Die dunkle Seite

                                                    

Die Sonne stieg am klaren Himmel auf, wo sie ab und zu stehen zu bleiben schien und leerte ihre weiße Hitze auf die unter ihr brennende Erde aus.

Es bestand kein Zweifel, ein heißer Tag kündigte sich an.

Leise vor sich hin fluchend bewegte Elena ihren metallicfarbenen Carboot durch die Straßen der mondänen Privosiedlung. Viel lieber hätte sie sich heute, eingelullt in angenehme Kühle, dem Müßiggang hingegeben, hin und wieder ein paar Runden in ihrem Swimmingpool gedreht und ihre Fruchtcocktails genossen.

Stattdessen näherte sie sich in der aufbrechenden Julihitze dem stählernen Portal das die Siedlung vor den vom Sozialneid erfüllten Preka in den stickigen Mietskasernen am Fuße der Anhöhe schützte.

Der Wachposten öffnete willig das Tor und geleitete Elena ins Freie. Nachdem diese die Pforte passiert hatte drückte sie aufs Gas um schneller vorwärts zu kommen.

Während der Fahrtwind Elenas kupferrote Lockenmähne von außen zerzauste, schwirrte im inneren ihres hübschen Kopfes allerlei Gedanken durcheinander. Elena betrat heute absolutes Neuland.

Der Vergleich mit der dunklen Seite des Mondes schien durchaus angebracht. Reibungslos funktionierte die soziale Apartheid Melancholaniens , hier hatten sich  Parallelwelten gebildet, hermetisch vor einander verschlossen und je ihre eigene Lebenskultur pflegend. Überschneidungen waren nicht vorgesehen und in Folge dessen auch so gut wie ausgeschlossen. Die perfekte posthistorische Stadt. Elena hatte die halbe Welt gesehen und fühlte sich gleich mehreren Kulturen verbunden. Doch wie es in den Preka-oder gar Pariabezierken aussah, davon hatte sie keinen blassen Schimmer.

Es versteht sich von selbst dass sie umfangreiche Erkundungen eingeholt hatte und versuchte sich ein wenig mit den Sitten und Gebräuchen vertraut zu machen, doch das war vor allem Theorie.

Ihr war bekannt das Cornelius in jener alten Fabrik lebte und wirkte, von der überall die Rede war und per Stadtplan und Navi konnte sie auch deren Standort erkunden. Verlassen wollte sie sich jedoch nicht darauf. Einfach darauf los fahren, irgendwie würde sie ihr Ziel erreichen, glaubte sie.     

Sie würde jenem Manne gegenüberstehen, den sie in ihren Sendungen regelmäßig verunglimpft, erniedrigt, verspottet hatte. Ohne je ein Wort mit ihm gewechselt zu haben.

Wie würde er ihr begegnen? Vorwurfsvoll? Ihr die Tür vor der Nase zu schlagen und sie unverrichteter Dinge von dannen schicken? Davon musste sie wohl ausgehen. Sollte das geschehen würde die Welt nicht davon untergehen. Dann eben nicht. Doch wie stand sie dann vor ihren Freunden da?

Elena war so gedankenversunken dass es ihr nicht auffiel, wie sie ihre Geschwindigkeit ständig steigerte, zu spät bemerkte sie das alte klapprige Fahrrad, das da plötzlich wie aus dem Nirgendwo auf der Landstraße  auftauchte. Die eingeleitete Vollbremsung drosselte zwar die Geschwindigkeit minimal, doch der Aufprall war unvermeidlich. Die Stoßstange ihres Cabriolet grub sich tief in das Schutzblech des Hinterrades und schob den Drahtesel nebst Fahrer schwungvoll die kleine Böschung hinunter die sich zu ihrer Rechten auftat.

Nachdem Elena ihr Fahrzeug zum stehen gebracht hatte und, noch benommen von der Aufregung, entstieg, nahm zunächst ihren Wagen in Augenschein, stellte einen kleinen Kratzer am rechten Codeflügel fest. Erst als sie sich sicher sein konnte, dass es sich lediglich um einen Bagatellschaden handelte, wandte sie sich ihrem Opfer zu.

Etwa 20 Meter vom Fahrzeug entfernt lag Kyra in dem kleinen Graben und hielt sich stöhnend das linke Knie dass offensichtlich unter dem Aufprall gelitten hatte, auch Kopf und Arme wiesen einige Platzwunden auf.

Beruhigt nahm Elena zur Kenntnis, dass es sich bei der zerzausten Person da unten keineswegs um eine Privo handeln konnte. Sie begann zu wettern.

„Na, sieh dir das an. Kannst du denn nicht aufpassen du dummes Ding. Um ein Haar hätte ich dich über den Haufen gefahren. Du befindest dich auf einer Straße für schnelle Automobile und nicht auf einen Radweg. Du kannst von Glück sagen, dass mein Wagen nur eine leichte Schramme abbekommen hat.“

„Das kann ja wohl nicht wahr sein,“ entrüstete sich Kyra. „Wer hat denn hier wen angefahren? Da wäre wenigstens ne Entschuldigung drin, oder? So nach der Art: Wie geht es dir? Kann ich dir eventuell behilflich sein? Sieh was du angerichtete hast!“

Kyra präsentierte ihr aufgeschlagenes Knie.

„Mach ein wenig Spucke drauf, vielleicht hilft`s. Was geht mich dein kaputtes Knie an.

Ich rate dir deinen Ton mir gegenüber etwas zu mäßigen. Du lebst ja noch, was willst du mehr.

Deine Verletzung ist keinesfalls so schlimm. Lass mal sehen, ich bin Ärztin.“

Auf äußerst grobe Art griff Elena nach Kyras Knie so das diese einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken konnte.

„Hab dich nicht so, nichts gebrochen. Mach dir zuhause ne Binde drauf, aber vorher die Wunde gut auswaschen. Mit etwas Glück bist du in 1-2 Tagen wieder arbeitsfähig und das ist ja wohl das wichtigste.

Ich kann mir vorstellen, dass du keinen Drang danach verspürst in die Pariaklasse abzurutschen. Das kann schneller vonstatten gehen als du denkst.“

„Das brauche ich gar nicht zu fürchten, da gehöre ich ohnehin längst hin.“ Gestand Kyra aufmüpfig.

„Na hör mal! Ich vergeude hier meine kostbare Zeit für eine Paria. Sieh zu das du verschwindest. Dir ist wohl nicht bewusst dass du dich gar nicht hier aufhalten dürftest.“

Elenas Empörung kannte keine Grenzen, wutschnaubend wandte sie sich zum gehen.

„Ach und jetzt willst du mich einfach hier so liegen lassen?“ Protestierte Kyra lauthals.

„Na das ist ja ausgezeichnet“

„Selbstverständlich lasse ich dich hier liegen. Du bist eine Paria, du hast keinen ökonomischen Nutzen. Einer Preka hätte ich unter Umständen geholfen, da es gilt deren Arbeitskraft wieder her zu stellen. Theoretisch existierst du für die Gesellschaft gar nicht mehr. Wie könnte ich jemand behilflich sein, der im Grunde gar nicht vorhanden ist? Wenn du hier am Ende verreckst, sei`s drum, wieder so`n Schmarotzer weniger.“

„Fahr zur Hölle verfluchtes Privo-Weib. Ich hoffe einestages kommt einer und dreht dir deinen arroganten Hals um. Ich habe dich erkannt. Du bist Elena. Elena die Giftmischerin, die das Volk gegen die Paria aufhetzt. Deine Millionäre haben dich schön ausstaffiert, was? Nur deshalb kannst du hier große Töne spucken.“ Rief ihr Kyra voller Verachtung nach.

„Pah, da haben wir`s wieder. Die typische Paria, faul, aufmüpfig, unbelehrbar. Nicht mehr integrierbar in die Gesellschaft. Du hast dich mit deinen Worten gerade selbst entlarvt. Ach, was verschwende ich meine Worte für so eine. Die Natur wird ihre Auslese schon voran treiben."

Elena zeigte Kyra verachtungsvoll den Stinkefinger.

Kyra folgte Elena auf allen Vieren, als sich diese auf ihr Auto zu bewegte.

„Ich hoffe nur Cornelius lässt dich abblitzen, wenn du zu ihm kommst. Armer alter Narr, der glaubt doch tatsächlich noch an das Gute im Menschen. Von mir aus können Neidhardt und seine Bombenleger dich und deine gesamte Brut in die Luft jagen.“

Elena überhörte gnädiglich die letzten Worte.

„Cornelius? Wie kommst du zu Cornelius? Und wie um alles in der Welt weist du um die Tatsache dass ich mich heute mit ihm treffe?“

„Das möchtest du wohl gerne wissen, was? Ich kenne ihn halt. Basta! Ich gehe gelegentlich bei Leuten wie ihm ein und aus.“ Versuchte Kyra äußerst dilettantisch hoch zu stapeln.

„Lass diese Angeberei! Los sag mir auf der Stelle, wo ich diesen alten Trottel finde. Ich habe nicht vor, in diesem Mief Wurzel zu schlagen. Los, raus mit der Sprache, wo hält er sich auf.“ Entgegnete Elena unwirsch.

„Aha, da habe ich auf einmal doch noch einen Nutzen für dich. Sieh an, sieh an. So schnell wendet sich das Blatt. Wenn du mich mitnimmst kann ich mich unter Umständen dazu herablassen, dich bis vor seine Haustür zu führen.“

„Ich denke gar nicht dran. Deine verkeimten Klamotten auf meinen Polstern, das fehlte gerade noch. Verschwinde, ich werde es auch ohne deine Hilfe schaffen.“ Lehnte Elena den Vorschlag entrüstete ab.

„Gut, dann eben nicht. Dann suche! Schon mal ne Stecknadel im Heuhaufen gefunden? Cornelius hält sich nicht aus Jux und Dallerei verborgen. Er tut das um vor dir und deinesgleichen sicher zu sein. Durchaus möglich, dass du am Ende dieses Tages jemand findest, der dir sein Versteck verrät. Ich halte es aber eher für wahrscheinlich, dass du dich irgendwann gekitnapped in einem dunklen Kellerloch wieder findest. Es gibt nicht wenige da unten in der Prekasiedlung die ganz und gar nicht gut auf Leute wie dich zu sprechen sind.“

„Also meinetwegen. Steig ein! Ich nehme dich mit! Aber nur weil ich nicht den ganzen Tag mit sinnlosem Geplapper verbringen will.“ Erwiderte Elena mit nachgiebigen Ton.

„Das Fahrrad muss auch noch mit!“ Bestimmte Kyra. „Aber mit meinem geschwollenen Knie kann ich unmöglich noch mal zurück kriechen. Wärest du wohl so liebenswürdig und holst es mir?“

Elena schluckte die Wut hinunter und begab sich stehenden Fußes zu dem zerbeulten Drahtesel, schleppte ihn zum Auto und verstaute ihn in der ausladenden Ablage.

Ihr schien alles egal zu sein, wenn sie diesen aufdringlichen Schmutzfink nur so schnell wie möglich in die Wüste schicken konnte. Sie war sich dessen bewusst, dass sie ohne Kyra heute nie zu Cornelius vordringen konnte.

„Aber sieh dich bloß vor, dass du mir die Polster nicht mit deinem Blut versaust. Warte!“

Elena kramte in einem alten Karton auf dem Rücksitz holte ein Stück Packpapier hervor und breitete es auf dem Beifahrersitz aus.

„So jetzt kannst du einsteigen! Aber wage es nicht dich allzu viel zu bewegen.“

„Oh, wie rücksichtsvoll den Polstern gegenüber.“ Bemerkte Kyra und ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder.

Ihr Bein schmerzte. Doch noch mehr schmerze ihre Seele, ob der Demütigungen die sie soeben hatte einstecken müssen.

Elena startete den Wagen und brauste davon. Beiden war kaum nach Konversation zumute.

Trotz der Schmerzen, ließ es sich Kyra nicht nehmen ihre Chauffeurin einige Ehrenrunden drehen zu lassen, bevor sie Elena an ihr gemeinsames Ziel brachte. Kyra lotste Elena durch die verzwickten Gassen der Prekasiedlung Dynamik 5.

