Die Gralsburg hinter Stacheldraht

 

Die lähmende staubige Hitze des Sommers war einem heiteren Herbst gewichen.

Ein Goldener Oktober wie aus dem Bilderbuch hüllte die Umgebung der Abtei in einen bunten Mantel aus Blättern.

Angenehme Temperaturen luden nach draußen ein.

Elena mochte diese Zeit des Überganges besonders.

Seit ihrem TV-Duell mit Neidhardt waren einige Wochen ins Land gegangen.

Neidhardt hielt Wort. Das Leben in Anarchonopolis und in der übrigen Föderation konnte entwickelte sich unbehindert weiter.

Die Berichterstattung in den Medien gestaltete sich auf sachlich-informative Art. Von Polemik gegen Elena oder ihre Freunde nichts zu spüren.

Eine Entwicklung wie zuletzt unmittelbar vor der Grenzbefestigung setzte wieder ein.

Die Zahl der Interessenten, die ein Leben in einer der zahlreichen Kommunen anstrebten, nahm wieder deutlich zu.

 Irgendwann würde sich der altmelancholanische Staat in seine Bestandteile auflösen, konnten sich die neu geschaffenen Strukturen der Föderation weiter ausbreiten und  das alte Staatsgebilde abstreifen, einer Schlange gleich, die sich ihrer alte Haut bei der Häutung entledigt.

Elena betrachtete diese Entwicklung auch  mit Sorge.

Immer häufiger zog sie sich in letzter Zeit an ihre geliebte Stelle innerhalb des Sandsteinmassives zurück. Von hier aus konnte sie das gesamte Gelände der Abtei weit überblicken

In diese lichte Schönheit tauchte ihr Blick, wenn sie sich der Meditation hingab. Hier konnte sie auftanken, die neuen Kräfte spüren, die sich in ihr manifestierten. Anarchaphilias Energie nannte sie schon seit einiger Zeit die Kraft, die sich ihr offenbarte. Auch wenn sie deren Wesen noch immer nicht in voller Tiefe und Breite ergründet hatte. Aber Stufe um Stufe schritt sie voran auf dem langen Initiationsweg, immer vertrauter erschien ihr was sich da vor ihrem inneren Auge auftat.

`Wie wird es weitergehen? ` Lautete ihre Frage. „Haben wir nun alle Frieden? Wann kann ich antreten, um meine Schöpfung zu veredeln?“

„Du stehst kurz davor, Elena!“ Drang eine zaghafte Antwort in ihr Bewusstsein.

„Alle Dinge nehmen irgendwann ihren Lauf. Die neue Welt wird entstehen und du wirst sie maßgeblich gestalten. Zur Zeit besteht keine ernsthafte Gefahr für euch. Taucht ein in eine neue Geistigkeit, taucht auch ein in eine neue Sinnlichkeit. Streift ab, was euch noch hindert und vergeßt jene nicht, die noch immer leiden und nicht Teil haben an den Freuden des freien Lebens.“

„Alles was du von mir verlangst bin ich bereit zu geben. Und ich werde in Freude handeln.“ Gab Elena erleichtert zur Antwort.

„Das ist gut Elena! Dann begibt dich auf die Reise. Nimm auch noch den letzten an Bord. Gib Frieden dem, der letztendlich dazu beigetragen hat, dass ihr nun ungehindert wandeln könnt.

Er leidet sehr, auch wenn er weit davon entfernt ist, sich jemals einem Menschen zu offenbaren. Das wird der letzte Akt, es wird dir und ihm neues ungeahntes Glück bescheren.“

„Das will ich gerne tun!  Ich gehe doch sicher recht in der Annahme dass du Neidhardt damit meinst?"

„Im Süden, hinter den Bergen wirst du erneut auf ihn treffen. In einem undurchdringlichen Wald findest du einen schönen Garten. Dreimal musst tödliche Gefahren du überwinden um in sein Inneres zu gelangen. Das wird dir viel Mühe bereiten. Doch lass dich nicht entmutigen. Die Kräfte der großen Mutter sind immer in deiner Nähe beschützen dich und weisen dir den Weg. Du musst ihn aufsuchen, denn an ihm kommt ihr nicht vorbei. Gelingt es dir ihn umzustimmen, ja vielleicht auf deine Seite zu ziehen, hast du dein Ziel erreicht."

Sie atmete die klare frische Herbstluft ein, bis sich ihre leichte Benommenheit verflüchtigte.

Gestärkt und frohen Mutes begab sich Elena auf den Heimweg, vorbei auch an dem Kommune eigenen Zeitungsverlag. Sie trat ein um einen kleinen morgendlichen Plausch zu führen.

Sie griff nach der für den Tag bestimmte Ausgabe und stieß dabei auch auf einen Artikel über Neidhardt. Es wurde bekanntgegeben dass der Vorsitzende sich für eine bestimmte Zeit in sein Gartenhaus im Süden des Landes zurückgezogen hatte und folglich für ein-zwei Wochen für niemanden zu sprechen sei.

Schon machte Elena Anstalten weiterzublättern, als sie plötzlich wie vom Blitz getroffen war. Ein Leuchten der Erkenntnis trat in ihre Augen.

 Ein Wegweiser! Jetzt musste sie sich zum Aufbruch rüsten.

In der Tat weilte Elena in der letzten Zeit in Gedanken oft bei Melancholaniens Diktator, dabei die TV- Diskussion ständig vor Augen.

Sie entwickelte starkes Interesse für diesen Mann und nichts bewegte sie mehr, als hinter dessen Geheimnisse zu kommen.

Ohne viele Worte eilte sie flugs nach Hause, begann in Windeseile jene Utensilien zu packen, die sie auf der Reise benötigte.

Madleen hatte sich inzwischen an den Zustand gewöhnt das Elena des Öfteren auf Reisen ging. Doch diese Hektik kam ihr ausgesprochen merkwürdig vor.

Zumal Elena sie nicht einweihte. Ein Novum, denn normalerweise gab es zwischen den beiden keine Geheimnisse. Im Moment schien Verschwiegenheit der bessere Ratgeber. Nach ihrer Rückkehr würde sie alles offen legen.

 

Elenas Gedanken gerieten in Aufruhr. Die halbe Nacht wälzte sie sich hin und her und fieberte der Begegnung entgegen.

 

Nach einem recht hastig eingenommenen Frühstück verabschiedete sich Elena am anderen Morgen mit einem dicken Kuss sowohl von Madleen als auch von der kleinen Tessa und trat unverzüglich ihre Reise an.

Abends zuvor hatte sie per Landkarte gründlich ihre Reiseroute studiert und versucht Erkundungen über Neidhardts Gartenhaus eingeholt.

Viel konnte sie dabei nicht in Erfahrung bringen. Melancholaniens starker Mann galt als einer der bestbewachten Menschen der Welt. An sein Gartenhaus heran zu kommen galt als Ding der Unmöglichkeit.

Keiner wusste um den genauen Standort. Zudem wurde gemunkelt, er habe alles mit todbringenden Sperranlagen sichern lassen. Eine bis zu den Zähnen bewaffnete Spezialeinheit bot zusätzliche Abschottung.

Elena befand sich also in höchster Gefahr. Kein Wunder, dass sie sich Madleen nicht an vertraute, die nie und nimmer ihre Einwilligung zu diesem Himmelfahrtskommando erteilt hätte.

Die Aussichten auf Erfolg tendierte zunächst gegen null.

Doch war Elena nicht der Typ der sich entmutigen ließ, aufgeben kam für sie nicht in Frage.

Sie hatte sich gut ausgerüstet, war auch auf Übernachtungen im Freien eingestellt, wenn es derer bedurfte.

In eine Flut von Gedanken gehüllt, lenkte Elena ihren alten Jeep gen Süden. Da der Treibstoff schon wieder rationiert wurde, hatte sie sich auch damit reichlich eingedeckt.

Der Tag glänzte in der Herbstsonne. Immer tiefer drang Elena in dichtes Waldgebiet vor, dass sich ihr in herbstlicher Farbenvielfalt bot. Kurze Zeit noch und die Bäume würden sich in  ihrer Nacktheit präsentieren.

Die Grenze zum altmelacholanischen Staatsgebiet hatte sie rasch überschritten. Keine Wächter weit und breit, ein weiteres Indiz dafür das die Grenze der Vergangenheit an gehörte.

Ungehindert setzte Elena ihre Fahrt fort. Immer weiter drang sie in den Süden. Die Pässe über das Grauhaargebirge waren zu dieser Zeit noch gut zu überwinden.

Es ging bergab, nun wurde es hügelig. Immer weiter trieb sich Elena voran.

Die Gegend nahezu menschenleer. Hier schien sie richtig. Irgendwo musste sich das abgeriegelte Waldstück mit seinem mythenumwobenen Gartenhaus befinden. Schließlich erblickte sie nach einer scharfen Linkskurve ein kleines Wachhäuschen.

Eine Schranke hinderte sie an der Weiterfahrt. Elena beschloss zunächst ganz offiziell um Einlass zu bitten. In Anbetracht der Tatsache, dass sie keine Unbekannte war, schien es doch möglich ihr Zutritt zu gewähren.  Doch sie irrte sich.

„Bedaure, aber ich kann sie nicht passieren lassen“. Bedeutete ihr ein freundlicher aber in der Sache unnachgiebiger Wachposten, nachdem sie ihr Fahrzeug zum Stehen gebracht hatte.

„Das gesamte Waldgebiet ist Sperrzone, haben sie denn die Hinweistafeln nicht bemerkt?“

„Doch, doch! Die habe ich schon gesehen. Ich will gar nicht passieren. Ich bitte sie mir Einlass zu gewähren. Ich möchte den Genossen Generalsekretär sprechen.“ Klärte ihn Elena auf.

