Das Wunder um Gabriela und Kristin

 

Liebe, das ist das tiefe Bedürfnis der Menschen, geben und nehmen zu lernen.

 

Unter diesem Motto begann sich die Gemeinschaft zu entwickeln.

Eine Garantie für dessen Gelingen gab es freilich  nicht.

Theoretischer Anspruch und praktische Wirklichkeit klafften oft weit auseinander.

 

Kristin, um ein Beispiel zu benennen, war eine junge Frau die sich zwar vorzüglich auf das Nehmen verstand, mit dem Geben jedoch nicht allzuviel am Hut zu haben schien.

Etwa sechs Wochen lebte sie nun auf dem Gelände der Abtei.

Sie ließ kaum eine Gelegenheit aus, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Schon nach kurzer Zeit verfielen sowohl Männer als auch Frauen ihren Reizen.

Ihre bezaubernde Erscheinung machte es ihr außerordentlich leicht die Herzen im Sturm zu nehmen.

Sie war schlank und von geschmeidiger Gestalt. Ihr aschblondes Haar rahmte ein Gesicht mit weichen, sinnlichen Zügen, hervortretenden Backenknochen, vollen roten Lippen.

Ihre klaren Augen hatten die Farbe von Bergseen und deuteten auf eisige Tiefen.

Ihre Haut war so weiß wie der Schnee einer einzigen Nacht, die Seiten ihres Körpers waren geschwungen wie eine keltische Harfe, ihre Hüften rundlich wie ein Sommerapfel und ihre Beine zierlich wie die eines Rehs.

Beim Anblick ihrer anmutigen Bewegung stockte einem der Atem.

Sie schien sogar Elena Konkurrenz zu machen obschon ihr etwas Kaltes anhaftete vielleicht wie das Gespinst des Herbstfrostes  auf einer Sommerrose oder die frostige Anmut von Schnee im Frühling.

Kristin genoss die Bewunderung und verstand diese geschickt auszunutzen Allerlei Gerüchte waren in Umlauf, Kristin habe noch bis vor gar nicht langer Zeit ihre Reize gegen bares angeboten. Das schien gut zu ihrem Auftreten zu passen.

Weshalb sie sich der Kommune in der Abtei angeschlossen hatte, konnte zu jenem Zeitpunkt noch niemand in Erfahrung bringen. Kristin schwieg sich aus. Wie jedem anderen stand auch ihr die Anonymität zu, d.h. sie brauchte über ihr bisheriges Leben keine Angaben zu machen,

es sei denn das sie ihrerseits dieses Tabu brach und sich offenbaren wollte.

Ihr Versuch sich bei Elena und Madleen einzuschmeicheln misslang. Doch mit viel Geschick und einer gehörigen Portion Überzeugungskraft gelang es ihr bei Gabriela und Klaus anzudocken. Die beiden nahmen sie bei sich auf, so dass Kristin schon bald die wenig beliebte Massenunterkunft der Neuankömmlinge verlassen konnte. 

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Bald schon hatte sie Klaus als ihren bevorzugten Liebhaber auserkoren. Dieser war natürlich alles andere als abgeneigt, bildete sich eine Stange darauf ein. Schon immer hatte der eine unerschütterliche Selbstsicherheit besessen, doch nun schien sein männliches Ego gleichsam wie aus einem Winterschlaf erwacht.

Kristin rief in ihm tief verborgene Lebensgeister wach.

Der Klang seines Namens auf ihren Lippen war wie der Blitz der von einem klaren Himmel

nieder zuckte. Mit jedem Tag schien er ihr mehr zu verfallen..

Ob ihre Zuneigung echt oder nur gespielt war interessierte ihn nicht. Er war bereit alles zu akzeptieren, würde sich wenn es sein musste, auch am Gängelband führen lassen.

Wenn er nur in ihrer Nähe sein durfte dabei ihren sanften Atem auf seiner Haut spürend.

Kristin war Besitz ergreifend wie eine Spinne die ihre Opfer langsam in ihr Netz wob.

Ohne es zu wollen schien  Klaus zum Werkzeug ihrer Daseinsauffassung geworden.

Bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit sah man die beiden Händchen haltend und laut kichernd durch die Gegend laufen. Zeit oder Umwelt schienen aus ihren Blickwinkel geraten.

Auf den ersten Blick gar nichts Negatives. Eine junge Liebe stört sich nicht an Raum oder Zeit, schon gar nicht innerhalb einer Gemeinschaft, die sich dem Prinzip der freien Liebe verschrieben hatte.

Die Sache hatte aber einen gewaltigen Schönheitsfehler, denn es gab eine Verliererin und deren Name war Gabriela. Lange schon stand sie außen vor.

Sie schien gar nicht mehr existent.

Dabei sollten es doch nach Möglichkeit keine Verliererin der Gemeinschaft produziert werden.

Nie zuvor in ihrem Leben hatte sich Gabriela schlechter gefühlt. Totaler Hilflosigkeit legte sich wie ein Panzer auf ihre Seele.

Immer öfters glänzten in ihren Augen die Tränen der Verzweiflung.

Eiskalt abserviert!

Liebe und Treue bis in den Tod hatte sie sich einmal geschworen, doch das lag 20 Jahre zurück.

Lange schon lebten Klaus und Gabriela nicht mehr mit- sondern eher nur noch nebeneinander. Jeder hatte sich ein eigenes kleines Universum geschaffen und sich darin eingerichtet. Immer wieder wartete Klaus mit Affären auf. Das ließ Gabriela bisher eher kalt. Ging sie doch ganz in der Schwesternschaft auf, die ihr Geborgenheit, Sicherheit und viele Freundinnen schenkte. Die meiste Zeit des Tages verbrachte sie mit denen.

Bei Kristin war es anders.

Nun sollte Gabriela das quälende Gefühl der Verlassenheit und Ausgrenzung in aller Härte zu spüren bekommen.

Bitter schmeckte der Kelch jener Erkenntnis. Sie vermochte ihre maßlose Enttäuschung kaum noch zu verbergen, trotzdem gelang es ihr Würde und Selbstachtung zu wahren.

Voller echter Erwartung und Neugier waren sie das Wagnis einer Beziehung zu dritt eingegangen. Doch dabei blieb es nicht.

 Dieses einfache links-liegen-lassen war grausam.

Keiner vermochte zu sagen, wie lange dieser Zustand fortbestand.

Gabriela vermied es über ihren Schmerz zu reden, das verbot ihr hohes Maß an Haltung. Stattdessen zog sie sich immer weiter in sich selbst zurück.

Die Natur wurde zu ihrer Fluchtburg. Von Elena hatte sie gelernt, wie sehr die freie Natur in Krisenzeiten heilen kann. Und die Freiheit tat ihr gut. Draußen im Wald, im Gebirgsmassiv verlor sich ihre Einsamkeit in der noch größeren Einsamkeit der Wildnis.

Solange sie imstand war darin abzutauchen war sie nicht verloren.

Wie die Luft zum Atmen bedurfte sie dieser Ausflüge. Wenn sie Klaus und Kristin weder sehen noch hören musste, stellte sich der innere Frieden wieder ein.

Doch offensichtlich hatte das Schicksal sie noch nicht hart genug erwischt.

Bald trat die erschreckende, lähmende Erkenntnis zutage, dass eine schwere und womöglich tödliche Krankheit von ihr Besitz ergriffen hatte.

In zunehmendem Maße fiel ihr das Laufen schwer. Immer öfters versagten die Beine

ihren Dienst und sie stürzte einfach zu Boden. Immer häufiger, bald mehrmals täglich.

Der befreienden Gang in die geliebte Umgebung wurde unter diesen Umständen bald zu einem Ding der Unmöglichkeit.

Nun blieb ihr keine andere Wahl als im Haus zu bleiben und sich in ihrem Zimmer zu verbarrikadieren

Nichts sollte ihr erspart bleiben. Während sie Schmerzen erduldete, konnte sie Klaus und Kristin vernehmen die sich miteinander vergnügten.

Ihr war zumute, als blutete ihr Leib ganz langsam aber unaufhörlich aus.

Von Tag zu Tag schwand die Lebensenergie.

Voller Entsetzen musste Gabriela eines Morgens die erschreckende Tatsache verkraften, dass

sie nicht mehr imstande war ihre Beine zu bewegen.

Konnte sie sich die Tage zuvor wenigstens noch unter großer Mühsal im Hause bewegen, schien ihr auch noch diese Möglichkeit genommen.

Bei einem Versuch doch noch einen Schritt zu wagen, klappten die Beine wie ein Taschenmesser zusammen,  sie stürzte zu Boden und besaß nicht mehr die Kraft sich alleine aufzurichten.

Klaus und Kristin waren unterdessen gerade dabei den kleinen Kräutergarten vor der alten Försterei in Ordnung zu bringen, was auch dringend notwendig war, denn an allen Ecken und Kanten wucherte das Unkraut und drohte die Nutzpflanzen zu ersticken.

Der langsam einsetzende Sommer versprach warm und trocken zu werden, da bedurfte es besonders geschickter Hände um einen Garten auf Dauer zu kultivieren.

Es war Gabrielas Garten, sie liebte ihn, sie mochte die Arbeit die sie mit viel Gefühl und Elan verrichtete, auch wenn sich diese oftmals als schwierig herausstellte.

Und nun lag sie hier, all ihrer Kräfte beraubt, hilflos wie ein Neugeborenes.

Das Fenster war leicht geöffnet, das schwere Brummen der sommersatten Insekten erfüllte die Luft.

Sie lauschte auch den Vögeln, die ihre morgendlichen Grüße an den neuen Tag zwitscherten.

Und immer wieder  Kristins Kicherlaute, die wie Nadelstiche in ihr Bewusstsein drangen.

In ihren Augen glänzten Tränen der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit.

Mit letzter Kraft versuchte sie sich mit den Händen vom Boden abzustützen, doch entsetzt musste sie feststellen, dass auch die Kraft in  Armen und Händen bedrohlich schwand.

Sie griff nach einem Tischbein, versuchte sich am Boden entlang zu ziehen, doch der Tisch krachte kurz danach über ihr zusammen.

Unten bahnte sich ein heftiger Flirt an, Gabriela indes wurde von Schmerzen wie von einer Lawine überrollt. Abgrundtiefe Schmerzen, Schmerzen am Leib und an der Seele.

„Helft mir!“ Wagte Gabriela nun einen Hilferuf aus Verzweiflung.

„Komm doch runter!“ Neckte Klaus und die Worte drangen wie scharfe Messer in ihr Herz.

„Du bist wirklich eine Spielverderberin! Wenn du nicht willst, dann lass doch wenigstens andern ihren Spaß.“

„Klaus bitte! Komm nach oben! Ich spüre meine Beine nicht mehr. Ich bin gestürzt!

Ich schaffe es nicht mehr alleine. Bitte komm, ich brauche dich.“

„Nein Gabriela, diesmal falle ich nicht darauf rein. Schon seit Tagen quälst du mich mit deiner Eifersucht. Dieses kindische Benehmen ist deiner nicht würdig.

Ich werde nicht zu dir kommen!“

Tief in sich spürte Gabriela die Kälte dieser Worte. Einsamkeit hüllte sie wie in einen kalten Mantel.

Er glaubte ihr nicht. Seit Kristins Einzug hatte sich Klaus verändert.

Dabei waren sie einmal ein so tolles Paar, viele Jahre lang. Ein Herz und eine Seele.

Mit ihrer Gesundheit stand es schon früher nicht zum Besten. Doch konnte sie sich stets auf Klaus verlassen. Bedurfte sie seiner Hilfe, war er stets zur Stelle.

Und nun? Alles aus! Womit hatte sie das verdient? Ein einziger nicht enden wollender Alptraum.

„Juhu, Gabriela! Willst du nicht zu sehen, wie wir es miteinander treiben?“ Höhnte Kristin.

„Wenn du schon zu nichts anderem mehr imstand bist, dass wirst du ja wohl doch noch können.“

Die Worte auf Kristins Zunge waren wie stechende Wespen. Nichts schien ihr an diesem Tag erspart zu bleiben. Selbst die Vision einer blutroten Hölle konnte wohl nicht entsetzlicher sein.

Fast den gesamten Tag musste Gabriela in dieser entwürdigenden Stellung zubringen.

Erst am späteren Nachmittag hielt es Klaus für angebracht einmal nach dem rechten zu sehen.

Er fand Gabriela bewusstlos vor. Gabrielas Bewusstsein befand sich in einem Dämmerzustand. das linderte ihre Qual.

 

Klaus schien selbst dieser Umstand nicht zu überzeugen, in seinen Augen handelte es sich bei Gabrielas Zustand einfach nur um Hysterie.

Eher lieblos, aus purem Pflichtgefühl hob er ihren schlaffen Körper vom Boden und bettete diesen auf die große Couch des Wohnzimmers. Wortlos verließ er den Raum. Schließlich erwartete ihn mit Kristin ein junger, gesunder und erotischer Körper nach dessen Umarmung er sich sehnte.

Als die Dämmerung über das Land sickerte und sich schließlich wie ein dunkel werdender Fleck über das Land ausbreitete, liebten sich Klaus und Kristin. Deren hemmungslose Leidenschaft  war im Begriff alle Grenzen zu überschreiten.

Kristins orgiastisches Stöhnen drang an Gabrielas Schlafstelle, schien ihr nun auch noch den Rest an Lebensenergie aus dem Leib zu reißen. Wie ein Seziermesser drang jeder Laut in ihr Herz. Nicht einmal die Ohren konnte sie sich verschießen, denn auch dessen war sie nicht mehr fähig.

Endlich, endlich schien Ruhe eingekehrt. Eisiges Schweigen erfüllte die alte Försterei Haus. Für einen Augenblick schien das Martyrium unterbrochen. Langsam, ganz langsam glitt Gabriela in einen leichten Schlaf. Doch das bedeutete keineswegs Erholung, denn schwere Alpträume

ließen sie schon nach kurzer Zeit das Bewusstsein wiedererlangen.

Schlaflos und den Kopf voller Ängste und Sorgen, so verbrachte sie den Rest dieser nicht enden wollenden Nacht.

 

Auch an den folgenden Tagen sollte Gabrielas Passion kein Ende nehmen. Während Klaus sich mit Kristin vergnügte, welkte Gabriela dahin wie eine Herbstrose um November.

Zwar wurde sie von ihrem Mann versorgt, doch dieser verrichtete seinen Dienst nur widerwillig.

Nach wie vor schenkte er Gabriela keinen rechten Glauben, vermutete weiterhin, dass diese

nur auf Effekthascherei aus war, ihn dazu bewegen wollte sich ihrer statt Kristin zu widmen.

Vielleicht 15 min verbrachte Klaus täglich am Krankenlager und das schien schon hoch gegriffen. Er brachte ihr die Mahlzeiten, die er nach einer Stunde unberührt wieder abräumte.

„Wenn du unbedingt in den Hungerstreik treten willst, bitte! Ich werde dich nicht davon abhalten. Aber ich kann nur immer wieder betonen, wie kindisch dein Benehmen ist. Du bist ja vollkommen von Sinnen!“

So oder ähnlich lauteten die wenigen Worte, die er für seine langjährige Gefährtin noch übrig hatte.

Oftmals versuchte Gabriela die Hand nach ihm auszustrecken, doch es gelang nicht mehr, denn in der Zwischenzeit hatte die Lähmung Arme und Hände vollständig außer Gefecht gesetzt.

Folglich war sie auch außerstande selbständig Nahrung zu sich zu nehmen. Dass war der Grund warum sie weder aß noch trank. Infolge dessen magerte Gabriela ab. Doch am schlimmsten war der Durst, sie drohte buchstäblich auszutrocknen.

Da es ihr auch nicht mehr möglich war die Toilette ohne fremde Hilfe aufzusuchen, machte sie unter sich, lag stundenlang im eigenen Kot und Urin, sich dann später stets von Klaus auf das heftigste dafür ausschimpfen zu lassen.

Nein, die Hölle konnte wirklich nicht schlimmer sein.

Und dann immer wieder das alberne Gekicher von Kristin, selbst die schlimmsten Schmerzen setzten ihr nicht auf so abscheuliche Weise zu.

Bisher hielt sich Kristin noch von ihr fern. Irgendwann jedoch, brach sie auch dieses Tabu, schlich einfach um sie herum und neckte die Hilflose, wann immer es ihr gefiel.

Ach Göttin, wo du auch bist und wer du auch bist, mach doch endlich ein Ende! Lass mich sterben! Schenke mir Flügel und lass mich wie ein Vogel in den Himmel steigen, allem Leid mit einem Schlag enthoben. Schenke mir eine Wiese, voll mit tausenden

blühender Blumen. Hundertmal am Tag klopften solcherlei Gedanken bei ihr an.

 

Als es schon fast zu spät war schöpfte Klaus Verdacht, dass doch irgendwas nicht mit rechten Dingen zuging. Das konnte kein Spiel mehr sein. Kein Mensch war imstand so einen Zustand freiwillig über einen längeren Zeitraum vorzutäuschen.

Er bat Elena, nach Gabriela zu sehen. Endlich die Erlösung. Es war fünf Minuten vor Zwölf.

Gabriela war am Verdursten, körperlich, wie seelisch.

 

Kaltes Entsetzen packte Elena beim Anblick ihrer langjährigen, treuen Freundin. Sie konnte nicht glauben was sie hier zu Gesicht bekam. War das hier wirklich noch Gabriela?  Unversehrt wallte Zorn in ihr hoch, drohte sich zu entladen.

