaunereien oder Prostitution die wenigen Möglichkeiten sich über Wasser zu halten.

Colette versuchte all dem zu entrinnen, indem sie sich politisch organisierte und engagierte.

Und indem sie sich künstlerisch betätigte.

Mitte 40 war sie jetzt und ihr Lebensweg bestand vor allem darin sich von einer Brücke zu anderen zu hangeln. Aber festen Boden unter den Füßen, einen sicheren Grund, konnte sie bisher nicht betreten. Es war ihr nicht vergönnt etwas zu finden dass ihr Leben wirklich ausfüllte, einen Sinn oder eine Bedeutung gab. Ein Heim, ein echtes Zuhause, eben Heimat.

Beständigkeit, Sicherheiten, das Gefühl angenommen und gebraucht zu werden, gab es in ihrem Leben nicht. Ruhelos bis zu Erschöpfung, von einem Provisorium zum anderen, so sah sie aus die reale Welt. Colette die einsame Wanderin in der Nacht, ohne Ziel, ohne Bestimmung, heimatlos.

Ausgebrannt und erschöpft kehrte sie immer wieder zu ihrer Mutter heim, vor allem dann wenn sie total am Ende war und es keinen anderen Ausweg mehr zu geben schien.

Doch lange hielt sie es dort nie aus. Die ständigen Vorwürfe. Warum bist du so wie du bist? Warum hast du es zu nichts gebracht? Wann suchst du dir endlich eine Frau? Und so weiter und so fort. Schnell waren die paar Habseligkeiten gepackt und es ging wieder raus ins Ungewisse. Der Trennungsschmerz steigerte sich immerfort je älter die Mutter wurde. Was sollte sie tun, würde die eines Tages nicht mehr leben? Und dann diese Schuldgefühle. Wieviel Schuld erträgt ein Mensch?

„Woran liegt es Colette? Sag mal hörst du mir überhaupt zu?“ Riss Iris ihre Nachbarin aus dem Tagtraum. Das ist auch so eine Angelegenheit. Du schaltest einfach ab und das war`s. Du bist nie richtig bei der Sache. Ständig wanderst du in Gedanken im Nirgendwo herum. Du bist eine Träumerin! Nicht mehr und nicht weniger und so was können wir hier nicht gebrauchen!“

„Sicher bin ich das! Und wäre das so schlimm für euch?“ Wagte Colette zu widersprechen.

„Wirklich weise ist, wer mehr Träume in seiner Seele hat, als die Realität zerstören kann. So sagt ein altes indianisches Sprichwort.“

„Ach hör doch mit diesen Sprüchen auf. Etwas anders hast du wohl gar nicht mehr auf Lager Wir haben keine Zeit zum Träumen. Wir machen handfeste politische Arbeit. Konkrete Projekte bedürfen einer logischen Zielrichtung. Dass ist unsere Aufgabe, deshalb haben wir uns hier zusammengeschlossen. Die Revolution kommt nur durch Taten in Gang. Träumer haben bei uns nichts verloren. Und außerdem will ich das Wort indianisch nicht mehr hören, das ist diskriminierend. Wir nennen es indigene Weisheit. Wenn es so etwas überhaupt gibt.“

Klärte sie Peter auf.

Colette schien heute wieder kein Fettnäpfchen auszulassen. Und derer gab viele in diesem Haus, als dass sie ihnen hätte ausweichen können.

In so einem Fall half nur Schlagfertigkeit.

„Wer keine Zeit zum Träumen hat, hat auch keine Kraft zum Kämpfen. Originalzitat  Wladimir Iljitsch Lenin.“

Das saß. Damit hatte wohl keiner gerechnet.

Immerhin berief sich die  Hausgemeinschaft auf den Marxismus. Beziehungsweise was noch davon übrig war. Im ganzen Land sollten Wohngemeinschaften dieser Art entstehen um die Ideen weiter zutragen. Oberster Schirmherr war der Vordenker der Revolution Neidhardt. Der in die Jahre gekommene Revolutionär strebte eine gewaltsame Umgestaltung der Gesellschaft an. Seine Radikal-Revolutionäre Partei war zwar verboten,  konnte aber aus dem Untergrund weiter die Fäden ziehen. Ihm ordnete sich auch diese WG zu. Neidhardt begann langsam aber sicher den Marxismus in einen Neidhardtismus umzugestalten.

Eisiges Schweigen erfüllte die Gemeinschaftsküche. Keiner verstand es so schnell darauf einzugehen.

Als Jürgen gerade ansetzen wollte öffnete sich die Tür.

„Na hackt ihr wieder schön auf der guten alten Colette herum!“ Meinte Jana nachdem sie in die Küche eingetreten war. Sie hatte sich verspätet, wie so oft. Ihr Studium war ihr wichtiger als die politischen Aktivitäten ihrer Mitbewohner. Colette hatte für diese Einstellung durchaus Verständnis. Jana war die einzige liebenswerte Person in dieser Hausgemeinschaft, ein Lichtblick im Dunkel der Kümmernis. Doch die würde bald ausziehen. Dann hatte Colette gar niemanden mehr dem sie sich anvertrauen konnte. Einsamkeit legte sich wie ein kalter Mantel um ihr Herz. 

„Na du musst ja wieder Kontra geben. Zu spät kommen und dann die Lippe riskieren, das haben wir gern.“ Wurde sie sogleich von Iris zurechtgewiesen.

„Schon gut! Schon gut! Reg dich ab! Kein Grund sich immer gleich wie eine beleidigte Leberwurst aufzuführen.“ Jana ließ sich am Tisch nieder.

„Also wo waren wir stehe geblieben? Ja….äh Colette, wie also stellst du dir deine Mitarbeit in Zukunft bei uns vor. Wir wollen endlich eine Antwort. Wir sind ein Kollektiv und das allein zählt. Hier gibt es keine Extrawürste. Hier kann nicht jeder das tun was so ihm mal gerade passt. Wir ziehen hier an einem Strang.“ Setzte Peter seine Standpauke fort.

„ Absolut! Das Kollektiv allein ist entscheidend, der einzelne gilt nichts. Das Individuum hat sich dem Kollektiv unter zu ordnen, so lange bis es darin vollständig aufgegangen ist.“ Erwiderte Colette, so als habe sie diese Worte seit frühester Kindheit verinnerlicht.

„Genau! Das ist der richtige Weg. Oder fällt dir ein Besserer ein? „ Wollte Iris wissen.

„Klar doch! Beides miteinander verbinden! Das Individuum als autonomer Teil des Kollektivs. Man kann eine Gemeinschaft nicht durch Zwang und Druck erschaffen. Schon gar nicht durch Hierarchien die von oben herab alles nach ihren Vorstellungen dirigieren.“

Entgegnete Colette.

„In diesem Haus gibt es keine Hierarchien. Wir sind alle gleich. Wir leben in einer egalitären Gemeinschaft. Was glaubst du warum wir uns allwöchentlich zum Plenum versammeln?“

Erboste sich Marcus.

„Um die Vorstellungen der Hierarchien einzubringen und die Zustimmung der übrigen einzuholen.“ Antwortete die Angesprochene, die nun ihre Selbstsicherheit wiedererlangt hatte.

„Du kannst immer nur provozieren! Selber nichts vorweisen können, aber die anderen kritisieren. Das ist alles wozu du imstande bist.“ Konterte Iris.

„Konstruktive Kritik hat noch keinem geschadet! Im Gegenteil, sie hilft der Hierarchie sich ihrer eigentliche Aufgabe bewusst zu werden. Ich bin ja unter Umständen bereit die Autoritäten, die sich hier gebildet haben, zu akzeptieren, aber die müsste dann zumindest meine Kritik aushalten. Tut sie es nicht, ist der Weg frei in Richtung Diktatur.“ Wagte Colette weiter ihre ketzerischen Thesen einzubringen.

„Jetzt ist es aber genug! Du bist ja vollkommen durchgeknallt. Nur weil dir etwas nicht in den Kram passt, muss das noch lange nicht autoritär sein. Mit dir kann man  nicht vernünftig reden. Du bist und bleibst eben eine unverbesserliche Querulantin. Da ist Hopfen und Malz verloren. Ich sehe im Moment keinen Sinn darin die Diskussion weiter zu führen.“ Gab Peter zu verstehen, der sich offensichtlich persönlich angegriffen schien.

„Aber ich möchte die Diskussion gerne fortsetzen.“ Schaltet sich nun Jana wieder rein.

„Andauernd verurteilt ihr Colette, werft ihr vor sich zurückzuziehen und sich nicht in ausreichendem Maße an der Diskussion zu beteiligen. Tut sie es aber dann doch ist es auch wieder verkehrt. Lasst Colette reden! Denn das was sie vorzubringen hat ist sehr interessant.

Ich möchte ihren Gedankengängen gerne weiter folgen.“

„Ich bin immer bereit mich einzubringen, mit Vorschlägen, Anregungen, konstruktiver Kritik.“ Bestätigte Colette.

„Deine Kritik ist rein destruktiv! Alles was aus deinem Munde kommt ist nicht zu gebrauchen. Deshalb können wir alle gerne darauf verzichten.“ Beschwerte sich Marcus.

„Sprich für dich selbst Marcus und maß dir nicht an das für die anderen zu übernehmen. Ich möchte nämlich nicht darauf verzichten.“ Wies Jana diese Anmaßung zurück.

„Aber Colette hat nichts eingebracht  seit sie hier lebt! Nichts außer irgendwelchen Träumereien. Oder habt ihr etwas anderes daraus entnommen.“ Wunderte sich Iris.

„Gefährlich Träumereien um es einmal präziser auszudrücken.“ Pflichtet ihr Peter bei.

„Es sind die Vorstellungen dieses Oberträumers und Phantasten Kovacs, die aus ihren Worten sprechen. Gut, damit ist sie nicht allein. Dieser weltfremde Dichter mit seinen abstrusen Ideen, der sich von allem zurückgezogen hat, ist dabei ganze Teile der Bevölkerung zu infizieren. Der Schwachsinn den er verbreitet ist durch und durch subversiv. Das ist ganz und gar kein Verbündeter für uns. Denkt daran mit welch scharfen Worten er erst kürzlich unseren Neidhardt kritisiert hat. Und der wagt es sich als Revolutionär zu bezeichnen. Ich sage euch der ist gefährlich. Ein Reaktionär durch und durch. Wer weiß womöglich ist er sogar ein geheimer Agent des Blauen Orden.“

Nun konnte Colette nicht mehr an sich halten.

„Das was du da sagst ist gemein und abscheulich. Der rechtsextreme Blaue Orden ist verantwortlich für den Tod von Kovacs Frau und deren Sohn. Das ist der Grund warum er sich von der Welt zurückgezogen hat. Ich möchte dich sehen, wenn man dir das liebste nimmt was es für dich gibt und noch dazu auf so tragische Weise. Kovacs Ideen sind nicht allmächtig. Er hat das nie behauptet. Er ist nur ein Mensch, einer mit Schwächen und Fehlern. Ganz im Gegensatz zu Neidhardts Absolutheitsanspruch, der seine Lehre erst kürzlich als allmächtig bezeichnet hat, weil sie wahr sei.* Deshalb hat Kovacs ihn kritisiert und er hatte damit vollkommen recht.“

Schweigen senkte sich erneut herab. Colette hatte damit eine unangenehme Wahrheit angesprochen. Denn es gab nicht wenige in den eigenen Reihen die Neidhardts Äußerung als zu weitgehend empfanden. Denn mit dieser Aussage erhob sich der Revolutionsführer quasi zu einer Art Gottgleichen Wesen.

Der bescheidene und alternative Dichter Kovacs hingegen konnte gerade durch seine Offenheit und Diskussionsbereitschaft viele neue Anhänger gewinnen. Ihn als Reaktionär zu bezeichnen war absurd. Seine Ideen waren durchdrungen von einem Freiheitsgedanken gigantischen Ausmaßes. Aus diesem Grund stießen Peters Ansichten auch bei den anderen nicht auf ungeteilte Zustimmung.