„Sie… sie möchten was?“ Der Posten schien aus allen Wolken zu fallen. „Da haben sie sich die Mühe leider umsonst gemacht. Ich muss sie enttäuschen. Der Genosse Generalsekretär empfängt keine Besucher in seinem Gartenhaus, grundsätzlich nicht.  Wir haben strenge Order jeden abzuweisen.“

„Aber ich habe eine Anmeldung. Ich…ich habe persönlich mit ihm telefoniert “ log Elena in ihrer Verzweiflung.

„Das mag ja sein, aber deshalb kann ich sie trotzdem nicht auf das Gelände lassen. Es gibt keine Ausnahmen. Auch für Elena gilt das, wie für jeden! Fahren sie unverzüglich zurück. Ich wünsche ihnen einen guten Tag.“

Mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch wendete Elena ihren Jeep auf der geraden Straße und fuhr den gleichen Weg zurück, den sie vorher gekommen, vorbei an den herbstlich-bunten Bäumen die das Sonnenlicht nur bruchstückhaft passieren ließen.

Inzwischen war der Nachmittag hereingebrochen. Elena versuchte es noch an drei weiteren Kontrollpunkten, erhielt aber stets die gleiche Abfuhr.

Sie musste sich eingestehen, dass es wenig Sinn machte, auf diese Weise vor zugehen. Da sie nicht weiter unnötig Treibstoff vergeuden wollte, steuerte sie kurz entschlossen eine kleine notdürftig mit Parkflächen versehene Lichtung an.

Es war schon nach 17 Uhr. Bald würde Dunkelheit das ganze Gebiet in tiefes Schwarz tauchen. Elena entschied  alle weiteren Aktionen auf den Folgetag zu verschieben

und hier ihr Lager auf zu schlagen. Alles nötige hatte sie  dabei.

Schon des Öfteren hatte sie im Freien genächtigt, dass war nichts ungewöhnliches.

Die Natur wurde ihr von Mal zu Mal vertrauter.

Sie fühlte sich als Teil dessen, das sie umgab, wenn der grüne Mantel sie umschloss.

In Anbetracht der Tatsache, dass sich der Oktober seinem Ende neigte, beschloss Elena im Auto zu übernachten, auch wenn sie so weniger Platz zur Verfügung hatte als im Freien.

Den Restbestand des Tageslichtes wollte sie noch, so gut es ging im Freien nutzen. Anarchaphilia hatte ihr ideales Reisewetter beschert. Sie betrachtete die untergehende Sonne, deren goldene Strahlen durch die Baustämme lugten.

 

Sie verschloss das Auto und machte sich mit einer Decke unterm Arm auf dem Weg, Ausschau haltend nach einem geeigneten Platz für ihre Abendmeditation. Rasch wurde sie fündig.

Haselnussgestrüpp versperrte zunächst ihren Weg. Hier in der Wildnis war es noch nie mit einer Schere in Berührung gekommen. Dennoch hatte offenbar ein Naturgeist den üppigen Wuchs gebändigt und ein Geflecht aus geschmeidigen Zweigen entstehen lassen, das eine Öffnung bildete, gleichsam als habe es nur auf Elena gewartet.

Elena breitete die Decke aus und ließ sich darauf nieder. In tiefen Atemzügen ließ sie die saubere Waldluft in sich fließen, fühlte sich rein und mit sich selbst im Gleichgewicht.

Sie wurde immer ruhiger. Die Hektik des ereignisreichen Tages begann beständig von ihr zu weichen. Ruhe und Gelassenheit ergriffen von ihr Besitz, was für einen Erfolg der Meditation von entscheidender Wichtigkeit war.

Ihre Lippen formten das von ihr entworfene Liebesgebet an ihre neue Freundin.

„Große Mutter.

Dein Körper manifestiert sich in dem meinen. Entfalte dich ganz und gar in mir.

Fülle mich mit deiner Liebe und Zärtlichkeit und lass mich diese auch nach außen weitergeben.

Mache mich zum Werkzeug deiner grenzenlosen Liebe zu allem was lebt und sich bewegt.

Schenke mir die Fähigkeit durch meine Liebe alles zu umarmen.

Lass meinen Körper empfangen die Kraft, lass in meinem Schoße neues Leben gedeihen.

Lass mich tragen den Gral des Lebens, schütze ihn, auf das er nie verlorengeht.

Du, göttliche Mutter bist mir Freundin auf ewig, du formtest meinen Körper und machtest ihn zur Frau.

Junges Mädchen, kraftvolle Mutter, weise Alte. In jeder Lebensphase dringt dein Atem in mich und verleiht mir neue Kraft.

Dir weihe ich meinen Körper, er bleibt stark und schön, so wie die Mutter Erde, deren Mysterium ich spüre.

Deine Liebe möge nie vergehen!“

 

Elenas Bewusstsein verband sich langsam mit der Unendlichkeit zu der sie rief.

Die Zeit verging. Die Abenddämmerung ließ nur noch wenige kraftlose Strahlen durch die Äste sickern.

Eine empfindliche Kühle haftete am Boden und signalisierte, dass es Zeit zum Abbruch war.

Gestärkt durch die Kräfte die Körper und Seele durchdrungen hatten  begab sich Elena zurück zu ihrem Jeep.

Die verbleibende Zeit verbrachte sie mit lesen, ihre Tagebuchaufzeichnungen zu vervollständigen und einen Stapel Akten zu sichten. Die Arbeit schien sie auch hier nicht loszulassen.

So vieles musste getan werden. Die im Entstehen begriffene Akratasische Föderation, wollte verwaltet werden. Was täte sie nur ohne Madleen , deren Organisationstalent

auch im größten Chaos nie versagte.

Eingehüllt in ihren Schlafsack, verbrachte Elena die Nacht mehr schlecht als recht.

Es war weniger die Einsamkeit hier draußen, die ihr zu schaffen machte. Vielmehr die bohrenden Fragen, welche Überraschung  der morgige Tag im wohl Gepäck hatte, die ihr den Schlaf raubten.

Nur zögerlich glitt ihr Bewusstsein in die Schattenwelt der Träume.

Als das Morgenlicht zögerlich die Schleier der Nacht verdrängte, erwachte Elena.

Mit dem Wasservorrat versuchte sie eine Morgentoilette zu improvisieren, stärkte sich anschließend mit einem kleinen Frühstück. Dann schickte sie sich an auf ihre gewohnte Weise den neuen Tag willkommen zu heißen.

In Anbetracht der Tatsache, das sich der Oktobermorgen recht kühl und Nebel verhangen präsentierte tat sie das nicht nackt wie sonst üblich, sondern in einen warmen Umhang gehüllt.

Elena entfernt sich einige Schritte von ihrem Jeep und begann den Kontakt zu den Elementen herzustellen

Die Strahlen der aufgehenden Sonne lugten spärlich durch die Äste und Zweige und erreichten schließlich ihre kupferrote Lockenmähne, die ihr in Wellen den Rücken hinab bis zur Taille reichte.

Sie erhob die Arme und sprach das Begrüßungsritual für den neuen Tag.

„Schönster, der du aufsteigst am östlichen Horizont.

Sende dem Tag dein Licht.

O Stern des Ostens, Tagstern erwache, geh auf!

Erwache, du Herrin und Spenderin des Lebens.

Geh auf du Freudenbringerin, du Spenderin des Lichtes.

Schönster der aufsteigst am östlichen Horizont.

Tagstern erwache, geh auf!“

 

Sie spürte, wie eine wohlige Wärme ihren Körper bis in die letzten Zellen durchdrang.

Und wieder atmete sie tief durch, bis sie sich fast ein wenig benommen fühlte.

Eine ganze Weile stand sie so, senkte ihre Arme langsam nach unten.

So als habe sie es bestellt, lichteten sich die letzten Nebenschwaden und gaben der Sonne freie Bahn.

Ein schöner Herbsttag kündigte sich an.

„Schenke mir einen guten Tag, große Mutter! Lass mich, ermutigt durch deine Kraft, meine Mission erfüllen und nicht mit leeren Händen zurückkehren.

So viel hängt davon ab. Vertreibe die letzten Ängste aus meinem Bewusstsein, lass mich dem Widersacher mit Mut und Entschlossenheit entgegentreten und nicht weichen bis ich den Weg für Frieden, Glück und Gerechtigkeit in unserer Welt geebnet habe.“

 

Elena reckte und streckte sich, schüttelte ihre Gelenke aus. Dann begab sie sich zum Auto zurück, kleidete sich in Khakihose, Holzfällerhemd und Schnürstiefel, studierte im Anschluss noch einmal die Wanderkarte, die jedoch nur von geringem Nutzen schien. In dessen mittleren Teil klaffte ein großer weißer Fleck. Auch die Stelle, auf der sie sich gerade befand schien nach Ansicht der Karte gar nicht zu existieren. Nur das in auffälligen roten Lettern gedruckte Wort SPERRGEBIET blickte ihr bedrohlich entgegen.

Entmutigt faltete Elena die Karte zusammen und verstaute sie im Wagen. Zumindest konnte sie davon ausgehen, dass sie sich in der Nähe von Neidhardts Anwesen befand.

Sie zog ihre Lederjacke über und sicherte ihr Auto. Ihre Lockenmähne verstaute sie unter einem weitem Basecap. Sie würde alle offiziellen Wege meiden, musste sich also unter Umständen den Weg durch allerlei Gestrüpp bahnen. Da sie sich nicht alle paar Schritte in spitzen Dornen und Zweigen verfangen wollte, war die Mütze unentbehrlich. Außerdem bot ihr weithin sichtbarer Feuerkopf eine ideale Zielscheibe.

Sie schulterte ihren Rucksack und machte sich schnurstracks auf den Weg.

Die Gegend präsentierte sich nach wie vor menschenleer. Zu ihrer Beruhigung waren bisher  keine Militärstreifen aufgetaucht. Selbstverständlich musste sie damit rechnen, beobachtet zu werden.

Die Morgensonne entfaltete ihre ganze Kraft, ließ das Blattwerk golden schimmern.