Ohne jegliches Interesse beobachtete Elena die Menschen, die sich hastig in den Gassen fortbewegten. Es hätten ebenso Wesen eines anderen Sternes sein können, so wenig fühlte sie sich mit denen verbunden. Gelangweilt ließ sie ihren Blick über die schmucklosen Mauern schweifen, bis sie schließlich vor einer großen, aus roten Klinkersteinen errichteten Fabrikhalle am äußersten Rande der Siedlung zum stehen kamen.

Die heiße Julisonne vergoldete das rote Ziegeldach und erreichte am Himmel ihren Höhepunkt.

Mittagszeit, kaum eine Menschenseele zu sehen.  Ein paar Spatzen tänzelten über den Asphalt und nahmen genüsslich ein Staubbad in einem der zahlreichen Schlaglöcher.

Elena schlug die Wagentüre zu und bewegte sich behaglichen Schrittes auf das Tor des Geländes zu.

„So, jetzt kannst du verschwinden! Ich brauche dich nicht mehr. Jetzt musst du sehen wie du zurecht kommst.“ Wies sie Kyra barsch an.

„Oh so leicht wirst du mich nicht los,“ erwiderte Kyra die den Schock überwunden und ihre große Klappe wiedergefunden hatte. „Zufällig wohne ich hier!“

„Du wohnst hier?“, stellte Elena mit Verwunderung fest. „Das kann nicht sein. Du bist eine Paria. Gesetzlos, nicht existent. Du kannst unmöglich in einem den Preka zugewiesenen Viertel wohnen.“

„Da befindest du dich in einem großem Irrtum. Das hier ist Niemandsland. Fließender Übergang. Hier mischen sich Prekas und Parias sozusagen. Und was die Gesetzte an geht. Hier kümmert sich kaum jemand darum. Hier gelten andere. Unsere eigenen eben.“ Konterte Kyra selbstbewusst.

„Unerhört! So was müsste verboten werden! Gut das ich es jetzt weis. Ich denke der Blaue Orden wird hier demnächst gründlich aufräumen und für Ordnung sorgen müssen.“ Drohte Elena.

„Deinen Scheißblauen Orden kannst du dir sonst wo hinschieben. Die machen sich doch die Hosen voll, wenn sie nur in die Nähe kommen. Neidhards Revolutionäre werden ihnen Beine machen.“ Entgegnete Kyra mit kalter Wut.

„Ach halt endlich die Klappe ordinäres Weib, sag mir endlich wo ich diesen komischen Kauz Cornelius finde. Ich habe nicht vor bis heute Abend hier zu stehen und Maulaffeenfeilzuhalten.“

Sie musterte Kyra dabei mit einem Blick der Argwohn und Belustigung zugleich ausdrücken konnte.

„Geh mir einfach nach, ich bringe dich zu ihm. Danach hoffe ich dich nie wieder zu sehen.“ Obwohl Kyra leise sprach lauerte noch immer eine trockene Wut in ihren Worten.

Kyra führte Elena humpelnd in einen großen grauen Flur. Eine steile Holztreppe führte in ein oberes Stockwerk. Die ölgetränkten Treppenstufen waren stumpf wie Kistenbretter. Die Wände oberflächlich mit Kalk getüncht. Von der Decke rieselte an einigen Stellen der Putz.

„Mein Gott, wie sieht das denn aus, hier möchte ich ja nicht mal begraben sein.“ Bekannte Elena entsetzt.

„Ich auch nicht! Aber mich fragt ja keiner.“ Erwiderte Kyra.

Elena wollte gerade antworten, als ihr Kyra ins Wort fiel.“ Du kannst dir die Antwort sparen, ich weis was du sagen willst. Das ich froh sein kann ein Dach übern Kopf zu haben und so weiter. Diese Sprüche kenne ich zur Genüge, höre ich ständig. Die Leute, die das gebetsmühlenartig betonen, müssen selbst nicht so leben.“

In der Zwischenzeit hatte die beiden Frauen eine große Stahltür erreicht. Sie fanden sich in einem großen, mehrfach unterteilten Raum wieder, kunterbunt mit allerlei Mobiliar eingerichtet.

In der Mitte thronte ein großer gusseiserner Maschinenofen, zu dieser Jahreszeit natürlich nicht befeuert, trotzdem umgaben ihn Stapel von Holzscheiden.

Zu ihrer Linken konnte Elena eine rustikale Küche betreten, eingerichtet mit allem Zubehör vermutlich aus zweiter oder dritter Hand.

Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein großer, von allerlei Stühlen umgebener Tisch.

Der Raum schien sich in alle möglichen Richtungen zu erstrecken. In einem hinteren Winkel gruppierte sich eine aus verschiedenen Polstermöbeln zusammengestellte Sitzecke, flankiert von überquellenden Bücherregalen. Nicht gerade schön, aber zweckmäßig. Ein altes Fernseh-

Gerät war sogar vorhanden. Elena mochte nicht so recht daran glauben, dass diese Leute hier ihre Sendungen verfolgten.

Schließlich fiel ihr Blick auf einen von braunen Bürospinden abgeteilten Raum, dessen Eingang von einem grünen Vorhang verdeckt wurde. Nachdem Elena voller Neugierde einen Blick durch diesen erhaschte gab sich der dahinter liegende Teil als sporadisch eingerichtetes Büro zu erkennen.

Berge von Akten und Büchern umgaben einen alten PC und einen davor harrenden abgewetzten Bürosessel.

„Wie du unschwer feststellen kannst ist Cornelius gerade nicht zugegen. Ich kann dir auch nicht sagen, wann er wiederkommt. Das weiß man bei ihm nie so genau. Du kannst gerne hier warten und ausharren, wenn nicht, dann musst du halt wieder verschwinden.“ Gab Kyra auf die ihr eigene kecke Art zu verstehen.

„Auch wenn ich es nicht gewohnt bin, ich warte. So nah am Ziel werde ich doch nicht aufgeben. Das könnte euch so passen,“ gab Elena mit ärgerlichem Tonfall zu verstehen.

Elena ließ sich an dem großen Tisch nieder und durchwühlte in ihre vornehme Aktentasche, während Kyra begann die Schränke nach irgendetwas zu durchsuchen.

Das also war Cornelius Reich. Diese ärmliche, improvisierte Bude sollte für konspirative Treffen den Rahmen bilden? Elena wollte dieser Tatsache keinen rechten Glauben schenken.

Die Leute in ihrer mondänen Umgebung schienen maßlos zu übertreiben, wenn sie hier eine Gefahr witterten. Enttäuschung machte sich auf Elenas Zügen bemerkbar, war das hier überhaupt eine Reportage wert?

Aber sie entschloss sich zu bleiben denn wenigstens kennen lernen wollte sie diesen geheimnisumwitterten Alten doch noch.

Kyra schien endlich gefunden, nachdem sie suchte, ein sauberes Tuch. Sie faltete es und begann damit ihr Bein zu betupfen, wobei sie immer wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht zischte.

Bei jedem dieser Zischer zuckte Elena zusammen, um danach den Kopf zu schütteln.

Irgendwann erhob sie sich und näherte sich der Schmerzgeplagten. Sie hatte selbst keine Erklärung für ihr Verhalten. Obsiegte hier etwa tatsächlich so eine Art Mitgefühl oder wollte sie nur ihre lästige Begleiterin loswerden?

„Dein Gestöhne kann man sich ja nicht mehr mit anhören! So machst du es bestimmt nicht besser! Lass mal sehen!“

Elena griff nach Kyras Bein, diese zuckte zusammen.

„Sei doch nur nicht so wehleidig! Aber das scheint bei euch Paria so in Mode zu sein. Kein Mumm in den Knochen! Ständig stöhnt ihr über dies oder über dass, anstatt

die Zähne zusammen zu beißen und sich demütig in euer Schicksal zu fügen.

Ein anständiger Mensch bewahrt Haltung. Aber Anstand ist bei euch ja ohnehin ein Fremdwort.

Sag, habt ihr in dieser Absteige so was ähnliches wie nen Verbandkasten?“

„Dort drüben im Büroraum. Ist nicht zu übersehen! Gleich wenn du rein kommst.“ Gab Kyra hastig zur Antwort.

Elenas Gemeinheiten überhörte sie, war ihr doch in diesem Moment ganz und gar nicht danach mit ihr zu streiten. Einmal weil sie  solche Grobheiten gewohnt war. Zum anderen war sie stark daran interessiert endlich ihre Wunde behandelt zu sehen. Und wenn man schon mal eine Ärztin im Haus hatte, warum sollte sie sich ihrer nicht auch bedienen.

Elena fand den Sanitätskasten recht schnell kramte unter fluchen hektisch darin herum.

„Du lieber Himmel, wie alt sind denn die Utensilien darin? Stammen wohl noch aus der Steinzeit was? Sollten in der nächsten Zeit mal dringend aufgefrischt werden, denke ich.“

„Alles aus Abfallbeständen zusammengestellt, von allen möglichen Leuten gespendet, was weiß ich. Hier ist alles zusammengestückelt, wie du in der Zwischenzeit ja wohl bemerkt haben wirst. Vor nicht all zu langer Zeit gab es noch Spendenaktionen, aber die bleiben seit geraumer Zeit aus."

„Ja genauso sieht es aus.  Einfach widerlich.“

Elena fand aber trotzdem was sie benötigte. Schließlich beruhigte sie sich damit, dass es ja immerhin nur um eine Paria ging. Sollte sich Kyra am Ende eine Infektion einhandeln, womöglich daran sterben, wen interessierte es. 

Sie begab sich zu Kyra und begann die Wunde zu behandeln, reinigte und desinfizierte und trug schließlich den Verband auf. Die fachmännische Art der Ärztin.

Sie vertiefte sich so sehr in ihre Arbeit, dass ihr gar nicht auffiel, dass sich Cornelius

bereits seit einiger Zeit im Raume befand und dem Geschehen mit Interesse beiwohnte.

„So, dass müsste halten. Dann wollen wir uns gleich noch die Platzwunde am Kopf betrachten,“ meinte Elena und setzte sogleich ihre Arbeit fort.

Cornelius betrachtete aus sicherer Entfernung auch diesen Vorgang.

„So fertig! Dass ist alles was ich im Moment für dich tun kann. Versuche das Bein am Anfang nicht all zu sehr zu belasten!“, empfahl Elena und erhob sich aus ihrer Hockstellung.

„Ich danke dir! Wirklich! War nett von dir! Bist aber weit über deinen Schatten gesprungen , was?“ Sprach Kyra ihren Dank aus.

„Schon gut! Keine Ursache! Nimm dich bloß nicht so wichtig. Lass mir aber jetzt endlich meine Ruhe!“

In Gedanken vertieft wandte sich Elena um und stieß völlig überrascht mit Cornelius zusammen, der ihr nicht mehr ausweichen konnte.

„Mann, paß doch auf…“ begann Elena zu fluchen, doch die Worte stockten ihr auf der Zunge als sie seiner ansichtig wurde.

„Du, du bist Cornelius, wenn ich mich nicht irre, oder?“ Fuhr Elena nun deutlich freundlicher fort.

„Sehr richtig!“ Zu deinen Diensten Elena! Ich erwarte dich schon seit geraumer Zeit, hatte die Hoffnung schon um ein Haar aufgegeben.“ Begrüßte Cornelius mit seiner ihm eigenen  freundlichen Art.

„Ich habe dir eine Weile zugesehen. Das war großartig, wie du dich um unsere Kyra gekümmert hast. Seit ihr etwa gemeinsam angekommen?“

Wandte sich Cornelius am Ende der Frage zu Kyra.

„Jaja, ich hab sie hierher gebracht, nachdem wir unterwegs gewissermaßen auf einander stießen.“ Bestätigte Kyra.

„Zusammenstoß? Was für ein Zusammenstoß?“ wunderte sich Cornelius.

„Ach das ist eine lange Geschichte. Ich will nicht darauf eingehen. Mir wäre es lieb wenn wir gleich zur Sache kämen. Wir besprechen kurz die Angelegenheit für das Interview und fertig. Je schneller wir damit zum Ende kommen, desto besser. Immerhin erwartet mich eine Menge Arbeit.“ Drängte Elena sichtlich genervt zur Eile.