„Ich glaube du gehst mit deinen Mutmaßungen ein wenig zu weit Peter. Kovacs in die Nähe des Blauen Orden zu rücken ist Unsinn. Der hat mit diesen elitären Spießern ebensowenig am Hut wie wir. Kovacs Ansichten sind eindeutig anarchistisch. Deshalb aber nicht minder gefährlich für unsere Sache. Anarchisten sind vor allem kleinbürgerliche Chaoten, die haben einfach den objektiven Gang der Geschichte noch nicht erkannt. Zugegeben, ihre Absichten sind durchaus lauter. Aber da ist einfach zu viel an Gefühlsduselei am Werk. Die Revolution kommt nicht von unten, von den Massen. Es bedarf einer starken Hand um die Massen zu führen.

Aber wir weichen von Thema ab.

Wir sind aber nicht hier um über Kovacs zu diskutieren. Es geht um Colette und nur um sie. Deshalb haben wir uns versammelt. Wenn Colette die Meinung vertritt, das Kovacs im Besitz der absoluten Wahrheit ist, soll sie doch zu ihm gehen. Es steht jedem frei jederzeit seinen Koffer zu packen um auszuziehen.“ Hielt Viktor entgegen.

Das war eine heimliche Drohung. Zumindest empfand es Colette als solche.

„Das würde ich nur allzu gerne tun. Aber er hat sich in die Einsamkeit zurückgezogen um allein zu sein. Ich respektiere das. Er möchte keine Sekte gründen, deshalb hat er allen abgeraten sich ihm direkt anzuschließen. Seine Ideen sollen in der Welt leben und nicht an einem geheimen Ort im Untergrund.“

Ein erneuter Seitenhieb auf Neidhardt der ein Leben in der Illegalität führte. Niemand wusste um seinen derzeitige Aufenthaltsort. Auch in dieser WG vermochte keiner zu sagen wo er derzeit untergetaucht war. Kovacs hingegen konnte man jederzeit aufsuchen. Er stand zu Gesprächen bereit. Es machten nur sehr wenige Gebrauch davon, weil sie fürchteten, durch allzuviel Nähe selbst in Gefahr zu geraten.

„Also mir wird es jetzt zu theoretisch. Wiedervorlage! Wir besprechen das nächste Woche. Bis dahin hast du noch einmal Bedenkzeit Colette. Ich hoffe du kannst uns dann endlich mehr darüber berichten was du eigentlich willst.“ Brach Peter abrupt das Gespräch ab. So waren sie, die autoritären Revolutionäre. Immer dann wenn es drohte brenzlig zu werden, die Diskussion abwürgen und vertagen.

Anderseits konnte sich die Kundra glücklich schätzen dem Tribunal wieder einmal entkommen zu sein. Eine Galgenfrist war es, nicht mehr, aber immerhin eine Verschnaufpause.

„Und jetzt gehen wir zum gemütlichen Teil über.“ Schlug Peter vor. Eine Gesellige Runde folge nun üblicherweise. Doch Colette war es ganz und gar nicht danach. Gute Miene zum bösen Spiel, das war nicht ihre Art mit Problemen umzugehen. Sie war froh sich auf ihr Zimmer zurückziehen zu können.

Sie warf noch einen Blick in die Runde. Gerne hätte sie sich noch einmal mit Jana ausgetauscht, doch die war in einem Gespräch vertieft.

Dann eben nicht. Colette schloss die Türe hinter sich und bewegte sich eine Treppe nach oben. Ihr Zimmer glich eigentlich mehr einem Loch, das dringend einer Renovierung bedurfte. Aber wozu noch, da ihr Verbleib hier ohnehin auf der Kippe stand. Das Mobbing würde sich fortsetzen, bis zu jenem Tag, an dem sie von ganz alleine ging.

Colette blickte sich um. Alles vertraut und doch fremd. Nie konnte sie sich hier wirklich einleben. Ein Notbehelf, nicht mehr und nicht weniger. Es war ganz und gar nicht das was sie sich unter politischer Arbeit vorstellte.

„Sag uns endlich was du willst!“  Beständig hallten diese Worte in ihrem Kopfe nach

Es war schon später Abend, Zeit zu Bett zu gehen. Die gesellige Runde unter ihr konnte sich unter Umständen wieder bis in die Morgenstunden ziehen, das hatte Tradition.

Schlaf konnte Colette mit Sicherheit keinen finden in dieser Nacht, zu aufgewühlt ihr Inneres, unaufhörlich arbeitete die Spule in ihrem Hirn und lies sie nicht zur Ruhe kommen.

Trist, öde, lieblos, so empfand sie die Umgebung hier. Unfähig zur spontanen Aktion und total der Stagnation verfallen. Liebend gern würde sie schon morgen die Koffer packen, wenn sie denn wüste wohin? Es gab keine Alternative. Weder heute noch morgen noch in absehbarer Zeit. 

Also bleiben und den Dingen harren die sich ihr wie eine Welle bedrohlich nahten.

 

 

„Was willst du? Rück schon heraus damit!“

Ihre Gedanken begannen zu kreisen, tanzten um ein Ich das nicht zu ihr gehörte.

Die da unten sahen in Colette wieder nur so eine Art Tu-nicht-Gut, einen Taugenichts, der einfach so in den Tag lebte. Zugegeben, so etwas in der Art war sie tatsächlich in letzter Zeit, aber nur weil sie ihre Ideen und Vorstellungen, ihre Wünsche und Sehnsüchte niemals würde umsetzen können.

Schrieb sie auf, was sie bewegte, was sie wünschte und  noch so alles zu tun gedachte, wenn man sie den gewähren ließe,  die Liste wäre meterlang, soviel Potential stand zur Verfügung. Sie war in der Tat eine Träumerin, grenzenlos ihre Phantasie. Doch nichts davon konnte sie verwirklichen.

Nur im Traum, da war sie wirklich frei,  konnte sie tun und lassen was sie wollte. Auf den Flügeln der Träume reiste sie in ferne Länder, ferne Welten und Dimensionen. Es gab dort keine Grenzen oder Einschränkungen. Da war sie nur sie selbst und brauchte sich nicht zu erklären. Dort fand sie kurzzeitig wonach sie sich so sehnte, eine echte Heimat.

In ihren Träumen war sie stets eine Frau, hübsch anzusehen, begehrt und umworben.

Im Reich der Träume fand sie ihre ideale Welt, eine Welt der Harmonie und der Verständigung. Eine Welt, befreit von allem Ballast der das Leben elend und erbärmlich macht. Phantasie und Kreativität stimmten hier den Ton an und Colette konnte sich derer nach Herzenslust bedienen um ihre Vorstellungen zum Leben zu erwecken.

Hier lebte sie sich aus und fühlte sich geborgen, behütet und bewahrt.

Wenn sie dann erwachte kam es ihr so vor als habe man sie mit Gewalt aus dem Leben gerissen. Nun hieß es abtauchen in eine Welt, die nicht die ihre war .Das Leben in das sie sich jeden Morgen widerwillig begab, war eine Art von Tod, die nicht enden wollende Last unter deren Gewicht sie in naher Zukunft zusammen brechen drohte.

Aber sie stand zu diesem ihrem Daseinszustand und wollte sich der kalten Wahrheit stellen.

Sich niemals unterkriegen lassen. Immer den Kopf hoch erhoben und keine Schwäche zeigen.

In der Runde, im Plenum und den anderen Gelegenheiten des Zusammenseins mit ihren Mitbewohnern, gelang es ihr stets Haltung zu bewahren. Niemand sollte Macht über sie bekommen, indem man ihren Stolz brach. Nur nachts, wenn sie sich zu Ruhe begab, weinte sie heimlich ihre Tränen, dabei beständig auf die erlösenden Träume hoffend.

Der Tag ließ keine Zeit für Träume. Da war sie nur dieses fremde, dieses undefinierbare Wesen aus einer anderen Wirklichkeit, das sich stets und ständig und bei allen möglichen Gelegenheit zu erklären hatte.

Colette war der Worte überdrüssig. Nicht selten wünschte sie sich stumm zu sein, nicht reden zu können.  Denn wer des Sprechens unfähig ist, braucht  folglich auch nicht bei allen möglichen Gelegenheiten Rede und Antwort  zu stehen.

Die Sprache, das war regelrechter Fluch. Viel leichter verstand sie es sich schriftlich aus zu drücken, schon als Kind begann sie damit , alles was sie bewegte zu notieren, in ihrem Tagebuch, das sich zu einem zweiten Ich ,zu einem Spiegel ihrer Seele entwickelt hatte.

Sich mündlich auszudrücken viel ihr ungemein schwerer, vor allem bei Tribunalen und derer gab es viele in ihrem Leben. Ihre „Gesprächspartner“ verstanden es geschickt Colette in die Enge zu treiben und deren Schwäche schamlos auszunutzen. Das brachte es mit sich das sie immer unsicherer wurde was das Formulieren betraf. Nicht selten war sie kaum noch fähig ihre Gedanken in Worte zu kleiden und brachte nur noch ein Stammeln hervor. So entwickelte sich nicht selten der Eindruck, dass es sich bei Colette um eine geistig unterentwickelte  Person handelte, die es entsprechend zu manipulieren galt.

„Reden ist Silber –Schweigen ist Gold!“  Dieses alte Sprichwort hatte seine Gültigkeit nie verloren.

Wer viel redet, zerredet auch entsprechend viel, redet sich nicht selten um Kopf und Kragen. Je mehr der Mensch von seinem Inneren preis gibt, desto mehr Macht legt er in die Hände der Anderen, liefert ihnen geradezu die Munition.

Colette fasste einen Entschluss von hoher Tragweite. Sie nahm sich vor in Zukunft vollständig zu schweigen, so als habe sie urplötzlich ihre Sprache verloren. Auch während des allwöchentlichen Plenum, wollte sie keinen Ton mehr von sich geben. Ein Experiment ,dessen Ausgang im Dunkel des Ungewissen lag.

Entsprechend gespannt war sie auf die Reaktion der Anderen.

Colette hatte das Klopfen an der Tür nicht wahrgenommen, erst als sich Jana im Zimmer befand schreckte sie nach oben.

„Hab ich dich erschreckt? Entschuldige! Das war nicht meine Absicht.“

„Kein Problem! Alles in Ordnung! Komm nur rein? Aber du bist ja schon hier! Was rede ich denn?“ Colette machte auf Jana einen verwirrten Eindruck.

„Alles in Ordnung? Ich wollte mich nur erkundigen wie es dir geht! Da unten hatte ich den Eindruck, dass es mit deinem Befinden nicht gerade zum Besten steht.“ Erkundigte sich die junge Studentin.

„Ach, geht schon! Alles in Butter! Ist doch für mich inzwischen zur Routine geworden. Mach dir um meinetwegen keine Gedanken.“

Versuchte Colette die Sache herunter zuspielen.

„Na, da wäre ich mir aber nicht so sicher! Aber wenn du es sagst, kann ich es akzeptieren.“

Welch Wunder! Da fand sich jemand mit ihrer Antwort ab ohne sie sogleich in Frage zu stellen.

„Setzt dich doch, wenn du schon mal hier bist!“ Bot Colette ihrer Besucherin an.

„Nee, muss gleich nach oben. Noch viel zu tun! Langsam muss ich mich anfangen alle zusammen zu packen. Ich bin jetzt schon im Verzug.“ Lehnte Jana freundlich ab.

„Also bist du nun endgültig entschlossen auszuziehen?“

„Ja! In zwei Wochen denke ich bin ich soweit. Wird auch höchste Zeit. Hier, das ist ein Notbehelf. So kann man nicht auf Dauer leben. Ich freue mich schon auf meine neue Wohnung. Klein, aber mein! Nur für mich allein. Das ist toll, tun zu können was man will, ohne auf andere Rücksicht nehmen zu müssen.“

Wie war gesprochen. Genau das war es was Colette so dringend brauchte, doch im Gegensatz zu Jana gab es für sie keine Alternative.

„Dann kann ich dir  nur viel Glück wünschen. Du wirst mir fehlen.“ Bedauerte Colette.