Elena drang in das Dickicht vor. Uralte Bäume säumten ihren Weg, von Naturgewalten eindrucksvoll geformte majestätische Skulpturen.

Zu ihrer Linken fiel ein steiler Abhang in die Tiefe. Ein dunkelgrüner See schimmerte dort im spärlichen Sonnenlicht.

Bevor ihr das Blätterdach bald die Sicht auf den Himmel versperrte, erhaschte sie einen Blick auf einen Bussard, der dort oben mit ausgebreiteten Schwingen im Wind durch die Luft glitt und dessen Gurren die Stille durchdrang.

Eine unheimliche Stille. Es kam ihr so vor als mieden selbst die Tiere diesen Bereich des Waldes in dessen Herzen sich die Residenz des Diktators befinden sollte.

Immer tiefer bewegte sich Elena in die dunklen Untiefen vor.

Langsam schien ihr Mut zu schwinden. Gab es jenem geheimen Ort überhaupt, von dem die ganze Welt sprach? Tiefe Zweifel gruben sich in ihr Bewusstsein. War sie am Ende gar einer Fata Morgana erlegen?

Doch eine innere Kraft trieb sie weiter voran.

 

Etwa 20 m vor ihr weckte plötzlich etwas metallisch Glänzendes ihre Aufmerksamkeit.

Bald stellte es sich als ein etwa 4 m hoher engmaschiger Gitterzaun heraus.

Frustriert ließ sich Elena auf den Boden niederfallen.

Wie in aller Welt sollte sie dieses Hindernis überwinden. Das würde ihr schon eine gehörige Portion Kraftanstrengung abverlangen

Elena schmiedete einen Plan, das Gatter zu erklimmen, zog Schuhe und Strümpfe aus, um mit den Zehen in die engen Maschen zu gleiten. Dann schickte sie sich an ihre Kletterpartie zu beginnen. Ein kleiner Vogel flatterte an ihr vorüber und stieß an die oberen Maschen. Das hatte einen heftigen Funkenflug zur Folge. Ein verkohltes Stück etwas fiel direkt vor Elenas nackte Füße. Es dauerte einige Augenblick bis sie begriff was hier soeben vor sich gegangen war. Zur schnelleren Erkenntnis trug auch der Blick bei, den sie auf die gelbe Warntafel warf. Hochspannung! Lebensgefahr! Benommen taumelte Elena zu Boden. Ihr wurde auf einmal speiübel und sie erbrach sich am Stamme einer alten Buche.

Anarchaphilia schlief nicht, sie hatte ihr in allerletzter Sekunde in Form des kleinen bedauernswerten Vogels einen Warnhinweis gesandt.

Nur ein winziger Hauch trennte sie vom Tod. Auch sie würde hier halbverkohlt an der Stelle des Lebensretters liegen.

In Elenas Augen glänzten die Tränen der Verzweiflung Ein Stöhnen ohnmächtiger Wut entrang sich ihrer Brust.

Sie war am Leben, aber wie in aller Welt sollte sie diese todbringende Barriere überwinden?

Sie schritt langsamen Schrittes am Gitter entlang. Nichts zu machen. Resigniert ließ sich Elena auf einem alten  Baumstumpf nieder, krickelte mit einem Zweig auf der Erde, während sie ihre Gedanken ordnete 

Der Zaum schloss bündig mit dem Boden ab. Kein Spalt der auch nur einen Käfer hätte passieren lassen.

Erst jetzt bemerkt Elena die zahlreichen verkohlten Tierkadaver auf dem Boden.

Auch ein mächtiger Keiler hatte seinen Versuch das Mordinstrument zu überwinden mit dem Leben bezahlt. Das heißt, eigentlich beabsichtigte er wohl es zu unterwinden. Beim Versuch eine Kuhle zu scharren hatte ihn wohl der tödliche Schlag getroffen.

Das brachte Elena auf eine waghalsige Idee. Genauso musste sie verfahren. Sie zog den schon stinkenden Kadaver zur Seite und begutachtete die kleine Vertiefung im Boden. Hier würde sie weiter graben um sich auf diese Weise Zutritt zu dem verborgenen Reich zu verschaffen.

In ihrem Rucksack fand sie ein Überlebensmesser. Damit müsste es zu schaffen sein. Viel Zeit würde das in Anspruch nehmen, weiterhin hieß übergroße Vorsicht das Gebot der Stunde.

Durch die Erkenntnis gestärkt, sich auf dem richtigen Weg zu befinden, startete Elena ihr Werk.

Es bestand kein Zweifel, dahinter würde sie den geheimen Ort  finden, nachdem sie suchte.

Angstbeladen nährte sie sich  dem Elektrogitter. Eine falsche Bewegung und auch sie würde zu Asche verbrannt. Zum Glück schien die Erde locker, trotzdem erwies sich der gesamte Vorgang  als elende Schinderei.

Schließlich glaubte Elena tief genug vorgedrungen . Mit Hilfe eines alten Stockes schob sie zunächst ihren Rucksack unter dem Gitter durch, es folgen ihre Stiefel.

Wie eine Schlange glitt sie nun selbst flach auf dem Rücken liegend am Boden entlang   Vielleicht gerade mal eine Fingerbreite trennte sie vom sicheren Tod.

Geschafft! Schweißgebadet stellte Elena fest, dass sie tatsächlich auf der anderen Seite angekommen war und noch lebte und stieß einen Schrei der Erleichterung aus.

Nur weg hier! Keinen Augenblick wollte Elena länger im Schatten dieser Mordmaschine verbringen. Nun befand sie sich mit Sicherheit schon im inneren Bezirk des Anwesens, ein Irrtum, wie sich schon bald herausstellen sollte.

Totenstille ringsum. Das einziges Geräusch war das knacken der Zweige unter ihren Füßen.

Nun betrat sie einen dichten dunklen Fichtenwald.

Der Schreck hatte sich wieder etwas gelegt. Doch welche Prüfung würde sie nun erwarten?

Am Fuße eines Abhanges angekommen befand sie sich vor einer etwa 20m breiten Schneise.

Eine glatte Rasenfläche ohne eine auch nur geringe Vertiefung tat sich vor ihr auf.

Elena richtete ihren Blick auf die wärmende Sonne. Unbekümmert begann sie die Schneise zu betreten.

Nach etwa 10 Schritten blieb sie stehen, denn sie bemerkte, wie zu ihrer Rechten in etwa 50 m Entfernung ein kleiner Hase das Feld überquerte. Sie freute sich über dieses kleine Lebewesen, das kurzzeitig ihre Einsamkeit vertrieb und um es nicht zu erschrecken ging sie in die Hocke.

Da vernahm sie die Detonation. Was da eben noch als kleines pelziges Wesen am Boden lief flog nur noch als ein blutiges Bündel durch die Luft.

Die Panik drückte Elena den Magen mit kalter Faust zusammen als in ihr die Erkenntnis zu leuchten begann und sie begriff wo sie sich befand. Landminen! Sie war gerade im Begriff ein Minenfeld zu überqueren. Das kleine Wesen hatte sein Leben gegeben um ihres zu retten. Wieder hatte ihr die Freiheitsgöttin einen lebenswichtigen Warnhinweis zukommen lassen. In äußerster Vorsicht erhob sich Elena vom Boden. Ihr Blick fiel auf ein kleines, kaum sichtbares metallisches Viereck am Boden. Noch ein halber Schritt und es wäre geschehen.

Langsam, ganz langsam setzte sich Elena nun in Bewegung. Tiefe Konzentration ließ die Umwelt in graue Nebelschleier sinken. Ein falscher Schritt und sie musste das Schicksal des kleinen Hasen teilen. Wenn sie auch nicht auf der Stelle tot war, so würde sie verstümmelt und unter qualvollen Schmerzen langsam verbluten. Elena wagte kaum zu atmen, blieb immer wieder lange Phasen wie versteinert stehen. Sie blickte nur auf den Boden und ihre Füße. Ein Zurück gab es nicht mehr, das würde sich als ebenso gefahrvoll erweisen, da sie schon die halbe Strecke zurückgelegt hatte. Aber sie musste weiter! Stehen bleiben? Was dann?

Wann würde hier mal jemand des Weges kommen? Dabei konnte es sich nur um eine Patrouille handeln. Und wenn? Wie sollte sie denen ihre Anwesenheit erklären?

Immer weiter schlich sie sich dem Ende der Schneise entgegen.

Noch zwei Meter, noch ein Meter, geschafft! Sie hielt es kaum für möglich. Die Beine versagten ihren Dienst, ein heftiger Wadenkrampf ließ sie zu Boden stürzen. Als der Schmerz etwas verklungen war, lag sie am Boden und konnte sich kaum rühren, nun bahnten sich die Tränen ihren Weg. Sie weinte, schluchzte, verschaffte dadurch ihrer Seele etwas Linderung

Ihr wurde auf einmal bewusst, dass sie diesen Weg unter Umständen noch einmal in entgegen gesetzter Richtung benutzen musste.

Nein! Nicht um alles in der Welt! Doch welche Alternative bot sich an?

 Und überhaupt! Wofür das alles?

Fragen über Fragen bohrten sich in ihr Hirn.

Würde Neidhardt sie empfangen, wenn sie so einfach vor seiner Türe auftauchte?

War er überhaupt anwesend?

Wenn ja, wie würde das Ergebnis ihres Besuches ausfallen?

Wie sollte sie ihm gegenübertreten? Guten Tag Neidhardt, hier ist Elena. Lass uns einfach in Ruhe über alles reden, wie zwei alte Freunde.

Erst jetzt wurde sie sich der Tatsache bewusst, welcher Schnapsidee sie erlegen war.

Sie massierte ihr schmerzendes Bein. Der Krampf hatte sich gelöst und war einem unangenehmen Muskelkater  gewichen.

Sie griff nach ihrem Rucksack, versuchte aufzutreten. Es ging so recht und schlecht, sie würde noch eine Weile hinken. Frustriert setzte sie ihren Weg fort.