Erst als Elena ihre Freundin entkleidet und untersucht hatte, kam das volle Ausmaß der Tragödie zutage. Es bestand nicht der geringste Zweifel, es handelte sich um die von ihr vermutete tödliche Krankheit.

Gabriela wimmerte nur noch leise vor sich hin, ihre Augen schienen keine Tränen mehr zu haben. Fast den ganzen Nachmittag blieb Elena bei ihr und führte die notwendigen Behandlungen durch.

Sie nahm ihre Freundin in den Arm streichelte sie, flüsterte ihr sanfte, tröstende Worte in ihr Ohr, bis sie sich beruhigte.

 

Erst als Gabriela eingeschlafen war, beschloss Elena sich zu entfernen. Jetzt nahte der Augenblick der Abrechnung. Wie zwei arme Sünder kauerten Klaus und Kristin auf ihren Plätzen in der kleinen  Küche.

Wortlos betrat Elena den Raum. Doch ehe sie ihr geplantes Donnerwetter über den Köpfen der beiden traurigen Gestalten entladen konnte, kam ihr Klaus zuvor.

„Elena, sag, wie geht es Gabriela? Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie sich die Sache so zu Herzen nimmt! Wenn ich auch nur das Geringste geahnt hätte wäre ich natürlich viel früher zu dir gekommen. Dass musst du mir glauben! Ich mache es wieder gut! Großes Ehrenwort!

Aber sag doch schon, ihr wird es bald wieder besser gehen, oder?“

„Gabriela wird sich nie wieder erholen! Ihr werdet bald jede Menge Zeit füreinander haben.

Gabriela wird sterben, “ obwohl Elena leise sprach lauerte eine trockene Wut hinter ihren Worten.

„Elena was soll das? Sterben…. Aber wieso denn? Das ist doch nicht dein Ernst?

Sie…sie hat sich doch nur ein wenig ereifert darüber das ich Kristin in den letzten Tagen ein wenig bevorzugt habe. Wie kann sich ein Mensch den derart erregen, dass er daran stirbt?“

Entfuhr es Klaus, dem das kalte Entsetzen wie ins Gesicht gemeißelt schien.

„Bist du wirklich so borniert Klaus, oder tust du nur so“, fauchte Elena zurück, deren Geduldsfaden nun endgültig gerissen schien, „Gabriela ist schwer krank. Sie leidet an einer tödlichen Krankheit.

Weißt du was das heißt? Nein? Gut, dann will ich dich aufklären. Ihr Körper wird gelähmt

vollständig. Sie wird sich nicht mehr bewegen können, am Schluss nicht einmal mehr atmen.

Doch sie ist bei vollem Bewusstsein und leidet große Schmerzen, das ist  das Schlimmste an der Sache. Durch euer Verhalten habt ihr die Sache zwar verschlimmert und dafür gibt es auch keine Entschuldigung. Gekommen wäre die Krankheit aber von ganz alleine. Ich konnte sie heute noch einmal ins Leben zurückholen. Andererseits wünsche ich ihr auch, so brutal es auch klingen mag, dass es schnell mit ihr geht. Denn mit an sehen wie sie leidet, das ist das grauenhafteste was ich mir vorstellen kann.

Wie konntet ihr sie in diesem Zustand alleine lassen. Was ihr getan habt ist verabscheuungswürdig. Ich würde Euch beiden am liebsten eine ordentliche Tracht Prügel verpassen, aber davon wird Gabriela auch nicht mehr gesund“

Klaus starrte nur apathisch vor sich hin...

Er musste sich eingestehen, wie Recht Elena mit ihrer Aussage hatte. Jede Silbe, die über ihre Lippen kam, traf genau ins Schwarze. Jetzt begann es in seinem Hirn zu dämmern und er wurde sich schmerzhaft bewusst, wen oder was er bald für immer verlieren sollte. Kristin war eine Gespielin, ein erotischer Leckerbissen. Mit ihr zu flirten war aufregend und schaffte tiefe Befriedigung

Gabriela war ihm eine langjährige Gefährtin. Gemeinsam hatten sie schon so manchen Sturm überstanden. Sie gehörten einfach zusammen. Das war etwas ganz anderes.

Ihr Verlust würde in bis ins Mark treffen.

„Aber, aber…das kann doch nicht sein! Wie….wieso denn? Ich….ich habe doch gar nichts bemerkt. Eine solche Krankheit kann doch nicht einfach so aus heiterem Himmel auftauchen!

Ich meine… doch nur…Kristin, sag doch du etwas dazu!

Auch dir ist nichts an Gabriela aufgefallen, oder?“, stotterte Klaus nur noch vor sich hin.

Kristin erwiderte gar nichts. Stumm und mit versteinerter Miene saß die junge Frau und starrte die ganze Zeit auf den Boden, so als hoffe sie, dass dieser ihren Körper so bald als möglich

verschlingen möge um der ganzen Szenerie ein Ende zu setzen.

Eine Welle von Ärger formte sich in Elenas Körper, glitt die Wirbelsäule entlang und entlud sich  in ihren Worten.

„Damit ihr es wißt, ich werde Gabriela von nun an keine Stunde mehr unbeaufsichtigt lassen.

Ich lasse sie auf keinen Fall hier. Ich nehme sie mit zu mir rüber ins Konventsgebäude auf die Krankenetage.

Sie schläft jetzt. Ich habe ihr ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht.

Klaus, du kommst morgen zu mir. Unter vier Augen habe ich dir einiges ins Stammbuch

zu schreiben.“

Nachdem sie diese Worte gesprochen hatte, schlug Elena die Tür hinter sich zu und verließ wutentbrannt das Haus.

Schon eine Viertelstunde später wurde Gabriela abgeholt.

Nur wenig später verließ auch Klaus den Ort des Geschehens ließ Kristin, die noch immer

Geistes abwesend zu Boden blickte, mit sich allein zurück.

Stunden vergingen. Regungslos saß die junge hübsche Frau auf dem Stuhl, ganz so, als habe Elena ihr und nicht Gabriela das Beruhigungsmittel verabreicht.

Gefühle walten in ihr auf. Lange unterdrückte Bilder kehrten auf einen Schlag in ihr Bewusstsein zurück.

Der Vorhang des Vergessens begann sich zu öffnen und die alten, schon lange verheilt geglaubten Wunden rissen wieder auf und der Schmerz drang in ungeahnte Tiefen ihres Herzens.

Der glühende Funken des Kummers loderte schließlich in brausenden Flammen auf.

 

Sie sah auf einmal das kleine Mädchen, das sie einmal war.

Das vertraute Elternhaus tat sich vor ihren Augen auf. Sechs war sie, vielleicht sieben Jahre alt. Das alte schmucklose Häuschen aus rotem Klinkerstein gemauert, trist und uniform, so wie alle übrigen der Prekasiedlung.

Sie war verdammt in diesen Mauern aufzuwachsen, gemeinsam mit zwei Geschwistern. Die längste  Zeit des Tages sich selbst überlassen.

Die Siedlung gehörte zu einem Werk, dessen Betonfassade sich wie eine mittelalterliche Zitadelle am Horizont vom Boden in den Himmel streckte. Dort wurde Fußbodenbelag hergestellt.

Der Gestank von Gummi, Klebstoffen und unzähligen gesundheitsschädigenden Chemikalien senkte sich bedrohlich auf die Umgebung herab, machte den Atemvorgang zur Tortur. Auch Kristin litt, wie viele andere Kinder der Siedlung an Atemnot, Hautausschlägen, ständiger Übelkeit und vielen anderen mehr.

Einen Begriff wie Ökologie kannte man im alten vorrevolutionären Melancholanien nicht. Keinen Pfennig investierten die allmächtigen Konzerne in Anlagen zur Begrenzung der Schadstoffemission.

Schon damals sehnte sich Kristin nach unberührter Natur, sauberer Luft, klarem Quellwasser.

In ihren Träumen lebte sie schon lange dort. Sie sah sich über eine duftende Frühlingswiese laufen, deren frisches Gras in sanften Grün leuchtete und mit tausenden gelben Sonnenröschen gesprenkelt war.

An einem Wasserfall kam sie zum Stehen, blickte in das kristallblaue Wasser, das über glatt geschliffene Steine plätscherte, die wie Bernstein schimmerten.

Eine Lerche, die hoch am Himmel schwebte, sandte ihr Lied zu ihr, dass wie flüssiger Goldregen auf den Teich fiel.

Das Paradies zum Greifen nahe.

Doch Träume sind Schäume, sind wie Wellen die schon nach kurzer Zeit an der nächsten  Kaimauer zerschellen.

Die Realität mit der sie sich täglich konfrontiert sah präsentierte sich anders.

Durch den Dunstschleier, der sich an kalten, regnerischen Tagen gar nicht aufzulösen schien, konnte sie oft nur die Silhouette der Fabrik sehen. Dort schufteten ihre Eltern Tag für Tag und kehrten des Abends frustriert und aggressiv zurück.

Ein liebes Wort,  eine zärtliche Geste?  Fehlanzeige.

Die knapp bemessene Freizeit galt es mit der notwendigen Hausarbeit zu füllen.

Während die Mutter den typischen Pflichten einer Hausfrau nachkam, versuchte sich ihr Vater in der Instandsetzung des schmucklosen Backsteinbaus, dabei fast ständig vor sich hin

fluchend. Nicht selten musste die Kleine eine Tracht Prügel über sich ergehen lasse. Trotzdem liebte sie den Vater fast abgöttisch. Das Verhältnis zu ihrer Mutter blieb Zeit ihres Lebens  unterkühlt.

Irgendwann einmal, in nicht allzu ferner Zukunft, sollte sich auch Kristins Alltag auf diese Weise gestalten.

Ein entrinnen gab es nicht. Schon jetzt, in jenem zarten Alter wurde sie in Listen registriert, ihr Leben verplant. Und sie konnte sich glücklich schätzen, wenn sie das entsprechende Alter erreicht hatte, einen der begehrten Arbeitsplätze in der stinkend-miefigen Atmosphäre der Fabrik

zu ergattern.

Als Alternative kam nur der Sturz in die Gosse, in die Paria-Kaste in Frage. Die Angst davor wurde bei ihr, wie bei allen anderen auch, frühzeitig geschürt.

Da half nur noch die Flucht in Scheinrealitäten.

Schon lange hatte ihr Vater damit begonnen seinen Frust in Alkohol zu ertränken.

Zu diesem Zweck suchte er fast allabendlich die schäbige, Eckkneipe am anderen Ende der Straße auf.

Manchmal schlich sich Kristin heimlich hinter her und spähte durch die halboffene Tür.

Der Schankraum war überfüllt. Im Lichte von wenigen schwachen Glühbirnen konnte sie eine Reihe von Männern an der Theke stehen sehen. Andere saßen weiter hinten auf Holzbänken

und hatten schäumende Gläser vor sich stehen.

Alle zweifelhaften Charaktere der Siedlung schienen hier versammelt zu sein. Kristin konnte nie in Erfahrung bringen, warum sich ihr Vater, hier so wohl fühlte.

Sie lauschte den lautstarken, teils lallenden Gesprächsfetzen. Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit schien das Lieblingsthema zu sein.

Wie seltsam, wunderte sich Kristin. Da schuften diese Männer tagein tagaus in dieser heruntergekommenen Kaschemme und wenn sie nach getaner Arbeit endlich nach Hause in die Freiheit kamen , hatten sie nichts eiligeres zu tun als diese verqualmte Bude aufzusuchen und im Geiste ihre Arbeit fortzusetzen. Hatten die nicht genug davon? Gab es kein Thema worüber es sich zu sprechen lohnte?

Selbstverständlich gab es die auch!

Da mokierte sich zum Beispiel einer über die Parias, die untersten der Unterschicht. Man hatten denen die Bezeichnung Sozialschmarotzer verpasst. Leute die nicht arbeiteten, sich aber trotzdem das Recht nahmen,  auf ihre Weise weiter zu leben... Das konnte nicht sein.

Andere sprachen über Fußball.

Auch über Frauen ließ man sich zur Genüge aus. Auch hierfür fand Kristin keine logische Erklärung. Warum in aller Welt saßen diese Männer nicht zu Hause und sprachen mit ihren Frauen, anstatt hier über sie herzuziehen.

Oft wurde Kristin während des Hörens übel.

Schnell eilte sie über das dunkle schmierige Kopfsteinpflaster der engen Gasse zurück nach Hause um bei ihrer Ankunft von ihrer Mutter ob ihres Herumtreibens in der Dunkelheit gescholten zu werden.

Irgendwann, in dunkler Nacht kehrte ihr Vater lallend und rülpsend von seiner Kneipentour zurück, den Gestank von Schweiß, Alkohol und kaltem Rauch an seinem ölverschmierten Blaumann haftend, den er oft die ganze Woche nicht von Leibe zog.

Sie vernahm das Quietschen der Schlafzimmertür. Eine Weile Ruhe. Mit der Zeit drangen undefinierbares stöhnen an ihr Ohr. Erst leise, dann immer lauter bis sie sich schlussendlich in einem heftigen Schreien entluden.

Voller Angst saß Kristin dann oft die halbe Nacht in ihrem Bett.

Erst viele Jahre später konnte sie sich ihren Reim darauf machen und brachte in Erfahrung, dass ihre Mutter regelmäßig eine Tracht Prügel dafür bezog dass ihr impotenter Vater vergeblich versuchte  in sie einzudringen.  

Den meisten Männern in der Siedlung gelang es mit der Zeit nicht mehr ihre Männlichkeit in der gebührenden Weise zu gebrauchen. Viele Faktoren führten dazu. Das einatmen der giftigen Schadstoffe, das trinken verschmutzen Wassers, die schwere Arbeit, der übermäßige Alkohol- und –Nikotingenuss.

Daher war es für die Menschen besonders wichtig in jungen Jahren möglichst viel auszuleben.

Doch erwies sich sich das aufgrund der knapp bemessenen Freizeit und des schmalen Geldbeutels als ausgesprochen  problematisch.

Kristin danke für die Gnade, nicht als Mann auf die Welt gekommen zu sein.

So verstrich die Zeit, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr

Eine ereignisarme Zeit, erfüllt von eintönig- gleichförmigen Alltagsritualen.

Nur eine Begebenheit prägte sich ein und blieb in ihrem Gedächtnis haften.

 

Sie war Zwölf, als sie eines frühen Nachmittags aus der schäbigen Vorstadtschule kam. Auf ihrem Weg begegnete ihr eine alte Frau. Noch nie hatte sie diese hier in dieser Gegend gesehen. Sie vermutete dass es sich dabei um einer der Pariafrauen handelte, die hier des Öfteren auftauchten um etwas zu verkaufen und war daher im Begriff einen großen Bogen um die merkwürdig dreinschauende Gestalt zu machen.

Das Antlitz der Alten wirkte nicht gerade sehr einladend.

Hinter einem dicht an liegenden, schmutzigen Kopflappen lugte ein Gesicht hervor, dem einer alten Märchenhexe nicht unähnlich. Die faltige Haut hatte schon vielen Stürmen getrotzt und wirkte so verwittert wie das gegerbte Leder einer Zeltbahn. An der weit nach vorn gebogenen Hakennase hätte man sie problemlos an der nächsten Betonwand einhaken können.

Sie hatte einen alten Jutesack über der Schulter und stützte sich auf eine halbverrostete Eisenstange.

Als sie sich auf einer Höhe mit Kristin befand, lüftete sie ein wenig ihr Kopftuch. Die eisengrauen Haare die zum Vorschein kamen verrieten deutlich dass sie die mittleren Jahre

schon lange hinter sich gelassen hatte.

„Guten Morgen, schöner Engel! Wohin des Weges?“ wollte die neugierige Alte aus unverständlichen Gründen wissen.

„Wohin schon, nach Hause!“ Gab Kristin kurz und knapp zur Antwort. Die Unbehaglichkeit stand ihr verräterisch ins Gesicht geschrieben.

„Zu Hause, welch ein schönes Wort“, zeterte die Alte weiter. „Du hast also noch ein Zuhause, das ist gut. Das ist sogar sehr gut. Viele Menschen gibt es in diesem Lande, die so etwas schon lange nicht mehr ihr eigen nennen können. Täglich werden es mehr. Bete beständig dafür, dass

nicht auch du bald zu denen gehören musst!“

„Ja das ist sicher schlimm“, pflichtete ihr Kristin bei, deren Tonfall nun etwas höflicher klang

„Aber sei gewiss, mein Zuhause ist auch nicht gerade das Paradies. Ich will mich nicht beklagen, aber welche Zukunftsaussichten hat ein Mädchen, das in einer Prekasiedlung lebt?“

„Nun ich denke, die Zukunft einer Prekafrau“, meinte die alte Frau und räusperte sich. „So jedenfalls scheint es auf den ersten Blick. Gelingt es dir aber in deinen Gedanken tiefer vorzudringen in die Mysterien des Lebens, könnte dich etwas erwarten von dem du bisher nicht einmal zu träumen wagst. Erkenne den Augenblick der Tat!“

Kristin verstand nur Bahnhof. Die seltsame Person schien offenbar nicht ganz bei Sinnen zu sein. Verzweifelt suchte Kristin nach einer Möglichkeit, das Gespräch höflich aber bestimmt zu beenden.

„Ich weiß zwar nicht was du damit andeuten willst, aber ich denke, du hast Recht! Wir dürfen niemals aufhören zu träumen. Tue ich auch, hin und wieder jedenfalls. Geholfen hat es bisher nicht. Naja, wenn ich mich richtig anstrenge, schaffe ich es vielleicht doch noch.“

„Ja, ja, das ist es! Ich sehe es ganz deutlich vor mir, “ sprach die Alte fast geistesabwesend.