Jana formte ihren Mund zu einem bezauberten Lächeln, vor allem darauf würde Colette in Zukunft verzichten müssen.

„Und wie ist es mit dir? An deiner Stelle würde ich hier auch so bald als möglich den Abflug machen. Ist doch kein Leben für dich. Jemand wie du braucht eine Umgebung um sich frei zu entfalten. Du bist doch zu viel höhere berufen. Du bist ein Schmetterling, hier in dieser Bude bleibst du auf ewig eine Raupe. Möchtest du nicht auch bald deinen Kokon loswerden?“

Gab es das? Da glaubte  doch tatsächlich jemand an ihre Fähigkeiten! Jedes Wort das über Janas Lippen kam war Balsam auf Colettes geschundener Seele.

Aber es war Theorie, die Praxis präsentierte sich in einem ganz anderen Licht. Die Welt da draußen war ein Dschungel, wogegen sich Brasiliens Amazonasregion geradezu wie ein gepflegter Garten ausnahm. In diesem Konglomerat aus Abscheulichkeiten tendierte Colettes Überlebenschance gegen Null.

"Wo soll ich denn hin? Auf mich wartet kein neues Leben da draußen. Den Ort den kann man wechseln, aber niemals das Milieu in das man eingebettet ist.

Eine falsche Aura haftet mir an und mauert mich ein seit ich denken kann. Ich bin Gefangene meines falschen Ich. Ein Ich das mich mir selbst entfremdet, jeden Tag immer wieder von neuem, jeden Tag 24 Stunden lang.“

„Dann über winde es dein falsches ich und werde du selbst!“ Schlug Jana vor.

Stop! Jetzt wurde es wieder theoretisch.  Jana studierte im fünften Semester Psychologie. Es hieß für Colette die Notbremse ziehen, wollte sie nicht in einen Strudel der Wirrnis landen.

Eine typische Psychologenfrage. Sie durfte nicht darauf eingehen. Zu wichtig erschien ihr dieses Gespräch und der Mensch mit dem sie es führte, als dass sie es in ein solch sinnlosen Geblubber münden lassen wollte.

Seit ihrer Jugend hatte Colette negative Erfahrungen mit den Seelenklempner machen müssen.  Sie mochte Jana, doch deren Berufswunsch konnte sie nicht nachvollziehen.

„Ich werde es hier sicher auch nicht mehr lange aushalten. Ich muss halt sehen wo ich bleibe. Darf nichts überstürzen, muss mit Vernunft und Augenmaß vorgehen, bei der Wohnungssuche.“

Jana respektierte den Themenwechsel und verzichtet drauf weiter 0815-Ratschläge zu erteilen.

„Ja in dieser Bude bin ich tatsächlich fehl am Platz. Das ist mir schon seit geraumer Zeit bewusst. Wir werden die Revolution eben wo anders suchen müssen.“ Legte Colette noch einmal nach.

„Dann wünsche ich dir ebenfalls alles Gute! Muss mich jetzt leider zurückziehen. Wir sehen uns die Tage sicher noch des Öfteren.“

Jana schloss die Tür hinter sich und ließ die Freundin mit ihrem Falschen Ich allein zurück.

Die begann wieder zu grübeln. War es ein Fehler das Gespräch auf diese Weise zu beenden? Aber Jana hatte schon zu Anfang gesagt, dass sie ohnehin nicht viel Zeit hatte.

Colette hatte die Therapeuten einfach in zu schlechter Erinnerung. Sie war transident und zudem hochsensibel und das in einer Umgebung die mit beidem nicht allzuviel anzufangen wusste. Hilflos standen die Psychologen beiden Phänomenen gegenüber und eine Fehldiagnose reihte sich an die andere. Colette fand sich bald, wie unzählige ihrer Leidensgenossinnen, in der Schublade der Neurotiker oder gar Psychopathen wieder. Mit Tabletten und sinnlosen Gesprächen, versuchte man ihren Willen zu brechen und sie in Richtung Normalität zu trimmen.

Normalität? Was war das? Gab es so etwas überhaupt? Wenn ein so perverses Gesellschaftsmodell wie das melancholanische als normal angesehen wurde stand es wirklich schlecht um diese Welt. Unter diesen Umständen war Colette mit Leib und Seele  eine Verrückte Eine die von der gängigen Norm abwich und zufrieden und glücklich dabei war.

Aus diesem Grund hatte sie Kontakt zu dieser WG gesucht und gefunden. Hier glaubte sie sich wenigstens zum Teil verwirklichen zu können. Auch die wollten ja die Gesellschaft verändern, gerechter und sozialer umgestalten. Doch schon nach kurzer Zeit wurde die einsame Kundra eines Besseren belehrt.

Wenn es hier, in diesem kleinen Mikrokosmos schon nicht funktionierte, wie musste es dann erst in einem von Neidhardts Revolutionären kontrollierten Staatswesen aussehen? Konnte sich die unbeugsame Anarchistin vorstellen unter solchen Bedingungen zu leben? Nein!

Dann würde sich Dunkelheit auf Melancholanien senken und die Freiheit auf dem Altar der Macht geopfert.

Aber so wie jetzt durfte es ebenfalls nicht bleiben. Ratlosigkeit bemächtigte sich ihrer. Alle Hoffnungen einfach so fahren lassen? Auch das kam nicht in Frage.

Wie so oft begann sich das viele Grübeln negativ auf ihren Körper auszuwirken. Übel wurde ihr, kalter Schweiß bildete sich auf Stirn und in den Handflächen und langsam setzten die Schmerzen in der Halswirbelgegend ein. Wollte sie die Nacht ein wenig durchschlafen, musste sie jetzt eine Schmerztablette einwerfen.

Nachdem sie das getan hatte bettet sie sich zur Ruhe.

Als sie gerade am Einschlafen war, holte sie ein hastiges Klopfen an der Tür unsanft in die Realität zurück.

Sie nahm Peters Silhouette im schwach beleuchtete Türschlitz wahr.

„Also Colette, wir haben noch mal überlegt. Ich denke es ist besser wir warten nicht bis zum nächsten Plenum, sondern wir setzen uns schon in den nächsten Tagen zusammen und bereden alles noch mal in Ruhe. Wir müssen einfach wissen woran wir mit dir sind. Ich dachte da an übermorgen. Das könnte klappen, da hab ich Zeit. Passt es dir?“

Halb benommen richtet sich Colette auf und drehte den Kopf hin und her.

„Häh… was? Ach meinetwegen! Tu doch was du willst!“

Danach warf sie sich wieder in die Kissen.

„Nee, nee. So nicht! Ich will eine klare Antwort von dir. Siehst du so ist das mit dir. Das bringt mich langsam aber sicher zur Weißglut. Du kannst nie konkret sagen was du willst und wenn es sich um einen lumpigen Termin handelt. Also ist dir Übermorgen recht?“ Peters Stimmlage steigerte sich.

„Ja, von mir aus übermorgen!“

„Nein Colette so geht das nicht! Ich will eine vernünftige Antwort….“

„Raus! Raus! Rauuuuuuuus!“

„Also nein, so was auch! Du bist verrückt! Du bist tatsächlich verrückt! So kommst du mir nicht davon. Wiedervorlage beim nächsten Plenum!“

Erboste schmauchte Peter die Tür hinter sich zu.

Erschöpft landet Colette erneut in auf der Matratze. Folge! Eine schlaflose Nacht und noch weitere drei Schmerztablette waren das Ergebnis. Der Tag wurde auf Grund der Dauermüdigkeit zur Tortur.

 

Einige Tage später war es soweit. Ein weiteres Tribunal stand ins Haus.

Schon den ganzen Tag fühlte sich Colette unwohl. Schmerzen, Übelkeit, Müdigkeit, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, ihre ständigen Begleiter. Ein Leben ohne diese Handicaps konnte sie sich kaum noch vorstellen. Der Dauerstress begann langsam aber sicher ihre Gesundheit vollständig zu ruinieren. sowohl körperlich als auch psychisch.

Als sie von ihrer Arbeit kam, sie engagierte sich in vielen Bereichen ehrenamtlich, da sie als Nichtexistenz auf dem normalen Arbeitsmarkt chancenlos war, fühlte sie die Beschwerden in erheblichem Maße. Würde sie das heutige Plenum ohne Blessuren überstehen?

Sie war fest entschlossen am Abend die Bombe platzen zu lassen.

Jene Bombe die sie zu werfen gedachte bestand darin dass sich in Schweigen zu hüllen. Kein Wort sollte über ihre Lippen kommen und so sollte es bleiben, zumindest für die Zeit, die sie noch unter diesem Dach zu leben hatte.

Als Colette die Gemeinschaftsküche betrat, die sich im untersten Stockwerk befand, verstand sie es geschickt ihre innere Anspannung zu verbergen.

Zunächst gab es Abendessen, noch prägte eine lockere Atmosphäre die Stimmung.

Es dauerte einige Zeit bis alle Hausbewohner erschienen waren, so zog sich alles weiter in die Länge. Colette wünschte sich nur einen schnellen Verlauf, sie wollte alles so bald als möglich hinter sich bringen.

Das Plenum wurde eröffnet und zunächst die Punkte gesammelt. Colette nahm darin wider ihren Willen einen dominierenden Bereich ein.

Später sollte es auch noch um politische Dinge gehen. Etwa wie man den Aktionen des Blauen Orden begegnen sollte, bzw. dessen Unterorganisationen, die für die kommende Woche zu befürchten waren.

Auch der Theoriebildung gedachten sich die Mitglieder der WG zu widmen. Heute wollte sie sich die Mao-Tse-Tung-Idee vornehmen und deren Bedeutung für die melancholanische Gesellschaft von heute diskutieren. Mao stand derzeit hoch im Kurs. Neidhardt gab alle paar Wochen neue Direktiven heraus. Dabei änderte er nach Belieben die Richtung. War es noch bis vor kurzem Leo Trotzki und dessen Theorie der permanenten Revolution deren man zu folgen gedachte, war es eben von nun an die Mao-Tse-tung-Idee. Neidhardt experimentierte mit allem was sich ihm bot und er vermochte es noch nicht sich auf eine bestimmte revolutionäre Strömung festzulegen. Im Grunde war das auch ohne Belang, denn über allem thronte Neidhardts eigene Philosophie, die sich verschiedenen Quellen bediente.

Die Reihenfolge der Punkte wurde festgelegt, darüber gab es Meinungsverschiedenheiten.

Einige wollte lieber mit dem Thema Theoriebildung beginnen. Colette stimmte dem zu. Sie hätte nichts dagegen, denn so bestand die Hoffnung dass sich die Anwesenden daran festbissen und die anderen Themen vertagt werden mussten.

Lieber bis nachts um Drei die Mao-Tse-Tung- Idee über sich ergehen lassen, als ständig mit den eigenen aktuellen Problemen konfrontiert zu werden.

Doch leider setzte sich der Antrag nicht durch und nach einigen kleinen Punkten, die der Haushaltsführung galten, kam nun das „Problemfeld Colette“ an die Reihe.

„Also, dann kommen wir zu Colette. Hat einer was dagegen das wir uns diesen Punkt widmen:“ Fragte Peter in die Runde.

Natürlich hatte niemand etwas dagegen, Jana war wieder einmal nicht da, würde wie so häufig später dazu stoßen. Colettes letzte Hoffnung platze somit wie eine Seifenblase.

„Gut! Colette, wir hören! Wie stellst du dir deinen weiteren Weg hier in unserer WG vor.

Du hattest ja ausreichend Bedenkzeit dir die entsprechenden  Gedanken darüber zu machen und ich sehe nicht ein warum wir ständig diese Problematik verschieben müssen, nur weil du nicht in der Lage bist Rede und Antwort zu stehen.“

 In Erwartung einer Verteidigung richteten sich alle Augen auf die Angesprochene.

„Hey Colette! Was ist los, hat es dir jetzt vollständig die Sprache verschlagen?

Entrüstete sich Peter schon nach wenigen Augenblicken.