Je weiter Elena in das Waldinnere vorstieß desto unheimlicher wurde es.

Hohe majestätische Tannen begrüßten sie zur Linken. Farne, Brombeerranken und andere niedrige Sträucher bedeckten den Boden überall dort wo das Sonnenlicht das immergrüne Dach der riesigen Tannen zu durchdringen vermochte. Dazwischen war der Waldboden dunkel und mit einer dichten braunen Schicht aus Tannennadeln bedeckt.

Eine alte, vor Zeiten umgestürzte Buche auf der rechten Seite des Waldes bot Elena eine geeignete Stelle um eine Rast einzulegen. Sie war zwar noch nicht sonderlich weit vorangekommen, aber ihr Bein schmerzte noch immer und forderte die Rast.

Elenas Blick streifte ihre Armbanduhr. „Verdammt! Schon nach Mittag!“, fluchte sie leise vor sich hin. Viel Zeit hatte sie vor allem aufgrund der mörderischen Hindernisse eingebüßt.

Sie nutzte die Rast um ihren Hunger zu stillen, packte den Reiseproviant aus und verzehrte diesen. Hier draußen in der klaren frischen Waldluft schmeckte es besonders.

Nachdem sie das Mahl beendet hatte, erhob sie sich und setzte ihren Weg fort. Die Hoffnung noch während des Vormittages bei Neidhardt einzutreffen konnte sie vergessen.

Es würde noch längere Zeit in Anspruch nehmen, denn schon wieder versperrte ein Hindernis ihren Weg.

„Oh nein, nein! Nicht schon wieder!“, schimpfte Elena .

Ein etwa drei Meter breiter Graben, voll mit grünlich schimmerndem Wasser tauchte wie aus dem Nichts vor ihr auf.

Auch dieses Hindernis harrte seiner Überwindung.

Nach einer Alternative brauchte sie gar nicht erst zu suchen, denn die bot sich nicht.

Elena hockte sich an den Rand des Kanals, es war nicht schwer zu erkennen, dass dies ein Werk von Menschenhand geschaffen war.

Verzweiflung nahm von ihr Besitz.

Welche Sicherungsmaßnahmen hatte sich der gefürchtete Machthaber noch ausgedacht, um ungebetene Besucher am Eindringen zu hindern.

Elena schritt am Ufer auf und ab, ständig auf der Suche nach irgendwelchen Hilfsmitteln.

Einen Baum zu fällen um diesen als Brücke zu benutzen stellte zwar die effektivste Möglichkeit dar, doch dazu fehlte Elena das Werkzeug, die Kraft und die Zeit.

Springen? Natürlich musste sie springen. Ihrem durchtrainierten athletischen Körper wäre das unter anderen Umständen problemlos gelungen. Doch in ihrer linken Wade hämmerte noch immer ein leichter Schmerz, des weiteren war sie aufgrund der Anstrengungen des Tages  abgespannt. Sie hatte nicht die geringste Ahnung welche Gefahren sich unter der Wasseroberfläche auftaten. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt.

Zunächst wollte sie die Tiefe prüfen, fand einen alten morschen Ast und tauchte diesen in die undefinierbare Flut. Doch kaum hatte sie das Holz in das Wasser getaucht, da wurde es auch schon mit einem Ruck nach unten gezogen. Vor Schreck wäre Elena bald hinterher gegangen. Angst bemächtigte sich ihrer aufs Neue. Dort unten war etwas. Irgendeine Gefahr lauerte in der Tiefe.

Sie hatte es bis hierher geschafft, resignieren kam nicht in Frage.

Es gab nur eine Möglichkeit und die hieß: Zähne zusammenbeißen, konzentrieren, springen.

Einen langen Anlauf würde sie benötigen, zum Glück gestattete dass der lichte Baumbestand.

Eine Weile wollte sie noch ausruhen, massierte dabei geübt ihre linke Wade.

Dann war es soweit.

Sie zog die Kleidung fest an sich, dabei stellte sie fest, dass zwei Knöpfe an der Jacke fehlten, offensichtlich waren die ihr bei der waghalsigen Aktion am Elektrozaun verloren gegangen.

Dann zurrte sie den Rucksack fest und brachte sich in Positur.

Tief durchatmen, konzentrieren , Anlauf nehmen , noch immer schmerzte das Bein. Am Graben angelangt verweigerte es vollständig den Dienst. Gerade noch rechtzeitig kam Elena zum Stehen, ließ sich zur Seite fallen. Vor Wut hämmerte sie mit der Faust auf den Boden ein.

Sie setzte sich auf, die Tränen die ihr über die Wangen liefen, waren Tränen der Erschöpfung und Verzweiflung.

Noch einmal kurz ausruhen, dann sollte ein zweiter Versuch folgen. Schnell setzte sie das Vorhaben in die Tat um, denn je länger sie zögerte, desto unsicherer schien sie zu werden.

Doch es half nichts, auch dieser Versuch scheitere.

Aller guten Dinge sind drei, jetzt oder nie, feuerte sie sich an. Tatsächlich gelang ihr den Körper mit einem Schwung in die Luft zu katapultieren und sie erreicht das andere Ufer.

Verlor jedoch den Halt, rutschte die Böschung hinunter und landete mit den Füßen im Wasser. Wie eine Besessene griff sie nach dem spärlichen Hangbewuchs und zog sich nach oben, gerade noch rechtzeitig bevor der riesige Rachen, der urplötzlich aus dem Wasser aufragte zuschnappen konnte.  Elena konnte sich nicht erinnern jemals zuvor in ihrem Leben eine solche Bestie gesehen zu haben. Ein Wesen halb Schlange, halb Fisch. Es hatte Flossen, konnte ihr also nicht an Land folgen, das rettete ihr das Leben. Am ganzen Körper zitternd kletterte Elena in Windeseile weiter nach oben.

Der Überraschungseffekt war gelungen. Ein guter Schwimmer konnte ein solch schmales Gewässer in zwei bis drei Zügen durchschwimmen. Doch die tödliche Gefahr würde demjenigen der es tatsächlich versuchte eine böse Überraschung bereiten. An den Füßen spürte Elena ein unangenehm glitschiges Gefühl, Wasser war eingedrungen, doch was bedeutete das im Angesicht der tödlichen Gefahr, der sie gerade entronnen.

„Weiter!“ trieb sie sich an, denn zu viel Zeit hatte sie schon verloren. Ihr Tatendrang schien, trotz der Erschöpfung ungebrochen.

Sie durchquerte zunächst eine Schonung mit neu aufgeforsteten Fichten. Eine weitere Absperrungen lies sich nicht entdecken.

 

Bald erreichte sie wieder einen Laubwald. Der Wind fuhr rauschend durch die Blätter.

Und wieder legte sich eine unnatürliche Stille über die Landschaft.

Elena folge schließlich einem ausgetretenen Pfad. Hier schienen sich zumindest hin und wieder Menschen zu bewegen. Kein Gestrüpp mehr. Das Laufen erschien ihr nach all den Unwegsamkeiten schon fast wie ein Genuss.

Gedankenverloren schritt sie auf eine Lichtung zu. Neugierig nahm sie diese in Augenschein und blickte auf einen etwa drei Meter hohen Zaun.

„Mir bleibt auch gar nichts erspart“ schimpfte sie, als sie seiner ansichtig wurde.

Voller Wut trat sie mit dem Fuß gegen das Gitter um sogleich angsterfüllt zurück zu schrecken.

Wie unvorsichtig! Doch es geschah nichts. Erleichtert atmete Elena auf. Keine Hochspannung, ein ganz normaler Maschendrahtzaun. Als sie ihren Blick nach oben richtete

konnte sie aber eine andere hundsgemeine Abwehr entdecken. Vier Bahnen weit nach außen gerichteter Stacheldraht waren am oberen Ende befestigt. Etwa drei Zentimeter lange spitze Stacheln würden eine Überwindung dieses Zaunes nur unter äußerster Gefahr ermöglichen.

In der Hoffnung, einen Blick auf die andere Seite zu erhaschen, schritt Elena die Frontseite ab, doch eine dichte Ligusterhecke versperrte jeden Durchblick. Diese schien allerdings akkurat geschnitten. Dahinter könnte sich also durchaus ein von Menschenhand kultivierter Garten befinden. Hatte sie ihr Ziel erreicht? Es konnte nicht anders sein!

In diesem Waldstück gab es keine andere Besiedlung als das gesuchte Anwesen. Welches Geheimnis barg es? Ein Palast von ungeahnten Dimensionen, wie von vielen vermutet? Was ging in seinem Inneren vor? Bediente sich Neidhardt, wirklich , wie behauptet okkulter Praktiken?

Elena mochte solchen Gerüchten keinen rechten Glauben schenken. Das schien ganz und gar nicht zu jenem Manne und seiner logisch-rationalen Weltsicht zu passen.

Gemächlichen Schrittes schlenderte Elena am Zaun entlang, als sie auf eine etwas wundersame Erscheinung traf.

Eine uralte verkrüppelte Eiche ragte so nah an dem Metallgatter aus der Erde, das sie schon begann die dichten Maschen ins Innere zu drücken. Der Baum war zudem so knorrig und verwachsen, dass Elena sich die Frage stellte, ob sich hier vielleicht ein Holzschnitzer versucht hatte.

Als sie ihren Blick nach oben richtete wurde sie von Freude erfüllt.

Was sie erblickte kam einer Einladung gleich.

Ein Ast am unteren Ende hatte sich so kunstgerecht gebogen, das er eine sichere Brücke über den Stacheldraht bildete.

Da gaben sich die Leute solche Mühe mörderische Sicherheitsanlagen von ungeahnten Dimensionen zu installieren und übersahen am Ende solche Kleinigkeiten. Ein Übersteigen würde einem im Klettern begabten Menschen wie Elena nicht allzuviel Mühe abverlangen.

Wieder hatte ihr Anarchaphilia eine sichere Passage zugeführt.