„Ich sehe Aradia mit ihrem Gefolge, die Töchter der Freiheit! Du bist eine von ihren Gefährtinnen. Die große Frau mit den feurigen Haaren, sie ist bereits unter uns, weiß aber im Moment noch nicht um ihre Bestimmung.

Ein bedeutendes Leben erwartet dich, dessen kannst du sicher sein. Doch vorher wirst du durch ein tiefes Tal der Tränen schreiten müssen, eine Reihe schwerer Prüfungen warten deiner. Lange wirst du suchen müssen. Doch erkenne den Augenblick, nur darauf kommt es an. Zur rechten Zeit, am Rechten Ort, die Rechte Tat. Wenn du das vermagst, steht dir alles offen. Vergiss das bitte niemals. Erinnere dich stets meiner Worte, vor allem wenn es dir schlecht geht.“

Jetzt wurde es Kristin unheimlich, die Alte jagte ihr Angst ein. Wovon zum Teufel redete sie.

„Willst du mir versprechen, dich immer meiner zu erinnern, was auch kommen mag?“

Forderte die alte Frau Kristin erneut auf.

„Ja , ja meinetwegen. Ich habe mir alles eingeprägt. Ich werde es bestimmt nicht vergessen und zur rechten Zeit wissen, was zu tun ist. Versprochen!“

Gelobte Kristin schon fast feierlich.

„Gut, ich will es hoffen. Die große Mutter sei immer mit dir!“ Kaum hatte die Alte diese Worte über ihre Lippen gebracht, verschwand sie auch schon.

Eilenden Schrittes bewegte sich Kristin auf ihr Zuhause zu, froh dem Augenblick entronnen zu sein. Doch sollten ihr die Worte der geheimnisumwitterten Alten in der Tat von Stunde an nicht mehr aus dem Kopf gehen. Sie bewegte sie fortan ständig in ihrem Herzen. 

Irgendwo da draußen lag das Leben, hielt tief verborgen, eine Überraschung für sie parat.

Das glaubte sie aus dem Gestammel der alten Frau zu entnehmen.

Da wurde ein kleines Samenkorn der Hoffnung ausgesät, doch wann es zu keimen begann, lag tief verborgen wie hinter einem dichten Nebelschwaden im November.

Die Jahre vergingen und es geschah dass was Kristin am meisten fürchtete, nämlich nichts.

Nun war sie 16 Jahre. In nicht allzu langer Zeit würde sie der Gnade teilhaftig werden und den alten stinkenden Gebäudekomplex der Gummifabrik nicht nur, wie bisher, aus der Ferne, sondern von innen betrachten zu dürfen.

Freudestrahlend kam ihr Vater eines Tages nach Hause und präsentierte ihr den nagelneuen Arbeitsvertrag. Schon in wenigen Wochen sollte sie mit der Arbeit beginnen. Welche Freude

für ihre Eltern. Ihre Meinung zählte nicht. Als sie zu widersprechen wagte, gab es wieder einmal Prügel.

 

Kristin entwickelte sich langsam zu einer sinnlichen Schönheit. Wie lange dieses Antlitz in Anbetracht der schweren, Gesundheit schädigen Arbeit erhalten blieb ,vermochte niemand  mit Sicherheit  zu sagen.

Des Weiteren stellten Schönheit und Anmut für Prekafrauen nicht selten einen Fluch dar.

Was erwartete sie außer der Arbeit in der Fabrik noch? Die Doppelbelastung einer Hausfrau. Es würden eine Menge Kerle in ihr Leben treten. Zumeist Grobiane vom Schlage ihres Vaters, ihrer Brüder, oder ihrer Schwäger.

Einer würde dann auch mal bei ihr hängenbleiben. Hochzeit! Gemeinsam würden sie in eines der Prekahäuser ziehen, möglicherweise auch in eine der begehrten Plattenbauwohnungen, die neuerdings wie Pilze aus dem Boden schossen und riesengroßen Schließfächern nicht unähnlich waren.  

Von dort aus würde dann der Muskel-und-Maulheld an ihrer Seite nach getaner Arbeit, Abend für Abend in die Eckkneipe gehen, sich einen ansaufen und dann abgefüllt wie eine Strandhaubitze in ihr Bett kriechen. Stinkend wie ein Wiedehopf und mit Trauerrändern unter den Nägeln auf ihr hängen, um ihr, so lange es noch ging, ein Kind nach dem anderen machen. Wenn sich dann in absehbarer Zeit die Impotenz auch seiner bemächtigt hatte, konnte sie damit rechnen, allabendlich verprügelt zu werden, bis sie vor lauter blauer Flecken kaum noch sitzen konnte.

In der Tat, glänzende Zukunftsaussichten.

Allein bei dem Gedanken daran drehte sich Kristin der Magen um.

Doch was sollte sie tun? Gab es Alternativen?

Sollte sie darauf warten, dass irgendwann einmal der Märchenprinz des Weges kam, der Zeit entsprechend  nicht auf einem weißen Ross sitzend sondern am Steuer einer glänzenden Luxuslimousine?

Das war ausgesprochen unrealistisch, denn warum sollte sich so einer ausgerechnet in diese Gegend verirren?

Doch angenommen, es käme doch einer, was dann?

Der Herr würde seinen Spaß suchen, sie dafür vielleicht auch mit ein paar Geschenken beehren. Eines Tages wäre er ihrer Gesellschaft überdrüssig, würde sie wie eine heiße Kartoffel fallen lassen. Solche Leute zieht es doch in Wahrheit immer zunächst zu ihren Standesgenossen.

Also konnte das auch nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

Zum Glück gab es da noch den geistigen Tröster. Immer dann, wenn Kristin am Boden zerstört,

ihre aussichtslose Lage betrauerte, meldete sich das Bild  der geheimnisvollen Alten in ihr Bewusstsein zurück.

Das gab ihr für eine Weile Halt und Kraft, auch wenn sie nicht die geringste Ahnung hatte

was es genau mit dieser mysteriöse Avatarin auf sich hatte.

Im Moment schien sie sich nur der Tatsache bewusst dass sie in ihrer jetzigen Umgebung niemals glücklich würde.

Sie wollte fort, wollte ihr Glück irgendwo da draußen, in der Fremde suchen.

Natürlich war ihr klar, dass sie damit ihre Stellung als Preka aufs Spiel setzte.

Ihr war es nicht gestattet einfach so die Koffer zu packen um in die große weite Welt zu ziehen.

Sie war gebunden an das Milieu. Ging sie auf Teufel komm raus, drohte der Absturz in die Pariakaste.

Andererseits aber waren die Paria  zwar arme Schlucker, existierten für die Gesellschaft de facto gar nicht, aber sie waren frei, konnten ungehindert ihr armseliges Leben gestalten wie es ihnen beliebte. Dieser Gedanke begann Kristin zu reizen.

 

Seit einigen Wochen schuftete sie in der Fabrik, stets bedrängt von jüngeren wie älteren Kerlen, die sich ihres Körpers bedienen wollten um sich  sexuelle Befriedigung zu verschaffen. Der Alltag kam einem Spießrutenlaufen gleich. 

Wohin sie sich auch bewegte, wurde ihr aufgelauert. Zumeist nahm man sie gegen ihren Willen.

Doch wagte Kristin vorerst keine Entscheidung.

 

Ein äußerst traumatisches Erlebnis erst sollte der Auslöser für ihren Ausbruch werden.

Auch ihrem Vater war nicht entgangen, zu welch hübscher Erscheinung sich Kristin gemausert hatte.

Eifersüchtig begann er sie auf Schritt und Tritt zu bewachen, ihr ständig Vorhaltungen zu machen, aufgrund ihres leichtfüßigen Lebensstils, ganz so, als trage sie die alleinige Schuld für die Tatsache das Mann ihr Nachstellte.

Das waren selbstverständlich nur Ausflüchte. In Wahrheit hatte er es lange schon selber auf sie abgesehen.

Doch Kristin hing nach wie vor an ihrem Erzeuger, sah ihm alles nach.

Eines Nachts jedoch, als er wieder einmal sternhagelvoll aus der verrauchten Eckkneipe kam und sich polternd und lallend die knarrende Holztreppe hinaufbewegte, öffnete er Kristins Tür.

Noch ehe sie sich besinnen konnte, war er über ihr, begann sie mit seinen schwieligen, ölverschmierten Händen zu begrabschen. Der Versuch bei ihr einzudringen misslang aufgrund seiner Impotenz. Als sie sich zu wehren begann, schlug er so lange auf sie ein, bis Mund und Nase vor Blut trieften.

Dunkelheit verhüllten die Tränen, die sich ihren Weg über die Wangen zu den Lippen suchten

und auf den offenen Wunden höllisch brannten.

Kindheit und Jugend fanden in jenem Augenblick ein abruptes Ende.

Tiefer und tiefer fraß sich der Schmerz und kälter und kälter wurde Kristins Herz. So kalt das sich nur Hass und Wut darin entzünden konnten.

Doch viel schlimmer waren die seelischen Qualen, die ihre Mutter ihr zufügte. Diese machte Kristin allein verantwortlich, bezeichnete sie als Schandfleck für die ganze Familie.

Diese Folter brannte tausendfach entsetzlicher als die Wunden an ihrem Körper.

Mit einem Rucksack voller Habseligkeiten und einer Handvoll Erinnerungen befand sie sich drei Tage später auf der Straße nach nirgendwo.

Einziges Kapital, das hübsche Gesicht und ihr Venuskörper.

Nach kurzer Zeit schon gabelte sie ein LKW-Fahrer auf, nahm sie mit zu sich in eine schmucklose Plattenbauwohnung. Hier hätte sie es durchaus eine Weile ausgehalten,

leider aber schien der Junge auf irgend eine Art pervers zu sein. Als sie sich ihm verweigerte, warf er sie raus.

Das war s! Die Odyssee nahm ihren Lauf.  Von nun an gaben sich die Kerle die Klinke in die Hand.

Wie eine Seifenblase platze der Traum von einem besseren, selbst bestimmten Leben.

Nicht mehr lange und Kristin nahm für ihre Dienste Geld. Von irgend etwas musste sie ja ihren Lebensunterhalt bestreiten.

In einer heruntergekommenen Dachkammer mit Blick auf eine triste, graue, monotone Vorstadt , empfing Kristin ihre Freier.

Die Siedlung hier, ebenfalls von Preka bewohnt, unterschied sich nicht wesentlich von dem was sie gerade hinter sich gelassen . Schmerzlich wurde sich Kristin der Tatsache bewusst, dass sie zwar den Ort wohl aber niemals das Milieu wechseln konnte.

Die Proleten von denen sie hier aufgesucht wurde, hatte sehr wenig in den Taschen. Es reichte gerade so zum Leben. Das bedeutete, dass Kristin so viele wie nur möglich empfangen musste. Ein hartes Stück Arbeit, da blieb nicht viel Freizeit, zumal sie einen Zuhälter gefunden hatte, der peinlichst darauf achtete, dass sie ihre Arbeitszeit auch effektiv ausnutzte. Dieses Leben nicht minder anstrengend als jenes in der Fabrik das sie gerade hinter sich gelassen hatte .

Eintönig-gleichförmig, so verging die Zeit.

Von den politischen Veränderungen im Lande, die sich immer deutlicher abzeichneten, bekam Kristin so gut wie gar nichts mit. So entging ihr auch die Tatsache dass die versprochene Avatarin die Bühne betreten hatte.  Elena hatte ins Geschehen eingegriffen.

Als diese im Rahmen ihres Wahlkampfes auf der legendäre Großdemo im Park von Manrovia sprach, befand sich auch Kristin unter den Zuhörern, doch zu weit entfernt um einen Kontakt herzustellen.

Das war es  schon. Elenas Wahlsieg, der daraufhin folgende Staatsstreich des  rechtsextremen Blauen Orden, dessen kurze Schreckensherrschaft, Revolution, Räterepublik, die Machtergreifung der Radikal-Revolutionäre unter Neidhardt, den Bürgerkrieg, Neidhardts Sieg und schlussendlich dessen Diktatur, alles zog an ihr vorüber wie in einem Film.

Ihr Leben war mit persönlichen Problemen reichlich ausgefüllt. Bei Nacht und Nebel brach sie auf, um erneut ihr Glück zu suchen.

Und diesmal schien es doch tatsächlich zu funktionieren.

Als sie eines Morgens einsam und abgebrannt auf einer Landstrasse ihres Weges ging,

kam eine Limousine neben ihr zum Stehen. Eine, die es in sich hatte. Der Range Rover war schwarzmetallic, hatte Allradantrieb, Automatikgetriebe, Xenonscheinwerfer und Kombiheckleuchten.

Kristin konnte sich nicht erinnern jemals so etwas Pompöses erblickt zu haben.

Von der Innenausstattung ganz zu schweigen.

Und da stieg er aus ihr Märchenprinz, einer aus der schwerreichen Oberschicht.

Der nahm sie zu sich. Auf Kristin wartete ein Leben in Luxus. Schöne Kleider, tolles Essen

Baden, wann immer sie wollte, mit der Luxuskarosse eine Spritztour unternehmen, auf Partys gehen.

Kristin war im Begriffe, eine neue Karriere zu starten. Sie stieg nach oben. Allerdings war dieses neue Leben nicht zum Nulltarif zu haben. Kristin wurde eine Edelhure.

Der Märchenprinz vermietete sie an andere Playboys seines Schlages. Da er auf das Geld nicht so angewiesen schien, konnte sie den Großteil der Einnahmen behalten.

Die Kerle, die von nun unter ihre Decke schlüpften unterschieden sich beachtlich von den Proleten aus der noch nicht allzu fernen Vergangenheit.

Die rochen so gut, waren topgestylt und braungebrannt.  Hatten Brillanten an den Fingern und Goldkettchen um den Hals.

Auch die Umgangsformen änderten sich. Gepflegte, intellektuelle Aussprache, das meiste Blabla verstand Kristin zwar nicht. Doch darauf kam es gar nicht an.

Wenn die feinen Pinkel aber erst mal so richtig in Fahrt kamen, verschwanden die Unterschiede zu den armen Schluckern sehr schnell. Wenn die Kerle ihren Trieben nachgaben kam es nicht darauf an. welche Vorstellungen Kristin von einer erfüllten Sexualität hatte.

Schwanz bleibt Schwanz, egal ob das gute Stück zu einem Proleten, einem Unternehmer oder einen Intellektuellen gehörte.

Auf jeden Fall zahlten die neuen Freier viel besser. Bedeutend mehr Freizeit für Kristin. An manchen Tagen konnte sie sich vollständig dem Müßiggang hingeben.

Sie hatte es geschafft, kein Dreck mehr, kein Gestank, sie war allem entflohen.

Aber was war mit der Prophezeiung? Sollte sie nach Elenas Gefolge Ausschau halten?

Keineswegs! Die konnte ihr gestohlen bleiben. Sie war jetzt reich. Reiche Leute benötigen keine Avatare, an denen hängen nur die armen Gestalten.

Warum sich überhaupt für Politik interessieren, wenn es einem gut geht.

Das die Situation im Lande eskalierte, wurde Kristin nur auf Grund der Tatsache bewusst, dass die Kundschaft deutlich zurückging und eines Tages gänzlich ausblieb.

Was war geschehen?

Das Blatt hatte sich gewandt, Neidhardts Revolutionäre gewannen die Oberhand. Nachdem der Blaue Orden vernichtend geschlagen wurde, mussten die Jungs aus der Oberschicht auf Tauchstation gehen. Ganz damit beschäftigt ihr Leben zu retten hatte die kaum sinn dafür ein Bordell aufzusuchen.

Das Geld, das sie  bisher artig auf die Bettdecke warfen, benötigten sie nun um sich freizukaufen.

Wieder ließ Fortuna ihr Füllhorn sinken. Eine neue Pechsträhne. Und wie weiter?

Die Zeit des unfreiwilligen Müßigganges nutzend, beschäftigte sich Kristin endlich wieder etwas mit den Umständen im Lande. Pünktlich meldete sich die Prophezeiung zurück, wie immer wenn eine Zäsur von ein schneidender Tragweite ins Haus stand.

Doch Zweifel suchten Kristin heim. Sollte sich Elena tatsächlich als die Versprochene erweisen, stellte die im Moment eine ausgesprochen tragische Avatarin dar. Das Glück schien diese verlassen zu haben. Ihr Mann Leander tot, Kovacs der große Dichter und Volksheld ebenfalls nicht mehr am Leben, Elena hatte den Verstand verloren und vegetierte geistig umnachtet in der Abtei dahin ,während die sich zu leeren begann und  die Schwesternschaft drohte auseinander zu brechen. Colette, die geheimnisumwitterte Kundra, versuchte den kärglichen Rest so gut es ging zusammen zu halten. Kein guter Zeitpunkt  um dorthin zu gehen. Kristin verschob ihr Ansinnen auf den Sanktnimmerleinstag.

 

Zumal sich das Schicksal doch noch einmal zum positiven wendete.

Ihr Märchenprinz hatte die Zeichen der Zeit erkannt und verstand diese geschickt zu nutzen.

Er hatte sich mit den neuen Machthabern arrangiert, ging bald in deren engen Zirkeln ein und aus.

Kristin konnte wieder mit Kundschaft zu rechnen. Statt der in seidene Anzüge gewickelten parfümierten Lackaffen kamen nun Offiziere und Funktionäre in ihren mausgrauen Parteiuniformen.