Doch die Kundra blieb sich treu und verharrte weiter im Schweigen. Nichts und niemand vermochte in diesem Moment sie dazu zu bewegen den Mund zu öffnen.

„Ach, die feine Dame möchte überhaupt nicht mehr mit uns sprechen. Ja, so einfach ist das:“

Gab Iris ihren Unmut kund.

Die Angeklagte schwieg weiter. Es entstand auf diese Art und Weise ein für alle Beteiligten überaus peinliche Situation.

„Ach das ist doch blöd! Lass sie doch einfach, wenn sie nicht will. Wir sollten einfach den nächsten Punkt vorziehen. Möglicherweise findet sie im Laufe des Abends ihre Sprache doch noch wieder.“ Schlug Marcus vor.

„Kommt überhaupt nicht in Frage. Das wäre ja noch schöner. Damit sie wieder ihren Willen durchsetzen kann. Ich habe diese Tyrannei langsam statt. Colette, zum letzten Mal, wir möchten eine Erklärung von dir!“ Peter schlug mit der Faust auf den Küchentisch, so dass das Porzellan schepperte.

Doch von Colette war kein Laut zu vernehmen. Sie schwieg. Ihr Schweigen war so laut und aussagekräftig wie es all das Gekreisch zuvor nicht zu tun vermochte.

Das Schweigen war ihre Waffe, eine scharfe, eine gefährliche und wirksame zugleich.

Die Spannung steigerte sich und senkte sich auf die gedankenerfüllten Köpfe.

Nach etwa einer halben Stunde Schweigen, sah sich Peter gezwungen den Punkt als ergebnislos abzuhaken. Wiedervorlage für das nächste Plenum.

Colette hatte sich doch tatsächlich durchgesetzt. Wer hätte das gedacht.

„Also gut!“ Lasst uns nicht mehr darüber reden. Für heute haben wir genug. Ich muss mich einfach beherrschen, damit ich nicht die Fassung verliere. Aber wir sprechen uns wieder. So geht das auf keinen Fall. Sich hinsetzen und keinen Laut von sich geben, also hat man so was schon erlebt. Wer bist du denn schon, dass du glaubst so mit uns umgehen zu können. Du warst ein Nichts ein Niemand als zu damals zu uns kamst. Wir haben dich aus dem Dreck geholt. Aber das hast du vergessen, so wie alles was dir unangenehm erscheint. Du bist einfach nur egoistisch, asozial und unkollegial. Lass dir das gesagt sein. Schluss der Diskussion.“ Wütete Peter.

„Also ich denke Colettes Schweigen war eindeutig. Sie hat damit bedeutend  mehr zum Ausdruck gebracht als ihr alle mit euren endlosen Gelaber.“ Schaltet sich Jana ein, die in der Zwischenzeit eingetroffen war.

„Du musst ihr natürlich beipflichten. Deinen Zynismus kannst du steckenlassen.“ Beschwerte sich Iris.

„Wieso zynisch? Ich bin keineswegs zynisch! Ich bin zur ehrlich. Jetzt da ich bald ausziehen werde kann ich es mir leisten ehrlich zu sein und muss keine Rücksicht mehr auf eventuell folgende Konsequenzen nehmen. Das wollte ich mal gesagt haben!“

„Ja und jetzt hast du es gesagt! In Ordnung! Wenn du dich dadurch besser fühlst, sei`s drum!“

Meinte Peter noch immer unter Spannung stehend.

„Ich fühle mich ausgezeichnet. Zum ersten Mal seit ich hier eingezogen bin. Ist das nicht faszinierend?“

„Ja, dann haben wir also noch jemand der provozieren will. Das kann ja heiter werden:“ Glaubte Iris zu wissen.

Colette genoss sichtlich ihren Erfolg und es tat einfach gut noch einen Menschen auf der Seite zu haben, auch wenn dieser jemand nicht mehr lange unter diesem Dach leben würde.

Der Abend zog sich hin. Kurzerhand wurde beschlossen die Reizthemen vollständig auszuklammern und sich der Theoriebildung zuzuwenden. Die Debatte zog sich dann bis zum  späten Abend, dauerte aber nicht allzulang wie ursprünglich befürchtet.

Colette verzichtet liebend gern auf den sich anschließenden Umtrunk und zog sich erleichtert auf ihr Zimmer zurück.

Erschöpft liess sie sich auf ihren alten Ledersessel fallen.

Sie hatte eine Schlacht gewonnen, aber deshalb noch lange nicht den ganze Krieg für sich entschieden.

Nach einer Weile erhob sie sich und trat zum Spiel an der Wand gegenüber.

Das was ihr dort entgegenblickte wollte so ganz und gar nicht zu ihr passen. Wer war sie denn schon. Hatte Peter nicht recht mit seinen Vorwürfen?  Sie war tatsächlich ein Niemand. In der sozialen Hierarchie nahm sie unterste Stufenleiter ein. Ein nutzloses etwas, ein überflüssiger Schmarotzer, ein Parasit. Mitleid mit ihr war fehl am Platz. Wer Mitgefühl einem Schwachen gegenüber empfindet beleidigt automatisch alle Starken und Leistungsfähigen,**, wie es Elena immer so treffend formulierte

Und sie hatte es zu gar nichts gebracht, war auf Gedeih und Verderb abhängig vom Wohlwollen anderer.

Was ihr Aussehen betraf, brauchte sie sich eigentlich nicht zu verstecken.

Sie war nicht hässlich, aber ihre Ausstrahlung war nicht unbedingt weiblich. Eindeutig maskuline Gesichtszüge prägten ihr Antlitz, nicht feminin, ja nicht einmal androgyn. Ihr Haar, ursprünglich tiefschwarz färbte sich langsam Silber. Mit der Frisur wollte es nicht klappen, die Haare brachen, wenn sie eine bestimmte Länge erreichte hatten einfach ab. Auch unter großer Anstrengung gelang es ihr kaum einmal eine einigermaßen annehmbare Haartracht zu entwerfen. Dafür ließ sich der Bart nicht verbergen. Rasieren, epilieren, alles hatte sie schon versucht. Aber unauffällig-auffällig verunstaltete der Bartschatten ihr Gesicht.

Vom Körperbau war sie mittelgroß und etwas übergewichtig. Sie erschien etwas pummelig. Weich, ganz weich  ihre Haut, wie die einer Frau. Als Kind sah sie sich derentwegen einem ständigen Mobbing ausgesetzt. Auf Grund dessen, das sie nie eine wirkliche Beziehung zu diesem Körper hatte entwickeln können, vernachlässigte sie diesen von früh auf. Hätte sie sich sportlich betätigt, wäre eine durchaus athletische Figur dabei herausgekommen. Ein Umstand, den Colette heute tief bereute.

Als Mann wäre sie durchaus passabel. Aber als Frau? Schweigen wir lieber.

 

Sie beschloss zu Bett zu gehen, doch der Schlaf wollte sich auch in dieser Nacht nicht einfinden.

 

Die Tage vergingen schnell, zu schnell wie es Colette vorkam. Was brüteten ihre Mitbewohner aus. Ihr gegenüber taten sie übertrieben freundlich die letzte Zeit. Kein gutes Zeichen. Der hochsensiblen Colette, die es verstand auch die unausgesprochenen Worte zu hören, konnte man nichts vormachen. Irgendwann ging das Damoklesschwert auf sie nieder und dann stand sie im Hemd.

Stets wollte sie auf alles vorbereitet sein. Jetzt aber konnte sie nicht sagen wie?

Gespräche fanden kaum noch statt. Colette wollte ja auch nicht mehr reden. Ein huschen durch den Flur, schnell auf ihr Zimmer, dort kam sie sich wie lebendig begraben vor. Keine Einsamkeit wirkt zerstörerischer als jene die man unter lauter Menschen zu erdulden hat.

Deshalb verbrachte sie viel Zeit draußen, noch war es möglich, der September hatte gerade begonnen

Schöne Spätsommertage verwöhnten mit traumhaften Wetter. Colette liebte diese Jahreszeit des langsamen Übergangs. Doch in diesem Jahr konnte sie sich nicht so recht daran erfreuen, spendete ihr das nur einen leisen Trost.

Lange, oft bis zum späten Abend lief Colette durch die Straßen Mangrovias. So lange bis ihr der Rücken und die Beine schmerzten. Was aber sollte sie zu Hause, wo ja doch niemand auf sie wartete. Jana war in der Zwischenzeit ausgezogen. Der letzte Lichtblick im kalten Dunkel der Lieblosigkeit.

Wenn es ihr jetzt schon so schwer viel, wie würde sie sich erst wenn im Herbst oder Winter fühlen?

Colette wollte gar nicht daran denken, sah sich aber dazu gezwungen um sich in ausreichendem Maße darauf vorzubereiten.

 

Als Colette eines Samstagvormittag gerade dabei war ihr Zimmer zu säubern, erschien Peter um ihr zwischen Tür und Angel eine kurze verhängnisvolle Mitteilung zu machen

" Das trifft sich gut, dass du ordentlich saubermachst. Dann kann sich der Nachmieter von Anfang an heimisch fühlen.“

„Nachmieter, welcher Nachmieter?“ Wollte Colette verstört wissen.

„Also wir haben beschlossen dass du dein Zimmer räumen musst. Da gibt es einen sehr aktiven jungen Studenten, der hier einziehen will. Das heißt es sind zwei. Einer geht in Janas leeres Zimmer und einer kommt hier hin.“

„Ach, dass ist ja sehr schön! Und wo soll ich hin?“

„Ich freue mich zunächst dass du deine Sprache wieder gefunden hast. Siehst du, es geht, wenn man eben muss. Somit habe ich meine Wetter gewonnen. Marcus schuldet mir 20 Mark.

Der vertrat die Ansicht, dass du auch nach dieser Mitteilung noch die Klappe hältst.

Du gehst runter in das Zimmer direkt neben der Eingangstür!“

„Da runter? In diesen kleinen Verschlag? Das kann ja wohl nicht dein ernst sein!“

„Mein voller ernst! Das heißt unser aller. Wir haben abgestimmt und sind zu dieser Lösung gelangt. Du kannst dir natürlich auch etwas anders suchen. Es steht dir frei zu gehen wann immer du willst.“ Antwortet Peter mit arrogantem Tonfall.

„Ihr habt abgestimmt? Interessant! Ohne mich in Kenntnis zu setzen? Das sind ja ganz neue Methoden.“

„Nenn es wie du willst! Wie konnten wir jemand einbinden der sich permanent weigert mit uns zu sprechen. Wie du mir, so ich dir! Wer einen Bumerang wirft der darf sich nicht wundern, wenn der einmal auf ihn zurückkommt.“

„Ihr könnt nicht von mir erwarten dass ich in diese schäbige Bude gehe. Da geh ich kaputt.“

„Wie gesagt! Wir zwingen niemand hier zu bleiben. Alle haben volles Verständnis wenn du dich zu gehen entschließt.“

Sprach es und schlug die Tür hinter sich zu.

Colette musst sich setzen, um zu verhindern dass es sie umwarf.

Der Rauswurf auf Raten ging also in die nächste, die entscheidende Runde. Die waren offensichtlich zu allem entschlossen. Colette war im Wege und musste weichen.

Das Zimmer da unten an der Treppe war das kleinste, lauteste und dunkelste. Bei dem Gedanken dort hausen zu müssen geriet sie in Panik. Sie, die Hochsensible, die so dringend  Luft brauchte, das Licht , die Ruhe und die Weite, musste ihr Zimmer räumen, dass davon wenigstens ein bisschen bot. Die Depressionen würden sie dort geradezu auffressen.

Sie hörte das rasseln von Gittern. Mauern und Beton umgab sie und drohte sie zu ersticken.

Sie war gefangen. Da gab es nur noch die Flucht. Aber wohin?

 

Die Tatsache, dass Colette vielseitig interessiert und engagiert war, brachte es mit sich, dass sie viele Bekannte in Mangrovia  hatte. Und so  beschloss sie sich einfach einen nach dem anderen aufzusuchen.