„Hm nun ja, ich glaube, dass du viel Arbeit hast Elena. Aber ich riet im Vorfeld auch etwas Zeit mit zu bringen. Bei uns geht das alles nicht so schnell. Wenn du einen objektiven Eindruck von der Situation bekommen willst, musst du schon ein wenig gründlicher recherchieren.

Um das zu erreichen bedarf es einer Menge an Zeit, viel, viel Zeit.“ Blockte Cornelius ab.

„Da laust mich doch der Affe. Davon war aber keine Rede. Mir geht es darum dich kennen zu lernen und einen Termin für das Interview fest zu legen, dass wäre zunächst mal alles. Organisatorische Fragen, die im Grunde am Telefon hätte erörtert werden können.

Ich frage mich ohnehin schon seit geraumer Zeit, was in aller Welt mich dazu bewegte hierher zu kommen.  Keinesfalls habe ich  vor in deiner Kaschemme Wurzeln zu schlagen.“ Empörte sich Elena.

„Deine Empörung in allen Ehren Elena, aber ich werde mich auf gar keinen Fall darauf ein lassen. Du lockst mich in deine Sendung, um mich dann wie ein Uhrwerk auseinander zu nehmen , mich der Lächerlichkeit preisgeben bis mein Ruf ruiniert ist. Nein, nur eine gründliche Berichterstattung kann mich dazu bewegen in die Höhle des Löwen zu gehen.

Das ist meine Bedingung. Wenn du nicht darauf eingehen willst,  dann vergessen wir die ganze Angelegenheit am Besten auf der Stelle.“

„Ätsch, bätsch, reingefallen Elena. Somit ist der Tag auch für dich Scheiße gelaufen.“ Spottete Kyra sarkastisch.

„Kyra bitte! Du kannst dich ausnahmsweise mal richtig benehmen, wenn es dir nichts ausmacht.“ Ermahnte Cornelius. Zu Elena gewandt fuhr er fort.

„ Wenn du willst Elena, dann beginnen wir sogleich mit der Gastfreundschaft, die in diesem Hause Tradition ist. Du bleibst selbstverständlich zum essen. Es ist nur ein bescheidenes Mal was wir dir bieten können, aber satt wird davon jeder.“

„Ich denke gar nicht daran. Ich werde unter gar keinen Umständen länger bleiben…“

Wehrt Elena mit Nachdruck ab.   

„Selbstverständlich nicht. Unsere Quotenprinzessin ist ja schließlich nur 5-Gänge Menus vom Feinsten gewohnt.“ Stänkerte Kyra weiter.

„Keine Widerrede, Elena, du isst mit uns und bei der Gelegenheit können wir auch damit beginnen die Detailfragen zu erörtern. “Bekräftigte Cornelius seine Einladung.

Erneut setzte Elena zum Widerspruch an, doch die Entschiedenheit mit der Cornelius auftrat hinderte sie daran.

Nachdem sie sich in einen Sessel hatte fallen schmollte ihre Seele weiter.

Die Tür öffnete sich und Miriam trat ein, achtete weder auf Cornelius noch auf Elena, sondern schritt sogleich auf Kyra zu  die noch immer auf dem Stuhl saß und ihr verbundenes Knie betrachtete.

„Da bist du ja Kyra. Also weißt du. Wo hast du dich denn diesmal rumgetrieben? Man kann mit dir wirklich eine Krise bekommen. Ist dir denn nicht einmal in den Sinn gekommen, dass Cornelius und ich uns um dich sorgen?“

„Eigentlich solltet ihr euch doch inzwischen daran gewöhnt haben, dass ich eine streunende Katze bin. Ich bin ja wieder da. Alles Ok. Nichts geschehen, großes Ehrenwort.“ Versuchte Kyra zu beschwichtigen.

„Daran werde ich mich nie gewöhnen,“ fuhr Miriam fort. „Nichts geschehen? So siehst du aus. Was ist mit deinem Knie oder deinem Kopf? Fachmännisch angelegt den Verband Cornelius muss ich schon sagen.“

„Dein Lob bewegt sich in die falsche Richtung. Das war Elena! Wir haben einen Gast Miriam und was für einen.“ Klärte Kyra auf.

Erst jetzt erblickte Miriam die hübsche elegante Frau am Tisch.

„Tatsächlich Elena! Du bist also wirklich gekommen, ich hätte nicht damit gerechnet.  Vielen Dank für deine Hilfe. Das hast du wirklich ausgezeichnet bewerkstelligt.“ Begrüßte Miriam die immer noch vor sich hin Schmollende.

Elena würdigte die ältere Frau eines knappen fast missbilligenden Blickes.

„Gern geschehen! Keine Ursache! Ihr solltet auf eure Kyra etwas besser acht geben, sie ist geradewegs in mein Auto gefahren. Das hätte leicht ins Auge gehen können.“

„Stimmt das Kyra? Also ehrlich du macht mir wirklich nur noch Sorgen.“ Entsetzte sich Miriam.

„Da kann man wirklich den Tod im Leibe haben!“ Schaltete sich Cornelius ein während er einen Topf mir dampfender Kartoffelsuppe auf den Tisch stellte.

„Nun ganz so ist es nicht!“ Versuchte Kyra die Dinge richtig zu stellen. „Eigentlich ist mir Elena hinten drauf gefahren. Also ich radle ganz friedlich so meines Weges, da braust doch wie aus dem Nichts dieses monströse Cabriolet heran und versetzt mir einen  Schlag das es mich nur so durch die Luft wirbelt…“

„Genug jetzt Kyra!“ Stoppte Cornelius abrupt den Redefluss. „Ich denke dass kannst du uns später berichten. Lass uns jetzt essen. Ich möchte mit Elena dabei schon einige wichtige Angelegenheiten klären.“

„Ist Kyra ihre Tochter?“ Wollte Elena wissen. „Sie sollte schon ein wenig besser auf sie achten. Ihre ganze Art; Ihr loses Mundwerk. Das kann unter Umständen gefährlich werden.“

„Meine Tochter, nein! Kyra lebt seit kurzem bei uns, zumindest hin und wieder.

Aber mit einem hast du Recht! Ich mache mir schon echte Sorgen, bei all dem was hier in dieser Gegend vor sich geht.“ Erwiderte Miriam.

„Sie sind nicht mit ihr verwandt und kümmern sich um sie? Um eine wildfremde Person?

Verstehe ich nicht! Würde mich schon interessieren welche Logik dahinter steckt. Zumal sie  eine Paria ist, wie sie mir selbst gestand. Diese Individuen haben doch überhaupt keinen Nutzen.“ Stellte Elena mit Verwunderung fest.

„Nun, mit Logik hat das in der Tat sehr wenig zu tun.“ Pflichtete ihr Cornelius bei, während er die Suppenteller füllte. „ Nennen wir es Achtung, Zuwendung, meinet wegen auch Mitleid was Menschen bewegt anderen zu helfen die sich in einer Notlage befinden.“

„Ich brauche kein Mitleid! Ich komme wenn`s sein muss auch allein klar. Bis vor ein paar Monaten habe ich mich allein durchgeschlagen.“ Protestierte Kyra, die sich in ihrem Stolz angegriffen fühlte.

„Unsinn, jeder Mensch bedarf des Mitleides. Einander helfen, für einander einstehen. Das sind unsere Prinzipien, danach leben wir. Wir fragen nicht danach woher einer kommt und welchen Stand er bisher inne hatte. Bei uns gibt es weder Privos noch Prekas nach Parias.“

Erboste sich Cornelius.

Inzwischen hatten alle Platz genommen, die Teller waren gefüllt. Miriam verteilte dazu noch Brotscheiben.

Elena ließ nicht locker.

„Ich denke in dieser Hinsicht muss ich Kyra ausnahmsweise beipflichten. Mitleid ist unsinnig. Der Mensch büßt erheblich an Kraft ein, wenn er leidet. Durch das mit leiden vermehrt und vervielfältigt sich die Einbuße in erheblichen Maße. Das Mitleiden kreuzt im ganzen das Gesetz der Entwicklung und das ist die Selektion. Es erhält auf unnatürliche Weise dass dem Untergang geweihte.

Das Mitleid negiert das eigene Leben . Nichts ist ungesünder als jene Art Mitleid.

Die wichtigste Aufgabe schient mir jene, wie ein Arzt das Messer zu führen das Schwächliche abzutrennen um dem Starken ein mehr an Lebenskraft zu verabreichen.“

Eisiges Schweige trat ein, ein Schweigen voll unruhiger Beklemmung.

„Was für eine gequirlte Scheiße!“ Meldete sich Kyra schließlich zu Wort.

„Privollogik, ganz einfach. So denken jene die sich selbst auf der rechten Seite wähnen. Schauderhaft einfach.“ Stimmte Miriam zu.

Cornelius klatschte in die Hände.

„Bravo Elena! Wie ich sehe hast du deinen Friedrich Nietzsche sehr genau studiert und verinnerlicht.

Nietzsches Ideen sind in diesem Lande Staatsdoktrin, Kyra. Ihre könnt Elena deshalb keinen Vorwurf machen. Sie steht einzig und allein treu zur vorherrschenden Weltanschauung. Elena Du hast aus deiner Sicht das Rechte gesagt.“

„Höre ich recht Cornelius? Du verteidigst diesen Quatsch auch noch? Ist ja irre!“ Entsetzte sich Kyra erneut.

„Vergesst doch angesichts dieser hochgeistigen Dinge nicht euch die Suppe schmecken zu lassen, wir wollen sie doch nicht kalt werden lassen.“ Lud der Alte nachhaltig ein und alle begannen wie auf Befehl zu löffeln.

„Wie ich sehe bist doch nicht so ganz aus der Art geschlagen wie ich befürchtet Cornelius. Ja, ich habe das Richtige gesagt. Und was Recht ist muss Recht bleiben. Es gibt keine Alternative zu dieser Weltsicht. Die Geschichte lehrt uns wohin es führt den Träumen von der angeblichen Gleichheit aller all zu freien Lauf zu lassen. Versuche diese in die Wirklichkeit zu übertragen gab es mehr als genug, doch sind sie allesamt gescheitert. Nicht lebensfähig, illusionär. Seht euch hingegen die Natur an. Von ihr können wir lernen. Auslese, natürliche Auslese.

Das Schwache verendet, das Starke bekommt die Chance zum Überleben. Kein Platz für Humanduselei. Diese Idee müssen wir auf die soziale Ordnung übertragen.* Es gibt meines Erachtens in diesem Land noch viel zu viel an Humanität. Das ist der Grund für die zahlreichen Krisen der letzten Jahre.“ Führte Elena ihre Standpauke weiter aus

„Ich finde solche Meinungen einfach nur zum Kotzen, das ist alles was ich dazu sagen kann.“

Entrüstete sich Kyra erneut.

„Das ist dein gutes recht Kyra,“ bestätigte Cornelius. „In deiner Eigenschaft als Schwache bist du als Opfer auserkoren. Dir bleibt nur der Trost, das deine Liquidierung dem Wohle der Allgemeinheit dient.“

„Und diese Allgemeinheit von der du sprichst sind in erster Linie die Privo, die ihre Rechte und Privilegien  nicht preisgeben wollen.“ Warf Miriam ein.

" Natürlich!“ ,bestätigte Cornelius. „den Privo steht aus ihrer Sicht das Recht zu, ihre Privilegien zu verteidigen und weil sie die uneingeschränkte Macht in diesem Staate inne haben, ist ihre Sicht der Dinge identisch mit jener des Staates.  Versteht ihr auf was sich hinauswill? Sie sind der Staat. Folglich stellt ein Angriff auf die Privo einen Angriff auf den Staat dar. So wird es uns auch in den Medien suggeriert. Die Medien verkünden Staatsmeinungen, die in Wirklichkeit Meinungen der Privo sind. Elena verkündet also dem zu folge offiziell die Ansichten des Staates, in Wirklichkeit jene der Privo, zu denen sie sich selbst rechnet.“

„Das ist Unsinn!“ Protestierte Elena energisch. „Propaganda, reine Propaganda! So etwas nenne ich einen typischen Fall von Sozialneid. Solche Leute wie du Cornelius versuchen die Massen zu manipulieren, ihnen ihre Ideen auf zu zwingen um sich selbst ins reine Licht zu setzen. Die Ordnung unserer Gesellschaft stellt den einzig gangbaren Weg dar. Es gibt keine Alternative. Wir leben in einem freien Land. Jeder Mensch besitz einen freien Willen und kann seine Meinung offen äußern. Es gibt freie Wahlen in diesem Land. Auch die Prekarier können wählen, selbst die Paria, wenn sie sich registrieren lassen würden, die Möglichkeit hätten sie. Tun sie es nicht, ihr Problem.“

Die Unmittelbarkeit ihrer Antworten überraschte ihn.