Kristin wurde nun zur Genossin Hure. Auch Revolutionäre verspüren hin und wieder ein Bedürfnis sich auszuleben, auch diese unterschieden sich im Bett kaum von den Vorgängern.

Das Geld stimmte und alles schien im Lot.

Nach einer gewissen Zeit sollten sie feststellen, dass sie wieder einmal die Rechnung ohne den Wirt gemacht hatte.

Nun erwies sich Neidhardt, inzwischen mit erheblicher Machtfülle ausgestattet, als großer Spielverderber.

Der impotente Herrscher, selbst nicht in der Lage, den himmlischen Akt der Hingabe zu praktizieren, beäugte missgünstig alles, was Menschen Freude oder Befriedigung schenkte.

Kurzerhand stellte er Prostitution unter schwere Strafe. Die Bordelle wurden geschlossen, mit eiserner Faust wurden Verstöße geahndet.

Nun fiel der letzte Vorhang. Ihrer Existenzgrundlage beraubt, sah sich Kristin endgültig auf der Straße.

Die letzten Schlupflöcher wurden gestopft. Ihr blieb nur noch die Illegalität.

Doch Kristin spürte nicht die geringste Neigung ihr Dasein wieder in einer schäbigen Dachkammer zu fristen, von Angst gepeinigt, eventuell geschnappt zu werden.

Zum ersten Mal im Leben fühlte sie sich wirklich verlassen.

Da stand sie, inzwischen 23 Jahre, mit leeren Händen.

Ihr hübsches Gesicht, ihr Venuskörper, was nutzte ihr das noch, jetzt da sie sich einer prüden, moralisierenden Diktatur ausgesetzt sah. 

Nach Hause gehen? Wo war das? Es gibt kein Zurück ins Zuhause der Kindheit.

Und wie immer wenn sie mutlos wurde, wenn das Schicksal bedrohlich wie ein Gletscher vor ihr in die Wolken ragte, besann sie sich der Prophezeiung.

Sollte sie es wagen? War das der Augenblick ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen? Ein Wink mit dem Zaunpfahl? Was hatte sie schon zu verlieren?

Sie begab sich auf den Weg. Es war nicht weit zur Abtei. Ihre letzte Zuflucht. Ausgezehrt und am Ende ihrer Kräfte erreichte sie die Große Pforte und bat um Einlass, abgebrannt bis auf die Kleider die sie am Leibe trug.

Dreimal wurde sie abgewiesen, doch sie ließ nicht locker. Wenn man sie dort nicht haben wollte beabsichtigte sie eben hier zu sterben. Schließlich öffnete sich doch noch das Tor.

Sie kam in der Gemeinschaftsunterkunft unter. Auf die Frage was sie denn könne und zu tun beabsichtige, blieb sie die Antwort schuldig. Was hatte sie vorzuweisen? Nichts! Keine Zeugnisse, nicht die geringsten Referenzen.

Über ihr Vorleben brauchte sie keine Auskünfte zu geben, wenigstens das blieb ihr erspart. In Elenas Kommune galt das Prinzip der freien Liebe, folglich wurden Huren hier nicht benötigt. Und schöne sinnliche junge Frauen gab es hier wie Sand am Meer. Was also konnte sie tun? Ihr blieben nicht viele Optionen.

 

Und die Prophezeiung? Nun befand sie sich  im Gefolge der Avatarin. Doch was hatte sie davon? Elena selbst bekam sie nur ein einziges Mal zu Gesichte, wechselte mit ihr vielleicht vier-fünf Sätze oberflächlicher Konversation.

Und das sollte alles sein?

Sie verbrachte den Tag mit allerlei profanen Tätigkeiten. Kochen, spülen, saubermachen, die Straße fegen, etc., etc. So hatte sie sich das neue Leben mit Sicherheit nicht vorgestellt.

In Elenas Gefolge, bedeutete das denn nicht, ganz an deren Seite? In ihrem Hause leben,

an ihrem Tisch sitzen, in ihrem Bett schlafen.

Doch sie kam zu spät. Der Platz an deren Seite war vergeben. Dort thronte die schlaue Madleen.

Diese kam, wie sie selbst, ebenfalls aus der Unterschicht, auch wenn deren Lebensumstände etwas günstiger schienen. Das scheue Rehkitz von einst hatte sich an Elenas Seite zu einer prächtigen Powerfrau entwickelt. Mehr noch als Elena selbst hielt Madleen die Fäden in der Hand, stellte sie den organisatorischen Motor der Gemeinschaft dar.

Was blieb für Kristin?

Bitte hinten anstellen, mache dich ganz klein! Erneut beim Nullpunkt an fangen.

etwa zu diesem Zeitpunkt wurde Gabriela auf sie aufmerksam und nahm sie zu sich in ihr Haus, in die "Alte Klosterförsterei", die sie gemeinsam mit ihrem Mann Klaus bewohnte.

Das Leben der um viele Jahre älteren Gabriela befand sich in einem diametralen Gegensatz zu Kristins Biographie. Bevor sie durch Elenas Einfluss zur Partyfrau wurde, konnte Gabriela auf eine bemerkenswerte akademische Laufbahn zurückblicken. Sie kam aus gutem Haus, Tochter eines bedeutenden Wissenschaftlers, der ihre Begabung frühzeitig erkannt und entsprechende Maßnahmen zu ihrer Bildung in die Wege geleitet hatte. Nur die besten Lehranstalten kamen für sie in Betracht. Sie erwarb einen Abschluss im englischen Oxford und konnte zwei Doktortitel ihr eigen nennen, machte sich einen Namen als anerkannte Historikerin und arbeitete lange Zeit selbst als Dozentin. Nach Elenas Wandlung folgte sie der als eine der ersten und wurde zur Revolutionärin. Hier in der Abtei fand sie zurück zu dem was ihr entsprach und war gerade im Begriff ein eigenes Forschungsinstitut einzurichten als sie von der kalten Faust des Schicksals niedergestreckt wurde. Mit Anfang 40 war sie noch immer eine sinnliche Schönheit und strahlte Würde und Erhabenheit aus. Die dünne Halbrundbrille die auf ihrer Nasenspitze zu tragen pflegte, betonte ihre Intelligenz und verlieh ihr eine gewisse Aura der Unnahbarkeit. Die Bewohner der Abtei begegneten ihr mit gebührendem Respekt.

Im Haushalt dieser Frau hätte Kristin ihr Glück finden können, doch was tat sie stattdessen? Ganz offen becircte sie den nicht sonderlich charakterstarken Klaus und es gelang ihr bald ihn um den Finger zu wickeln.

Gabriela hatte ihr die Hand gereicht und sie vergalt es ihr mit Verrat und Hinterlist.

 

Das brachte es mit sich dass die Schicksalsgöttin erneut die rote Karte zücken musste. Nun saß sie hier in dieser kleinen  Küche und starrte noch immer auf den hellblau gekachelten Fußboden.

Die angebetete Avatarin hatte ihr vor wenigen Augenblicken ordentlich den Marsch geblasen und sie konnte von Glück sagen, wenn sie nicht der Gemeinschaft verwiesen würde. Bei Elena schien sie unten durch. Unter diesen Umständen war der Weg in den erlauchten engeren Kreis für alle Zeit verschlossen.

Kristin glaubte dass das Schicksal einfach zu hohe Ansprüche an sie stellte.

Doch so einfach aufgeben? Niemals! Sie war nicht der Typ, der so einfach die Flinte ins Korn warf.

Kristin würde kämpfen! Doch sie war sich dessen bewusst, dass sie sich bei Elena ordentlich ins Zeug legen musste.

Es sollte so bald als möglich geschehen. Sie war bereit sich Elena zu stellen, würde jede Kritik einzustecken. Sich unter Umständen bis zum Exzess demütigen, wenn es von Nöten wäre.

 

Als Elena am darauf folgenden Morgen die Vorhänge ihres Arbeitszimmers beiseite schob und freien Blick auf die von Ahornbäumen gesäumte Allee vor dem Konventsgebäude hatte, traute sie ihren Augen nicht.

Dort draußen wartete, ungeduldig auf und ab gehend, eine reuige Kristin.

Damit hatte sie nicht gerechnet, sie erwartete Klaus, der, sich windend wie ein Aal, versuchen würde mit zurechtgelegten Argumenten die Sache herunterzuspielen.

Offensichtlich fehlte ihm der Mut und er schickte Kristin statt seiner vor.

Elena beschloss, taktisch vor zugehen. Zunächst wollte sie Kristin eine Weile schmoren lassen.

Harrte sie aus, könnte es sich bei ihr um ehrliche Reue handeln.

Etwa eine Stunde war vergangen.

Unterdessen kündigte sich ein Unwetter an. Immer mehr Wolken trieben heran, um das blasse

Blau des Morgens zu verdunkeln. Der Sommer schien heute eine Pause einzulegen.

Nach einer Weile entlud sich ein heftiges Gewitter. Von außen halten die Donnerschläge als Echo vom Himmel wider, und ein böiger Wind peitschte den Regen gegen das dichte Gemäuer der Abtei.

Um ein Haar hätte sie Kristin glatt vergessen. Elena erkundete die Lage. Es war kaum zu glauben, durchnässt wie eine streunende  Katze wartete Kristin, schutzsuchend unter einen  Dachvorsprung, harrte der Dinge die noch geschehen konnten.

Das Make-up lief als klebrige Masse in ihrem Gesicht zusammen. Das pitschnasse Haar, dass in Strähnen herab hing verlieh ihr das Aussehen einer Vogelscheuche.

Schnell eilte Elena den Kreuzgang entlang und öffnete der deprimierten jungen Frau die Pforte.

„Schnell herein Kristin, ich rechnete nicht damit, dass du solange ausharren würdest.“, lud Elena sie ein.

„Und ich glaubte nicht daran dass sich für mich heute überhaupt noch die Tür öffnet.“

Gab diese frustriert und vor Kälte zitternd zur Antwort.

Tränen des Zorns füllten ihre Augen, doch es gelang ihr die Fassung zu wahren.

Sie begaben sich einige Stockwerk nach oben direkt in Elenas WG. Zum ersten Mal in ihrem Leben betrat Kristin, dabei von Ehrfurcht ergriffen, Elenas intimsten Bezirk.

Dort konnte Elena erst das gesamte Ausmaß des Regengusses in Augenschein nehmen.

Sie musterte Kristin mit einem Blick der Mitleid und Belustigung zugleich ausdrücken konnte.

„Da hat der Regenschauer aber ganze Arbeit geleistet. Du bist ja durch bis auf die Haut. Du musst unbedingt die nasse Kleidung ausziehen. Ich hole derweil ein großes Handtuch, damit kannst du dich trocken rubbeln.“

Elena verschwand im Korridor Kristin blieb wie ein begossener Pudel zurück. In Anbetracht der Situation war  sie aber durchaus geneigt Elenas Vorschlag an zu nehmen.

Sie entledigte sich des kurzen Sommerkleides, streifte die durchweichten Turnschuhe ab, der Rest folgte automatisch nach.

Als Elena mit einem flauschigen Badetuch zurückkam präsentierte sich Kristin blank und bloß.

Ihr fröstelte entsetzlich in dem kühlen Raum. Elena schlang das Tuch um sie und begann mit gekonnten Griffen zunächst ihr Haar zu trocknen, arbeitete sich nach unten vor.

Kristin spürte eine wohlige Wärme, die sich wie ein weicher Nebel um ihre Schultern schlang.

„So jetzt kannst du alleine weiter machen.“ Elena brach ihre Aktion ab, was Kristin außerordentlich bedauerte.

„Ich werde deine Sachen zum Trocknen aufhängen“, sprach Elena und verschwand erneut.

 

Kristin blickte sich um. Schließlich nahm sie auf einem großen Polstersessel Platz auf dessen Oberfläche ein Schafsfell ausgebreitet war. Sie ließ sich fallen zog die Beine an und kuschelt sich ganz in das Badetuch.

„Du kannst, wenn du willst gern etwas von meiner Kleidung überziehen, “ fragte Elena während sie das Zimmer betrat.

 „Nein danke, es geht schon, ich bleibe einfach in das Tuch eingewickelt“, lehnte Kristin dankend ab.

„Wie du willst! Aber ich denke, das wäre eh zu groß für dich, ich bin ja fast einen Kopf größer. Aber gut siehst du aus! Dein Körper kann sich sehen lassen. Hübsch und sinnlich.“

Ein für Kristin völlig ungewohntes Gefühl bemächtigte sich ihrer... Während sie den Worten lauschte, begann sie zu erröten. Sie hatte keine Erklärung dafür. Immerhin hatte sie es in der Vergangenheit mit Dutzenden von Männern zu tun, die mit ähnlichen Komplimenten  aufwarteten. Für Kristin reine Floskeln ohne jegliche Bedeutung.

Bei Elena hingegen war es anders, so etwas aus ihrem Mund zu vernehmen, das ging unter die Haut.

„Aber einen Tee trinkst du doch. Ja, natürlich. Der wird dir sicher gut tun, “ erneut schoss Elena in die Höhe „Madleen wird uns gleich einen zubereiten, “ meinte sie im Hinausgehen.

Zum dritten Male verschwand sie hinter der Tür.

Kristin begann vor Aufregung innerlich zu flattern wie ein Schmetterling.

Warum kommt sie nicht gleich zur Sache? Warum lässt Elena mich so zappeln? Ich möchte wissen woran ich bin? Und wieso ist sie nur so gut zu mir?

Inzwischen war Elena zurückgekehrt und ließ sich schwungvoll auf dem Sofa vis à vis nieder.

Elegant schlug sie das rechte Bein über das linke.

Ihr Gesicht überzog sich mit einem hellen Lachen.

„Du musst entschuldigen, dass ich dich so lange habe warten lassen, noch dazu bei diesem Wetter. Aber ich rechnete wirklich nicht damit dass du so lange durchhalten würdest. Ich wollte ganz einfach sicherstellen, ob dir die Sache wirklich wichtig erscheint. Schließlich hast du mich davon überzeugt.“ Begann Elena endlich das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken.

„Elena, sag, warum bist du so freundlich zu mir!“ Fordert Kristin ihr gegenüber zu einer eindeutigen Stellungnahme auf.

„Warum sollte ich denn nicht freundlich zu dir sein Kristin? Ich mag dich! Jemanden den man mag sollte man das auch spüren lassen, oder etwa nicht?“

Elenas Antwort verwirrte Kristin nun vollends.

„Du magst mich? Aber ich meine….nach allem was vorgefallen ist? Ich denke, du müsstest mich  hassen.“

„So muss ich das?“ Meinte Elena mit gespielter Verwunderung.

„Ich denke nein! Ich mag dich weil in deinem Inneren etwas Gutes, etwas positives schlummert. Ich möchte dir dabei helfen es zu entdecken, freizulegen und dir zum Nutzen zu machen."

Kristin wollte gerade etwas erwidern als ihr Gespräch erneut unterbrochen wurde.

Madleen betrat den Raum. In den Händen hielt sie ein Tablett mit zwei dampfenden  Steinguttassen

„Guten Morgen Kristin! So, nun wärm dich erst mal auf mit einem heißen Tee, “ Begrüßte Elenas Gefährtin und drückte ihr sogleich die Tasse mit dem überaus würzig duftenden Getränk in die Hand.

„Möchtest du nicht doch lieber etwas an ziehen? Ich kann dir gerne etwas von meinen Sachen bringen, “ bot Madleen an.

Doch auch diesmal lehnte Kristin dankend ab.

„Ich danke dir mein Schatz!“ Sprach Elena zu ihrer Geliebten, nachdem diese auch sie mit dem Tee versorgt hatte und zwinkerte ihr zu.

Kein Zweifel, die beiden passten zusammen wie Pech und Schwefel. Das war eine Art von Liebe, die Kristin in ihrem bisherigen Leben noch nicht hatte kennenlernen durfte.

Ein Anflug von Eifersucht kam über sie, als sie Madleen nachblickte während diese die Tür von außen schloss.

Warum nur war es ihr nie gelungen einen Menschen zu finden mit dem sie alles teilen konnte?

Sie nahm einen großen Schluck des wohlschmeckenden Früchtetees und verschluckte sich

sogleich.

„Elena, ich, ich weiß, dass ich Mist gebaut habe!“ Begann Kristin ihre Beichte, hin und wieder durch ein Husten unterbrechend. „Ich bin mir bewusst dass es für mein Verhalten keine Entschuldigung gibt. Mir ist bekannt wie nahe dir Gabriela steht. Ich schäme mich dessen, was ich getan habe. Ich trage die Schuld für ihre Erkrankung!“

„Nein, dich trifft keine Schuld Kristin! Gabrielas Krankheit wäre so oder so ausgebrochen der Zeitpunkt jetzt ist reiner Zufall. Auch wenn natürlich die Umstände darauf hindeuten sollten.“

Unterbrach Elena die Selbstbezichtigung.

„Aber trotzdem habe ich mich schäbig benommen, nicht wahr?“ Klagte Kristin und spürte wie  ihr die Tränen in die Augen stiegen.

„Ja das hast du! Zweifelsohne! Es gibt in der Tat kaum eine Entschuldigung dafür. Aber Klaus trägt eine ebenso große Schuld. Ihn sehe ich aber eigenartigerweise nicht hier. Du hingegen fandest den Weg zu mir und harrtest trotz des schweren Unwetters aus . Das spricht für dich!“

Kristin ließ ihre Beine vom Sessel gleiten. Ihre Zehen krallten sich in den flauschigen Teppichboden.