„Liebe Colette! Wenn du einmal Sorgen und Nöte hast! Kannst du dich jederzeit an uns  wenden. Wozu hat man denn schließlich Freude. Es ist selbstverständlich das wir dir helfen um was auch immer du bittest.“

Solche oder ähnliche Sprüche bekam die in die Jahre gekommene Kundra des Öfteren zu hören.

Nun wollte sie in Erfahrung bringen was sie davon halten sollte. Sie machte sich auf den Weg durch die Stadt um bei verschiedenen Adressen anzuklopfen. Sah sich dabei einer Odyssee aus Lügen, Ablehnung und Verlegenheiten  ausgesetzt.

„Äh… ja… ähm. Gerne, nur allzu gerne würde ich dir helfen. Aber  es… äh… es geht nicht.

Du siehst ja wie wenig Platz ich in der kleinen Wohnung habe. Wir würden uns doch nur im Wege sein, fürchte ich.“

Alles klar! Nächster Versuch:

„Oh… ich meine…. Ich habe… ich wollte.., doch noch…. Bin außerstande dir was anzubieten. Tut mir wirklich leid. Aber mal zu einem Plausch bist du jederzeit willkommen. Dann reden wir mal richtig über alles. Ähm… wie wäre es denn….sagen wir mal…. Heute in einem Monat?“

Schon verstanden! Nächster Versuch:

„Also ich würde dir ja zu gerne helfen. Aber du kennst doch mein Mann, der sieht so etwas gar nicht gern. Ich meine, du weißt doch, der mag einfach keine Kundras. Ein Blödmann eben, aber was soll ich denn machen? Immerhin bin ich sein Frau und auf ihn angewiesen.“

Leuchtet ein! Auf ein Neues.

„Schlecht, ganz schlecht im Moment! Meine Mutter kommt auf ein paar Wochen zu Besuch. Hast dir ne ganz schlechte Zeit auszusuchen. Vor zwei Wochen noch wäre das kein Problem gewesen.“

Nichts für ungut! Weitersuchen!

„Ja, jederzeit bist du willkommen. Versteht sich doch von selbst. Im Moment ist es aber ein klein wenig ungünstig. Ich fahre weg, weist du. Nach Kenia. Studienreise, Austausch von der Uni aus. Ich könnte mir vorstellen dass dir das auch gefallen würde. Warum machst du nicht mal ne schön Reise, würde dir sicher gut tun.“

Aber klar doch! Einmal um die ganze Welt und die Taschen voller Geld.

Noch eine Adresse?

Es gab noch einige weitere, doch bei den letzten wagte Colette gar nicht mehr die entscheidende Frage zu stellen. Die Unmöglichkeit pfiffen die Spatzen von den Dächern.

Also wieder einmal um eine Erfahrung reicher. Wie konnte sie auch nur auf so einen Idee kommen? Die Goldenen Regel besagt bekanntlich, dass man unbedingt vermeiden sollte Freunde, zumindest jene die sich dafür halten , um drei Dinge anzubetteln, die da sind Geld, Wohnung, Arbeit. Aber sonst ist alles in Ordnung, ansonsten kann man mit den Freuden Pferde stehlen.

Wieder einmal allein und verlassen. Wohin? Zur Mutter? Nein nicht schon wieder. Wie ein geprügelter Hund würde sie dort ankommen. Nein, es gibt kein Zurück ins zuhause der Kindheit.

Mehmet brauchte sie erst gar nicht zu kontaktieren. Der junge hübsche Türke mit der traumhaft athletischen Figur kam immer nur alle paar Wochen bei ihr vorbei um seinen Trieb zu befriedigen. Er nannte einen ausgefallenen Geschmack sein eigen, stand auf ältere Kundras.

Ob Colette dabei auf ihre Kosten kam war ihm egal. Als Beziehung konnte man das nicht bezeichnen. Er suchte und er fand in der Kundra ein Objekt seiner Begierde. Colette das menschliche Wesen spielte dabei keine Rolle.

Dann also doch in die dunkle Kammer da unten an der Treppe, neben der Haustür. Nein, bei ihrer Klaustrophobie? Doch wen interessierte das?

Die Depression bereitet sich darauf vor von Colette im Sturm zu nehmen. Fortgehen? Einfach so! Trampen, auf der Straße nach nirgendwo? Früher, als sie noch jünger war tat sie das öfters, aber jetzt? Kein Dach mehr über dem Kopf, obdachlos, wie die Paria unten im Bahnhofsviertel, die sich um ein Stück Brot prügelten, dabei von den johlenden Zaungästen angefeuert?

Aber irgendwas musste doch geschehen! Galgenfrist, noch etwa eine Woche lang. Kommt Zeit kommt Rat. Aber konnte sie sich wirklich darauf verlassen?

 

In der Nacht hatte sie dann wieder einen dieser Träume. Wald, Gebirge. Eine Klosteranlage, dicke wuchtige Mauern schützten seine Bewohner vor allen schädlichen Umwelteinflüssen und garantierte ein Leben in Liebe, Harmonie und Eintracht.

Sie hörte eine Glocke läuten, sie rief die Bewohner allem Anschein nach zur Andacht, zur Meditation oder ähnlichem.

Ein Gefühl tiefen Friedens. Wo konnte sie so einen Ort finden? Was verbarg sich dahinter?

Wie kam sie ausgerechnet auf ein Kloster? Eine geheime Botschaft, sicher. Aber wie konnte sie deren Inhalt entschlüsseln?

Ruhe und Stille,  wohltuende heilsame Stille .Eintauchen in eine fremdartige Welt der Glückseligkeit. Noch nie in ihrem Leben durfte Colette einen solchen Zustand schmecken.

Sie die Randfigur. Humanoider Müll. So lautet seit kurzem die Bezeichnung für Leute ihres Schlages

 

Die Tage vergingen, noch schneller als die vorherigen. Colette machte keine Anstalten sich zum Umzug zu rüsten. Glaubte sie noch immer das Problem damit zu lösen, indem sie es aussaß? 

Als sie an einem Mittwochabend nach Hause kam fand sie ihr Zimmer geleert und besenrein.

Alle ihre Sachen waren kurzerhand in der kleinen Kammer, unten neben der Haustür verstaut.

Die Botschaft war eindeutig. Du bist uns im Weg. Zeit für dich zu gehen. Draußen vor der Tür dort warten Kälte und Ungewissheit. Da lauert der Abschaum der Gesellschaft. Jener Abschaum, zudem du dich doch lange schon selber rechnen musst.

Niedergeschlagenheit ,Verzweiflung? Komisch Colette verspürte eine seltsame innere Ruhe und Ausgeglichenheit. Sie hatte endgültig resigniert, mit dem Leben abgeschlossen. Im Geiste befand sie sich schon in der anderen, der hoffentlich besseren Welt. Die lieblose Umgebung ging ihr nichts mehr an. In wenigen Stunden werde ich in dieser Form nicht mehr existieren.

Sie griff nach ihrem Rucksack, den sie seit Tagen eigens für diese Gelegenheit gepackt hatte, setzte sich noch einmal kurz, ließ den Blick durch die kleine hässliche Kammer schweifen.

Dann erhob sie sich und verließ einfach das Haus.

Einsam und verlassen, aber frei und allem enthoben. Zufriedenheit, denn es würde sich ja nur noch um Stunden handeln, die sie in einem Leben verbringen musste das nie das ihre war.

 

Eine Stunde war vergangen. Colette beschloss einfach in die Stadt zu fahren, zum Hauptbahnhof, Drehkreuz der Paria-Halbwelt. Hier regierte Schmutz und Elend, Ausgrenzung und Hoffnungslosigkeit. Ein guter Platz zu sterben.

Colette bestieg die U-Bahn, die in ausgesprochen ruckartigem Fahrstiel ihrem Ziel, Mangrovias City entgegenstrebte.

An der ersten Station quälte sich eine alte Oma mit Rollator über den komplizierten Einstieg in den Wagen. Doch sie schaffte es nicht sich rechtzeitig einen Platz zu sichern.  Mit einem hastigen Start wurde die Bahn in Bewegung gesetzt, die alte Frau stürzte so unglücklich, dass sie mit der Stirn auf der Haltestange aufschlug und zu Boden ging.

Niemand machte Anstalten ihr zu helfen. Colette erbarmte sich und half ihr sich vom Boden aufzurichten. Die Alte bedankte sich überschwänglich und kurzzeitig blickten sie sich in die Augen. Ein eigenartiges Gefühl durchdrang Colette in diesem Augenblick, doch sie achtet nicht weiter darauf.

Dann wurde es immer voller und ein Gedränge schloss sich an. Lautes Gegröle. Rücksichtnahme? Fehlanzeige! Aber zum Glück leerte sich die Bahn nach kurzer Zeit wieder. Als die Fahrt wieder aufgenommen wurde bemerkte Colette den Tippelbruder der mit einem zerknitterten Pappbecher und noch viel zerknitterten Gesichtsausdruck durch die Reihen zog um sich ein paar Almosen zu erbetteln.

„Homm se mal n`bischchen Kleingeld for wos ze essen!“ Entfuhr es ihm regelmäßig wie von einem Tonband  in seiner typischen, für Melancholaniens Oberschicht kaum verständigen Proletenslang.

„Homm se mal n`bischchen Kleidngeld, for wos ze essen!“ Nun war er bei Colette angelangt.

50 Pfennig wanderten aus deren Händen in den Becher.

Als er ohne Dank an ihr vorüber war, stellte sich Colette die Frage warum sie nicht mehr gegeben hatte, ihr, die doch mit allem abgeschlossen hatte, täte das jetzt nicht weiter weh.

„Wos ze essen!“ Die Betteltour nahm ihren Lauf. Eine Gruppe männlicher Jugendlicher, allesamt hübsch anzusehen ,aber charakterlich auf der untersten Stufenleiter äfften den armen Teufel nach.

„Wos ze essen! Hähä pähhh!“ dabei Grimassen schneidend.

„Aaaahhhk! Oh!“ Rülpste ihr der Betrunkene auf der Sitzbank neben ihr ins Ohr. Im Anschluss leerte er die Bierflasche und lies diese geräuschvoll in seine Plastiktüte gleiten.

Da plötzlich eine Vollbremsung. Nur mit Mühe gelang es Colette sich festzuhalten.

Einige, vor allem jene die keinen Sitzplatz hatten ergattern können wurden durch die Gänge geschleudert. Doch am schlimmsten erging es dem Obdachlosen. Der stürzte zu Boden und der sauer verdiente Inhalt des Pappbechers verteilte sich über das ganze Abteil. Die Jugendlichen trieben ihren Spott mit dem Mann , hoben die Geldstücke auf und ließen diese in ihre Jackentaschen gleiten. Nun erfüllte es Colette mit Genugtuung, nicht noch mehr gegeben zu haben. Unter dem Beifall der Fahrgäste traten die jungen Kerle nun auf dem noch immer am Boden liegenden ein.

Niemand wäre auf die Idee gekommen einzugreifen. Der Mann war ein Paria, humanoider Müll. Einem solchen brauchte niemand beizustehen. Die Menschen hatten Elenas TV-Lektionen sehr genau verinnerlicht.

Endlich am Ziel, der Hauptbahnhof!

Die meisten verließen das Abteil, nur die Jugendlichen fuhren weiter, ein Umstand der sich beruhigend auf Colettes Verfassung auswirkte.

„Wos ze essen! Wos ze essen!“

Die Bettelei wurde nun auf dem Bahnsteig fortgesetzt, doch ihr war wenig Erfolg beschieden.

Ein alter Mann schlurfte an Colette vorbei, so gekrümmt, das er kaum noch aufblicken konnte, auf einen alten Gehstock gestützt. An einer langen Leine führte er einen kleinen rotbraunen Pinscher mit sich .

„Rach, rach rach, rach!“ Kläffte der fortwährend die wartenden Passanten an.

Zu ihrem Missfallen musste Colette feststellen dass sich der Betrunkene, dessen Gesellschaft sie schon im Zugabteil äußerst widerwillig ertragen musste, neben ihr auf der Bank niedergelassen hatte.