„Ah ja! Die viel gepriesene freie Meinungsäußerung. Die ist sozial irrelevant. Der Obdachlose Paria, der bei minus 10°C auf einer Parkbank erfriert kann frei seine Meinung äußern, richtig! Das steht ihm zweifelsohne zu, wer wollte das bestreiten? Niemand, auch ich nicht. Und das will ich auch gar nicht. Ich weise lediglich darauf hin was denn bitteschön der frierende Obdachlose von seiner freien Meinungsäußerung hat oder seinem Recht bei einer Wahl sein Kreuz zu machen? Glaubst du  es ändert sich auch nur eine Handbreit an seiner beschissenen Situation wenn er seine Stimme für eine der beiden großen Parteien abgegeben hat?  Bei der letzten Wahl hat er möglicherweise für die derzeit regierenden Superdemokratischen Partei gestimmt, in der Hoffnung das sich dadurch seine Lage etwas bessert. Dieser Fall trat nicht ein. Nun stehen wir wieder vor einer Wahl  und wenn man den Meinungsmachern Glauben schenkt ,kommt es zu einem Regierungswechsel. Auch jener besagte Paria verhilft durch seine Stimme nun den Musterdemokraten zur Macht, weil erneut die Hoffnung in ihm keimt. Schon nach kurzer Zeit wird ihm bewusst, dass auch jene erneute Stimmabgabe ihm kein wärmendes Bett verschaffen kann.“ Verteidigte Cornelius kompromisslos seinen Standpunkt. Doch auch Elena versuchte nochmals ihre Logik durchzusetzen.

„Eine völlige Verzerrung von Gegebenheiten. Selbstverständlich kann ihm der Urnengang nicht zu einem Bett verhelfen. Dafür muss er schon alleine sorgen. Die Politik garantiert die Bürgerrechte. Soziale Rechte gibt es nicht! Eigenverantwortung kann niemanden erlassen werden. Sich selber einen Patz in der Gesellschaft erkämpfen, dafür hart arbeiten. Jeder ist seines Glückes Schmied. Wer es nicht schafft, Pech gehabt. Sie mich an, auch mir wurde nichts in meinem Leben geschenkt. Auch ich habe mich für meinen Erfolg mächtig ins Zeug legen müssen müssen, ich habe mich abgestrampelt….“

Kyra lachte laut auf.

„Den Schwachsinn glaubst du doch wohl selber nicht Elena. Abstrampeln sagst du? Ja sicher, bei deinen Millionären unter der Bettdecke vielleicht….“

Elenas Protest schwoll zu einem Sturm der Entrüstung.

„So etwas höre ich mir nicht länger an. Das ist eine Frechheit! Was man sich so bieten lassen muss. Ich weigere mich diesem Gespräch auch nur eine Sekunde länger beizuwohnen. Augenblicklich verlasse ich das Haus.“

Elena erhob sich so drastisch das der Stuhl auf dem sie saß nach hinten klappte.

„Aber bitte, Elena! Niemand wird dich noch einmal beleidigen,“ versuchte Cornelius schlichtend ein zu greifen. „Ich verspreche es dir. Kyra du wirst dich Augenblicklich bei unserem Gast entschuldigen. Eines unserer obersten Gebote scheinst du noch immer nicht verinnerlicht zu haben, die Gastfreundschaft unter diesem Dach, die jedem zukommt. Das gilt auch für Elena“

„Entschuldigen? Den Teufel werd ich tun!“ Weigerte sich Kyra trotzig.

„Dann  eben nicht. Trotzdem ist dein Verhalten ausgesprochen ungebührend. Auf diese Weise gewinnt niemand das Vertrauen der Bevölkerung. Elena, bitte bleib. So etwas wird nicht mehr geschehen. Ich garantiere, das es von nun an sachlich weiter geht.“

Die Entscheidung fiel Elena nicht leicht. Doch schließlich obsiegte die Neugierde. Sie wollte recherchieren. Von einer Kyra würde sie sich das keinesfalls versauern lassen.

„Meinetwegen! Aber ich sage es in aller Deutlichkeit: Noch ein Vorfall dieser Art und ich verschwinde und wir können alles weitere vergessen.“

„Mein Ehrenwort! So können wir es handhaben. Ich denke es ist besser das Gespräch zu unterbrechen. Wir essen erst mal, dann können wir beide uns in aller Ruhe unter vier Augen austauschen.  Ach übrigens, da fällt mir ein. Wo treibt sich denn Kovacs rum? Wollte der nicht heute mal wieder vorbei schauen.“ Cornelius verstand sich ausgezeichnet  darin dem Gespräch abrupt eine andere Richtung zu geben.

„Kovacs? Keine Ahnung! Wie kommst du denn ausgerechnet auf den? Der ist oftmals tagelang untergetaucht in seiner Gartenlaube, wenn er sich der Poesie widmet.“ Wunderte sich Miriam.

„Ach war nur so ne Idee. Mir war nur als habe ich noch deutlich im Ohr, dass er sein Interesse bekundete beim Zusammentreffen mit Elena zugegen zu sein.“

„Gott behüte uns davor. Kovacs und Elena an einem Tisch. Dann träfen die beiden richtigen Sprücheklopfer aufeinander. Die würden sich in ihren Klusscheißerein einander überbieten.“ Muckte Kyra erneut auf.

Auf Elenas Stirn formte sich bedrohlich eine Zornesfalte.

„Schon gut! Schon gut! Ich halte meine Klappe. Ich will euch nicht den Tag vermiesen.“ Machte Kyra gerade noch rechtzeitig einen Rückzieher.

„Kovacs? Du meinst doch wohl nicht etwa Kovacs den Dichter? Den ehemaligen Dichter wollte ich natürlich sagen.“ Wunderte sich Elena:

„Ja Kovacs der Dichter! Nicht ehemaliger Dichter. Er ist produktiv wie nie zuvor. Er dichtet und dichtet was das Zeug hält. Ich frage mich des Öfteren woher dieser Mann eigentlich seine Energie bezieht. Es geht ihm gut! Er erfreut sich bester Gesundheit. Er ist nicht tot!“

Klärte Cornelius auf.

„In einer gewissen Hinsicht ist er das schon! Er wurde entpersonifiziert, in die Pariakaste zurückgestuft. Somit existiert er da facto für die Gesellschaft nicht mehr. Die Menschen werden ihn vergessen.“ Meinte Elena.

„So wie mich? Nach Elenas Meinung existiere ich ja auch nicht mehr!“ Fuhr Kyra erneut dazwischen.

„Sehr richtig Kyra, auch du bist nicht wirklich existent, weil du keinen Nutzen für die Gesellschaft hast.“ Elenas Standpunkt schien ungebrochen.

„Ich gehe davon aus, dass die Menschen Kovacs nicht aus ihren Gedanken verbannt haben. Dichter sterben nie! Soweit es sich um echte Dichter handelt. Ich denke Kovacs wird selbst dann nicht vergessen, wenn er einmal tatsächlich nicht mehr unter den Lebenden weilt.“ Erwiderte Cornelius mit einer Bestimmtheit die keinen Widerspruch mehr duldete.

Auch Elena war sich jener Tatsache  bewusst, deshalb unterließ sie jede weitere Provokation.

In der Zwischenzeit hatten alle ihr Mal beendet. Miriam schickte sich an den Tisch abzuräumen und wies Kyra an, ihr dabei zu helfen damit die anderen ungestört reden konnten.

Elena nutzte auch sogleich die Abwesenheit der beiden Frauen um nochmals ihr Vorhaben darzulegen.

„Also noch mal von vorn. Teile mir doch einfach einen Termin mit, wann du beliebst in meine Sendung zu kommen. Das ist im Grunde schon alles was ich im Moment einkalkulieren muss. Die Fragen klären wir dann kurz vor dem Interview.“

„ Ich kann meinen Standpunkt nur noch einmal wiederholen.Ich werde nur dann meine Einwilligung geben, wenn du bereit bist hier für etwa einen Monat mit uns zu leben, dabei gründlich recherchierst und somit mit eigenen Augen dem Geschehen folgen kannst. Nur auf diese Weise bekommst du einen tatsächlich objektiven Eindruck von uns und unseren Zielen und Vorstellungen.Es tut mir leid, aber das ist mein  letztes Wort.“ Wiegelte Cornelius kategorisch ab.

„So etwas stures ist mir noch nie vorgekommen.  Keine Ahnung wie ich das machen soll. Ich habe meine Arbeit. Ich kann doch mein Publikum nicht so lange warten lassen. Wie stellst du dir das vor? Mich einfach so ausklinken, das geht nicht, ausgeschlossen. In meiner Branche muss man ständig am Ball bleiben.“

„ Aber wer recherchiert denn ansonsten für dich?“

„Es gibt eine Menge Leute, die alles für mich erledigen. Ich kann die Studios nicht aus den Augen lassen, sonst bin ich  weg vom Fenster.“ Log Elena ohne rot zu werden.

„Komisch! Irgendwie habe ich läuten hören, dass du mit diesem Frederic zusammenlebst, dem Eigentümer der Sendeanstalt. Ich denke du brauchst dir überhaupt keine Gedanken zu machen. Jemand mit solchen Beziehungen hat keine Probleme sich eine zeitlang frei zu machen. Außerdem! Wenn du deine Auslandsreisen unternimmst bist du oftmals bedeutend länger fort als vier Wochen. Dann werden im Fernsehen einfach Wiederholungen in Endlosschleife ausgestrahlt von zurückliegenden Sendungen. Ist ja eh immer das gleiche, nur der geübte Zuschauer entdeckt den Betrug. Doch wer ist schon geübt?“

Elena wurde bleich. Wie zum Teufel konnte der so viele Details aus ihrem Leben in Erfahrung bringen? Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu. Unheimlich!

„Das … das ist Bluff. Woher woher weißt du das? Ich meine… es muss doch einen Grund dafür geben, warum du in meinem Privatleben herumschnüffelst.“

Elena wollte sich keinesfalls die Blöße geben vor diesem Mann die Fassung zu verlieren.  

„Es ist nicht schwer um an Informationen zu gelangen Elena. Nicht nur eure Spitzeldienste funktionieren. Auch wir hier unten können einiges aufweisen. Ich bin über dein Leben recht gut informiert aufgrund der Aussage einer Mitarbeiterin in euren Studios, die entlassen wurde, weil sie die Dreistigkeit besaß sich aufgrund einer schweren Grippe zwei Trage krank zu melden. Sie wusste nicht wohin und lebte einige Wochen bei uns. Von ihr erfuhr ich einige brauchbare Anekdoten aus deinem Leben. Keine Sorge, die all zu intimen Sachverhalte interessieren mich ohnehin nicht. Aber dein Tagesablauf ist hochgradig amüsant. Dein Leben scheint aus Partys zu bestehen. Arbeitszeiten teils du dir nach Gutdünken ein. Deine Untergebenen haben einiges auszustehen. Also von harter Arbeit kann doch wohl kaum die Rede sein.“

Cornelius ging noch näher ins Detail. Elena verschlug es die Sprache. Sie musste sich geschlagen geben. Hier weiter die Unschuldige zu mimen, schien kontraproduktiv.

Der alte Professor schien mit allen Wassern gewaschen, den würde sie kaum so schnell aufs Kreuz legen können, wie zunächst geplant.

Immer wieder drangen seine alterslosen  Augen bis in die Tiefen ihrer Seele vor.

Er legte ihr die Hand auf den Arm und sah sie eindringlich an.

„Ich kann dir keine Vorschriften machen Elena. Ich kann dich einladen hier zu bleiben, weiter nichts. Entscheide selbst. Wenn ja, findest du mich bereit. Wenn nicht, sei`s drum. Ich kann ohne einen solchen öffentlichen Auftritt gut leben. Bisher haben die Medien mich geschnitten, damit muss ich leben. Auch jetzt wird es kaum anders zugehen.“

Dann fügte er ganz nebenbei hinzu, was seinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen schien.