Sie leerten den Rest des inzwischen abgekühlten Tees mit einem Zug.

„Ich würde so gern wieder gut machen. Verurteile mich, ich will es ertragen. Ich tue alles für dich. Alles was du willst. Nur eines tue mir nicht an. Mich von hier fortzuschicken.“ Bekannte Kristin.

„Niemand hat die Absicht dich fortzuschicken. Deine Angst ist unbegründet. Wer von hier geht, tut das freiwillig. Bei besonders schwer wiegenden Angelegenheit gibt es sicher Ausnahmen. Aber so etwas ist bisher noch nie vorgekommen."

Elenas Worte waren Balsam für die Seele.

„Dann sage, was ich tun soll! Ich mache alles was du verlangst, “ bot sich Kristin erneut an.

„Für mich brauchst du keine Wiedergutmachung zu leisten. Es war Gabriela, der du weh getan hast.“ Stellte Elena richtig. „Zu tun gibt es dort im Moment eine ganze Menge. Ich denke, auf Klaus können wir wohl die folgenden Tage nicht setzen.“

„ Ich… ich traue mich ja nicht einmal in ihre Nähe.

Nein, das könnte ich nicht! Ich kann ihr nicht unter die Augen treten!“ Erwiderte Kristin.

„Doch! Genau dass Kristin! Du wirst dich um sie kümmern. Wirst sie pflegen, Tag und Nacht. Stets und ständig zu ihrer Verfügung stehen. Und jetzt kommt der springende Punkt. All das wirst du nicht nur aus Mitleid oder schlechtem Gewissen tun!

Nein aus Liebe wirst du handeln. Schön und begehrenswert wirst du sie finden, denn das ist sie trotz ihrer Erkrankung noch immer. Die Aufmerksamkeit, die bisher allein Klaus galt, wirst du von nun an ausschließlich ihr widmen. Klaus ist kerngesund, der wird bestimmt 101 Jahr alt, der wird es verwinden, sich ein paar Wochen in Verzicht zu üben. Gabriela hingegen ist sehr krank.

Niemand vermag im voraus zu sagen wie lange sie noch unter uns weilt, in der Zeit die ihr noch bleibt sollst du ihr alle nur erdenkliche Liebe schenken. Jeden Wunsch wirst du ihr erfüllen.

Du kannst dich voll auf diese Aufgabe konzentrieren. Ich entbinde dich von deinen üblichen Tätigkeiten. Ich denke die anderen werden es ebenso akzeptieren.“

Kristin schlang dass Badetuch um ihre Schulter und kauerte sich zusammen, ihr fröstelte noch mehr. Die Enttäuschung schien ihr ins Gesicht geschrieben. Was Elena von ihr verlangte ging weit über ihre Kräfte. Das war eine Zumutung.

„Das kann ich nicht Elena! Alles, nur das nicht. Bitte! Ich habe überhaupt keine Erfahrung in Krankenpflege. Ich würde ohnehin nur Fehler machen. Gabriela braucht fachgerechte Hilfe.

Ich tue alles für dich! Ich übernehme die niedrigsten Aufgaben. Ich putze für dich oder irgend so etwas. Aber nicht das! Das halte ich nicht aus!“

„Dann musst du es eben lernen! Alles was von Nöten ist werde ich dich lehren. Nach einer bestimmten  Zeit wirst du beginnen deine zu Arbeit lieben. Das versichere ich dir.“ Elena ließ sich nicht erweichen.

Kristin errötete unter den durchdringenden Blicken von Elenas Augen. Ein beklemmendes Gefühl der Angst bemächtigte sich ihrer und legte sich wie ein schwerer Schleifstein auf ihre Brust.

Sie wollte gerade etwas erwidern als Madleen ins Zimmer trat. Ihr erscheinen lockerte die angespannte Atmosphäre etwas auf.

„So, die Kleidung ist trocken. Ich habe sie ein wenig aufgebügelt. Du kannst sie wieder an ziehen, wenn du magst. Es stört aber auch nicht wenn du so bleibst. Du hast ja wirklich eine tolle Figur. Die kann sich sehen lassen.“

Die Bemerkung war spaßig gemeint, trotzdem errötet Kristin erneut. Sie griff nach ihrer Kleidung und begann sich anzukleiden, blieb aber stumm, solange sich Madleen noch im Raum befand.

Eine kleine Wolke des Verhängnisses schien sich über Kristins Kopf zu bilden.

Aus dieser Situation gab es kein Entrinnen.

Nachdem Madleen gegangen war, wagte Kristin den Faden wieder auf zu nehmen.

„Und… und du meinst nicht, dass es für mich noch einen anderen Weg gibt?“

„Ich fürchte nein, Kristin. Da musst du durch! Ich kann dir nochmals versichern, dass du nach anfänglichen Schwierigkeiten deinen Dienst gern verrichten wirst. Komme zu mir wenn du Fragen hast. Ich bin jederzeit für dich zu sprechen. Sollte ich nicht vor Ort sein, wende dich an Madleen oder Colette, eine von uns ist immer in erreichbarer Nähe“ versicherte ihr Elena

 „Du wirst sehr bald merken dass hier niemand allein ist. Eine für alle, alle für eine. Du befindest dich in einer Gemeinschaft von Menschen, die einander tragen.“

 Kristin musste zur Kenntnis nehmen das es keinen Sinn machte weiterhin auf dieser Ebene zu diskutieren. Wohl oder übel gab sie sich geschlagen.

Schwungvoll ließ sie sich wieder in den Sessel fallen.

„Elena, da gibt es noch etwas. Ich… ich muss dir etwas über meine Vergangenheit berichten.

Es…es wird viel getuschelt, dass ist mir schon lange aufgefallen. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber es ist schon was dran an dem was erzählt wird. Ich war in der Vergangenheit…“

Wieder unterbrach Elena den ins Stocken geratenen Redefluss.

„Es gibt einen ganz wichtigen Grundsatz in unseren Kommunen. Die Vergangenheit erlischt mit dem Eintritt. Was du vorher tatst, ist unerheblich. Wenn du mir freiwillig etwas an vertrauen willst, kannst du es tun. Ansonsten schützt dich die Anonymität der Gegenwart.“

„Ich möchte es, Elena. Ich will mich dir gegenüber offenbaren. Ich habe Vertrauen zu dir und das will ich nicht enttäuschen, “ sprach Kristin mit wieder erworbenen Selbstsicherheit.

Es war schwer, den Einstieg zu finden, doch schließlich überwand sie die Barriere und öffnete sich.  Es war eine Premiere, noch bei keinem Menschen konnte Kristin bisher eine solche Offenheit zutage legen.

Aufmerksam hörte Elena zu und ließ die Beichte wie einen Wasserfall über sich ergehen, unterbrach nur einmal, indem sie Kristin einlud sich zu ihr auf das Sofa zu setzen und ihr anbot den Kopf in ihren Schoß zu legen. Diese Vertrauensgeste entfaltete bei ihr bald ihre heilende Wirkung. Kristin bedurfte jenen Augenblick der Nähe.

Tiefes Mitgefühl erfasste Elena während sie den Worten lauschte, ließ der jungen Frau in der innigen Umarmung spüren, dass sie geachtet wurde, so wie sie war.

Leid spiegelte sich in Kristins Augen.

Sichtlich befreit fühlte sich Kristin nachdem alles ausgesprochen war. Ein noch nie erfahrenes Gefühl des Friedens und der inneren Ausgeglichenheit bemächtigte sich ihrer wie eine wärmende Heilquelle.

„Wer sich wandeln will muss lernen loszulassen Kristin“, entgegnete Elena schließlich.

„Du bist gerade im Begriff mit dem loslassen zu beginnen. Moralische Bedenken sind hier unbekannt. Prostitution findest du hier natürlich nicht. Warum auch? In einer Gesellschaft der freien Liebe wäre eine solche fehl am Platz. Du hast nichts getan, dessen du dich schämen müsstest.

Wir hatten eine Revolution und einen verheerenden Bürgerkrieg. Was glaubst du, was hier für Leute auftauchten . Da gibt es nicht wenige, die wirklich großes Unheil über andere brachten. Aber selbst jenen steht eine neue Chance zu.

Du hast jetzt deine letzte Prüfung zu bestehen. Danach kann es nur besser werden.“

Kristin wurde ihrer Gefühle nicht mehr Herr. Ihre Tränen fielen wie ein heilsamer Regen herab.

Noch eine Weile verharrte sie schweigend an Elenas Seite.

Dann schickte sie sich an zu gehen.

„Ich will es versuchen. Ich will es wirklich versuchen Elena! Ich hoffe nur, dass ich dich nicht enttäuschen muss.“

„Sei nicht traurig Kristin, dass der Platz an meiner Seite schon fest vergeben. Du gehörst trotzdem zu mir, zu uns. Tue erst mal deine Aufgabe. Zu gegebener Zeit sehen wir weiter.“

„Ich habe aber trotzdem Angst.“

„Keine schlechte Begleiterin, Kristin. Aus Angst wird auch der Mut geboren. Zur rechten Zeit wirst du im Stande sein, das rechte zu tun. Erkenne den Augenblick!“

Dieser letzte Satz rief auf einmal eine ganz andere Erinnerung wach. Hatte sich nicht auch die geheimnisvollen Alte aus den Kindertagen dieser Worte bedient?

Das konnte doch kein Zufall sein. Elena verwendete das gleiche Vokabular.

Ohne weitere Worte verabschiedete sich die reuige Sünderin und begab sich schnurstracks nach Hause.

Ein Wechselbad der Gefühle begleitete sie auf dem Weg.

Sie fühlte sich befreit, zweifelsohne. Andererseits jedoch beschämte sie Elenas Feinfühligkeit.

Sie hatte ein Donnerwetter erwartet. Stattdessen diese hemmungslose Zärtlichkeit, Geborgenheit, Wärme und Anerkennung.

Ohne Zweifel! Elena schien in der Tat eine Avatarin zu sein. Auch wenn Kristin solchen Dingen nicht viel Bedeutung beimaß, es konnte gar nicht anders sein.

 

Gabriela wurde derweil in der Krankenstation der Abtei untergebracht, die befand sich im Erdgeschoss des Nordflügels im Konventsgebäude. Eine sehr günstige Lage denn dahinter erstreckte sich zunächst der weit ausladende Klosterpark gleich daran schlossen sich die Streuobstwiesen mit den Obstbäumen an, schlussendlich, außerhalb der Klostermauer, der Wald des Grauhaargebirges.

Ruhe, wohltuende Stille, für eine Gesundung obligatorisch, wurde in dieser Zone garantiert, des weiteren war es hier auch im Hochsommer angenehm kühl.

Der Trakt beherbergte eine ganze Reihe unterschiedlich hergerichteter Zimmer, alle mit Sanitäreinrichtungen versehen, sowie eine eigenen zentrale Küche. Dort konnten die Angehörigen für ihre Kranken eigens das Essen zubereiten. Alles sollte nach Möglichkeit stressfrei und ohne Hektik verlaufen. Elenas Praxis befand sich am Eingang zu diesem Trakt.

In diesem Bereich sollte sich Kristin nun um die todkranke Gabriela kümmern. Wie, auf welche Weise? Das stand in den Sternen. Das blieb ihr selbst überlassen, wenn auch unter Elenas fachgerechter Anleitung.

 

 

Als Kristin die Krankenstation betrat und auf leisen Sohlen den Korridor entlang schritt, wurde sie sich wieder des beklemmenden Gefühles der Angst bewusst.

Schnell gibt der Mensch ein Versprechen. Doch wenn den Worten Taten folgen sollen, präsentiert sich die Sache nicht selten in einem ganz andern Licht.

Klaus hatte sich erst mal aus dem Staub gemacht. Der tat, was die meisten Männer tun, die sich mit der Realität nicht zurechtfinden, sich betrinken. Man konnte davon ausgehen dass das mehre Tage in Anspruch nehmen konnte. Mit ihm war also vorerst nicht zu rechnen.

Die Last der Arbeit lag auf ihren Schultern.

Vorsichtig näherte sie sich dem Zimmer. Wie würde Gabriela reagieren?

Sie schluckte den Kloß im Hals hinunter und öffnete die Tür.

Ihr Blick fiel auf Gabriela, die im Halbdunkel des Raumes in ihrem Bett lag und noch immer schlief, dabei ein leises, kaum wahrnehmbares Stöhnen von sich gab.

Vorsichtig pirschte sich Kristin heran, wagte zunächst nicht Gabrielas Gesicht zu betrachten, entschied sich aber dann doch sich dazu.

Allmählich stieg in ihr ein Gefühl der Ehrfurcht und Erregung auf, etwa jenem Gefühl ähnlich, das einem in der Gegenwart einer großen Persönlichkeit überkommt. Auch tiefes Mitgefühl mischte sich darunter und natürlich immer wieder die nicht enden wollenden Schuldgefühle.

Kristin streckte die Hand aus um die Decke zu berühren, zog sich jedoch im letzten Moment zurück. Furcht überkam sie.

Sie wusste wie unsinnig dieses Verhalten war, denn in den folgenden Wochen, möglicherweise sogar Monaten, würde sie Gabriela noch des Öfteren berühren müssen, das ließ sich kaum vermeiden.

Die Fragen, die so bleischwer über ihr thronte lauteten: Werde ich imstande sein mich täglich mit soviel Lied zu konfrontieren? Muss ich damit rechnen verrückt zu werden? Welche Fehler werde ich begehen?

Als sich Kristin gerade zum Gehen wenden wollte, konnte sie ganz leise Gabrielas Stimme vernehmen.

„Klaus, bist du es? Ich kann dich nicht sehen. Lass mich bitte nicht alleine!“

Gabrielas inniges Flehen drang Kristin durch Mark und Bein, sie schloss die bereits halboffene Tür und begab sich wieder an das Krankenlager. Nun überwand sie sich. Ihre Hand fuhr unter die

Decke und ertastete Gabrielas Hand.

„Ich bin es Kristin. Klaus ist nicht da! Ich weiß nicht, wann er wiederkommt. Aber das macht nichts. Ich bin jetzt für dich da! Ich bleibe bei dir, solange du mich brauchst.

Bitte vergib mir. Ich habe mich dir gegenüber ganz scheußlich benommen.

Glaube mir, alles was in meiner Macht steht werde ich tun um es wieder gut zu machen.“

Zaghaft und unter Aufbietung der letzten noch verbliebenen Kräfte, drückte Gabriela Kristins Hand und der Anflug eines Lächelns wurde um ihren Mundwinkel sichtbar.

Wortlos verbrachten sie eine ganze Weile miteinander. Hatten sich da zwei gefunden?

 

Die Dinge nahmen ihren Lauf. Am Anfang kostete es viel Überwindung,  ihrer Aufgabe gerecht zu werden.

Gabriela konnte sich kaum noch bewegen. Hilflos wie ein Neugeborenes war sie der Jüngeren auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, litt zudem oftmals große Schmerzen.

Kristin hielt was sie versprach. Gabriela konnte sich zu Hundert Prozent auf deren Zuverlässigkeit verlassen.

Am Anfang tat sie ihre Arbeit noch aus reinem Mitgefühl und einer gehörigen Portion schlechtem Gewissen. Doch schon nach wenigen Tagen konnte sie in ihrem Inneren eine deutliche Wendung spüren.

Sie fühlte sich wohl in Gabrielas Nähe. Sie begann die kranke Frau mit anderen Augen zu betrachten, fühlte sich zu ihr hingezogen. Die Bedenken der ersten Stunden lösten sich bald schon in Luft auf.

Klaus hatte nach über einer Woche wieder Boden unter den Füßen. Von nun an erkundigte er sich täglich nach Gabrielas Befinden und wollte wissen ob er  etwas tun könne.

Höflich aber bestimmt lehnte Kristin seine Angebote ab.

Das war ihre Aufgabe.

Nur ganz selten, etwa, wenn sie Gabriela badete, nahm sie die starken männlichen Hände gern in Anspruch. Ansonsten schienen die eher zu stören. Immer tiefer wuchs in Kristin der Wunsch mit dieser Frau den Tag allein zu verbringen.

Elena sah regelmäßig nach dem Rechten, stellte zu ihrer Genugtuung fest, dass es keiner Kontrolle mehr bedurfte, so sehr hatte sich Kristin perfektioniert.

Die Göttin hatte Kristin durch eine ausgetrocknete Wüste zu einer verborgenen Quelle der Menschlichkeit, des Mitgefühls und der Liebe geführt.

Weil Gabriela auch die einfachsten Handgriffe nicht mehr selbständig verrichten konnte, lag es in der Natur der Sache, dass Kristin in die intimsten Sphären vordringen musste.

Wie ein Säugling wurde Gabriela gewindelt, gewaschen, gefüttert. Musste gedreht werden damit sie keine wunden Stellen am Körper bekam. Von Anfang an schlief Kristin im gleichen Zimmer, auf einer großen  mit weinrotem Plüsch bezogenen Couch. Nur noch ganz selten ging sie zur „Alten Försterei“ um nach Klaus zu sehen. Dem übertrug sie vor allem Besorgungen außer Haus.

Trotz dieser Bemühungen verschlechterte sich Gabrielas Gesundheitszustand ständig.

Eines Morgens war es besonders schlimm. Gabriela litt große Schmerzen und weinte ununterbrochen leise vor sich hin.

Kristin hielt es nicht mehr aus. Das quälende Warum peinigte sie wie die Flammen des Höllenfeuers. Wo konnte sie Antwort finden?