Elena nahm das eigenartige Gewächs noch einmal von allen Seiten in Augenschein, spuckte in die Hände und begann nach oben zu klettern.

Dort angelangt erhaschte sie einen ersten Blick in die ominöse Umfriedung. Elena traute ihren Augen kaum. Sie erblickte eine gepflegte Obstplantage, Apfel- und Kirschbäume vor allem, umgeben von professionell gestutzten Hecken verschiedenster Art.

Kurzgemähter Rasen, der inzwischen die Farbe des Herbstes angenommen hatte. Ihr Blick fiel auf einen aus Naturstein gemauerten Teich, der sich akkurat in das rustikale Ambiente fügte.

Wie ein Handtuch erstreckte sich der Obstgarten nach hinten. Elena schätzte seine Größe auf etwa zwei bis drei Hektar.

Das Königreich eines abenteuerlichen Geistes.

Zweifelsohne hatte sich hier eine erfahrene Meisterhand erprobt.

Elena war wie betäubt vor Überraschung. Sie stellte sich vor, wie es hier erst im Frühling aussah, wenn sich diese Bäume mit ihrer märchenhaften Blütenpracht schmückten.

Unwillkürlich musste sie an die Geschichten über das sagenhafte Avalon denken wovon ihr alter Freund und Lehrer Kovacs so oft gesprochen hatte.

In diese lichte Schönheit tauchte sie ihren Blick, konnte sich gar nicht satt genug daran sehen und 

verharrte in ergriffenem Schweigen.

Neidhardt beschäftigte sicherlich ein dutzend Gärtner um diese Pracht zu erhalten.

Eher beiläufig nahm sie die Gestalt war, die sich an einem der Bäume im vorderen Bereich zu schaffen machte. Instinktiv nahm sie Deckung.

Der großgewachsene Mann war gerade im Begriff den Baum mittels Säge und Kneifzange von seinen Wasserruten zu befreien. Ein notwendiger Vorgang um sicher zu stellen, dass auch im darauf folgenden Jahr eine sichere Ernte eingefahren werden konnte.

Einer der Gärtner vermutlich, ging es Elena durch den Kopf.

Die Arbeit nahm ihn derart in Anspruch das er die Aufmerksamkeit die ihm zuteil wurde gar nicht wahr zu nehmen schien. 

Nach einer Weile setzte er seine lederne Schildmütze ab und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

Die stahlgrauen kurz geschorenen Haare, die dicke schwarze Hornbrille, es war unverkennbar.

Elena zuckte vor Schreck zusammen als sie sein Gesicht erkannte.

Mit allem hatte sie gerechnet, nur damit nicht.

Nach einer Weile hatte sie ihre Fassung wieder erlangt. Der Anblick beruhigte und fesselte sie zugleich.

Der furchterregende Diktator, vor dem das ganze Land zitterte, dessen bloßes Erscheinen Angst und Schrecken auslöste, dessen Geheimpolizei erbarmungslos Jagt auf Andersdenkende machte, stand hier und beschnitt in aller Seelenruhe Obstbäume. Zwei Seiten einer Medaille die sich im diametralen Gegensatz zueinander befanden.

Nach einer Weile kletterte er hinunter, klappte die Leiter zusammen und lehnte diese an einen der Nachbarbäume. Danach begab er sich zu einer alten verwitterten Holzbank und ließ sich darauf nieder.

Offenbar war es Zeit für eine Rast.

Er war einfach,  fast ärmlich gekleidet. Trug einen einteiligen blauen Overall, der in der Mitte von einem schwarzen Ledergürtel zusammen gerafft wurde, schwarze Gummistiefel und eine oliv-grüne gefütterte Arbeitsweste aus Grobcord.

Aus einem Beutel holte er eine Thermoskanne heraus und genehmigte sich einen ordentlichen Schluck. Das erinnerte Elena daran, dass sie ebenfalls Durst litt und einen Schluck vertragen konnte. Im Anschluss daran kramte er  Tabakbeutel und Pfeife hervor, zündete diese an und genoss die Züge, lehnte sich dabei zurück, streckte seine langen  Beine aus und starrte den am Himmel dahin ziehenden Wolken nach.

In diesem Augenblick senkte sich tiefer Frieden über dem Ort, Elena empfand in diesem Moment weder Zorn noch Angst.

Plötzlich bemerkte sie ein verräterisches Knacken. Der Ast auf dem sie sich befand schien langsam aber sicher unter ihrem Gewicht nachzugeben. Offensichtlich hatte sie dessen Stärke weit überschätzt. Er würde bersten, daran gab es keinen Zweifel.

Wollte sie nicht im Stacheldraht landen, gab es nur eine Möglichkeit, springen!

Gerade noch rechtzeitig setzte Elena zum Sprung an, während der morsche Ast mit lautem Gepolter auf den Maschendrahtzaun niederging.

Obwohl sie versuchte sich geschickt abzurollen, landete Elena äußerst unsanft auf ihrem Allerwertesten, purzelte im Anschluss direkt vor Neidhardts Füße.

„Autsch, verdammt!“ klagte Elena, während Neidhardt, unsanft aus seinem Tagtraum gerissen, bedrohlich mit gezogener Pistole vor ihr Stellung bezog.

Beim Anblick des zwei Meter großen Hünen durchfuhr Elena ein heftiger Schreck.

„Aufstehen Junge, auf der Stelle und die Hände nach oben!“ brüllte der Aufgeschreckte mit finsterer Miene. Sein tiefer Bass ließ selbst das Vogelgezwitscher verstummen.

„Sag wer du bist? Was willst du hier? Sprich, verdammt noch mal, bevor ich dich ins Jenseits befördere.“

„Schon gut, schon gut, Neidhardt! Es ist nichts geschehen. Du kannst deine Waffe getrost wieder einstecken!“ erwiderte Elena, während sie sich aufrichtete.

Sie riss ihre Mütze vom Kopf und schüttelte mit sinnlicher Geste ihre Lockenpracht nach hinten aus.

„Elena? Wie…was in aller Welt tust du hier? Wie…wie bist du hier reingekommen?“ stammelte der völlig Überraschte.

„Na, über den Gartenzaun! Leider war die alte Eiche nicht halb so stark, wie ich vermutete.

Ich hätte mit Sicherheit auch eine sanftere Art des Einstieges vorgezogen.

Autsch, mein armer Hintern, ich werde mich morgen an einigen Stellen sicher grün und blau verfärben.“

Er musterte sie mit einem Blick, der Argwohn und Belustigung zugleich ausdrücken konnte.

„Wer ist noch bei dir? Sprich! Wo haben sich die anderen versteckt?“, wollte Neidhardt wissen, während er nervös nach allen Seiten Ausschau hielt, dabei mit der Pistole in der Luft herumfuchtelnd.

„Du willst mir doch nicht einreden, dass du alleine unterwegs warst.“

„Aber ich bin allein! Es gibt keine anderen! Kannste glauben. Jetzt steck doch endlich die Pistole weg, das macht mich ganz nervös. Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir.

Mein Gott, ist das schwierig auf dein Gelände vorzudringen.“

Elenas kecke und unkonventionelle Art irritierte ihn. Niemand außer ihr würde wagen, so mit ihm zu sprechen.

„Also gut, meinetwegen!“ Neidhardt schob die Waffe in seine Westentasche. „Aber jetzt sprich! Wie ist es dir gelungen in das Gelände einzudringen? Du willst mir doch nicht allen Ernstes erzählen, du seist geradewegs durch die Sperranlagen gestampft.“

„Natürlich bin ich das“ erwiderte Elena, während sie Hemd und Hose vom Dreck des Tages säuberte.

„Ohne diese idiotischen Sperranlagen wäre ich wahrscheinlich schon vor Stunden hier angekommen. Ständig wurde ich aufgehalten. Sag, findest du es richtig, diesen schönen Wald, diese wunderschöne unberührte Natur durch diese grässlichen, mörderischen Geräte zu verunstalten?“

Neidhardt schien wie betäubt vor Überraschung.

„Komm, immer schön auf dem Teppich bleiben. Du glaubst wohl dass ich mir die Hose mit einer Kneifzange anziehe? Nein. Das gelingt niemanden!“

Noch während er sprach keimten Zweifel an seinen eigenen Worten in ihm auf.

Es gelingt niemanden, es sei denn? Elena würde es gelingen.

„Jetzt sag die Wahrheit! Du bist…. ! Du hast es tatsächlich getan! Wie…wie in aller Welt kannst du so unvorsichtig sein? Läuft einfach durch die Sicherungsanlagen. Einfach so! Und was wäre, wenn es dich erwischt hätte?“

„Dann hättest du mich auf dem Gewissen!“

Plötzlich wirkte Elena todernst.

„Ja glaubst du, ich lasse diese Sicherungsmaßnahmen zum Spaß installieren. Die sind entstanden, um mich vor Eindringlingen zu schützen. Es gibt bedeutend sichere Methoden zu mir vorzudringen. Warum hast du dich nicht angemeldet, ganz offiziell, so wie das jeder zivilisierte Mensch tun würde?“ polterte Neidhardt weiter.

„Das dürfte auf mich kaum zutreffen. Ich bin kein zivilisierter Mensch. Wie hast du dich doch gleich früher über mich ausgelassen. Ich sei eine Kultur- und Niveaulose Schlampe.

Konterrevolutionäres Flittchen. Volksverführerin, Sexmonster… “

„Versuch doch wenigstens, dem Gespräch eine ernste Note zu geben und nicht alles zu verballhornen!“ unterbrach Neidhardt.

„Entschuldige! Aber das waren deine ureigenen Worte, so hast du mich vor Zeiten betitelt. Oder willst du das leugnen?“

„Ich leugne gar nichts! Vor Zeiten, ja. Aber habe ich dich und deinen Leute in letzter Zeit nicht in Ruhe gelassen? Macht doch, was ihr wollt! Ich habe es aufgegeben, dich zur Vernunft zu bringen. Vergebliche Liebesmühe! Du änderst dich ja doch nicht mehr!