Er griff in seine Plastiktüte und holte eine neue noch volle Bierflasche heraus, schüttelte diese, dann öffnete er sie mittels eines Feuerzeuges. Ein Teil des Inhaltes spritzte ihm  wie eine Fontäne entgegen, auch Colette bekam etwas davon ab.

Gierig führte er die Flasche zum Mund bis der gesamte Flaschenhals im Rachen verschwunden war, nahm einen großen Zug, verschluckte sich dabei und bekam einen heftigen Hustenschauer, ein Teil der Brühe floss ihm aus Mund und Nasenlöchern.

Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig begann plötzlich einer wie wild besessen eine Art Veitstanz aufzuführen. Offensichtlich zugedröhnt mit Hasch oder ähnlichen Drogen bis unter die Hutkrempe. Bekleidet in einen verdreckten Parka, zerschlissenen Jeans und ausgelatschten Stoffturnschuhen. Verklebte Rastalocken hingen ihm über die Schultern.

Colette betrachtete ihn genau. Komisch, der Mann schien überhaupt keine Knochen zu besitzen. Wie Gummigelenke, lies er die Gliedmaßen durch die Luft schwirren.

Doch dann stolperte er über seine eigenen Beine, stürzte zu Boden, richtete sich mühevoll wieder auf und torkelte zum Bahnsteig. Jemand packte ihn an der Kapuze und zog ihn im letzten Moment nach hinten weg, ansonsten wäre er mit Sicherheit von der gerade in der Bahnsteig einfahrenden U-Bahn erfasst wurden.

„Rach, rach, rach, rach ,rach!“

Das Gebell ging Colette langsam aber sicher auf die Nerven.

„Wos ze essen! Wos ze essen!“

Eindrücke strömten von allen Seiten auf sie ein und umnebelte ihr Bewusstsein.

„Waaaaa, is mir schlecht! Ich.. ich… muss kotzen, ich muss kotzen… ich .. hellhühm mmmmpppfffpuuuuuaaaahhhhh…

Der Säufer neben ihr erbrach sich geräuschvoll und es klatschte auf den Betonfußboden. Gerade noch rechtzeitig konnte Colette ihren Rucksack in Sicherheit bringen.

Bleich wie der Kalk an der Wand verdrehte er die Augen, laut krachend landete die Bierflasche auf dem Boden, langsam ,gleichermaßen in Zeitlupe, sackte der Mann in sich zusammen und glitt von der Bank, direkt in die gerade von ihm selbst verursachte Kotzlache.

Im gleichen Augenblick urinierte seelenruhig vor aller Augen ein anderer Betrunkener auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig gegen ein Werbeplakat.

Nun hatte Colette genug, erhob sich und ging eine Bank weiter die gerade frei geworden war.

„Wos ze essen! Wos ze essen!“

Zu ihrer Linken, zum Glück etliche Meter entfernt, hatten sich zwei weitere Junkies in bedrohlicher Stellung postiert und waren dabei einen heftigen Streit miteinander auszutragen. Ständig droschen sie mit der Faust auf ihr Gegenüber ein. Dann wurde es dem einen offensichtlich zu bunt. Er ergriff eine leere Schnapsflasche, die etwa einen halben Meter hinter ihm auf dem Boden lang, holte aus und schlug diese seinem Gegner mit voller Wucht auf dem Kopf so dass es splitterte. Der Getroffene ging wie ein Brett zu Boden und blieb dort regungslos liegen. Der andere griff nach seinen paar Habseligkeiten und entschwand hastig in einem der Aufgänge.

Das war unnötig, denn für eine Flucht bestand kein Grund. Niemand würde wegen eines schwer verletzten oder gar toten Paria ein polizeiliches Ermittlungsverfahren einleiten. Ein Paria war eine Nichtexistenz und in Folge dessen gar nicht vorhanden.

Colette schüttelte nur den Kopf. Nein, eine solche Welt zu verlassen würde ihr nicht schwer fallen. Im Gegenteil, es kam einer Erlösung gleich.

Ein riesiger muskelbepackter Glatzkopf erschien plötzlich und bahnte sich seinen Weg durch die Menschenansammlung, dabei stieß er jeden brutal zur Seite der nicht rechtzeitig ausweichen konnte. Auf seinem nackten Behaarten Oberkörper trug er eine Lederweste und  auf den rechten Oberarm hatte er sich einen Totenkopf tätowieren lassen.

„Rach, rach , rach ,rach ,rach!“ der Pinscher hatte vor ihm offensichtlich keine Angst und tat durch lautes kläffen sein Unmut kund. 

Der Macho holte mit dem Fuß aus trat dem Hund in die Seiten so dass dieser mit einem lautem Jaulen den Boden entlang schoss und voll an einen Fahrkartenautomaten anschlug.

„Sie sind ein Unmensch!“ Rief der Hundehalter, erhob seinen Stock und ging auf den Glatzkopf zu. Dieser riss ihm das Holz aus der Hand, knackte es über seinem linken Knie in zwei Teile und warf sie auf die Schienen, dann stieß er den Alten einfach zu Boden.

„Halts Maul Tattergreis oder du landest auch auf dem Gleis!“ dann entschwand er aus Colettes Blickfeld.

„Wos ze essen ! Wos ze essen!“

Colette hatte genug! Nein, hier war kein guter Platz zum Sterben. Sie wollte in ihren letzten Stunden nicht von dieser gewalttätigen, lieblosen Welt umgeben sein. Es war ihr nicht vergönnt in Würde zu leben, nun wollte sie wenigsten würdevoll sterben.

Sie erhob sich, schulterte ihren Rucksack und machten sich auf den Weg zum Ausgang.

„He, Scheißkundra, lass dich ficken, kriegst auch 10 Mark!“

Rief ihr einer hinterher.

„10 Mark? Bei dir piept`s  wohl. Unter 100 ist bei mir nix drin. Steck dir dein Geld in den Arsch.“ Konterte Colette, was dem Macho vollständig die Sprache verschlug.

Sie hatte ihren Humor noch nicht verloren. Das ließ noch hoffen.

Mühevoll erklomm sie die Treppe nach oben, alles tat ihr weh und vor Müdigkeit wäre sie beinahe im Laufen eingeschlafen.

Draußen, auf dem Bahnhofsvorplatz ging es etwas gesitteter vor. Es war der Haupteingang.

Der Hinterausgang führte hingegen in das berüchtigte Rotlichtviertel.

Drinnen am Fuße der Eingangstreppe wurde Colette von einer Ansammlung religiöser Eiferer in Empfang genommen.

Die „Zeugen des Lichtes“ eine kleine Gruppe von vier bis fünf Leuten hielten Ausgaben des „Leuchtturm“ in ihren Händen, jenes Kampfblattes mit der für eine Reevangelisierung Melancholaniens geworben wurde.  

Es galt das Land für den christlichen Glauben zurückzuerobern. In Melancholanien herrschte der Mammon, dass war unbestreitbar. Etwa 70% glaubten allein an den Gott des Geldes. Für Religion wurde kaum noch Bedarf angemeldet.

„Mein Herr, ähm… oder was sind sie denn…..“ Wurde Colette von einer jungen Frau in strenger mausgrauer Kleidung und mit einer zu einem Krähennest zusammen gesteckten Haartracht angesprochen.

„Was ich bin? Rate mal!“

„Wa… warten sie doch mal! Haben sie in der letzten Zeit mal über Gott nachgedacht?“

Wollte die Eiferin wissen.

„Über Gott? Welchen denn?“

„Äh. Äh!“

Das saß, mit eine solchen Antwort hatte die wohl nicht gerechnet.

Ein etwas älterer Herr mit korrekter graumelierte Frisur und Goldgestellbrille kam auf Colette zu, offensichtlich der Pastor der Gemeinde. Sein Gesicht wurde von einem extrem aufgesetzten Grinsen überzogen.

„Ich blicke mit tiefen Bedauern auf dich herab. Du solltest einmal gründlich in dich gehen und über deine Sünden nachdenken. Dein sündhaftes Leben währet schon viel zu lange. Kehr um, bevor es zu spät ist und vertraue auf die Kraft Gottes. Er allein kann dich führen und leiten, damit du der Erlösung teilhaftig werden kannst. Gott verachtet die Sünde, nicht aber den Sünder. Am Ende schließt er alle  Schäfchen in seine Arme.“

„Alle? Auch die da unten?“ Colette wies in Richtung Untergrund.

„Aber ja! Er hilft einem jeden in seiner Not. Alle Mühseligen und Beladenen können zu ihm kommen. Voraussetzung sie bereuen tief ihre Verfehlungen und Unterlassungen.“

„Homm se mal n`bischchen Kleingeld for wos ze essen!“

Colette bemerkte erst jetzt das der Bettler ihr gefolgt war. Nun hielt er den Bekehrern seinen Becher entgegen.

„Sehen sie zum Beispiel diesen Mann hier. Ein Beweis für den Verfall der Sitten in diesem  gottlosen Land. Er denkt nur ans essen, ans materielle. Den Blick für das große Ganze hat er dem Anschein nach völlig aus den Augen verloren.“

„Wos ze essen! Wos ze essen!“

„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, guter Mann, sagt unser Herr Christus, sondern von einem jeden Wort das aus Gottes Mund kommt.“

„Na dann halten sie ihm doch mal ne ordentliche Predigt, Herr Pastor, damit sich unser Freund mal so richtig daran satt essen kann. Aber nicht allzuviel der Worte, sonst könnte er sich womöglich am Ende noch vor Überfluss den Magen verderben.“ Schlug Colette vor.

„Wos ze essen!“

„Nein mein Freund, ich denke hier wirst du erfolglos bleiben. Du musst verstehen, dein Magen fällt nicht in deren Zuständigkeitsbereich. Für die ist nur deine Seele interessant, die gilt es zu retten und das ist doch schon mal was.“

Der Obdachlose wollte sich zum Gehen wenden, doch Colette hielt ihn am Ärmel fest.

„Warte!“

Sie öffnete ihre Geldbörse und warf ein Zweimarkstück in den Becher, unmittelbar danach noch mal 1 Mark.

Warum sollte sie geizen, sie die doch in wenigen Stunden mit all dieser kaputten Welt nichts mehr zu tun hatte?.

„Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen! Sagt unser Herr Christus!“ Glaubte der gestrenge Herr Pastor zu wissen.

„Nee, dass hat er mit Sicherheit nicht gesagt. Dafür aber einige andere Dinge, so zum Beispiel dass du  deinen Nächsten wie dich selber lieben sollst. Oder! Wie wär`s denn mal mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, ich geh mal davon aus dass sie es kennen Herr Pfarrer.“

Nun drohte Colette doch noch die Fassung zu verlieren.

„Und was ist mit dem Endgericht? Was ihr einem meiner geringsten getan habt, das habt ihr mir getan. An ihren Werken werdet ihr sie erkennen, meine Jünger und Jüngerinnen, an ihren Werken und nicht an ihren Worten. Große Worte machen kann jeder. Laberlaberlaber RhabarberRhabarberRhabarber

Was ihr einem meiner geringsten nicht getan habt, dass habt ihr auch mir nicht getan. Ihr werdet im höllischen Feuer landen und dort heulen mit dem Zähnen klappern.

Ich höre sie jetzt schon klappern ,ihre Zähne, euer Hochwürden. Und was ist mit dem Höllenfeuer, können sie es schon knistern hören?“

„Sie sie sind ja von Sinnen!“

Das hatte dem Pastor glatt die Stimme verschlagen.

„Aber natürlich bin ich das! Gottloses Land, nannten sie unser geliebtes Melancholanien vorhin. Darin stimme ich sogar mit ihnen überein. Aber mit sinnlosem Gelaber werden wir  es keinesfalls besser machen.“

Mit zitterigen Händen griff der Pastor in seine Jackentasche holte eine Mark heraus und warf sie voller Verachtung in den Pappbecher des Landstreichers.

„Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel schwingt. Mal ne gute Tat. Sehr brav. Ich denke das Höllenfeuer knistert schon nicht mehr gar so laut.“ Lästerte Colette, voller Zynismus.