Dabei war es ein so schöner Tag. Der Sommer hatte sich voll entfaltet und lud nach draußen ein. Triumphierend legte die Sonne ihren goldenen Segen über das Land und die Erde hieß sie in freudigem Überschwang willkommen.

Um sich nicht vollends der Verzweiflung auszuliefern, bedurfte Kristin dringend einer Abwechslung. Sie musste einfach raus.

Doch kaum hatte sie das Haus verlassen und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen im Gesicht und die reine frische Luft, stellten sich schon wieder die Gewissensbisse ein.

Ihr war bewusst, wie sehr Gabriela die Natur liebte und wie fürchterlich sie darunter litt bei diesem Wetter regungslos und unter Schmerzen ans Bett gefesselt zu sein.

Deprimiert wollte Kristin den Rückweg antreten. Doch eine unerklärliche Kraft schien sie in die entgegengesetzte Richtung zu ziehen.

 

Erkenne den Augenblick! Tue das rechte zur rechten Zeit! Die Worte der geheimnisvollen Alten aus ihren Kindertagen meldeten sich wie mit einem Donnerschlag zurück.

Kristin lief weiter und weiter, hatte bald das Abteigelände hinter sich, passierte die nördliche Klosterpforte und bog in den sich vor ihr erstreckenden sommerlichen Wald ein.

Hellgrün fiel das Sonnenlicht durch die Blätter und ließ die Luft flimmern und tanzen.

Ein Falke schwebte über der Anhöhe, ein Fleck Leben über der unendlichen Weite des Himmels.

Kristin schritt weiter, bergauf, folgte dem Pfad in Richtung Felsmassiv*. Doch auch hier gelang es ihr nicht abzuschalten. Gabrielas Weinen hallte unaufhörlich in ihr nach. Da lichteten sich die Nebel und sie begriff auf einmal wie sehr sie diese Frau liebte.

Tränen des Zorns füllten ihre Augen. Sie fühlte sich hilflos. Die Unfähigkeit auch nur eine Kleinigkeit ändern zu können ließ sie in immer tiefere Abgründe stürzen.

Unbemerkt hatte sie die erste Anhöhe erreicht. Vor ihr ragten tonnenschwere, bräunlich schimmernde und teilweise von Moos überwucherte Felsblöcke auf.

Sie erinnerte sich, dass sich Elena hier öfters zu ihren Meditationen zurückzog.

Wie viele andere Abteibewohner fand Kristin nur schweren Zugang zu Elenas Spiritualität. Zu fremd präsentierte sich ihr jene Welt.

Doch es schien etwas dran zu sein. Eine geheimnisvolle Aura senkte sich auf den Ort.

Kristin um schritt den innerste Block, betrachtete im gleißenden Sonnenlicht dessen wuchtige Ausmaße.

Sollte sie etwa versuchen, es Elena gleich zu tun? Meditieren, obgleich sie nicht die geringste Übung darin hatte?

Sie begann einfach nachzuahmen, was sie bei Elena manchmal beobachtet hatte, hockte sich im Schneidersitz auf den Boden und versuchte sich zu konzentrieren.

Doch schon nach kurzer Zeit musste sie frustriert zur Kenntnis nehmen das es nicht funktionierte.

Die gewünschte Kontemplation wollte und wollte sich nicht einstellen. Zu sehr wüteten die Bilder des Alltags in ihrem Inneren.

Sie spürte, wie sich ihrer langsam eine dumpfe niederschmetternde Kälte bemächtigte. Ihre zornige Trauer ließ aber keinen Platz für Tränen.

Da begann sie ihren aufgestauten Frust einfach hinaus zu schreien.

„Wo bist du Göttin? Sag wo ich dich finden kann, wenn es dich überhaupt gibt? Ich zweifle an deiner Existenz, denn gäbe es dich müsste Gabriela jetzt nicht leiden.

Was hat sie dir getan? Ungerecht und grausam, das bist du. Menschen wie Gabriela, die dir

Nahe stehen, erfahren nichts als Grausamkeiten aus deinen Händen. Nein, so handelt keine Göttin.

Ich verachte dich! Ich verachte dich!“

Kaum waren die Worte über ihre Lippen,  reuten sie ihr schon.

„Verzeih Göttin, bitte verzeih. Ich war außer mir. Ich weiß überhaupt nicht mehr was ich sage. Es ist doch nur so. Warum ausgerechnet sie?

Hier bin ich! Nimm mich statt ihrer, ich biete dir mein Leben an! Ist das nicht ein fairer Handel? Wer bin ich schon? Ein Nichts!  Ein Niemand! In diesem Leben bringe ich es ohnehin zu gar nichts mehr. Keiner würde um mich trauern! Aber Gabriela muss leben!

Bitte verschone sie!“

Es war eine Empfindung von beängstigender Heftigkeit. Kristin kniff fest die Augen zusammen um wieder Herrin ihrer Sinne zu sein.

Dann ließ sie sich an den Stein fallen, umklammerte einen Teil von ihm, so, als beabsichtige sie, den Brocken anzuheben und davon zu tragen.

Ein Energiefluss begann von ihr Besitz zu ergreifen. Ein Kribbeln zog sich von den Füßen über den Bauch in den Brustkorb, drohte ihr die Luft zu nehmen, zog weiter in die Arme, schlussendlich in den Kopf.

Mit einem Satz wurde sie fast zwei Meter zur Seite geschleudert, gleichsam als habe ein elektrischer Schlag sie niedergestreckt.

Benommen kauerte Kristin am Boden, musste erst Schritt für Schritt in den Realität zurückfinden.

Was in aller Welt war das? Waren hier wirklich mystische Kräfte zugange, oder hatte sie sich das am Ende  nur eingebildet?

Wie dem auch sei. Kristin fühlte sich auf irgendeine Art innerlich bestärkt.

Einer plötzlichen Eingebung folgend machte sie sich auf der Stelle auf den Nachhauseweg

Von der Außenwelt schien Kristin nichts wahr zu nehmen, so sehr versank sie in den Tiefen ihrer Gedanken.

Gabriela schluchzte noch immer leise vor sich hin. Ohne zu zögern schlug Kristin die Bettdecke  beiseite, streckte sich an Gabrielas Seite aus, nahm diese ganz vorsichtig in die Arme, drückte sie an sich, streichelte ihre Wangen, fuhr mit den Fingern durch das schweißnasse Haar.

Tatsächlich, nach etwa 5 min beruhigte sich Gabriela. Ihr Atem wurde ruhig und gleichmäßig.

Ihr schmerzverzerrter Gesichtsausdruck löste sich und bald fiel sie in einen heilsamen Schlummer.

Lange wachte Kristin an ihrer Seite. Erst als sie sicher war, dass Gabriela tief und fest schlief, beabsichtigte sie sich zu entfernen.

Doch Gabriela bedeutet ihr mit einer Geste zu bleiben, wollte mit leiser, kaum wahrnehmbarer Stimme ihrer jungen Helferin ihren Dank bekunden.

„Ich weiß nicht wie lange ich noch imstande bin zu sprechen Kristin. Deshalb möchte ich dir danken für alles was du in den letzten Tagen und Wochen für mich getan hast. Niemand wäre imstande großartigeres zu leisten. Das wollte ich dir noch sagen“

Abermals kämpfte Kristin mit den Tränen.

„Du brauchst mir nicht zu danken. Ich möchte nur Wiedergutmachung leisten. Wenn es so etwas überhaupt geben kann. Ich habe mich dir gegenüber sehr schäbig benommen. Ich danke dir, dass du mir vergeben hast.“

„Wenn wir doch nur noch ein wenig mehr Zeit für einander hätten. Solange schon wünsche ich mir einen Menschen wie dich an meiner Seite.  Nun da du endlich in mein Leben tratst, muss ich sterben. Das ist so ungerecht. Aber wir können dem Schicksal nicht entfliehen.“

Tränenbäche ergossen sich aus Kristins Augen.

„Nein, das lasse ich nicht zu! Du darfst nicht sterben! Hörst Du? Ich verbiete es dir! Ich verbiete dir zu sterben. Du darfst nicht einmal mehr daran denken. Du wirst wieder gesund.

Ich glaube fest daran.“

„Bedeute ich dir denn in der Zwischenzeit soviel? Womit habe ich deine Trauer verdient?“

Gabrielas Fragen drangen immer tiefer.

„Sag doch Kristin, warum bedeute ich dir soviel?“ Röchelte Gabriela, das sprechen viel ihr beständig schwerer.

„Ich…ich weiß nicht. Ich spüre einfach, dass mich etwas mit dir verbindet. Aber ich kann es nicht erklären. Ich will einfach nicht, dass du stirbst. Außerdem hat mir Elena verraten, dass man von dir einiges lernen kann. Ich möchte doch so gerne etwas Sinnvolles aus meinem Leben machen. Ich glaube, dass du eine gute Lehrerin bist.“ Antwortete Kristin.

„Und das ist alles?“ Entgegnete Gabriela mit schwächer werdender Stimme

. „Ich wollte ich wäre noch imstande dir etwas zu lehren. Könnte ich es doch erleben. Ich gäbe sonst etwas dafür. Viel Zeit könnten wir miteinander verbringen. Es gibt so viele Dinge über die es sich lohnt nachzudenken. Erst wenn man merkt dass das Ende naht, ist man imstande so etwas zu schätzen.“

„Es geht nicht zu Ende Gabriela. Ich spüre es. Ich werde alles tun, um das zu verhindern.“

Kristin erschrak selbst über ihre anmaßenden Worte.

„Große Worte, Kristin. Niemand kann dem Rad des Schicksals in die Speichen greifen. Der Tod lässt sich nicht überlisten. Nur ein Wunder könnte mich noch retten. Aber jetzt muss ich mich ein wenig ausruhen. Das sprechen belastet mich immer mehr.“

Behutsam ließ Kristin Gabriela in ihr Kissen zurück gleiten. Noch eine Weile wachte sie am Krankenlager bevor sie sich leise entfernte.

 

Ruhe und Erholung im kleinen Vorgarten suchend, sinnierte Kristin den Rest des Tages über die eigenartigen Erlebnisse.

Wenn sie auch noch meilenweit davon entfernt war diesem Mystizismus eine wirkliche Bedeutung beizumessen, ein bleibender Eindruck hatte sich tief in ihr Bewusstsein gegraben.

Sie beschloss das Geschehene zu einem täglichen Ritual auszuweiten.

Schaden konnte es auf keinen Fall.

Es war ein Strohhalm der sich ihr darbot, weiter nichts.

 

Zum Glück spielte das Wetter mit. In den Folgetagen schlich sich Kristin immer ganz in der Frühe im Schutz der Dämmerung aus dem Haus um jenen geheimnisvollen Ort aufzusuchen.

Keinem Menschen, nicht einmal Elena berichtete sie davon.

Sie verweilte einige Minuten an dem Felsblock in der Überzeugung irgendeine Kraft zu transformieren. Schnell eilte sie dann nach Hause, ständig von der Angst getrieben, es könne auf dem Weg etwas von der Energie verlorengehen.

Unverzüglich begab sich Kristin an Gabrielas Krankenlager um diese in der gewohnten Weise zu liebkosen. Weit öffnete sich Gabrielas Herz um die Wucht der Liebe zu empfangen.

Linderung erfasste ihren Körper. Von nun an hörte man keine Schmerzensschreie mehr. Es schien etwas im Gange zu sein. Zumindest hatte es den Anschein dass ein weiterer Zerfall des Körpers Einhalt geboten wurde.

Kristin dankte für diese Gnade, auch wenn sie sich natürlich bedeutend mehr erhoffte.

Als sie eines Nachmittags Gabriela in den Armen hielt, bemerkte sie, wie deren Hand sich langsam tastend nach ihr streckte. Kaum fühlbar glitten ihre Finge zwischen jene an Kristins Hand.

Der Tragweite dieses Vorganges noch gar nicht bewusst, erwiderte Kristin den Händedruck.

Langsam sickerte die Erkenntnis in ihr Bewusstsein dass hier etwas Unglaubliches geschah.

Gabriela war in der zurückliegenden Zeit nicht einmal mehr imstande einen Finger zu rühren. Nun bewegte sie die ganze Hand verbunden mit einer enormen Kraftanstrengung.

„Gabriela, du hast meine Hand gedrückt. Spürst du wieder etwas? Komm versuch es noch einmal!

Gabriela gehorchte und tat wie ihr geheißen. Drückte die Hand noch fester als ehedem.

Und es klappte schließlich noch ein drittes, ein viertes, ein fünftes Mal.

Wie ein wärmender Strom tanzten Glückshormone in  Kristins Körper.

„Gabriela, weiß du was das bedeutet?  Es geht wieder aufwärts. Komm! Wir probieren weiter.

Immer wieder versuchen. So, jetzt kommt auch mal die andere Hand an die Reihe.“

Mit der linken Hand schien es etwas schwieriger, doch am Ende gelang auch dieser Kraftaufwand.

„Alles wird gut! Glaube mir Gabriela, das ist ein ausgesprochen gutes Zeichen. Du wirst gesund! Ich werde sogleich Elena informieren. Vor allem ist es jetzt wichtig, dass du weiter an dir arbeitest“

Es war außerordentlich schwer festzustellen wer von beiden die größere Hoffnung hegte.

Gabriela wollte glauben. Die neue Zuversicht gab ihr die Kraft dazu, doch lag es ihr fern, den Tag vorschnell vor dem Abend zu loben.

 

In den Folgetagen schien sich die Hoffnung zu bestätigen.

Gabriela konnte immer größere Fortschritte verzeichnen. Kristin unterrichtete Elena, die der Sache zunächst keinen rechten Glauben schenken mochte.

Als sie aber dann einen ersten Blick auf Gabriela werfen konnte lichteten sich die Schleier des Zweifels.

„Ich.. ich bin sprachlos! Stehe vor einem Rätsel, aber ich bin mir gewiss, dass sich die Krankheit auf dem Rückzug befindet.“, bestätigte Elena als sie zwei Tage später den beiden die Auswertung ihrer Untersuchung präsentierte.

„Ich kann nur von einem Wunder zu sprechen, es gibt keine logische Erklärung, Medizinisch ist es unmöglich was hier gerade vor sich geht... Ja, es ist so, Gabriela, längst schon hatte ich dich aufgegeben.“

„Es war Kristin, sie hat mich gesund gemacht Elena! Keine Stunde ist sie von meiner Seite gewichen in all den schlimmen Wochen. Ohne sie wäre ich nicht mehr am Leben. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ein Mensch soviel Liebe nach außen tragen kann.“ versuchte Gabriela ihrer Vermutung Ausdruck zu verleihen.

„Sage nichts Kristin! Ich weiß, du möchtest dein Licht unter einen Scheffel stellen. Damit tust du dir aber nur Unrecht. Ich spüre eine Kraft in dir. Ich kann es nicht deuten. Aber sie ist da.
Kristin wagte nicht zu widersprechen.

„Wie dem auch sei. Wir wollen uns freuen und dankbar sein. Gabriela du darfst nicht zu voreilig sein. Ich hoffe auf das Beste, aber noch bist du nicht über den Berg.

Kristin, du wirst weiter Sorge dafür tragen, dass Gabriela ihre Bewegungsübungen durchführt. Halte mich auf dem Laufenden darüber!“, gab Elena ihre Anweisungen.

„Selbstverständlich tue ich das! Du kannst dich auf mich verlassen.“, erbot sich Kristin.

 

Mit großer Freude verrichtete Kristin in den Folgetagen ihren Dienst.

Sie massierte Gabrielas Körper, lockerte die schlaffen Muskeln und hielt ihre neue Freundin ständig an, ihre gymnastischen Übungen nicht zu vernachlässigen.

Außerdem kochte sie täglich die von Elena verordnete spezielle Aufbaudiät.

Fast außer sich vor Glück geriet sie, als sie eines Abends beim Betreten von Gabrielas Zimmer diese aufrecht sitzend im Bett vorfand.

Vor Schreck ließ sie das Tablett mit der Erfrischung fallen mit der sie Gabriela gerade versorgen wollte.

„Gabriela? Wenn ich es nicht mit meinen eigenen Augen sehen würde, könnte ich es nicht glauben.“

„ Schon seit Tagen probiere ich, heute, ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel funktioniert es. Kneif mich, Kristin, ich glaube zu träumen,“ berichtete Gabriela überglücklich.

„Kneifen? Nein! Da hab ich eine viel bessere Idee!“

Kristin eilte zu Gabriela, schloss sie fest in die Arme. Wie in einem Tanz wogten die beiden lange hin und her.

„Aber die Beine, Kristin. Ich spüre noch immer meine Beine nicht. Ich gäbe sonst etwas dafür endlich wieder aufzustehen.“, beklagte sich Gabriela.

„Ich kann deine Ungeduld verstehen, aber alles braucht seine Zeit. Auch das wird dir bald gelingen. Jetzt kannst du schon vollständig den Oberkörper bewegen. Die Arme, die Hände.

Du wirst wieder in der Lage sein selbständig zu essen und vieles andere mehr. Das ist alles atemberaubend. Aber du musst in Bewegung bleiben, das ist jetzt von großer Bedeutung. Wir beginnen gleich mit der Gymnastik wenn du magst….“

Kristin brach ihren Redeschwall ab, als Gabrielas Hand sich plötzlich ihrem Gesicht nährte.

Zärtlich strich sie Kristins Wangen. Nach einer Weile nahm sie deren Gesicht in beide Hände und drückte ihre Lippen auf die Stirn.