„Elena, ich glaube aber wenn du hier bleibst, wirst du die Story deines Lebens finden und die könnte dir einen beachtlichen Erfolg in der Bevölkerung einbringen.“   

Elena wand sich wie ein Aal. Einerseits reizte sie die Vorstellung hier etwas Neues zu erleben, etwas das ihren Alltag deutlich durchbrach. Die Abenteuerlust hatte sich ihrer bemächtigt. Andererseits hatte sie kaum vor sich zum Narren zu machen und diese Gefahr bestand hier fortlaufend.

Schließlich obsiegte die Neugier.

„Also gut! Meinetwegen! Wird möglicherweise ganz interessant. Aber ich benötige schon einige Kleinigkeiten, um mich hier niederzulassen. Das könnte euch einige Umstände bereiten.“

„Davon bin ich überzeugt. Aber was in unserer Macht steht werden wir bewerkstelligen,um dir den Aufenthalt so angenehm wie nur möglich zu gestalten. “Bot Cornelius spontan an.

„Ich bin überhaupt nicht auf eine längere Abwesenheit eingestellt. Ich muss mir noch ein paar Utensilien holen. Nun gut, die kann ich mir auch bringen lassen. Sollte ich diese  persönlich von zu Hause abholen, könnte es geschehen, dass ich einknicke und nicht zurückkehre.“ Gestand Elena.

„Sehr gut! Eine weise Entscheidung. Nichts soll von deinem Vorhaben ablenken.“ Spornte Cornelius an.

„Natürlich benötige ich ein eigenes möbliertes Zimmer, nach meinen Vorstellungen eingerichtet. Geräumig und in ruhiger Lage. Selbstverständlich setze ich eine Duschmöglichkeit voraus.“ Verlangt Elena.

„Ich denke, das lässt sich einrichten. Da haben wir eine Reihe von Möglichkeiten.“

„Und ich habe Zugang zu allen wichtigen Daten. Ich muss sicher gehen, dass ich ungestört recherchieren kann und nicht ständig belästigt werde von allen möglichen Leuten.“

„Auch das lässt machen. Ich verbürge mich dafür, dass es dir an nichts fehlen wird.“

Cornelius schien seinen Erfolg sichtlich zu genießen.

Ein vorläufiger Sieg, aber immerhin.

Draußen hatte sich, von allen unbemerkt, ein heftiges Unwetter entwickelt. Bedrohlich schwarze Wolken schienen kurz davon sich bald in einem heftigen Gewitter zu entladen. Ein starker Wind heulte durch die langen Gänge und um das Gebäude. Ein Fenster schlug laut auf und wieder zu.

Cornelius begab sich an das Fenster um es zu schließen. Besorgten Blickes meinte er.

„Du hättest ohnehin jetzt nicht aufbrechen können. In wenigen Minuten wird sich da draußen ein Unwetter entladen. Ich schlage vor, dass du dein Auto in die Unterführung fährst so lange noch Zeit ist. Dort steht es sicher.“

„Du meine Güte ja. Ich hab nicht mal das Verdeck geschlossen. Das herrliche Wetter hat mich dazu verleitet.“

Mit einem Satz erhob sich Elena und verschwand in Windeseile durch das Treppenhaus.

Der heiße Juliwind zerzauste ihre Haare als sie auf die Straße vor der alten Fabrik trat, Staubwolken nebelten sie ein. Gerade noch rechtzeitig konnte sie ihren Carboot unter der geräumigen Toreinfahrt in Sicherheit bringen. Sie stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sich in ihrer Tasche, die sie entnahm alles befand, was sie für eine Übernachtung benötigte. Alles Weitere würde sie sich morgen von ihrer Bediensteten beschaffen lassen.

Als sie sich wieder im Treppenhaus befand entlud sich dass Unwetter. Der Sturm peitsche den Regenguss an die Hauswand. Ein Blitzschlag folgte dem anderen, kaum dass sich der Donner entladen konnte. Schließlich prasselte auch noch ein heftiger Hagel auf die Erde nieder. Elena konnte sich glücklich schätzen, dem entkommen zu sein.

Miriam nahm sie im Treppenhaus in Empfang.

„Ach Elena, ich glaube es ist gut wenn ich dir gleich zeige, wo du untergebracht bist. Ich hoffe es entspricht deinen Ansprüchen. Richte dich erst mal ein, dann kannst du dich ja wieder zu Cornelius begeben um alles Weitere mit ihm abzuklären.“

„Ja von mir aus! Soll mir recht sein!“

Miriam führte Elena einen langen, notdürftig renovierten Korridor entlang. Dann öffnete sie eine Tür und geleitete Elena in das Zimmer.

„Sicherlich bist du etwas besseres gewohnt. Aber ich denke für eine  Zeit wird es genügen. Wenn nicht, werden wir sicher auch noch etwas anderes für dich finden.“

„Naja, ich will mal nicht so sein. Nicht schön, aber zweckmäßig. Ich denke ich werde es aushalten. Hauptsache es ist einigermaßen ruhig hier in der Nacht.“ Gab sich Elena mehr schlecht als Recht zufrieden.

„Oh ich denke schon. Es ist das ruhigste Zimmer im ganzen Trakt hier. Toilette und Dusche sind gleich nebenan. Ich denke, ich lasse dich jetzt einfach allein, damit du erst mal alle auf dich wirken lassen kannst.“ Erklärte Miriam.

Dann ließ sie Elena  mit sich allein.

Das Zimmer war spartanisch aber trotzdem einigermaßen gemütlich eingerichtet. Die Möbel mussten mindestens 50 Jahre auf dem Buckel haben. Sicher irgendwo aus dem Sperrmüll, schoss es Elena spontan durch den Kopf.

Ein altes breites Eichenholzbett nahm schon fast ein Drittel des Raumes auf der linken Seite ein. Gleich daneben ragte ein wuchtiger Kleiderschrank empor. Ein klappriges Nachttischchen, ein bequemer Plüschlesesessel ein Schreibtisch mit dazugehörigem Drehsessel, mehr gab es nicht. Ein Waschbecken gleich neben der Eingangstüre komplettierte die Einrichtung. Elena betätigte den quietschenden  Wasserhahn, tatsächlich floss nach einigen Gurgeln Wasser heraus, erst eine bräunliche Brühe, nach einigen Augenblicken wurde es klarer.

Sie ließ sich rückwärts auf das Bett fallen und starrte an die Decke mit ihren kleinen Vertiefungen und Flecken und ihrer groben Struktur, auf der man beliebige Muster  erblicken konnte, wenn man nur lange genug darauf schaute.

Das Bett schien bequem zu sein, zumindest dem ersten Anschein nach. Ob sie hier auch tatsächlich schlafen konnte würde sich in der Nacht erweisen.

Elena kramte in ihrem Kulturbeutel herum und holte nach wenigen Augenblicken eine elegante Haarbürste hervor, nahm vor dem Spiegel über dem Waschbecken Aufstellung und begann damit ihr langes kupferrotes Haar, das ihr schon bald bis zur Taille reichte, auszubürsten.

Als sie mit dieser Tätigkeit fertig war, verließ sie das Zimmer um die Toilette in Augenschein zu nehmen.

„Was kann man hier auch schon anders erwarten“, sprach sie zu sich selbst als sie des kleinen Raumes ansichtig wurde.

Es müffelte ein wenig. Elena öffnete das kleine Fenster, durch das sie eine gute Sicht zum Innenhof bekam und stellte fest, dass es aufgehört hatte zu regnen. Die Luft schien deutlich abgekühlt. Das kam ihr entgegen.

Sie verließ die Toilette, schloss dass Zimmer, dass sie in den nächsten Wochen ihr eigen nennen sollte und begab sich in Richtung Treppenhaus.

Offensichtlich hatte sie sich den Weg noch nicht so gründlich eingeprägt wie ursprünglich angenommen. Es gab mehrere Stockwerke, die sich wie ein Ei dem anderen glichen. Elena musste sich eingestehen, dass sie sich verirrt hatte.

Leise vor sich hin fluchend, bewegte sie sich hastig durch die Gänge, dabei achtete sie kaum auf die nahe Umgebung. Die Person die sich ihr auf dem halbdunklen Flur nährte nahm sie nicht war, ein Zusammenstoß daher unvermeidlich.

„Mensch paß doch gefälligst auf wo sie hintrittst,“ polterte sie als den Mann gerammt hatte.“

„Typisch Elena! Genauso habe ich mir dich vorgestellt. Das aber unser erstes Zusammentreffen gleich auf so heftige Art vonstatten geht, wäre selbst mir nie in den Sinn gekommen.“ Antwortete der Mann selbstsicher.

Jetzt erst nahm Elena diesen richtig in Augenschein.

„Aber das ist doch… Du…du musst Kovacs sein. Richtig?“

„Richtig geraten! Das ist schon phänomenal das du noch weißt wer ich bin.“

„Nun, sagen wir lieber ich weiß wer du warst. Offiziell existierst du nicht mehr für die Gesellschaft.“ Verbesserte Elena.

„Ich denke, das kommt ganz darauf an, was man unter Gesellschaft versteht. Ich bin hier jedenfalls von einer Gesellschaft um geben, die mich als ausgesprochen lebendig erlebt.“

Antwortete Kovacs.

Elena betrachtete die außergewöhnliche Erscheinung ihr gegenüber mit einer Mischung aus echten Interesse und Belustigung.

Hier stand ein Wesen, das sich nur ausgesprochen schlecht in gängige Schubladen einordnen ließ. Kovacs mochte so Mitte/Ende Vierzig sein. Doch das verrieten lediglich seine schulterlangen schwarz-grau melierten Haare, die er nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft hatte. Sein bartloses Gesicht zierte eine runde schwarzgerahmte Brille.

Im Grunde wirkte er alterslos.

Der Dichter war mit einer schwarzen  Skaterhose bekleidet, dazu trug er ein gleichfarbiges T-Shirt und darüber eine hellblaue ausgewaschene Jeansweste.

„Gesellschaft, das sind die Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, deren Wort etwas gilt.

Menschen die einen guten Geschmack haben eben, kreativ, kunstsinnig, gebildet und…“

„Wohlhabend vor allem.“ Vollendete Kovacs Elenas Gedankenflug.

„Genau, wohlhabend! Auch das ist ein wichtiger Charakterzug. Ganz recht. Schön dass ich dich endlich von Angesicht zu Angesicht kennen lerne. Ich habe tatsächlich eine ganze Reihe von Fragen an dich. Die brennen mir regelrecht auf den Nägeln.“

„Ich stehe allzeit zur Verfügung. Aber ich würde vor schlagen, wir ziehen uns zu diesem Zweck irgendwohin zurück, ich spüre wenig Neigung mich hier im Flur hochgeistigen Gedankenströmen hinzugeben“ Meinte Kovacs.

 Auf Anhieb fand Elena Gefallen an diesem Mann. Geistreich, witzig, intellektuell. Ein Mensch ganz nach ihrem Geschmack. Der hob sich deutlich von seiner Umgebung ab, von diesen langweiligen Proleten und ihrem Gestammel. Sie würde also auf ein wenig Intellekt nicht verzichten müssen und das hob ihre Stimmung ganz beachtlich.

Kovacs führte Elena die Treppe hinab. Sie brauchte ihm nicht zu gestehen, dass sie sich verirrt hatte. Sie gelangten ins Freie. Das Unwetter war abgezogen die stickig-staubige Hitze des Vormittages war einer angenehmen Kühle gewichen. Saubere erfrischende Luft umwehte sie beim Hinausgehen.

Sie betraten den mit allerlei Gerümpel übersäten Innenhof. Elena achtete wenig darauf, vielmehr war sie damit beschäftigt den Pfützen auszuweichen, die sich infolge des heftigen Platzregens auf dem Hof gebildet hatten und im Begriff waren ihre nagelneuen weißen Tennisschuhe zu beschmutzen.

Schließlich erreichten sie eine etwas abgelegene Sitzecke, bestehend aus Holzbänken, die man einfach im Kreis um eine alte knorrige Eiche platziert hatte.

„Setz dich einfach Elena, dies ist einer meiner Lieblingsplätze. Den suche ich immer auf wenn ich mich hier aufhalte.“ Bot Kovacs an.