Da muss ich den kunterbunten Fleck auf der Reinheit des neuen Staates akzeptieren.“

gab der Diktator resignierend zu verstehen.

„Vergebliche Liebes Mühe? Wie hohl dieser Begriff aus deinem Munde klingt.“ wunderte sich Elena. „Fang doch endlich einmal damit an. Was heißt es denn für dich, zu lieben?“

„Schluss jetzt!“ befahl Neidhardt. „Was soll der Unsinn? Kommen wir doch wieder zum Thema zurück. Also, warum hast du dich nicht ordnungsgemäß angemeldet?“

„Was glaubst du, was ich gestern x-mal versucht habe? Deine Bürokraten sind leider stur wie die Panzer. Tut mir leid! Der Genossen Generalsekretär ist nicht zu sprechen in seinem Gartenhaus: Ausnahmen gibt es nicht. Was sollte ich also tun? Ansonsten ist es auch nicht meine Art andere auf so eindringliche Weise zu überfallen.“

„Und die haben ganz richtig gehandelt. Ich möchte hier meine Ruhe haben. Oder sprichst du mir ein Recht auf eine Privatsphäre ab? Ich spreche ja auch nicht von diesem Gartenhaus. Warum suchst du mich nicht in meinem Büro auf, so, wie das Bittsteller im allgemeinen zu tun pflegen?“

Jetzt wurde Elena doch noch energisch.

„Das könnte dir so passen! Du hast mich offensichtlich missverstanden. Ich komme nicht als Bittstellerin. Das habe ich nicht nötig!“

Die Unmittelbarkeit ihrer Antwort überraschte ihn. Elena sah ihn mit entwaffneter Ehrlichkeit an.

„Selbstverständlich! Wie konnte ich vergessen? Für die große Elena gelten Sonderkonditionen. Die schert sich einen Dreck um Gesetze und Bestimmungen“ entgegnete Neidhardt barsch. „Du magst den alten Cornelius um den Finger wickeln, aber bei mir wirst du damit keinen Erfolg haben! Schreib dir das hinter die Ohren!“

Elenas Stimme wurde sanfter. Mit Zank und Streit kam man bei diesem Mann nicht weit.

„Ich wollte einfach mit dir reden! Ist das so schlimm? Ich war so angenehm überrascht über den positiven Ausgang unseres öffentlichen Disputes im TV, dass ich zu der Einsicht gelangte, es müsse auf irgend eine Art zu einer Fortsetzung kommen.

Verzeih mir, wenn ich so ohne jegliche Anmeldung in dein Paradies eindringe. Natürlich hast auch du ein Recht auf eine Intimsphäre. Ich respektiere das. Gut, dann will ich dich nicht länger belästigen.“ Elena griff nach ihrem Rucksack und machte Anstalten zu gehen.

„Was soll das? Wo willst du hin?“

„Ich verlasse dich jetzt! Kannst du mir deine Leiter zur Verfügung stellen, damit ich den Zaun übersteigen kann?“

„Lass den Unsinn Elena! Du brauchst keine Leiter um den Zaun zu übersteigen. Dieses Gelände hat ganz nebenbei auch einen normalen Eingang. Du brauchst nicht zu gehen. Wenn du schon einmal hier bist, meinetwegen. Wir können gern reden, wenn du möchtest.“

Elena wurde von einer Woge der Erleichterung erfasst. Sie hatte ihn tatsächlich umgestimmt.

Plötzlich klang auch seine Stimme viel freundlicher.

„Ich danke dir Neidhardt!“

„Gern geschehen!  Aber  ich habe noch zu tun. Du bringst meinen Tagesplan etwas durcheinander. Für heute hatte ich mir das ausschneiden der Bäume  zum Ziel gesetzt. Gut, dann muss ich das verschieben, auch wenn mir das sehr ungelegen kommt.“

„Wenn du magst kann ich dir gern zur Hand gehen. Ich kenne mich aus  in Garten- Angelegenheiten, wir haben zu Hause viele schöne, große Gärten auf dem Klostergelände. Aber ich muss gestehen, dass der deine bei weitem alles übertrifft was ich zu sehen bekam.“ Bot sich Elena unbekümmert an.

„Ich kann kaum erwarten, dass du für mich als Gärtnerin tätig wirst. Nein, du bist sicher müde. Das brauchst du nicht zu tun.“ lehnte Neidhardt zunächst den Vorschlag ab.

Doch Elena ließ nicht locker.

„Ach, was! Das geht schon in Ordnung. Keine Ursache! Solche Arbeiten machen mir Spaß. Ich bin zwar etwas müde, das stimmt. Aber ich fühle mich andererseits auch gerade nach einem solchen Tag in guter  Form. Also was ist zu tun? Wo fangen wir an?

Neidhardt wirkte nervös. Die Anwesenheit der jungen, bildhübschen Frau beunruhigte und fesselte ihn gleichermaßen. Ihre sympathische Ausstrahlung, ihre kesse Art die Dinge beim Namen zu nennen, empfand er als wohltuend. Sie besaß einfach die Gabe mit einer Frage ins Herz der Sache vorzudringen. Einen solchen Menschen durfte er seit Jahren nicht mehr in seiner Nähe spüren. Deshalb gab er ihrem Ansinnen nach.

„Also gut! Überredet! Wenn du unbedingt willst!“

„Toll! Also wo fangen wir an?“ 

 

„Ich muss noch einige Wasserruten entfernen. Eine nicht ganz einfache Angelegenheit. Denn all jene, die sich in der Höhe befinden sind für mich ausgesprochen schlecht erreichbar. Mein Gewicht lässt ein nach oben klettern nicht zu. Aber gerade die obersten müssten dringend entfernt werden.“ Klärte Neidhardt auf.

„Weise gesprochen, die obersten gehören immer abgesägt,“ neckte ihn Elena.

„Lass mich ran! Das mache ich gern!“

Kaum hatte Elena ausgesprochen, schwang sie auch schon ihren sportlichen Körper in die Baumkrone.

„Hol mir doch gleich Säge und Kneifzange.“ ordnete Elena an und der Diktator tat wie ihm geheißen.

So begannen sie ihr Werk. Elena beschnitt die Zweige, während Neidhardt den Baumschnitt

zusammen harkte und kunstgerecht an der Seite aufschichtete. Am Rande ihrer Arbeit entwickelte sich auch immer wieder das Gespräch.

„Und ? Wie geht es weiter Elena? Willst du mir nicht langsam an vertrauen, warum du tatsächlich bei mir erschienen bist. Doch wohl kaum, um mir meine Bäume zu schneiden?

Irgendwas bewegt dich in deinem Herzen!“

Die Worte klangen sanft und freundlich.

Elena versuchte eine Brücke zu schlagen.

„Darauf komme ich noch zu sprechen. Zunächst würde mich interessieren, ob du diese Gartenarbeit ganz alleine tust. Du sprachst jedenfalls nicht von Helfern. Des weiteren hätte es auch kaum meiner Hilfe bedurft, wenn du die anderweitig beschaffen könntest.“

„Man tut was man kann,“ erwiderte Neidhardt während er schwungvoll den Harken durch den Rasen gleiten ließ.

„Hand aufs Herz. Ich habe den Garten mit allem was dazu gehört allein kultiviert.

Sicher, hin und wieder ist mir eine hilfreiche Hand willkommen, oder auch mehrere. Aber im Grunde suche ich hier vor allem Ruhe. Außerdem macht mir die Arbeit Spaß. Das ist schon alles. Ich fühle mich der Natur verbunden. Hier spüre ich Freiheit, wenn du willst sogar etwas wie Geborgenheit.“

Melancholaniens Herrscher schien eingehüllt in eine tiefe Zufriedenheit, während er die Worte sprach.

„Einsamkeit bedeutet auch ein gewisses Maß an Unabhängigkeit,“ fuhr er fort.“ Das war immer schon mein Wunsch ,doch blieb er mir all die Jahre verwehrt. Einsamkeit ist kalt, aber sie ist auch still. Wunderbar still und groß wie der Raum an dem die Sterne prangen.“

Ein Lächeln überzog Elenas Gesicht, während sie seinen Worten lauschte.

„Neidhardt, eigentlich müssten wir uns glänzend verstehen. Deine Naturverbundenheit, deine Freiheitsliebe, deine Freude an einfacher Arbeit, ich teile sie vorbehaltlos Das ist der Grund warum ich hierher kam. Lass uns die Barrieren nieder reißen die uns so lange von einander trennten  Einen ersten Schritt konnten wir bei unserem Fernsehduell einleiten, lassen wir weitere folgen.“

Tief atmete Neidhardt den Wind ein, der die Erde liebkoste. Sein ernster Blick

löste sich in einem verhaltenen Lächeln auf.

„Von mir aus immer. Du hast Recht. In unmittelbarer Nähe finde ich dich bedeutend weniger unsympathisch als aus der Ferne betrachtet.  Ich wiederhole es noch einmal. Ich habe dir versichert dass ich eurer Föderation freie Hand lasse. Ihr habt keine Repressalien mehr zu befürchten. Daran wird sich nichts ändern. Auch wenn ich Cornelius als Staatsoberhaupt ablöse gilt mein Versprechen weiter. Du kannst dich darauf verlassen.“

„Dafür danke ich dir. Aber ich meine, gibt es nicht noch mehr?  Könnte sich aus der Toleranz nicht Akzeptanz entwickeln und in nicht allzu ferner Zukunft sogar etwas wie Zusammenarbeit, eine Konföderation der beiden Staaten, gar eine Wiedervereinigung?“ wagte sich Elena schon bedrohlich weiter.

„Ich kann mir nicht recht vorstellen unter welchen Bedingungen das von statten gehen sollte!