Diese wurde von Gefühlen überwältigt. Prickelte Hitze strich über ihre Haut, während tiefe Sehnsucht ihr Herz erfüllte. Sie konnte Gabrielas Nähe kaum ertragen, so sehr begehrte sie es sie zu berühren und von ihr berührt zu werden.

 Nun strich auch Kristins Hand über Gabrielas Haar. Beide lauschten und wagten kaum zu atmen um die einzigartige Schönheit des Augenblickes nicht zu stören.

„Ich liebe dich!“ Kristins Bekenntnis durchbrach schließlich die perfekte Harmonie. Diese entscheidenden Worte stellten die Weichen für eine Fahrt in ein vollkommen verändertes Leben.

„Ich weiß Kristin! Und mir geht es ebenso, “ flüsterte Gabriela der jüngeren zu.

Ihre Hände suchten und fanden sich. Zwischen ihren Fingern baute sich Wärme auf. Es bedurfte keiner Worte.

 

 

Diese Begegnung änderte das Verhältnis der beiden grundlegend. Eine Vertrautheit die noch vor wenigen Wochen undenkbar gewesen wäre baute sich zwischen ihnen auf.

Ist erst mal Liebe mit im Spiel wird jeder Dienst zur Wohltat an sich selbst.

Gabriela soll wieder laufen können. Unerbittlich kämpfte Kristin nun für dieses Ziel.

Dann kam der Tag der letzten Prüfung.

Beide fieberten dem Ereignis in ungeduldiger Erwartung entgegen.

Gabriela pochte das Herz und im Magen schien sich eine Ameisenarmee niedergelassen zu haben, so grabbelte es in ihrem Bauch als sie die Bettdecke zur Seite schlug.

Vorsichtig stützte sie sich mit den nun wieder kraftdurchfluteten Armen ab, während sie ganz langsam, fast wie in Zeitlupe die Beine aus dem Bett gleiten ließ, bis sie auf der Bettkante zum Sitzen kam. Noch zögerte sie.

„Ich hab schreckliche Angst Kristin! Wenn ich ausrutsche und zum Fallen komme, verliere ich den Mut. Dann werde ich Tage benötigen um wieder aufzuholen.“

„Du schafft es Gabriela, ich glaube an dich“, spornte Kristin ihre Freundin an und streckte ihr die Hände entgegen.

„Mit einem Ruck könnte ich dich nach oben ziehen. Aber ich glaube nicht dass das richtig wäre. Besser du schaffst es aus eigener Kraft. Lass dir Zeit! Immer wieder probieren!“

Gabriela richtete ihre gesamte Konzentration auf ihre Beine.

Ich möchte es so gerne schaffen.“ Dachte Gabriela, hielt sich fest an ihre Zuversicht.

Langsam ließ sie die nackten, kalten Füße auf den Boden gleiten, versuchte zunächst im Sitzen den flauschigen Teppichläufer an den Fußsohlen zu spüren. Füße und Beine wurden von einem merkwürdigen grabbeln erfasst. Ein zartes Stechen wie hunderte von Stecknadeln, oder wie elektrischer Strom, so fühlte es sich an. Auch ein leichter Schmerz in der Hüftgegend stellte sich ein. Die ungewohnte Belastung würde eine Unmenge an Energie erfordern.

Sie stützte sich ab, ließ sich aber zunächst wieder auf das Bett fallen. Auch der zweite und der dritte Versuch scheiterten. Trotzdem ließ sich Gabriela nicht entmutigen.

Unter Aufbietung aller verfügbaren Kräfte wagte Gabriela einen vierten Versuch und kam tatsächlich zum Stehen. Schwankend balancierte sie auf unsicheren Füßen. Kristin verdeckte schnell mit den Handflächen ihr Gesicht um die Tränen der Rührung zu verbergen, denn nun konnte sie nicht mehr an sich halten.

Gabrielas Freude schien grenzenlos. „Kristin sieh nur ich hab`s geschafft, ich habe es wirklich geschafft.“ Sie streckte beider Arme seitlich weg und versuchte die Balance zu halten. Schließlich spürte sie sicheren Boden unter den Füßen.

„Nun möchte ich laufen Kristin. Zum Fenster, nur zum Fenster. Ich sehne mich so sehr nach frischer Luft.“

„Glaubst du, du traust dir das wirklich zu? Möchtest du dich nicht zunächst ein wenig von der Anstrengung ausruhen? Wir können es auch später noch einmal versuchen, wenn du wieder voll bei Kräften bist.“ Empfahl Kristin besorgt.

„Ich habe lange genug geruht. Eine halbe Ewigkeit musste ich auf diesem Moment warten. Jetzt ist der rechte Zeitpunkt.“ Entgegnete Gabriela.

Unsicheren Schrittes setzte sie sich in Bewegung. Geistesgegenwärtig pirschte sich Kristin von hinten an und umfasste deren Taille.

„Hab keine Angst Gabriela, ich bin bei dir, ich stütze dich wenn du fallen solltest“, versicherte sie ihr.

„Wie wunderbar das doch klingt Kristin! Findest du nicht auch? Einander stützen wenn man ins Fallen gerät. So sollte es im Leben immer sein!“

„Ja, so sollte es wohl sein!“, gab Kristin kurz und knapp zur Antwort. Sie bekam nicht viel mit, war zu sehr mit ihrer Aufgabe beschäftigt.

Langsam schritten die beiden voran. Und näherten sich dem Fenster. Kurz davor ließ Kristin los, um Gabriela Zutritt zu dem kleinen Balkon zu verschaffen. Die letzten zwei/drei Schritte würde Gabriela alleine meistern.

Wie eine Königin bewegte sie sich ins Freie. Die frische Luft die ihr entgegenflutete tat  unendlich gut. Der Wind fuhr raschelnd durch die Blätter des Kastanienbaumes, der sich auf der gegenüberliegenden Seite befand. Die Sonnenscheibe thronte am Nachmittagshimmel und entfaltete ihre volle Stärke. Hoch am Himmel ließ sich ein Bussard im Wind treiben. Ein würziger Duft nach frisch geschnittenem Gras stieg ihr in die Nase. Jeder Windstoß trug den süßen, betörenden Atem der Natur durch die Lüfte.

Tief ließ Gabriela die Luft in ihre Lungen gleiten.

Sie lebte auf wie ein Käfer der erstarrt von einer ersten Frostnacht ins Dasein zurückgerufen wird. Das Leben hatte sie wieder. Der Tod musste seinen giftigen Stachel vorläufig zurückziehen.

„Du musst dich ausruhen, Liebes. Du darfst dir am Anfang nicht gleich zuviel zumuten. Ich denke für heute genügt es erst mal. Morgen ist auch noch ein Tag. Ab jetzt unternehmen wir jeden Tag ein Stück mehr.“

„Du hast recht Kristin“, stimmte Gabriela zu. “Nur noch eine Minute. Die Luft tut einfach zu gut.   Zu lange musste ich darauf verzichten.“

„Ich kann mir denken wie dir zumute ist. Aber nun ist es Zeit zum Ausruhen!“

Gabriela gehorchte und wandte sich zum Gehen ab, einen letzten Blick auf den Klosterpark erhaschend.

„Was glaubst du? Ob schon morgen ein Spaziergang möglich ist. Ich möchte so gerne raus. Oder hältst du es dafür zu früh? “Wollte Gabriela wissen.

„Ein Risiko Gabriela. Morgen noch nicht, würde ich sagen, aber bei gutem Training halte ich das in zwei bis drei Tagen für durchaus realisierbar.“ Versprach Kristin während sie das Krankenlager ordnete.

„So jetzt aber ab ins Bett!  Hosen runter! Jetzt massiere ich dir etwas die Beine. Ein großer Tag war das heute. Du hast es geschafft, du bist über den Berg. Diesen Tag werden wir beide wohl so schnell nicht wieder vergessen. Ich bin optimistisch. Obgleich ich etwas Furcht vor der Zukunft habe. Bald wirst du imstande sein, alles selbständig zu meistern.

Da werden meine Dienste nicht mehr benötigt. Ich habe mich sosehr an den Tagesablauf gewöhnt, dass ich mir nicht vorstellen kann noch mal etwas anderes zu tun.“ Bekannte Kristin während sie Gabrielas Muskeln an den Beinen lockerte. Diese streckte sich zufrieden auf dem Lager aus. Kristins Worte holten sie in die Realität zurück.

„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Noch ist es nicht soweit. Eine Weile brauche ich dich durchaus noch.“ Nach kurzer Pause fuhr sie fort. „Was rede ich da für einen Unsinn. Für eine Weile brauche ich dich noch. Von jenem Zeitpunkt können wir uns dem widmen, was uns Freude bereitet. Es liegt  an uns, was wir daraus machen.  Das Leben wurde mir noch einmal geschenkt. Beste Voraussetzung um in sich zu gehen, nachzudenken, wie ich diese neue Chance zu nutzen wisse. Wir gehören zusammen. Das Schicksal hat uns aneinander geschmiedet. Nach und nach drang diese Erkenntnis in den schlimmen zurückliegenden Wochen in mir durch. Wir holen irgendwann Klaus, setzen uns zusammen und bereden, wie es in Zukunft weitergehen soll.“

„Das wünsche ich mir sosehr. Aber ich habe Angst. Sie mich doch an. Wer bin ich denn?

Du und Klaus, ihr seid Intellektuelle und was bin ich? Ich habe nicht einmal einen richtigen Beruf  Als zeitweilige Gespielin mag ich ja noch taugen, aber was darüber hinaus geht?  Schweigen wir lieber! Ich bin einfach zu dumm für eure Gesellschaft“

Gabriela war entsetzt. „Ich höre wohl nicht recht? Warum degradierst du dich so? Was du in den letzten Wochen geleistet hast ist nicht mit Gold aufzuwiegen. Nein so kommst du mir nicht davon. So etwas will ich nicht mehr hören! Du hast gesagt, dass du lernen willst. Einverstanden! Sobald es mir besser geht, fangen wir an zu überlegen, auf welche Art wir Abhilfe schaffen können.“

„Und du bist der Meinung, das geht so einfach?“ Wollte Kristin wissen.

„Aber natürlich!“ Entgegnete Gabriela, während sie sich umdrehte um Kristin in die Augen zu sehen. Zärtlich streichelte sie deren Gesicht.

„Ich habe mir immer eine Tochter gewünscht, das Schicksal bestimmte es anders. Ich konnte keine Kinder bekommen. Meine Kondition war zu schwach dafür, so dass die Ärzte davon abrieten. Nun bist du in mein Leben getreten. Altersmäßig könnte es hin kommen. Möchtest du diesen Platz einnehmen?“

Kristin stockte der Atem, sie war fassungslos.  

„Ja, das möchte ich! Und noch vieles mehr?“

„Geliebte? Gefährtin? Freundin? Was hältst du davon?“ schlug Gabriela weiter vor.

Kopfnickend bejahte Kristin. 

Gabriela richtete sich auf. Noch immer spürte sie einen leichten Schmerzen dabei.

„Und eine Schülerin.“ Ergänzte Kristin noch.

„Und eine Schülerin!“ Bestätigte Gabriela und schloss Kristin in ihre Arme.

 

Schon zwei Tage später fühlte sich Gabriela stark genug den ersehnten Gang ins Freie zu wagen.

Die Sonne glühte am Horizont, doch die ersten Strahlen hatten den Rand der Erde noch nicht überwunden. Kristin hatte es vorgezogen so zeitig wie möglich aufzubrechen, um Gabriela nicht der heißen Sommersonne auszusetzen. Noch umgab sie angenehme Frische.

Eng umschlungen bewegten sie sich der Allee mit den Schattenspendenden Kastanienbäumen entlang.

Das Gefühl sich nach so langer Zeit wieder im Freien zu bewegen, konnte Gabriela kaum beschreiben. Sie wurde von Wahrnehmungen von so schwindelerregenden  Tiefen und so großen Kräften erfüllt dass ihr ganzes Leben wie in einer kristallklaren Quelle von allen Unreinheiten befreit wurde. Sie fühlte sich körperlich erfrischt und ihre Seele badete in Frieden.

Kristin war  damit beschäftigt, peinlichst darauf zu achten, dass die Freundin nicht ins Stolpern kam.

Sie suchten und fanden Gabrielas Lieblingsstelle am Rande an der Klostermauer. Die kleine Grotte mit der aus ihr hervor sprudelnden Quelle.

Lange verweilten sie dort. Die dicht belaubten Weiden über ihren Köpfen spendeten ausreichend Schatten.

 

Erst als sich am späten Vormittag die Sonne ihrem Höchststand näherte kehrten sie zurück.

Es war Samstag, Madleen war mit den für diesen Tag typischen Säuberungsarbeiten in der WG beschäftig.

Als sie im Begriff, war ein Staubtuch aus dem Fenster zu schütteln fiel ihr Blick auf die beiden, wie sie sich so im Park dahinbewegten.

„Elena, komm schnell! Schnell! Ich muss dir etwas zeigen.“ Beorderte sie ihre Gefährtin heran.

„Was ist? Was gibt es denn so wichtiges?“

„Sieh nur da draußen! Gabriela und Kristin! Guck sie dir an! Ist das nicht toll?“

„Das ist es in der Tat! Das läuft bedeutend besser als ich zu hoffen wagte, “ begeisterte sich Elena. “Hoppla; was war das? Hast du das auch gesehen?

„Ja die haben sich geküsst? Donnerwetter!“

„Und genauso stelle ich mir die ganze Welt vor. Wäre das nicht großartig wenn Menschen Konflikt auf diese Art lösen könnten?“ Schwelgte Elena in Begeisterung.

„Langsam, langsam Elena! Da müsstest du ja pausenlos unterwegs sein. Die ganze Welt?!“

„Wäre kein Problem für mich. Ich reise gerne um die Welt, wenn es sich um eine gute Sache handelt, die Anstrengung nehme ich gern auf mich…“

„Und lässt mir die ganze Hausarbeit. So siehst du aus. Apropos, heute wärst eigentlich du mit putzen dran oder ist dir das entfallen meine Füchsin.“ Erinnerte Madleen die verdutzte und hielt ihr einen Wischmob vors Gesicht.

„Ich? Ach so, ist mir fast entfallen. Wieso bin ich eigentlich dran?“

„Ganz einfach, weil ich schon das dritte Wochenende infolge damit beschäftigt bin.“

„Die letzten beiden Wochenenden war ich gar nicht da. Die kannst du nun wirklich nicht mit einrechnen. Ich war nicht im Haus, also hab ich auch keinen Dreck gemacht.“

„Also wirklich Elena. Du warst nicht da, richtig und was ist mit dem vielen Besuch, der hier tagtäglich ins Haus strömt. Willst du etwa damit andeuten, dass die alle nur meinetwegen kommen? Wohl kaum!“ Beschwerte sich Madleen weiter.

„Hmm, also gut! Überredet! Gib den Wischmob her. Wir machen es jetzt gemeinsam!“

„Jetzt wo ich fast fertig bin brauchst du mir auch nicht mehr zu helfen. Ich wollte dich lediglich daran erinnern, dass ich nicht allein im Hause lebe. Wischmob her, ich bringe alles zu Ende.

„Du bist ein Schatz Madleen. Wie immer!“

„Ei ei, aber umsonst gibt es dieses Mal nichts. Nur wenn ich heut was ganz besonders dafür bekomme.“

„Und was willst du so besonders von mir? Hast du da eine ganz konkrete Vorstellung?“

Madleen schmiegte sich an Elena, umschlang ihre Taille.

„Das überlege ich mir noch. Mach dich auf was gefasst!“

 

Während sich Elena und Madleen weiter neckten, hatten Kristin und Gabriela das Zimmer in der Krankenstation betreten. Gabriela spürte Müdigkeit. Offensichtlich hatte sie sich doch ein wenig zuviel zugemutet. Aber es handelte sich um eine gesunde Müdigkeit nach einer anstrengenden Tätigkeit und nicht um jene zersetzende Schlaffheit der zurückliegenden Wochen.

Gabriela kleidete sich aus. Als sie im Begriff war den Schlafrock anzuziehen zögerte sie.

Schnell verstaute sie das Kleidungsstück und schlüpfte nackt unter die Decke, bevor Kristin das Zimmer noch einmal betrat um sich zu erkundigen, ob sie noch einen Wunsch habe.

Den hatte sie in der Tat.

„Ist dir so warm Gabriela? Oder warum liegst du ohne Nachthemd unter der Decke?“

„ Mir ist warm ums Herz, Kristin.“ Gabriela richtete sich auf und entblößte ihre nackte Brust. „Meinst du nicht dass es Zeit ist etwas ganz wichtiges zu tun. Das kleine Steinchen ein zu setzten das fehlt in unserem Lebenspuzzle?

Komm einfach zu mir unter die Decke.“

„Du…du meinst wir sollten…? Echt? Jetzt und hier auf der Stelle?“ 

„Ja genau! Wir sollten! Jetzt und hier!“

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Schnell streifte sie die Turnschuhe ab und das dünne Sommerkleid und ließ ihren nackten Körper unter die Decke gleiten.

Sie gaben sich der Liebkosung hin und vergaßen für einen Moment die Welt um sich herum.

Denn Rest des Tages waren sie sich selbst genug.

 

Irgendwann traute sich auch Klaus wieder in die Nähe der beiden Frauen. Er war kein Dummkopf. Längst hatte er bemerkt, dass es zwischen den beiden heftig gefunkt hatte.

Nun schien er außen vor. Doch er war für die Tatsache dankbar, dass Gabriela wieder gesund war. Und nur das alleine zählte.