Elena betrachtete skeptisch die feuchte Bankoberfläche und vergewisserte sich zur Vorsicht noch einmal deutlicher indem sie mit spitzen Fingern darüber fuhr.

„Oh pardon! Ich vergaß den Regen. Nun viel scheint zwar nicht durch die Blätter gedrungen zu sein, aber sicher ist sicher.“

Er kramte seine Hosentaschen durch und holte einen Packe Zellstoff hervor. Damit begann er die Oberfläche zweier Bänke zu trocknen.

„So garantiert trocken. Bitte Platz zu nehmen.“

Elena ging das Risiko ein und ließ sich mit ihrer beigefarbenen eng an liegenden Leinenhose auf der Bank nieder. Kovacs nahm ihr vis a vis Platz.

„Hm, eine Weile werden wir es hier wohl aushalten. Angenehm kühl, nicht war? Aber das Unwetter kommt garantiert wieder. Siehst du da oben, die pechschwarzen Wolken.“

Kovacs deutete auf die Gewitterwolken, die sich schon wieder bedrohlich über dem Dach des alten Fabrikgebäudes zusammenballten.

„Aber sag doch Elena. Was möchtest du wissen. Wie kann ich dir behilflich sein bei deinen Recherchen?“

„Was ich wissen möchte? Alles! Ich kann das nicht so ohne weiteres in zwei/drei Fragen formulieren. Ach, fangen wir doch einfach bei dir an.

Schon lange bewegt mich die Frage, wie ein Literat von Weltruhm, der du zweifelsohne einmal warst, dazu kommt sein Leben so mirnix dirnix an den Nagel zu hängen. Seine sichere Stellung aufzugeben, alles hinter sich lässt nur um sich mit diesem nichtsnutzigen Gesindel abzugeben.

Ich meine, es muss doch einen  Grund für so ein Handeln geben. Welche Logik steckt dahinter? Oder ist das im Endeffekt nur Show. Genau! Komm schon, das ist es. Du bist dabei einen neuen Roman zu schreiben und möchtest vor Ort Eindrücke sammeln.  Das wäre eine Erklärung.“

Versuchte Elena zu ergründen.

„Wäre aber nur ein wenig zu lang, meinst du nicht auch. Ich lebe jetzt seit fast drei Jahren auf diese Weise.

Ich denke, diese Erklärung scheidet aus. Nein, Elena. Die Antwort ist ganz simpel und unspektakulär. Mir gefällt das neue Leben hier. Das ist alles.“ Gab der Dichter kurz und bündig zu verstehen.

„Wie? Es gefällt dir hier? Das kann ich nicht glauben! Kein Mensch kann Gefallen an einem solch armseligen Leben finden. Das ist doch unnormal.“ Stellte Elena mit Verwunderung fest.

„Das ist auf eine Art durchaus richtig Elena. Kein Mensch kann Gefallen an einem ärmlichen Leben finden. Vor allem dann wenn es ihm aufgezwungen ist. Vollkommen richtig.

Im Unterschied zu den Leuten, die hier um mich sind, habe ich aber die Armut freiwillig gesucht.

Ich bin weder hineingeboren, noch hat mich jemand gezwungen.“

 

„ Dass meine ich doch. Wie kann ein Mensch freiwillig auf diese Art leben wollen. Einer dem alles geschenkt wurde. Einer dem der Erfolg buchstäblich wie eine reife Frucht in den Schoss fiel. Die armen Gestalten hier, die gezwungener Maßen so leben interessieren mich nicht…“ bohrte Elena weiter, doch Kovacs unterbrach ihren Redeschwall.

„Aber mich interessieren sie und aus diesem Grund bin ich hier.“

„Jetzt versteh ich gar nichts mehr!“

„Dass glaube ich nicht. Die große Elena am Ende ihrer Weisheit. Das ich das noch erleben darf. Dabei ist es doch so einfach. Pass auf Elena, ich will es dir anhand eines Gleichnisses erläutern. Dein Leben gleicht einer Sahnetorte.“

„Einer Sahnetorte?“

„Ganz richtig, einer Sahnetorte! Nicht nur dein Leben, auch das meinige, bevor ich mich entschloss einen anderen Weg zu gehen.“

Elena blickte immer ungläubiger zu ihrem Gesprächspartner. Sollte sie sich am Ende so getäuscht haben? Kovacs hatte offensichtlich den Verstand verloren. 

Die Jahre, die er hier in dieser trostlosen Umgebung hatte verbringen müssen, hatten ihm das letzte bisschen Verstand geraubt.

„Lass mich einfach konkreter werden!“ Setzte Kovacs an. „Ich vergleiche ein Leben im übertriebenen Luxus mit einer Sahnetorte. Eine richtige zuckersüße Torte, übertrieben gesüßt. Du weißt, was ich meine. Und nun stell dir vor, du müsstest tagein tagaus, morgens, mittags und abends nur von dieser Torte essen. Sie wird quasi zu deiner Hauptnahrung. Und das über Wochen, Monate, ja wenn möglich Jahre?“

„Keine sonderlich erbauliche Vorstellung. Allein bei dem Gedanken dreht sich mir der Magen um.“ Stimmte Elena zu.

" Genau! Am Anfang mag es dir noch munden. Aber im Laufe der Zeit wirst du dich sehnen nach einem Stück Brot. Ein ganz einfaches frisch gebackenes herzhaftes Stückchen Brot. Das sieht ganz unscheinbar aus. Das fällt nicht auf, wenn es so einsam im Schaufenster liegt. Hingegen die Sahnetorte sogleich unsere Blicke fesselt. Herrlich bunt und mit viel Liebe zurecht gemacht. Bekanntlich isst das Auge  mit. Da läuft uns doch gleich das Wasser im Munde zusammen.  Hin und wieder ein Stück aus einem festlichem Anlass. Dagegen ist  auch gar nichts einzuwenden. Aber ständig? Nein! Nie und nimmer!“

„Und was hat das alles mit unser beider Leben zu tun? Ich glaube ich kann dir noch immer nicht recht folgen.“ Beschwerte sich Elena.

„Ganz einfach Elena. Mein Leben war so eine Sahnetorte. Ich lebte ein verschwenderisches Leben. Mir stand alles im Überfluss zur Verfügung. Eingebettet in eine ebensolche Gesellschaft. Ich gefiel mir darin, dieses Leben in vollen Zügen auszukosten. Ich genoss es reich und berühmt zu sein im Wissen darum, doch eigentlich nichts davon verdient zu haben. Ich war fiel einfach auf die Butterseite des Lebens oder auf die Sahnetorte, wenn wir denn bei unserem Beispiel verharren. In einer schicken Villa leben, mit einem teuren Auto fahren, auf Partys gehen, durch die ganze Welt reisen und überall freundlich aufgenommen zu werden. Die Scheinchen in den Taschen machten es möglich. Und woher kamen die? Richtig, vom schreiben. Ich schrieb am laufenden Band. Ich schrieb lauter Geschichten über Leute, die so lebten wie ich selbst. Die, allen materiellen Sorgen enthoben, sich des Lebens freuen konnten.  So etwas mochten die Leute lesen. Alle. Die Reichen, um sich darin wieder zu finden, die Armen um sich von ihrem tristen Alltag abzulenken.

Die Wogen des Erfolges spülten mich  weit nach oben. Doch was tut ein Mensch der den Gipfel erreicht hat?  Er kommt zu der Einsicht dass sein Leben leer und inhaltslos geworden ist. Angst macht sich breit, nun vom Gipfel herab gestoßen zu werden. Derer gibt es viel, die dir den Erfolg neiden und nur darauf warten dich in die Gosse zu stoßen. Dann kommt der Zeitpunkt, sich Gedanken zu machen. Was wird sein, wenn du tatsächlich stürzt. Wenn sie dein Denkmal schleifen? Was geschieht, wenn es mit dem Luxusleben vorbei ist? Wirst du imstande sein dich einzuschränken? Fragen über Fragen bohren sich in dein Hirn und lassen dich des Nachts keinen rechten Schlaf mehr finden. Wie kann ich den Besitz bewahren? Ich begann kritisch über mein bisheriges Leben zu denken. Ich entdeckte, dass ich trotz meiner Berühmtheit im Grunde immer ein Niemand blieb.

Ich fragte nach dem Sinn des Lebens, Suchte nach spiritueller Erleuchtung

Wurde hier auch bald fündig, indem ich die alte Naturreligion entdeckte. Das gab meinem Leben neuen Auftrieb. Doch es war noch nicht alles, es fehlte der wesentliche Bezug zum Leben. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Da gab es, außerhalb der Wohngettos der Privos auch noch andere Menschen. Ich begann mich für deren Welt zu interessieren. Erst zaghaft, dann immer deutlicher. Ich suchte Kontakt und fand Gefallen an diesem einfachen Leben.  Auf diese Weise ich fand das Stückchen  Brot, nach Jahren des Sahnetortenverbrauches.

Nun schrieb ich ein Buch über diese Menschen, das sprach echtes authentisches Leben. Doch ich musste zu meinem Erstaunen feststellen, dass  niemand auch nur das geringste Interesse daran bekundete. Ich ging in die Offensive, versuchte meine Ideen publik zu machen. Doch man spottete über mich und ich wurde mit Nichtbeachtung  bestraft. Erst als ich begann ganz offen die Zustände in unserem Land anzuprangern, schreckte ich die schläfrige Gesellschaft aus ihrer Traumwelt. Ich wurde in den Medien verleumdet, wurde  stufenweise zur Unperson diskreditiert. Es bedurfte nicht viel. Niemand kaufte mehr etwas von mir. Die Öffentlichkeit begann mich zu vergessen. Dann setzte ein Dominoeffekt ein.  Meinen Lebensstandart konnte ich unter diesen Umständen natürlich nicht halten. Schulden! Verarmung! Auch mein Privatleben litt darunter, ich ließ mich gehen. Meine Frau hielt trotz alledem zu mir, doch ich ignorierte das, ließ meine Launen an ihr und unserem Sohn aus. Es kam zum Bruch, sie wendete sich ab und entschloss sich mich zu verlassen.

Wenig später starben beide bei einem Autounfall…“

Kovacs hielt inne. Beklemmendes Schweigen folgte. Die ansonsten so heitere Frohnatur erinnerte sich seiner schicksalhaften Vergangenheit. Elena wagte nicht nachzuhaken, obgleich ihr die Fragen in der Kehle brannten.

„Tja, da stand ich nun. Ich armer Tor, unvorbereitet auf das Leben, aus der Bahn geworfen. Ein Zurück gab es nicht mehr. Ich fand zunächst  Unterschlupf bei Cornelius. Doch konnte ich noch soviel von meinem Vermögen retten, dass ich eine kleine verwilderte Garten Kolonie kaufen und wieder herrichten konnte. Nach helfenden Händen brauchte ich nicht lange zu suchen, die boten sich schon bald von ganz alleine an.“

Kovacs hatte schnell seine Fassung wieder erlangt.

„Das ist schon interessant. Aber es beantwortet noch immer nicht den Kern meiner Frage.

Warum? Woher diese Wandlung? So etwas kommt doch nicht einfach wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich könnte mir so etwas nicht einmal im Traume vorstellen. Diese Menschen sind arm, weil das Schicksal es so eingerichtet hat. Basta. Daran kann man nichts ändern. Mir geht es gut, ich bin wohlhabend und erfolgreich, eben weil auch diese Tatsache vom Schicksal bestimmt wurde.

Ich hege keinerlei Interesse am Leben der Unterschichten. Warum sollte ich denn?“ Offenbarte sich Elena.