Zu unterschiedlich sind unsere Lebensentwürfe. Lass es so, wie es ist. Mehr habe ich im Augenblick nicht zu bieten.“

Sein Entgegenkommen schien aber trotz allem nicht gestoppt. Besser als gar nichts, gestand sich Elena ein. Das Eis schien gebrochen, sie kamen sich näher. Im Moment schien das am wichtigsten. Alles Weitere würde sich ergeben. Elena beschloss am Ball zu bleiben.

„So, nun lass es gut sein. Die Bäume sehen fabelhaft aus. Danke dir, das hätte ich keineswegs besser gemacht. Komm runter!“ forderte er Elena auf. „Es wird  bald dunkel, man sieht ja kaum noch was. Außerdem haben wir uns ein Abendessen verdient.“

Elena gehorchte, setzte zum Sprung an und landete in seinen Armen.

Ihre Blicke kreuzten sich und Elena stellte sich die Frage wie weit sie heute wohl noch gehen durfte. Offenbar hatte sie sein Vertrauen gewonnen. Oder gab es da noch mehr? Etwas Tieferes in seiner Seele, das dort vor sich hin schlummerte, stets darauf hoffend, an die Oberfläche zu steigen?

„Bevor wir essen zeige ich dir noch ein wenig das Grundstück, das Haus mit allem was dazu gehört. Und du musst ja auch wissen, wo du heute Nacht schlafen kannst.“ Lud  Neidhardt ein.

Hoppla, was war das? Bei ihm übernachten? In Anbetracht der weit fortgeschrittenen Zeit war sie durchaus geneigt, sein Angebot anzunehmen und folgte willig.

Sie schritten durch die gepflegten Wiesen mit den  Obstbäumen. Direkt daneben ein Steingarten , auf dessen Oberfläche die letzten Herbstblumen in verschwenderischer Fülle blühten.

Daran schlossen sich allerlei Beete an, natürlich längst abgeerntet. Elena erfuhr das Neidhardt hier Tomaten, Bohnen, Erdbeeren und noch vieles mehr anbaute.

Schließlich erreichten sie eine kunstvoll veredelte Hecke deren Ranken sich noch mit den Blüten von Kletterrosen schmückten

 

„Ich hoffe, die Rosen werden noch eine Weile halten, bevor sie dem Herbst zum Opfer fallen.“ meinte Neidhardt etwas niedergeschlagen.

Elena deutete dies als Anzeichen, dass er sich vor der unmittelbar bevorstehenden kalten und dunklen Jahreszeit fürchtete.

Schließlich stoppten sie an einem Gartenhaus an dessen grauer Natursteinwand sich der Efeu unregelmäßig nach oben schlängelte. Es strahlte eine einladende Gemütlichkeit aus.

Da stand es also, das geheimnisumwitterte Landhaus des Diktators. Hier sollten okkulte Praktiken stattfinden?

Nicht eines der sich im Umlauf befindlichen Gerüchte deckten sich mit der Wirklichkeit.

Einfachheit, Bescheidenheit, Behaglichkeit, das waren wohl besser geeignete Metaphern um das Anwesen zu umschreiben.

„Komm lass uns das Haus  durch den Keller betreten!  Da können wir uns auch gleich mit einem Vorrat an Wein für heute Abend eindecken,“ bedeutete ihr Neidhardt.

In ergriffenes Schweigen folgte Elena

Neidhardt öffnete eine durch die herbstliche Feuchtigkeit leicht verquollene Kellertür. Eine steile Steintreppe führe in ein Gewölbe.

Hier lagerte in Holzstiegen, der erst kürzlich geerntete Vorrat an golden glänzenden Äpfeln.

„Das sind meine besten Gravensteiner! Möchtest du einen probieren, als Appetitanreger?“

Neidhardt hielt Elena eine besonders pralle Frucht entgegen.

Elena griff zu, säuberte den Apfel an ihrem Hemd und bis hinein.

„Hmm, schmeckt ausgezeichnet,“ sprach sie mit vollem Mund. “Du bist wirklich ein Meistergärtner. Meine Äpfel sind lange nicht so gut.“

„Man tut, was man kann.“ Erwiderte der und schickte sich an, eine weitere Tür zu öffnen.

Dahinter befand sich ein schmaler, länglicher Raum zur Rechten und Linken mit Regalen gefüllt in deren Nischen Unmengen von Flaschen lagerten. In der Mitte standen dickbauchige Weinballons deren Gärröhrchen fröhlich vor sich hin glucksten.

„Den Apfelwein habe ich gerade erst angesetzt, der erreicht ein ganz besonderes Aroma, wenn es soweit ist. Wir genehmigen uns heute einen besonderen Weißwein zur Feier des Tages. Was bevorzugst du? Lieblich oder Trocken?

Neidhardts Stimme riss Elena aus ihrem Tagtraum.

„Wie? Ach…äh, lieblich ist mir am liebsten!“ Verlegen schmunzelte Elena über ihren Ausspruch.

„Lieblich ist am Liebsten! Klingt gut!“

Elena kam aus dem Staunen nicht heraus.

„Sag nur, den Wein baust du auch noch eigenhändig an?“

„Ja und nein! Eigenhändig nicht. Hier gedeihen die Reben nicht. Die Hänge befinden sich im Norden des Landes. Besseres Anbaugebiet.“

Er zog eine graue, etwas staubige Flasche aus der Mitte des linken Regals und betrachtete diese mit Wohlwollen.

"Genau, der muss es sein! Ausgezeichneter Jahrgang. Komm jetzt! Lass uns nach oben gehen.

Über eine alte knarrende Holztreppe gelangten sie nach oben und fanden sich bald darauf in einem Flur wieder. Aufmerksam musterte Elena die Umgebung.

Der anthrazitfarbene unverputzte Naturstein erweckte im ersten Moment den Eindruck zu einer unterirdischen Grotte zu gehören. Die rustikale Atmosphäre wirkte gemütlich und beruhigend. Neidhardt konnte einen außergewöhnlichen Geschmack sein eigen nennen.

Das kleine äußerst verwinkelte Haus schien auf ein beachtliches Alter zurück zu blicken.

Elena begann die einzelnen Räume genauer in Augenschein zu nehmen.

Der größte Raum entpuppte sich als Wohnzimmer. Das Mobiliar bestand allesamt aus antiken Stücken. Keinesfalls wirkten sie altbacken, fügten sich geschmackvoll in das Ambiente.

Ein alter gusseiserner Maschinenofen wummerte in gleichmäßigem Trott vor sich hin und strahlte wohlige Wärme aus.

Der rechte Augenblick für Elena sich ihrer kalten Füße bewusst zu werden. Sie zog kurzerhand Stiefel und Strümpfe aus und ließ sich auf den mit Schaffellen bedeckten Boden nieder. Dann streckte sie ihre nackten Füße der Wärme entgegen und  wackelte vergnüglich mit den Zehen.

„Ich muss Füße und Schuhe trocknen. Beim überspringen des Schutzgrabens bin ich kurz in das Wasser getreten. Du solltest darüber nachdenken ein paar Brücken installieren zu lassen. Das wäre sehr hilfreich.“ Konterte Elena geschickt.

„Nun, wenn ich Brücken darüber errichten lasse, verliert der Graben ja seine Bedeutung als Schutzwall vor ungebetene Gäste. Anwesende selbstverständlich ausgenommen.“ Fügte Neidhardt rasch hinzu, nachdem er sich langsam und bedächtig auf einem alten ausladenden Sessel gleiten ließ, der zu einer Sitzgarnitur gehörte, die sich um einen schweren Eichenholztisch gruppierte.

„Du willst damit also andeuten, dass du den Graben übersprungen hast. Aber der ist doch  mindestens drei Meter breit. Dann musst du über eine ausgezeichnete Kondition verfügen.“ Lobte der Diktator anerkennend.

„Ich bin Mitte Dreißig, da sollte das noch möglich sein. Aber trotzdem bin ich von der Wanderschaft ganz schön geschafft. Ich denke, ich werde diese Nacht wie ein Stein schlafen.“

„Und hungrig bist du mit Sicherheit. Beinahe hatte ich das wichtigste vergessen. Ich werde mich um unser Abendessen kümmern. Vorher sollten wir uns ansehen, wo du heute Nacht dein Lager aufschlagen kannst.“ Erinnerte sich Neidhardt.

„Können wir machen!“, sprach Elena und erhob sich:

Neidhardt warf ihr einen besorgten Blick zu.

„Frierst du nicht an die Füße? Willst du barfuß durchs Haus laufen?“

„Keine Sorge, ich liebe es mich barfuß zu bewegen.“ Beruhigte ihn Elena.

„Ich erinnere mich gut. Sogar in der Öffentlichkeit, wie ich erst kürzlich feststellen konnte.“ Antwortete Neidhardt mit einem Lachen.

„Gern biete ich dir auch ein paar von meinen Pantoffeln an. Aber ich schätze deine Füße könntest du darin einwickeln.“

Neidhardt öffnete eine Tür und Elena erblickte ein kleines, mit allem notwendigen ausgestattetes Gästezimmer.

„Bad und Toilette befinden sich gegenüber. Richte dich erst mal ein! Dann kannst du ins Wohnzimmer gehen, ich werde derweil das Abendessen bereiten.“ Erläuterte Neidhardt in abgehackten Befehlston.

Elena verstaute ihren Rucksack. Einer Eingebung folgend hatte sie dort alles, was sie für eine Übernachtung benötigte verstaut.

Neidhardts Protesten zum Trotz ließ es sich Elena nicht nehmen, diesen bei der Zubereitung des Mahles zur Hand zu gehen.

Die kleine enge Küche, zwei Stufen unterhalb des Wohnzimmers, schien aus allen Nähten zu platzen. Es duftete nach allerlei Gewürzen,  Elena fühlte sich außerstande, diese auf die Schnelle einzuordnen, obgleich sie in Kräuterkunde sehr bewandert war.

Die rustikalen Holzregale waren übervoll mit allen möglichen Dosen, Schachteln, Flaschen und was sie sonst noch erspähen konnte. Ein Hauch von Kraut und Rüben. Diese Unordnung kontrastierte zu dem ansonsten pedantisch aufgeräumten Haus.