Erstaunlich wie Menschen über sich hinauswachsen, wenn sie denn mit allem abgeschlossen haben.

„Wos ze essen!

Jetzt ist´s aber genug! Gehab dich wohl. Für ne Bockwurst reicht das allemal.“ Meinte Colette und schob den Bettler von sich.

Eine ältere fein herausgeputzte Dame die zufällig des Weges kam entrüstete sich.

„Wie können sie so einen Rat geben. Eine Bockwurst? So etwas ist Leichenfledderei. Heute ernährt man sich vegan. Aber dieser Abschaum hier folgt ja keinerlei Wertmaßstäben mehr.“

„Na wie wär`s wenn sie noch ne Mark drauflegen, dann ist unser Freund hier imstande sich ne vegane Bockwurst zu leisten.“

Gab Colette zu verstehen.

„Unerhört!“ Die Dame zog von dannen.

„Bei soviel Heuchelei kann einem nur noch übel werden.“

Colette wollte sich gerade zum Gehen wenden, als ganz plötzlich eine junge Punkerin  durch die Eingangstüre schoss.

„Hilfe, Hilfe, sie kommen, sie kommen. Sie wollen uns alle aus der Stadt werfen. Bringt euch in Sicherheit. Sie kommen, sie kommen.“

Colette stellte sich ihr in den Weg.

Die junge Frau hatte so viel Piercings im Gesicht, das man kaum noch Mund und Nase erkennen konnte.

„Wer kommt!“

„Na die Securitys. Da siehst du, sie haben ihre Kipplader auf dem Bahnhofsplatz geparkt. Die holen jetzt alle Paria, laden die da drauf und kippen die weit außerhalb der Stadt in die Gegend. Ich muss die anderen warnen.“

Die Punkerin riss sich los und stürmte in Richtung Untergrund.

„Kein Grund zur Panik! Anständige Leute haben von der Security gar nichts zu befürchten. Die sind ja eigens zu deren Schutz aufgestellt. Nein, denen geht es nur um die Paria. Und das ist richtig so. Es wurde auch langsam Zeit das die Regierung was unternimmt gegen dieses Pack, das hier überall herum lungert.“

Mischte sich ein modisch gekleideter junger Mann ein. Designeranzug, Goldkettchen, Aktentasche, ein Privo auf der sich hier wohl verirrt hatte. Selbstsicher sein ganzes Auftreten, so als könne ihm gar niemand etwas.

„Arbeitsscheues Gesindel! Man traut sich ja gar nicht mehr durch die Gänge da unten, ohne Gefahr zu laufen angefallen zu werden. Die Security kommt zur rechten Zeit ,ist der beste Schutz den wir uns nur wünschen können.“

„Aber so etwas dürfen sie nicht sagen, guter Mann. Wir alle sind in Gottes Hand. Gott hat doch die Armen geschaffen. Er hat sie geschaffen damit all jene denen es besser geht etwas Gutes an ihnen tun können.“ Glaube der Pastor zu wissen.

„Ach, ist das so? Ich glaube da haben sie etwas gründlich missverstanden. Womöglich haben sie die Bibel nicht richtig gelesen. Vielleicht verkehrt herum gehalten?“ Stänkerte Colette schon wieder.

„Unverschämtheit!“

„Homm se mal n`bischchen Kleingeld for wos ze essen?“

Pumpte der Obdachlose nun den feinen Dandy an.

„Nicht einen Pfennig! Zieh Leine du Penner. Wo bleiben denn die Securitys? Ab auf den Kipplader mit dir wo du hingehörst!“

Da  wurde mit einem wuchtigen Knall die Eingangstür aufgestoßen. Wie ein Bienenschwarm drangen die schwarzgekleideten Security-Leute ein, fuchtelten dabei wie wild mit ihren Schlagstöcken umher.

Wos ze essen! Wos ze essen!“

Nein heute kein Essen. Der Bettler war der erste der einen Schlag erhielt, dann wurde er davon geschleift.

Der feine Pinkel mit der Aktentasche wurde angerempelt und ging zu Boden, wild gestikulierend tat er seinen Protest kund.

„Hey, ihr seid wohl nicht mehr ganz bei Trost. Seht ihr nicht wer und was ich bin. Da unten, da müsst ihr hing und ordentlich aufräumen. Aber nicht hier unter anständigen Leuten. Auf der Stelle möchte ich ihren Vorgesetzten sprechen.“ Inzwischen stand er wieder auf den Beinen und versuchte den Staub von seiner feinen Hose zu entfernen.

Ein bulliger Security-Schläger nahm bedrohlich vor ihm Stellung.

„Häh? Auch noch frech werden was? Das hamm wir gern. Was interessiert es mich wer du bist, Wir räumen heute hier auf. wer sich in den Weg stellt hat Pech gehabt.“

„Das kann ja doch wohl nicht wahr sein. Sie und ihre Leute sind für uns und unsere Sicherheit da!  Geht das denn nicht rein in ihren dämlichen Schädel?“

Kaum hatte er ausgesprochen sauste auch schon der Schlagstock nieder, quer über das Gesicht, es krachte und das Blut verteilte sich auf dem schmucken 400-Mark-Anzug.

Dann wurde der Bewusstlose davon geschleift und landete ebenfalls auf dem Kipplader, direkt neben dem Landstreicher.

Es ließ sich nicht vermeiden, das immer wieder falsche Personen aufgeklatscht wurden, Leute die zu den oberen sozialen Schichten gehörten, deren Schutz die Security eigentlich garantieren sollte. Die konnten sich dann bei einer eigens für solche Fälle eingerichtet Stelle beschweren und eine Entschädigung einklagen. Vorausgesetzt sie überlebten die Aktion. Denn es gab dabei viele Opfer. Tote und Schwerverletzte. Die Kipplader transportierte den humanoiden Müll weit außerhalb der Stadt und entsorgten ihn irgendwo in der Prärie.

Auf diese Weise entledigten man sich der unliebsamen Bewohner auf sehr effektive Art.

„Schöner unsere Städte und Gemeinden!“ Unter dieses Motto liefen seit einige Wochen verstärkt solche Aktionen. Elena hatte in ihren Sendungen immer wieder dazu aufgefordert sich daran zu beteiligen.

Es wurde hinter hervor gehaltener Hand gemunkelt, dass die Regierung hier gemeinsam Sache mit dem rechtsextremen Blauen Orden machte. Beweisen ließ sich das freilich nicht.

Die Security-Schläger waren Leute die ebenfalls aus den untersten Schichten der Bevölkerung kamen. Oftmals Preka, die davor standen noch tiefer zu rutschen. Für einen Hungerlohn durften die hier richtig aufräumen, sich abreagieren.

Der Herr Pastor und die seinen schienen auf einmal recht wenig Gottvertrauen zu haben. Hastig packten sie ihre Sachen zusammen und türmten Hals über Kopf aus der Halle.

Colette überlegte nicht lange und tat es ihnen gleich.

Draußen rannte sie um ihr Leben. Eine ganze Weile hastete sie durch die Straßen vom Melancholaniens Hauptstadt. Aber warum? Plötzlich hielt sie völlig außer Atem an.

Sie hatte doch resigniert. Weshalb war es ihr auf einmal so wichtig ihr Leben in Sicherheit zu bringen?

Ein wenig ausruhen, dann bewegte sie sich langsam weiter. Vor ihr tat sich die Kerkhofer Brücke auf, eine der zahlreichen Verbindungsbrücken über den Radung, der große breite Fluss der die Stadt durchtrennte.

Colette schritt bedächtig am Geländer entlang, nach kurzer Zeit befand sie sich über den tiefen Fluten des Radung. Gespenstische Ruhe. Keine Fußgänger und nur hin und wieder mal ein Fahrzeug. Eigenartig, ansonsten herrschte hier auch noch in der Nacht rege Betriebsamkeit.

Doch die lebensmüde Kundra hatte andere Sorgen. Hier müsste es geschehen, sie befand, dass es sich um einen guten Platz zum Sterben handelte.

Lange blickte sie auf die Wasseroberfläche unter ihr. Der Vollmond am dunklen Himmel spiegelte sich darin, so dass sich ihr ein klarer Blick in die Weite bot.

Sie ließ ihr Leben noch einmal Revue passieren, das was sie jetzt zu beenden gedachte, hätte nie beginnen dürfen. Das Leben das hinter ihr lag brachte ihr vor allem eines, Verdruss.

In vielen Dingen hatte sie sich versucht und war am Ende doch immer nur gescheitert, bzw. wurde abgelehnt bevor sie überhaupt die Möglichkeit hatte sich zu beweisen.

Das Leben wollte sie nicht und sie wollte das Leben nicht das ihr von außen aufgezwungen wurde.

Und nun? Jetzt gedachte sie Schluss zu machen, endgültig, unwiederbringlich

Mehrmals unternahm sie einen Anlauf um auf das etwa 1,50m hohe Geländer zu klettern, doch immer wieder überkam sie die Angst. Da gab es irgendwo eine mysteriöse Kraft, die sie im Leben hielt.

Schließlich überwand sie sich und befand sich auf einmal doch oben, auf dem cm hohen Zaun. Ihre Knie zitterten, nur unter großer Mühe gelang es ihr sich aufzurichten. Sie breitete langsam die Arme aus und richtete ihren Blick gen Himmel, die Augen dabei jedoch geschlossen.

Nach einer Weile kehrte jedoch  die Angst zurück, mit Hängen und Würgen gelang ihr der Abstieg. Froh wieder  festen Boden unter den Füßen zu spüren, atmete Colette tief durch und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

Resigniert musste sie zur Kenntnis nehmen dass ihr selbst dieser letzte konsequente Schritt nicht gelingen wollte.

Dann half eben nur die Betäubung. Sie kramte in ihrem Rucksack und fand die Utensilien die sie vorsorglich eingepackt hatte, da sie mit einer solchen Reaktion rechnete.

Eine halbe Flasche Kognak und Beruhigungstabletten. Wenn sie diese Intus hatte, hoffte sie auf den entsprechenden Erfolg.

Sie setzte die Flasche an den Mund und trank mit Ekel, sie die doch sonst kaum einen Tropfen Alkohol zu sich nahm.

Schon nach kurzer Zeit wurde ihr übel und schließlich begann sich langsam die Wirkung zu entfalten. Nach einer Weile hatte sie vor die Tabletten einzunehmen, gemeinsam mit dem Alkohol sollten die betäubend wirken. Dann hatte sie vor sich ans Geländer zu schleppen und in die Tiefe des Radung zu stürzen.

Sie hoffte zumindest dass es auf diese Weise funktionierte, denn ohne Betäubung würde sie der Mut doch immer nur verlassen.

Im Grunde ein idiotischer Plan, doch ihr fiel einfach nichts Besseres ein. Auf keinen Fall wollte sie heute Nacht in dem kleinen Verschlag übernachten, unten an der Treppe in ihrer alten WG.

Zusammengekauert saß sie am Boden hoch über den Wassern des Radung und spielte die Szenen die sich hier bald ereignen würden immer und immer wieder durch. Sie wollte unter keinen Umständen Fehler begehen.

Was, wenn sie  nun schwer verletzt überlebte und ihr zukünftiges Leben als Krüppel zubringen musste? Unvorstellbar. Ihre größte Sorge. Aber nicht minder negativ der Gedanke, dass sie endgültig der Mut verließ und sie unverrichteter Dinge wieder den Heimweg antrat?

Und wenn sie es  tatsächlich schaffte?  Gab es da drüben ein anders Ufer? Einen sicheren Hafen in den sie einlaufen konnte. Eine bessere Welt, auf die so viele hofften?

Erlösung? Oder musste sie damit rechnen dass die Hölle tatsächlich existierte, die der Pastor eben noch in den entsetzlichsten Farben projeziert hatte?

Eine andere Lösung? Einen dritten Weg? Wo konnte sie ihn finden? Hatte sie nicht alles menschenmögliche versucht?