„Wirklich nicht? Darf man den Grund dafür erfahren, warum du hier erschienen bist? Ich denke da steckt schon eine gehörige Portion Interesse dahinter! Du bist, ohne es zu bemerken, in den gleichen Sog geraten wie ich. Du möchtest auf irgend eine Art raus aus deinem bisherigen Dasein. Du bist gesättigt mit allem möglichen. Die Sahnetorte beginnt bei dir Übelkeit aus zulösen. Vor dir tut sich eine Grenze auf. Kannst du sie überwinden? Neues entdecken und von einer ganz anderen Sichtweise urteilen können. Dein Leben radikal ändern? Oder zieht es dich zurück und damit unweigerlich auf den Abgrund zu. Mich kannst du nicht täuschen, ich bin imstande tief in deine Seele zu blicken und entdecke darin Unsicherheit und Angst.“

„Unsinn! Ich bin lediglich hier um mich auf das Interview mit Cornelius vorzubereiten. Gut, es läuft anders als erwartet, zugegeben. Aber ich tue es nur für mich allein. Ein wenig recherchieren. Meinetwegen. Wenn es Cornelius so gefällt. Dann haue ich ab, zurück in das mir vor bestimmte Leben. Ich denke gar nicht dran, hier auch nur eine Minute länger zu verweilen.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher. Allein die Tatsache, dass du auf Cornelius Ansinnen eingegangen bist, spricht schon dagegen. Du hättest  auch ablehnen können. Nichts und niemand zwingt dich hier einen Monat auszuharren. Allein dein  Interesse hält dich hier. Was kann dir schon geschehen, wenn es nicht zu diesem Interview kommt? Du hast nichts zu verlieren.

Cornelius ist es der ein Risiko eingeht und nicht du.“

In Elena begann es zu rumoren. So sehr sie auch innerlich auf begehrte, so kleinlaut musste sie sich doch eingestehen, dass Kovacs die Wahrheit sprach. Ihr Interesse war tatsächlich erweckt und es steigerte sich von Augenblick zu Augenblick. Kovacs schien von einer wie auch nimmer gearteten mysteriösen Aura umhüllt zu sein. Man konnte sich seinem Einfluss  nicht entziehen.  Nie zuvor in ihrem Leben hatte sich Elena bei einem Gespräch so unsicher und verletzlich gefühlt. 

„Auch ich gehe ein gewaltiges Risiko ein. Immerhin habe ich dem gesamten Redaktionsteam in mein Vorhaben eingeweiht. Würde Cornelius nicht erscheinen, ich wäre blamiert. Nein, so einfach kann man dass nicht abtun.“ Versuchte Elena sich zu rechtfertigen.

„Elena, du willst mir doch nicht allen ernstes unterjubeln, dass du nicht auch für diesen Fall Vorsorge getroffen hast. Blamiert, ich bitte dich! Eine Elena blamiert sich nicht. Deine Aufgabe besteht darin andere bloß zu stellen. Dir verzeiht das Publikum alles. Schon nach wenigen Tagen wäre alles aus der Welt. Du bist so gut in deiner Rolle, dass du die manipulierte Masse schon nach kurzer Zeit wieder um den Finger wickeln kannst.

Cornelius wäre der geblaumeierte, würde er, so wie du es im Schilde führst, unvorbereitet in deine Sendung kommen.  Das ist es doch, was du vorhast? Oder sollte ich mich irren?“

Unterstellte ihr Kovacs.

„Das… das ist unerhört! Wie…wie kommst du auf so eine unverschämte Unterstellung.

Ich bin lediglich hier um ein Interview vor zu bereiten. Cornelius soll eine echte Chance bekommen, so wie jeder andere auch, den ich in meine Sendung einlade…“ empörte sich Elena. Doch der Dichter entzog ihr abrupt das Wort.

„Alle bekommen eine Chance. Ja, diese Art Chancen kenne ich. Deine Sendungen laufen doch schon seit ewigen Zeiten nach dem gleichen Strickmuster. Du und eine Anzahl bestellter Ideologen machen vor laufender Kamera einen Alibi-Rebellen nieder. Ich muss schon sagen, dass als faire Chance zu betiteln zeugt von besonders perfider Dreistigkeit.

Das Publikum schluckt alles, wenn es nur sensationell genug rüberkommt. Du setzt auf eine allgemeine Verblödung deren Gift schon erste Früchte trägt. Du brauchst mir nichts zu erzählen. Wie ich vorhin schon andeutete war Ich selbst lange Zeit Glied dieser Verdummungsstrategie. Auch Cornelius ist im Bilde, wenn ich auch zugeben muss, dass er eine zeitlang durchaus geneigt war, dir ehrliche Absichten zu zubilligen.

Du bist eine wahre Meisterin deines Faches Elena. Du verstehst dein Handwerk, großes Kompliment. Schlimm ist nur, dass du dein Talent vergeudest. Warum setzt du es nicht ein um Sinnvolles zu tun, um den Menschen dieses Landes von Nutzen zu sein?“

Sein höhnisches Gesicht, wies jeden Widerspruch zurück.

Mit wenigen raschen Schnitten legte er ihre Seele bloß, sezierte ihre Hoffnungen und Ängste, biss in ihr Schutzschild von Selbstsicherheit und Erhabenheit. Spuckte ihre Wertvorstellungen aus wie die Schalen eines Krustentieres.

Kovacs hatte sie genau durchschaut. Elena fühlte sich nackt.

Sie durchbohrte ihn schier mit ihren Blicken, als wolle sie durch die Augen in seine Seele vordringen, doch es gelang ihr nicht.

„Wie vergeuden? Was… was meinst du damit, ich würde meine Talente vergeuden? Das ist doch glatter Unsinn. Ich habe den Gipfel des Erfolges erreicht. Meine Talente bescherten mir eine Karriere, die ihresgleichen sucht. Ich werde beneidet. Es gibt kaum jemand in Melancholanien, der nicht sofort meinem Platze einnehmen würde.“ Wagte Elena doch eine Erwiderung, nur um erneut in die Schranken gewiesen zu werden.

„Ich gehöre mit Sicherheit nicht dazu. Es gibt keinen Grund dich zu beneiden Elena. Ich bedaure dich. Ja ich hege tiefes Mitleid für deine gefangene Seele.“

Wut und Enttäuschung rangen in Elenas Brust um die Vormacht. Sie kramte in ihrer Tasche herum und schickte sich an zu gehen.

„Ich glaube, es ist doch besser, dieses Gespräch zu beenden. Ich habe mich offensichtlich in dir getäuscht. Einen Moment erlag ich der irrigen Meinung, das man mit dir ein ernsthaftes Gespräch führen könne. Ich bemitleide dich Kovacs. Tief bist du gesunken. Das geschieht wenn man sich längere Zeit mit geistig minderbemittelten umgibt.

Ich bin dadurch vorgewarnt. Aber ich danke dir für diese Erkenntnis. Es wird mir eine Warnung sein, mich niemals von diesem Gejammer beeinflussen lassen.“

„Du enttäuschst mich auch. Zieht die große Elena sich so aus einem Gefecht zurück. Ich ging davon aus, dass Elena in der Lage sei, einem jedem Widerpart die Stirn zu bieten. Da bin ich nun wieder wohl einem Irrtum erlegen.“ Bedauerte Kovacs.

„Ich weiche überhaupt niemanden aus! Habe ich gar nicht nötig. Es ist aber ebenso angebracht zu entscheiden, wann, wie und auf welche Weise man ein Gespräch führen sollte, oder es lieber bleiben lässt.  Für heute habe ich genug. Ich folge meiner eigenen Logik, basta. Und für solcherlei Gejammer ist dort nun mal kein Platz. Des Weiteren habe ich noch zu tun. Ich bin nicht hierher gekommen um sinnlos Zeit zu vergeuden. Ich habe eine Aufgabe und der werde ich mich widmen.“

Mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch erhob sich Elena und bewegte sich auf das alte Gemäuer der Fabrik zu, ständig darum bemüht den Pfützen auszuweichen. Am Tor das in die unterste Halle führte stoppte sie. Kovacs hatte recht, dass musste sie sich eingestehen, sie hatte die Waffen gestreckt. Wollte sie sich tatsächlich diesem abgewrackten Dichter geschlagen geben? Das entsprach nun ganz und gar nicht ihrem Naturell.

Sie blickte zurück. Kovacs saß noch immer auf der Bank, ließ die Beine baumeln wie ein Kind und genoss den frischen Wind der ihm entgegenblies.

Nach kurzen zögern bewegte sich Elena wieder auf ihn zu.

Kovacs nahm das voller Genugtuung zur Kenntnis. Der Sieg war seiner. Immerhin hatte er in Elena eine Regung hervorgerufen. Sie schien unsicher in ihren Anschauungen. Ein guter Anfang. Hier bedurfte es viel Anstrengung. Er brauchte einfach nur immer wieder anzusetzen.

Elena näherte sich ihm langsam. Eine steile Zornesfalte trat auf ihre Stirn. In den dunklen Tiefen ihrer Augen schien der kalte Hass zu funkeln.

Wehe dem der Elena wirklich zum Feinde hatte. Kovacs spürte die ungebändigte Kraft in der Seele dieser ungewöhnlichen Frau.

„Das könnte dir so passen! Elena kneift nicht. Und von dir lasse ich mich schon gar nicht aus der Fassung bringen. Nun gut, du hast deine Meinung, ich habe die meinige. So lange ich hier verweile, werden wir wohl einen Weg finden mit einander auszukommen.“

Eröffnete Elena die Friedensverhandlungen.

„An mir soll es nicht liegen Elena! Ich denke, aller Anfang ist schwer. Aber mit der Zeit werden wir noch feststellen, dass wir beide glänzend miteinander auskommen.“ Wagte Kovacs eine vorsichtige Prognose.

„So? Meinst Du?“ Wunderte sich Elena. „Also was meinen Umgang betrifft, da bin ich eigentlich ausgesprochen wählerisch. Ich prüfe sehr genau , wen ich zu meinen Freunden zähle.“

„Kann ich mir vorstellen! Passt sehr genau zu dir!“

„Was soll denn das schon wieder heißen?“ Entrüstete sich Elena erneut.

„Nun, ich will damit zum Ausdruck bringen, dass es recht schwer ist an dich heran zu kommen“ Versuchte Kovacs der wieder neu entflammten Auseinandersetzung die Schärfe zu nehmen. „Du suchst dir deinen Umgang gezielt aus. Ist dein gutes Recht! Andererseits entgehen dir dabei aber mit Sicherheit Bekanntschaften, die dir auf den ersten Blick nicht viel zu bedeuten scheinen, die aber langfristig betracht, ungeheuer fruchtbar wirken können.

Du solltest den Menschen einfach ungezwungen begegnen. Dich nicht von vorn herein auf eine bestimmte Gruppe festlegen. Das kann mit der Zeit ganz schön ermüden.“

„So? Habe ich bisher nie  empfunden. Ich bin zufrieden mit meinem Leben. Ich habe nicht das Bedürfnis nach Abwechslung. Im übrigen bin ich der Meinung, dass mir die  Preka oder gar die Parias recht wenig zu sagen haben. Auf die spielst du doch an, wenn ich mich nicht täuschen sollte. Die würden meine Ausdrucksweise gar nicht verstehen. Und ich hätte die allergrößte Mühe deren Slang zu entschlüsseln. Nein, so etwas bringt nichts.  Ein jeglicher gehört auf den Platz, der ihm entspricht.“

`Ja und du gehörst auf den obersten Rang`, dachte Kovacs, wagte aber nicht die Gedanken in Worte zu kleiden, wollte er doch nicht schon wieder einen Streit vom Zaune brechen.

Es half nichts, so kam er bei ihr nicht weiter. Elena schien ein Eisblock. Er musste sich ihr auf eine andere Art nähern.

„Sag Elena! Gibt es denn in deinem Leben so was wie einen Seelenfreund. Ich meine einen Menschen, den du alles an vertrauen könntest?“

„Intime Dinge etwa? Ich denke gar nicht dran. Mein Bekanntenkreis ist vor allen zur Freitzeitgestaltung da. Reisen, auf Partys gehen, etc. Gesellschaften eben. Klar, du kannst das nicht verstehen. Was bedeutet dir schon Gesellschaft. Ich wahre immer die nötige Distanz. Das ist mir wichtig. Mich jemanden vertraulich mitteilen? Wozu? Das tue ich ja nicht einmal bei Frederic, meinem derzeitigen Lebenspartner. Bei dieser Beziehung kommt es vor allem auf Sex an, das ist es was ich von ihm will. Bringt er es mal nicht, hole ich mir von anderen was ich brauche und derer gibt es mehr als genug. Du machst dir unnötig Gedanken. Es gibt keine Einsamkeit in meinem Leben.“ Erwiderte Elena selbstsicher und bestimmt.