Zaghaft erkundigte er sich nach deren Befinden.

„Mir geht es gut  Klaus, ausgesprochen gut. Auch wenn ich ständig einen Rückfall fürchte.

Aber ich habe die Zuversicht, dass ich mit Kristin jemand an der Seite habe, auf die ich mich verlassen kann. Kristin ist ein Geschenk des Himmels. Ich habe sie sehr lieb gewonnen und ihr geht es ebenso.“

 

„Schön, dass ihr euch so gut versteht. Wirklich schön für euch. Da werdet ihr ja glänzend zurechtkommen, auch ohne mich. Ich habe verstanden. Nun bin ich außen vor. Na ja, ich habe es nicht anders verdient. Du hast allen Grund, mich zu hassen. Deshalb werde ich euch nicht länger im Wege stehen. Mal sehen, wo ich in Zukunft mein Lager  auf schlagen kann.“ Grämte sich Klaus und kam sich dabei wie ein geprügelter Hund vor.

„Was redest du für einen Unfug Klaus! Niemand grenzt dich aus. Keine von uns beiden. Du verstehst nur Bahnhof. Wir werden zu dritt leben in Zukunft. Das heißt alle drei gleichberechtigt. Ausgrenzen kannst du dich nur selber, zum Beispiel wenn du Besitzanspruch anmeldest die dir nicht zukommen.

Ich werde am Anfang sicher des Öfteren Kristin für mich beanspruchen. Das hängt aber vor allem damit zusammen, dass sie auch meine Schülerin wird. Ich möchte dass sie etwas Ordentliches lernt. Zum Beispiel ihr Abitur nachholt an unserer neuen Schule. Selbstverständlich werden wir uns auch bei vielen Gelegenheiten lieben. Las sie mir doch einfach. Ich werde nicht ewig leben.“

„Was soll das heißen?“ Entsetzen stand in seinen Augen.

„Klaus, wir kennen uns über 20 Jahre. Mit meiner Gesundheit stand es nie zum Besten. Gut, im Moment scheine ich dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen. Überstanden ist meine Krankheit keineswegs. Ich traue dem Frieden nicht. Sie wird sich wieder melden, irgendwann und dann werde ich dem Tod nicht mehr entkommen. Dann soll Kristin gut abgesichert und aufgehoben sein. Du wirst dafür Sorge tragen. Ich setze volles Vertrauen in dich. Wenn ich nicht mehr bin, wirst du sie für dich alleine haben. Ich kann mich beruhig von dieser Welt verabschieden wenn ich die Gewissheit habe euch beide nicht verwaist zurückzulassen. Vergesst mich nicht, wenn es soweit ist. Aber jetzt, da ich noch im Leben stehe, möchte ich gerne noch einmal daran schmecken, es mit Kristin gemeinsam ausleben, die mir soviel an Liebe und Kraft gab. Lass sie mir nur noch für eine kurze Weile.“

Nun begann der ansonsten so hart gesottene Macho mit den Tränen zu kämpfen, bis er sich ihnen ergab und es nur so aus ihm herausströmte.

„Kristin wird für uns eine große Bereicherung sein. Wir mögen sie alle beide. Und sie mag uns. Ist das nicht eine gute Voraussetzung? Kristin hat vieles durchmachen müssen in ihrer Kindheit und Jugend. Wir werden uns um sie kümmern. Ich jedenfalls werde meinen Beitrag dafür leisten, dass sie sich an unserer Seite entwickeln kann, so wie sie es ihr zukommt.

Du solltest das ebenso. Blicke nicht nur auf ihr hübsches Gesicht und ihren wohlgeformten Körper, sieh den ganzen Menschen in ihr. Kristin hat Besseres verdient.“

Nach einer Weile fand Klaus die Fassung wieder.

„Ja, ich werde mich bemühen. Du hast Recht! Ich unterstütze dich in allem. Kristin und ich werden dich auf Händen tragen, dich auf Rosen betten und dir jeden Wunsch erfüllen. Du bist eine großartige Frau. Ich glaube ich habe dich nicht verdient. Das hatte ich nie. Du warst immer die charakterlich Stärke von uns beiden. Nun hast du es erneut bewiesen.“

Im Anschluss an diese Aussage stürmte er aus dem Haus.

 

Eine Tage später wurde beschlossen, zum  Dank für Gabrielas Genesung ein großes Fest zu feiern.

Am Vorabend waren Gabriela, Kristin und Klaus bei Elena und Madleen eingeladen, um noch mal den Ablauf zu besprechen.

Hand in Hand schlenderten Gabriela und Kristin auf dem kurzen Weg durch den lauen Sommerabend über den Klosterhof. Klaus trottete nebenher.

„Ach Klaus, was ich dich fragen wollte. Ist dir eigentlich aufgefallen, dass die Kristin

Zwei Arme hat?“

Gabriela Frage irritierte Klaus. War das provokativ oder ironisch gemeint.

„Was soll die Frage Gabriela?

„Keineswegs! Es macht mich nur einfach nervös, wenn du so nebenher trottest.

Du könntest doch Kristins andere Hand nehmen. Wäre das nicht ein schöneres Bild?

Wir hätten Kristin in unserer Mitte.“

„Ach so meinst du das! Na gut meinetwegen.“

Zaghaft ergriff Klaus Kristins Hand.

Auf diese Weise steuerte das Trio das Konventsgebäude an.

Elena begrüßte alle auf ihre eigene herzliche Art und geleitete ihre Gäste ins große Wohnzimmer. Madleen machte sich in der Küche zu schaffen.

Nach dem Austausch von Freundlichkeiten fand sich Kristin inmitten einer philosophischen Diskussion wieder. Sie fühlte sich  unwohl, konnte sie doch den hoch geschraubten  Dialogen kaum folgen.

Doch schnell nahte die Rettung.

Madleen stürmte ins Zimmer.

„Ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich euch die Kristin für eine Weile entführe?“

Ohne eine Antwort abzuwarten nahm sie Kristin bei der Hand und verschwand durch die Stubentür.

„Hast du Lust mir ein wenig zur Hand zu gehen?“

„Ja, tue ich gern!“

„Puah geschafft! Ich ahnte mir schon so etwas. Ich konnte dich doch unmöglich diesem Intellektuellenstuss aussetzen. Auch wenn ich Elena wieder einmal mehr ein schlechtes

Gewissen bereitet habe. Jetzt wird sich unsere hübsche Powerfrau mindestens eine Woche lang die heftigsten Vorwürfe machen weil sie alten Denkstrukturen erlegen ist. So nennt sie das jedenfalls.“ Klärte Madleen auf.

„Ich kann dir nicht recht folgen. Wie meinst du das?“, versuchte Kristin hinter das Geheimnis zu kommen.

„Elena möchte keinen aus einer Diskussion ausschließen. Ständig ist sie bestrebt mich in alles einzubeziehen. Nichts verabscheut sie mehr, als wenn Menschen sich ausgeschlossen fühlen, weil es ihnen etwa schwer fällt einer wissenschaftlichen Diskussion zu folgen. Dir ist doch bekannt welches Superhirn sich unter ihrer hübschen, kupferroten Lockenmähne befindet?“

„Elena ist sehr klug, das ist mir schon zu Ohren gekommen“, bestätigte Kristin.

„Ja und wie! Dass kann schon häufige zu Komplikationen führen. Sehr oft haben wir Besuch im Haus.  Da geben sich alle möglichen schlauen Leute die Klinke in die Hand. Sogar aus dem Ausland kommen die. Ist hochinteressant.

Weißt du, ich ziehe mich dann zurück, gehe in meine Küche oder beschäftige mich anderweitig. Überlasse sie ganz ihren intelligenten Freunden. Mir macht das gar nichts aus.

Aber du solltest Elena mal sehen. Die glaubt doch tatsächlich dass ich darunter leide. Ich schaffe es nicht ihr das auszureden. Sie möchte alles mit mir teilen, auch ihr universales Wissen was aber unter Umständen sehr schwierig sein kann. Elena hat sich in den Kopf gesetzt, dass es in dieser Gemeinschaft keine Klassenunterschiede mehr geben soll. Ein großes Ziel, nur äußerst schwer zu verwirklichen.  Auch unsere großen Revolutionäre scheinen gerade im Begriff daran zu scheitern. Soziale Unterschiede lassen sich noch überwinden. Intellektuelle aber nie. Vieles hat mich Elena in der Zwischenzeit gelehrt. Sie ist eine phantastische Lehrerin.

Aber ich werde ihr nie das Wasser reichen können. Darunter leidet sie.“

„Elena leidet darunter? Nicht du?“ ,stellte Kristin mit Verwunderung fest.

„Elena möchte, dass ich ganz mit ihr auf einer Stufe stehe. Sie duldet keine Hierarchien.

Sie möchte so gern eine von vielen sein. Stattdessen beten die Menschen sie wie eine Göttin an, mich inbegriffen. Das macht sie kaputt.“

„Eigenartig, so habe ich die Sache noch gar nicht betrachtet. Ich war immer der Meinung, sie genießt ihre Popularität. Wie man sich doch täuschen kann, “ gestand Kristin.

„So, das Essen ist gleich fertig. Sei doch mal so gut und stell das Geschirr zusammen. Du findet alles in dem großen Schrank da drüben. Oder möchtest du doch lieber den weisen Sprüchen da drüben lauschen?“ wollte Madleen mit ironischem Unterton wissen.

„Nein, nein, ich helfe dir gern. Ich möchte ohnehin mal mit dir sprechen. Ich… ich glaube ich habe einige Schwierigkeiten mit meinem neuen Leben, “  gestand Kristin.

„Kein Problem! Ich höre dir gern zu! Wo drückt der Schuh?“

„Ich weiß nicht so recht, wo ich beginnen soll“, erwiderte Kristin während sie mit dem Geschirr zu hantieren begann. „Ich habe Angst dass ich alles verpatze. Zum ersten Mal im Leben fühle ich mich an einem Ort richtig zu Hause.

Zum ersten Mal habe ich einen Menschen gefunden, der mir etwas bedeutet. Ich liebe Gabriela. Aber ich fürchte mich. Das ist alles so neu für mich. Wer bin ich? Ich habe nichts gelernt. Ich kenne mich in vielen Dingen nicht aus. Ich fühle mich so nichtig. Ich…“

„Du hast mir bestimmt nicht richtig zugehört,“ unterbrach Madleen die Selbstanklage.

„Dann müsste dir nämlich aufgefallen sein, dass die Dinge bei mir ähnlich verlaufen. Sicher,gibt es auch Unterschiede. Aber so wie ich mich mit Elena arrangiert habe, wirst du dich mit Gabriela  zusammenraufen. Gut, ihr seid zu dritt. Das macht die Sache vielleicht  etwas komplizierter.“

„Ich weiß nicht ob man das vergleichen kann. Du und Elena, ihr seid ein eingespieltes Team.

Bei euch klappt alles. Man braucht doch nur ins Haus zu treten um zu bemerken, dass ihr ein Herz und eine Seele seid. Ein perfektes Paar.“

„Ja und nein! Glaube nicht das es bei uns ohne Reibereien abgeht.“ lachte Madleen. „So etwas wie ein perfektes Paar gibt es nicht. Was glaubst du wie es bei uns manchmal zugeht. Da gibt es richtigen Zoff. Du, ich sage dir, da fliegen  die Fetzen.“
“Das glaube ich nicht! Du willst mich auf den Arm nehmen?“

„Keineswegs! Schau doch mal. Es ist die normalste Sache der Welt. Friede-Freude-Eierkuchen? Ist doch stinklangweilig. Streit gehört zu einem Zusammenleben. Es kommt nur darauf an, wie man ihn ausfechtet. Ohne Streit auch keine Versöhnung. Und eine Versöhnung mit Elena ist einfach himmlisch. Die dauert oft mehrere Stunden und die kosten wir beide dann ganz besonders aus..“ Erwiderte Madleen und strahlte dabei mit ihren sinnlichen blauen Augen.

„Das kann schon sein. Ich denke es ist einfacher bei euch. Ihr seid  altersmäßig nicht so weit auseinander. Das macht vieles einfacher.“ vermutete Kristin.

„Ach du denkst bei euch klappt das nicht, weil ihr zwei Generationen an gehört, Gabriela alt genug ist um deine Mutter zu sein. Ich würde eher das Gegenteil vermuten. Gerade weil du um einiges jünger bist wird es dir leichter fallen von ihr zu lernen. Schau, ich kenne Gabriela schon recht lange. Bei ihr bist du in den besten Händen. Lange bevor ich in Elenas Leben trat, stand sie schon an deren Seite, kümmerte sich um die kleine Tessa als es Elena nach Leanders Tod ganz dreckig ging. Gabriela litt ihr ganzes Leben darunter nie ein eigenes Kind besessen zu haben und nun bist du auf so dramatische Art in ihr Leben getreten.“

„Aber ich möchte schon, dass es mehr  als eine bloße Mutter-Tochter- Beziehung wird. Dessen bist du dir doch sicher bewusst.“ Wandte Kristin ein.

.“Gerade das ist doch das Schöne an eurer Beziehung. Ihr könnt frei unter verschiedenen Rollen wählen. Pass auf, du bist Tochter, Schülerin, Freundin, Geliebte.“ Madleen zählte mit den Fingern nach. „Such dir einfach aus was dir im Moment entspricht und jederzeit kannst du die Rolle tauschen.“

„Genau der Meinung ist Gabriela auch. Komisch das du das sofort bemerkt hast.“

„Spürsinn, Kristin, reiner Spürsinn.

Du hast noch alle Zeit der Welt darüber nach zudenken. Morgen feiern wir euch erst mal in einem großen Fest. Das wird dir sicher gefallen. Ach ja, bevor ich es vergesse.

Nächste Woche geht Elena wieder auf Reisen. Konflikt schlichten, Vorträge halten, neue

Kommunen gründen, etc.

Sie beabsichtigt Gabriela mit zu nehmen. Schon oft fungierte die als Elenas Reisebegleiterin. Das hängt natürlich davon ab ob sie sich gesundheitlich dazu schon in der Lage sieht. Ich halte wie so oft in der Abtei die Stellung. Wenn du magst kannst du gerne zu mir kommen. Wir könnten gemeinsam kochen, mit der kleinen Tessa was unternehmen, oder so weiter?“

Lud Madleen ein.

„Gern, das wäre toll!“

„Selbstverständlich kannst du auch die Zeit mit Klaus verbringen.“

„Hab ich ehrlich gesagt kein Verlangen danach?“

„Dann immer zu. Jetzt haben wir uns aber ganz schön verplaudert. Wir wollen unsere schlauen Professoren nicht warten lassen. Schlau Reden machen hungrig.“

Madleens Erscheinen lockerte die Runde wie immer auf. Es wurde für alle ein netter Abend.

 

Am darauf folgenden Abend fand das große Fest zum Dank für Gabrielas Genesung statt.

Weit aus der Ferne sichtbar loderte das Lagerfeuer in die Dunkelheit.

Gabriela erhielt in der Mitte der Runde auf einen großen Korbstuhl einen Ehrenplatz. Klaus hielt sich abseits, sah einmal kurz nach ihr und zog sich an den Rand zurück. Vermutlich plagten ihn erneute Gewissensbisse. Kristin hingegen erkannte die Bedeutung jenes Augenblickes. Auf einer Decke nahm sie zu Gabrielas Füßen Platz. Natürlich wollte die jene demütige Geste nicht dulden und bestand darauf das sich Kristin zwischen ihre Beine kuschelte.

In einem feierlichen Ritual dankte Elena für die wiedergeborene Schwester. Von tiefer Dankbarkeit erfüllt stimmten alle in den Freudengesang ein.

In Kristins Augen glänzten Tränen, doch sie vergoß diese nicht aus Schmerz oder Frust, wie so oft in früheren Zeiten, sondern aus Freude. Voller Erwartung schritt sie einem neuen Lebensabschnitt entgegen. Die Prophezeiung der geheimnisvollen Alten aus ihren Kindertagen begannen sich erfüllen. Bedeutendes stand ihr bevor. Neben Elena und Madleen

sollten Gabriela und Kristin das zweite starke Frauenpaar werden, dem später noch weitere folgten und die neue von Herrschaft und Willkür befreite Welt, die im Begriff war zu entstehen,  entscheidend prägen.

Doch noch standen sie am Anfang, es würde nicht ohne Konflikte abgehen. Doch es schien ein herrlicher Anfang. Einem Vorfrühling gleich, der in froher Erwartung neues Leben im Schoße trug.

Es wurde ausgelassen gefeiert. Und wie immer warteten alle ungeduldig auf den Höhepunkt.

Denn erst als Madleen in ihr weißes Kleid schlüpfte und einer Fee gleich am Feuer tanzte, schien der Abend vollkommen.

 

Der Grund für Gabrielas wundersame Heilung konnte nie wirklich ergründet werden. War es dieser mysteriöse Felsblock? Hatten überirdische Kräfte eingegriffen?

Oder war es einfach nur die grenzenlose Liebe, mit der Kristin Gabriela begegnete.

Die Antwort blieb offen.

Von Bedeutung schien nur die Tatsache: Gabriela war gesund und am Leben.

Es bedurfte nicht mehr.

 

 

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* Vorbild für das Gesteinsmassiv sind die Felsen oberhalb der Akademie Waldschlösschen Reinhausen bei Göttingen, mit ihren zahlreichen Schluchten, Höhlen und Menhiren, so könnte die nähere Umgebung der Abtei aussehen.