„Quietschquox, quietschquox, quietschquox!“ Ein eigenartiges Geräusch aus der Ferne drang an ihre Ohren. Sie vermochte es nicht zu lokalisieren, bis sie die Gestalt bemerkte die sich ihr langsam von der anderen Radungseite her näherte.

Colette kniff die Augen zusammen. Eine Person , die etwas vor sich her schob. Einen Handwagen? Einen Kinderwagen? Nein, es war ein Rollator. Eine ältere gebückt laufenden Person, ja eine ältere Frau, im Greisenalter. Je näher sie kam, desto besser konnte sie die Konturen wahrnehmen.

Erneut kniff Colette die Augen zusammen und schüttelte sich, aber es war keine Sinnestäuschung, aufgrund des Alkoholeinflusses.

 Das konnte nicht sein! Es handelte sich um die gleiche Person, die in der U-Bahn so schwer gestürzt war und der Colette kurzzeitig ihre Hilfe angedeihen ließ.***

Wie in aller Welt konnte die so schnell hierher gelangen. Colette hatte in Erinnerung dass die alte Frau nicht ausgestiegen war und somit in die entgegen gesetzte Richtung weiterfuhr.

Um auf die andere Radungseite zu gelangen hätte sie Stunden benötigt.

Nein, es war dem Anschein nach doch der Alkohol unter dessen Einfluss sich diese Halluzination ergab.

Doch als die geheimnisvolle Gestalt zu sprechen begann konnte es wohl keinen Zweifel mehr geben.

„Wie es scheint, bin ich wohl gerade noch zur rechten Zeit eingetroffen.“

„Wer bist du? Und was willst du von mir?“ Entgegnete Colette.

„Was spielt es für eine Rolle, wenn ich dir sage, wer ich bin? Du würdest es nicht begreifen. Deshalb bleibt deine Frage unbeantwortet. Wir sind uns vor einigen Augenblicken begegnet, in der U-Bahn. Du erhobst dich als einzige um mir, einer für dich vollkommen fremden Person zu helfen, während die anderen sitzen blieben. Ist das nicht ausreichend Grund genug dir nun meinerseits Hilfe anzubieten?“

„Ja, es stimmt! Ich habe einer Person geholfen. Aber dabei kann es sich unmöglich um dich handeln. Ich phantasiere, ja, das wird es sein. Langsam aber sicher fliegen bei mir sämtliche Sicherungen raus.“

„Nein! Die letzte Sicherung wird dir nicht durchbrennen. Du wirst nicht in die Tiefe das Radung springen! Dafür werde ich sorgen!“

„Wie kommst du darauf, dass ich springen will?“

„Colette, sieh dich doch an! Ein Mensch müsste schon mit einer außerordentlichen Blindheit geschlagen sein um nicht zu erkennen was in dir vorgeht!“

„Woher kennst du meinen Namen?“

Langsam aber sicher wurde es der Kundra unheimlich. War sie etwa schon gesprungen und befand sich bereits im Vorhof der Hölle?

„Ich kenne dich besser als du selbst.“

„Genug! Ich hab genug gehört! Lass mich einfach in Ruhe, ja. Geh deines Weges und lass mich allein. Ob ich es tue oder nicht, was interessiert es dich!“

Colette versuchte sich mühevoll vom Boden zu erheben, benötigte dafür drei Ansätze. Endlich stand sie auf schwankenden Beinen, die ganze Welt schien sich um sie zu drehen.

Sie torkelte zum Geländer. Ihr war kotzübel. Der Kognak war ein fürchterliches Gebräu.

„Wo, wo….ssssssind meine Tabletten?“ Colette konnte auf einmal nur noch lallen.

Ha ha hast du die weggenommen. E  e eben lla lagen die noch hier! Gib sie mir sofort zurück!

Wa wa Was fällt dir ein?“

„Keine Tabletten! Und kein Kognak mehr!“ Die Alte kippt den Rest aus der Flasche auf den Boden.

„Für den Weg den du von nun an zu gehen hast brauchst du vor allem einen klaren Kopf. Im Moment läufst du ohne Kopf durch die Gegend und das ist alles andere als sinnvoll.“

Bestimmte die Person einfach, so als hätte sie etwas zu sagen.

„Ach lass mich doch endlich in Ruhe! Verflucht noch mal! Ich hab einfach die Schnauze gestrichen voll. Du hast überhaupt keine Ahnung. Seit ich denken kann nörgeln alle an mir herum. Niemanden konnte ich je etwas recht machen. Alles falsch! Ob ich etwas tue oder nicht! Es ist falsch! Ob ich esse, ob ich schlafe, ob ich scheiße, alles falsch. Und jetzt? Nicht mal in Ruhe sterben lässt man mich. Es ist zum kotzen!“

Colette beugte sich über das Geländer, ihr war übel, sie glaubte sich übergeben zu müssen, doch es gelang ihr nicht.

„Siehst du! Nicht mal richtig kotzen kann ich!“

„Ja, du wirst tatsächlich sterben in dieser Nacht. Aber nicht so wie du es dir vorgestellt hast. Ein symbolischer Tod.“ Antwortete die Alte, die ihr Aussehen auf einmal stark verändert hatte.

Sie sah  viel jünger aus. Ein schönes anziehendes Gesicht und strahlende stechende Augen blickten auf Colette.

Die schloss einmal mehr die Augen. Ein Traum, es konnte sich nur um einen Traum handeln. In Wirklichkeit lag sie im Bett ihrer tristen Kammer in der WG. Mit Sicherheit würde sie bald aufwachen.

„Wie fühlst du dich jetzt meine Tochter?“

„Elend! Kaputt! Am Ende meiner Kräfte. Die Last auf den Schultern drückt mich zu Boden!“

„Dann wirf sie ab, die Last! Mach dich frei, lass den Frust raus der dich quält!“

„Den Frust rauslassen? Oh, dann hätte ich viel über Bord zu werfen. Der quält mich seit meiner Geburt und mit jedem Jahr wird es schlimmer. Ja , ich möchte am liebsten schreien. Mit Luft machen.“ Colettes Stimme wurde immer lauter.

„Dann tue es! Schrei dich frei, schrei dich gesund, schrei dich stark! Viel zu lange hast du damit gewartet und dir alles gefallen lassen. Damit muss Schluss sein, ein für allemal!“

Colette ballte die Fäuste und schlug damit auf das Geländer der Kerkhofer Brücke. Es begann in ihr zu beben. In ihrem Inneren kochte sie vor Wut, Frust und Enttäuschung über ihr ganzes bisheriges Leben.

„Ja, ich schreie es in den Nachthimmel über Mangrovia. Ihr habt keine Macht mehr über mich, ihr verfluchten Wichser, ihr Klugscheißer und Wichtigtuer. Ihr Aufschneider, Machos und Kraftprotze. Ihr Zimmzicken und geifernden Weiber. Ihr könnt mich alle mal am Arsch lecken! Ich lass mir das nicht länger gefallen! Habt ihr verstanden? Ihr könnt mich alle mal am Arsch lecken!“

„So möchte ich es hören Colette. Lass alles raus! Schwimm dich frei. Mach Schluss mit dieser Unterwürfigkeit. Du bist zu viel Höherem berufen!“ Feuerte die geheimnisvolle Gestalt  Colette weiter an.

„Ja, ich rufe es noch einmal, wenn ihr mich nicht verstanden habt: Ihr könnt mich alle mal am Arsch lecken! Ich lass mir das nicht länger gefallen. So, war ich euch noch immer zu leise? Dann noch mal.

Leckt mich am Aaaaaaaarsch! Ich habe genug von eurer Bevormunderei, von eurer Besserwisserei, von eurer Herrschsucht und Habgier. Ich werde mich nie wieder in meinem Leben von irgend jemanden beherrschen lassen. Ab jetzt bin ich nur noch ich selbst. Wenn euch meine Arbeit oder alles was ich tue nicht gefällt, von mir aus ,ich pfeife drauf. Wenn euch meine Kleidung oder die Art wie ich mich gebe nicht gefällt, von mir aus, ich lasse einen drauf. Wenn euch mein Gesicht nicht gefällt, von mir aus, ich scheiße drauf. Wenn ihr hochsensible Kundras nicht mögt, von mir aus. Dann zeige ich euch meinen Arsch.“

Colette zog sich den Rock herunter und präsentierte dem Nachthimmel über Mangrovia ihren  nackten Allerwertesten.

Dann reckte sie die Arme in den Himmel und rief mit kraftvoller Stimme.

„Ich bin Colette und sonst niemand! Ich bin Colette!“

„Colette von Akratasien!“ Hallte plötzlich in ihrem Bewusstsein wieder.

„In Akratasien wird sich deine Bestimmung erfüllen. Finde den Weg dorthin! Auch wenn es weitere Rückschläge in deinem Leben gibt, du wirst von nun an mit ihnen fertig. Geh nach Akratasien, finde Aradia!“

Plötzlich war es totenstill. Benommen blickte Colette um sich. Die Alte war verschwunden.

Allein mit sich selbst, taumelte sie zum Geländer der Brücke zurück und blickte auf das langsam dahin fließende Wasser des Radung.

Nein sie würde nicht springen in dieser Nacht. Das brauchte sie nicht mehr, denn sie war bereits gestorben. Gestorben und sogleich wieder auferstanden. Die erste Stufe der Initiation hatte sie genommen, viele weiter sollten folgen.

Doch wo in aller Welt lag  Akratasien? Noch nie hatte Colette diesen seltsamen Namen gehört.  Und wer war Aradia? Sie konnte sich erinnern davon gelesen zu haben. Mythen und Legenden aus grauer Vorzeit. Was hatte das mit Melancholanien zu tun?

Bilder tauchten vor ihr auf und entschwanden sogleich im Dunkel der Nacht. Schon wieder dieses geheimnisvolle Kloster und das Gebirge dahinter. Dann fiel ihr Blick auf das Bild einer jungen Frau , die auf dem Rücken eines schwarzen Hengstes über die Prärie galoppierte.. Sie hatte ein wunderschönes Gesicht und Muskeln so kräftig wie die eines Mannes. Ihre kupferrote Lockenmähne wehte im Wind.

„Wo? Wo finde ich das alles? Ich brauche einen Wegweiser!“

„Sieh nach vorne! Schau immer nur geradeaus!“ Hörte sie schon wieder diese Stimme.

Colette tat wie ihr geheißen. Doch das einzige was sie erblicke war ein an einem der Brückenträger angebrachtes buntes Werbeplakat. Elenas riesiges Konterfei blickte ihr mit einem verführerischen Lächeln entgegen. Reklame für eine neue TV-Show die noch in dieser Woche auf Sendung gehen sollte.

Colette sah keinen Zusammenhang.

Aber Aradia und Akratasien,  diese Begriffe zogen sie in den Bann. Dort musste sie hin. Unbedingt! Und wenn es das letzte wäre dass sie in ihrem Leben vollbringen sollte.

Wer aber würde sie beachten, sie die Verachtete, die ganz am Boden liegende, die Ohnmächtige.

Doch plötzlich, wie aus heiterem Himmel lichteten sich die düsteren Nebelschleier und sie begann zu begreifen.

Die wahre Macht liegt nicht oben, sondern ganz unten. Wahre Stärke besteht darin Macht nicht mehr zu suchen, nicht zu gebrauchen und in Folge dessen auch nicht mehr zu missbrauchen. Nur wer zugibt, dass er machtlos ist, verfügt über die einzige Macht die in der Welt etwas bewirken kann.

Sie war ganz unten angelangt. Einem Bettler gleich. Nun konnte es nur noch aufwärts gehen.

„Raff dich auf und geh deinen Weg!“ Hörte sie die Stimme aus der Ferne und sie tat es. Mit schwankenden Beinen schritt sie über die Brücke an ein anderes, an ein neues Ufer.

 

 

 

 

* Originalzitat W.I.Lenin „Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist!“

 

** Hitlers Glaubensbekenntnis: „Mitleid gegenüber den Schwachen ist eine Sünde an allem Starken und Erhabenen!“

 

*** Bei der geheimnisvollen Alten handelt es sich natürlich um Anarchaphilia in einer ihrer ersten Manifestationen