„Du hast mich nicht verstanden. Pass auf! Ein Seelenfreund, dass ist ein Mensch, dem man die intimsten Geheimnisse seines Lebens offenbaren kann. Die Beziehung zu ihm ist geprägt durch gegenseitige Anerkennung und ein tiefes Zugehörigkeitsgefühl. Eine Freundschaft, die sich über alle Grenzen der Konvention, Moral und begriffliche Kategorisierung hinwegsetzt. Man ist auf eine urtümliche und ewige Weise mit dem Freund seiner Seele verbunden.

Da das Herz des Menschen niemals endgültig geboren ist, stellt die Liebe die fortwährende Geburt der in und zwischen uns wirkenden Kraft dar. So etwas meine ich. Kaum ein Mensch kann im Laufe seines Lebens, möge es nun kurz oder lang währen, darauf wirklich verzichten.“

„Pah, mit Frederic über intime Dinge reden. Das wäre ein Witz. Dem könnte ich mich nie offenbaren. Der würde das ausnützen, sobald sich ihm auch nur eine kleine Gelegenheit bietet. Nein, da muss ich ausgesprochen vorsichtig sein.“ Bekannte Elena.

„ Gibt es noch andere für die es zutreffen könnte? Ein gute Freundin etwa?“

„Das wäre ja noch schöner. Freundinnen habe ich im Überfluss. Aber die kommen vor allem weil ich wohlhabend und berühmt bin. Die möchten sich mit meiner Bekanntschaft schmücken. Sei`s drum! Sollen sie nur! Wenn ich sie brauche sind sie zur Stelle, das alleine zählt.“ Wiegelte Elena ab. Kovacs empfand in diesem Moment erneut tiefes Mitgefühl. Es traf genau zu, was er schon längst vermutete. Elena war einsam ohne sich dessen bewusst zu sein.

„Ich bedaure dich Elena! Ich bedaure dich wirklich, denn wie ich feststellen kann, fehlt dir ein Seelenfreund, dass ist bedauerlich, außerordentlich bedauerlich.“

„Du sorgst dich umsonst, großer Dichter. Es gibt keinen Mangel in meinem Leben. Ich fühle mich wohl in meiner Haut. Ich habe alles was das Herz begehrt. Wunschlos glücklich.

Aber du mein lieber, dir mangelt es an vielen wie ich sehe. Neid spricht aus deinen Worten, blanker Neid und bare Missgunst. Du und jene, mit denen du hier lebst, ertragen es nicht mit an sehen zu müssen, wie andere erfolgreich sind und sich alles leisten können. Sie sind dazu imstande, weil sie etwas geschaffen haben, etwas angelegt. Nur wer im Frühjahr sät kann im Herbst auch ernten. Ich habe es schon einmal betont. So etwas nennt man Sozialneid. Die Verlierer gefallen sich im Selbstmitleid. Machen andere verantwortlich für ihr Versagen. Das ist ja so einfach. Nein, Leistung muss sich lohnen. Das ist der rechte Weg. Und wer ihn gegangen ist, kann triumphieren, kann in Folge dessen auch in vollen Zügen genießen, wenn die Ernte eingebracht .“ Versuchte Elena sich wieder auf selbstherrliche Art zu rechtfertigen.

„Es ist eine seltsame Ironie, dass die Welt Macht und Besitz so sehr liebt! Man kann die größten Erfolge feiern, von jedermann bewundert werden, reich wie Krösus sein, eine liebevolle Familie sein eigen nennen, ja schier alles besitzen, was die Welt nur zu geben vermag- und trotzdem gleichzeitig vollkommen allein und elend sein.

Selbst wenn wir alles haben, was die Welt bietet, und haben die Liebe nicht, so sind wir die Ärmsten der Armen. Ein jedes Menschenherz verzehrt sich nach Liebe. Ohne ihre sanfte Glut in unserem Herzen ist keine rechte Freude, kein rechtes Glück möglich. Gleichgültig wie hart, kompetent, selbstsicher oder angesehen wir sind, gleichgültig, was wir selbst oder die anderen von uns halten: Das Gut, nach dem wir uns am allermeisten sehnen, ist die Liebe. Selbstlose, an keine Bedingungen geknüpfte Liebe.“

Kovacs` Worte schienen zu wirken. Elena ließ deutlich Zeichen der Verwirrung erkennen, auch wenn sie sich das natürlich noch nicht eingestehen konnte. Sie würdigte ihn mit einem knappen missbilligenden Blick.

„Große pathetische Worte. Hier spricht der Dichter, der sich im jonglieren von Worten gefällt.

Bravo! Das kannst du sicher alles gut für deinen nächsten Roman verwenden. Möglicherweise findest du auch ein paar Leser die sich daran ergötzen. Mich aber schocken deine Worte nicht. Ich bleibe dabei. Neid und Missgunst liegen all jenem Denken zugrunde. Die Ansichten eines Verlierers. Und Verlierer können niemals vorurteilsfrei Politik gestalten.“

„Aber ich fühle mich doch gar nicht als Verlierer,“ entgegnete Kovacs. „Seit ich so lebe, habe ich so viel gewonnen. Und ich bin reich, sehr reich sogar. Mein Reichtum ist nicht von dieser Welt. Folglich kann er auch keinem anderen schaden. Dein Reichtum hingegen ist destruktiv, denn er ist nur durch die Armut anderer realisierbar.“

„Noch nie in meinem Leben habe ich einem Menschen durch mein Handeln vorsätzlich Schaden zugefügt. Du behauptest hier Ungeheuerliches.“

„Vorsätzlich vielleicht nicht, das will ich dir keineswegs unterstellen. Aber aus Fahrlässigkeit. Gehe in dich und überlege! Hand aufs Herz, da geht dir doch sicher ein Licht auf. Lasse dein Leben Revue passieren und es erschließen sich dir alle bisher verschlossenen Mysterien.“

„Fahrlässig, was verstehst du unter fahrlässig? Da dürfte ich ja im Prinzip nicht einmal aus dem Hause gehen. Ich müsste stets und ständig darüber sinnieren, wie viele Insekten oder Würmer ich etwa bei einem Spaziergang grob fahrlässig zertreten habe. Das ist doch alles lächerlich, Kovacs. Es gibt nun mal bestimmte Dinge die sich nicht vermeiden lassen.“

Elena war nur noch bestrebt, dem Gespräch ein Ende zu setzen, dabei aber ungeschoren davon zu kommen . Doch wie sollte ihr das gelingen?

Das Wetter schien ihr dabei zur Hilfe zu kommen.

Die dunklen Gewitterwolken hatten sich in der Zwischenzeit wieder zu einer bedrohlichen Front zusammengeballt. Eine unnatürliche Stille breitete sich über das Land. Jederzeit konnten  die Wolken ihre Ladung zur Erde senden. Inzwischen war es so dunkel, dass man in den Häusern ohne Beleuchtung nicht mehr auskam.

Schon hatten die ersten Tropfen die Erde erreicht.

Einen besseren Vorwand für eine Flucht würde sich wohl kaum bieten. Elena war schlau genug die Gunst der Stunde geschickt zu nutzen.

„Aber ich glaube, wenn wir nicht eine unfreiwillige Dusche über uns ergehen lassen wollen, sollten wir uns lieber zurückziehen. In wenigen Augenblicken könnte es hier sehr feucht werden.“

„Gute Idee, ich verspüre auch keine Neigung durchnässet nach Hause zu kommen.“ Stimmte ihr Kovacs zu. Dann flüchteten sie sich in die Tor einfahrt der alten Fabrik. Sogleich ergoß sich wieder ein Platzregen, noch ergiebiger als der vorherige.

„Puah, noch mal geschafft, das war ja Rettung in der letzten Stunde. Hm! Ich habe wirklich noch zu tun. War sehr angenehm mit dir zu Streiten Kovacs.“

„Schade! Es begann gerade richtig spannend zu werden. Aber ich hoffe doch, es ergibt sich in der Folgezeit noch einmal die Gelegenheit einer Fortsetzung.“ Bedauerte Kovacs.

„Gern, wenn du magst! Wird sich sicher finden lassen, denke ich. Also dann, auf ein Neues“

Kaum hatte Elena ausgesprochen, da stahl sie sich schon durch das Treppenhaus nach oben und ließ Kovacs mit sich allein zurück.

Dieser konnte mit dem Ergebnis des soeben geführten Dialoges ohne weiteres zufrieden sein.

Der Grundstein war gelegt. Elenas Neugierde und ihr Stolz würde beide wieder zusammen führen, dessen konnte er sich sicher sein. Er würde die gehörige Geduld dazu aufbringen und das erreichte vertiefen.

 

Als die untergehende Sonne die Baumwipfel in Brand zu stecken schien und blutrote Lichtstreifen sich in der Luft flimmernd über den Boden zogen, kehrte Kovacs in sein Gartenhaus zurück. Die Kraft des Regens hatte etwas reinigendes. Die staubige Hitze der vergangenen Tage gehörte der Vergangenheit an.

Ein Augenblick wie maßgeschneidert für eine Danksagung, Kovacs glaubte sich der großen Kraft, die er in sich spürte  so nahe wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr.

Es bestand nicht der geringste Zweifel, er war heute der verheißenen Avatarin begegnet, jener Gestalt aus den Legenden prähistorischer Zeit, einer Zeit da noch Gleichheit , Freiheit, Gerechtigkeit und Harmonie unter den Menschen den Ton angab. Er hatte in uralten Schriften darüber gelesen, reiste dafür durch die halbe Welt, bevor er sich hier in die Einsamkeit zurückzog um sein Eindrücke zu verarbeiten. Hier in Melancholanien sollte sich die Verheißung erfüllen und ein goldenes Zeitalter für die Menschheit einleiten.  Doch um das zu erreichen musste sich Elena ihrer Vergangenheit erst noch bewusst werden. 

Kovacs gehörte zu den Verfechtern der Urkommunismustheorie, jener egalitäre Urzustand der Menschheitsgesellschaft, den auch Marxisten und Anarchisten vertraten, sowie der These dass die ursprüngliche soziale Ordnung matriarchal organisiert war, also Frauen eine wesentliche Stellung zukam.

Diesen Urzustand galt es wieder zu beleben und Elena kam dabei allem Anschein nach eine herausragende Bedeutung zu.

Noch aber schien diese von ihrer Bestimmung nicht das Geringste zu ahnen. Es oblag Kovacs Überzeugungsgabe sie mit ihrer Berufung vertraut zu machen und die Bereitschaft zu wecken, ihr auch zu folgen. 

Er war bereit sich seiner Aufgabe zu stellen, war er doch einer der wenigen Eingeweihten, die von deren Existenz wusste, wenn auch im Moment nur schemenhaft.

Sein Blick fiel auf den aufgehende Mond der sich als schmale Sichel am Horizont präsentierte. Ein Gefühl der Freude und Erhabenheit bemächtigte sich seiner. Symbol der Hoffnung und des Friedens in vielen Religionen der Welt, begonnen mit der matriarchal-egalitären Urreligion, dem Kult der Großen Mutter bis hin zum Islam, der jüngsten der Weltreligionen.  Lange betrachtete Kovacs das silbern scheinende Juwel am schwarzen Horizont, so als hoffe er die Mondgöttin würde persönlich zu ihm herabsteigen in dieser Nacht.

Er spürte ihre Antwort in seinem Inneren und er wusste, dass er sich nicht getäuscht hatte.

Eine Träne stahl sich aus seinen Augen und lief über seine Wage. So ein erhabenes Gefühl verspürte er schon eine Halbe Ewigkeit nicht mehr. Dieser Tag würde noch lange in seinem Gedächtnis haften bleiben. Denn in seinem Verlauf wurde der Grundstein für eine neue Weltordnung gelegt und er konnte zu recht stolz  auf den Umstand  sein, deren Architekt zu sein.

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* So etwas bezeichnet man im allgemeinen als Sozialdarwinismus (nach Charles Darwin 1809-1882) der englische Naturwissenschaftler und Philosoph gilt als Begründer der

Evolutionstheorie. In der Natur überlebt nur das Starke, Gesunde und Wertvolle. Alles Schwache, Verletzte, Kranke bleibt sich selbst überlassen und ist dem Untergang geweiht.

Die Sozialdarwinisten übertrugen diese Vorstellung auf die Sozialordnung. Sowohl für die Nazis als auch für die Vertreter des modernen Neoliberalismus gilt der Sozialdawinismus als wichtige ideologische Grundlage.