Küchenarbeit zählte nicht so sehr zu Elenas Pflichten. Zuhause konnte sie das mit gutem Gewissen Madleen überlassen, die ein ausgesprochenes Talent darin ihr Eigen nannte.

Trotzdem meistere sie hier ihre Sache mit der nötigen Routine.

Schnell waren die Brote belegt, ein paar Eier gebraten und es konnte im Wohnzimmer auf getafelt werden. Neidhardt öffnete die Flasche mit dem besonders lieblichen Weißwein und goss zwei Gläser  damit voll.

„Zum Wohl Elena!  Auf den Abschluss eines außergewöhnlichen Tages.“ Prostete er ihr zu.

Dann nahmen beide einen kräftigen Schluck und begannen ihr Abendessen zu genießen.

Nach den Anstrengungen und Torturen des Tages verspüre Elena einen besonders großen Appetit.

Noch immer hegte sie Zweifel, ob sie jener Szenerie tatsächlich beiwohnte oder ob sie sich statt dessen in einem Traumbild aus einer anderen Wirklichkeit befand.

Hier saß sie am Tisch mit einem Mann von dem sie jahrelang mit unnachgiebiger Härte bekämpft wurde, der, nachdem sie sich geweigert hatte seine Regierung zu unterstützen

alles in Bewegung setzte um sie zu verfolgen und zu bespitzeln.

Ihr saß ein Mann gegenüber, dessen Geheimpolizei das Land in Angst und Schrecken versetzte und missliebige Personen verschwinden ließ.

Sie selbst hatte Gefängnis und Folter erduldet. Die Demütigungen hatten sich tief in ihr Gedächtnis gegraben.

Mit einem solchen Menschen saß sie beieinander und von Augenblick zu Augenblick wuchs das Vertrauen.

Unwillkürlich gedachte sie jener Worte ihres Freundes und Lehrers Kovacs:

>Wer immer sich ein Bild vom anderen macht und ihn in eine Schublade steckt, der leugnet das Fremde, Unerwartete, noch nicht erschienene im anderen.>

Warum fehlte ihr früher die Kraft, diesen Mann aufzusuchen? Sich und dem ganzen Land wäre eine Menge erspart geblieben.

Doch so schnell sie diesen Gedanken einfing, so schnell verwarf sie ihn auch wieder.

Jegliches zu seiner Zeit. Niemand konnte einer Entwicklung vor greifen.

Lange schon war Elena zu der Erkenntnis gelangt dass es sich bei ihrem Leben um eine Art Initiationsweg handelte, den sie Schritt für Schritt zu gehen hatte.

Und überhaupt, manchmal sind schlechte Zeiten geradezu von Nöten, um die Guten im rechten Maß zu würdigen.

In der Dunkelheit und Kühle der Nacht sieht man wie die Morgenröte anbricht.

Die vielen Feuerproben in ihrem Leben hatte sie mit Bravour bestanden und nun befand sie sich unmittelbar vor dem Ziel. Und schon begann sie ihre neue Rolle in vollen Zügen zu genießen.

Aber auch in Neidhardt begann sich ein zunehmendes Interesse an seinem Gegenüber abzuzeichnen. Er war nicht der Typ der sich so schnell eine menschliche Regung oder gar Betroffenheit anmerken ließ.

Seine in langen Jahren erkämpfte Stellung in der Gesellschaft gebot Zurückhaltung und Distanz. Nur so durfte er Elena begegnen.

Doch er brauchte sich nichts vorzumachen, die sinnliche Schönheit die ihm gegenüber Platz genommen hatte, der es mit Leichtigkeit gelang ,alle mit denen sie zu hatte, binnen kurzer Zeit mit ihrem Charme und ihrer Heiterkeit anzustecken, zog in immer tiefer in den Bann. Er fürchtete sich davor, zu viel von seiner Erhabenheit preiszugeben, sollte er allzuviel Schwäche offenbaren.

Aber er liebte sie. Cornelius hatte recht als er ihn erst kürzlich mit dieser Tatsache konfrontierte.

Noch aber kreisten ihre Gespräche vor allem um das Thema Politik.

 

„Wenn ich dich bei unserer TV-Diskussion recht verstanden habe, schwebt dir also nach wie vor eine Welt ohne Staaten vor. Solltest du einmal tiefer in die Materie vordringen und das hoffe ich für dich, wirst du entdecken dass diese Vorstellung abstrus ist.“

Neidhardt nahm den Faden wieder auf und setze direkt an das Thema ihres letzten Disputes an.

„Ich kenne etliche dieser Theorien und muss offen gestehen, dass ich als junger Mann             

solchen Vorstellungen durchaus nicht abgeneigt war. Mit den Jahren aber wich die Utopie einem bodenständigen Realismus. Es geht nicht ohne Staaten! Akzeptiere es! Richte dich dem entsprechend ein!“

„Trotzdem ist der Staat der größte Irrtum der Geschichte und ein Irrtum wird nicht leichter, nur weil er Jahrtausende gepflegt wurde.“ Widersprach Elena energisch.

„Soso, der Staat ist also ein Irrtum der Geschichte,“ erwiderte Neidhardt und kalte Überheblichkeit blitzte in seinen Augen.

„Also haben alle, die bisher auf dieser Idee des Zusammenlebens beharrten, Unrecht. Im Grunde hat die ganze Menschheit Unrecht, außer Elena.

Sie kann sich nicht irren, denn täte sie es, wäre sie nicht Elena.“

„Genau so ist es! Ich sehe es als meine Bestimmung, diesen Irrtum zu korrigieren. Nicht mit Worten, das wäre zu einfach. Nein, mit Taten. Ich habe dich an jenem Abend eingeladen die Akratasische Föderation zu besuchen. Ich wiederhole meine Einladung.

Besuche uns, in Anarchonopolis, auf dem Abteigelände und überzeuge dich selbst vom Geist der Freiheit und Toleranz den du dort vorfindest.“

„Du glaubst doch nicht allen ernstes diesen Unsinn. Ich stimme dir zu, wenn es sich um kleine und überschaubare Einheiten handelt. Einverstanden! Ihr habt euren Weg gefunden. In kleinem Maßstab mag das funktionieren. Aber für größere Einheiten absolut nicht zu gebrauchen. Zu komplexe Zusammenhänge. Viel zu weit gefächert. Da bedarf es einer starken Hand die zu leiten imstande ist. Es gibt zu viele Menschen die einer Führung bedürfen. Bei euch ist das einfach. Ihr seid Idealisten, kulturell und intellektuell überdurchschnittlich entwickelt. Versteh mich bitte nicht falsch, aber der größte Teil der Bevölkerung besteht doch nun mal aus Herdenvieh, gerade mal fähig dem Hirten zu folgen. Befehle entgegennehmen und durchführen, dafür langt es noch, zu mehr sind sie nicht imstande. Man muss diese Leute ständig anspornen, Druck ausüben und vor allem erzieherisch auf sie  einwirken, sonst droht über kurz oder lang die gesamte Zivilisation zusammen zu brechen.“

Neidhardt erhob den Anspruch die geeignete Autorität zu besitzen, diesem Mangel abzuhelfen.

Elena musste sich eingestehen, dass er in dieser Hinsicht die Wahrheit auf seiner Seite wusste. All zu viel Herdenvieh war nach Anarchonopolis gekommen und bedurfte einer starken Hand, befähigt zu führen.

Doch wollte sie sich ihre Unsicherheit unter keinen Umständen anmerken lassen.

„Wenn es keine Idealisten gäbe, dann wäre unsere Erde einem ausgebrannten Krater gleich. Es sind jene, die gegen den Strom des Zeitgeistes schwimmen, die der mausgrauen Welt ein paar Farbtupfer schenken. Wenn man immer nur betont die Menschen seien nicht reif für etwas, dann gibt es doch nur ein Mittel: Sie reif dafür zu machen.

Du glaubst zu der Annahme berechtigt, dass in unseren Kommunen nur Intellektuelle und Künstler leben? Falsch! Da irrst du dich gewaltig, du findest in unseren Häusern Menschen aller Schattierungen. Vom Hilfsarbeiter bis zum Professor. Es kommt weder darauf an, was einer hat, noch was einer denkt oder zu tun imstande ist. Es zählt allein das Herz und der Wille zur Tat. Jeder der willens ist, sich den Regeln anzupassen, ist willkommen.“

„Aha, da haben wirs ja!“, fiel ihr Neidhardt ins Wort. „Hast du bemerkt, was du sagtest. Ihr habt also Regeln in eurer Gemeinschaft. Das heißt mit anderen Worten, auch im Leben der großen Elena gibt es so etwas wie Gesetze und Ordnungen. Das ist genau mein Standpunkt.

Über was streiten wir uns eigentlich? Das ist es was ich in Erfahrung bringen wollte. Irgendwann wird auch aus deiner Gesellschaft ein Staat empor wachsen, nämlich ab jenem Augenblick da  die Menschen der vielen Freiheiten überdrüssig sind, und du wirst an der Spitze eines solchen Staatsgebildes stehen. Ob du willst oder nicht ist dabei unerheblich. Dann haben wir wieder einen neuen Staat. Können diesen der Riege der schon bestehenden hinzufügen.“

Es bedurfte Neidhardts Sarkasmus nicht, um Elena zu der Erkenntnis zu führen, dass sie sich einen gewaltigen Patzer erlaubt hatte. Ohne es zu wollen, hatte sie ihm einen Ball zugespielt. In diesem Mann hatte sie einen messerscharfen Intellekt als Gegner, imstande, mit wenigen Schnitten ihre Seele bloßzulegen, ihre Hoffnungen und Ängste zu sezieren und ihr Weltbild in Hand umdrehen ad absurdum zu führen.

„Schön, du gehörst also auch zu jenen, die den Begriff Anarchie sogleich mit Chaos und Unordnung assoziieren. Das alte Vorurteil. Selbstverständlich muss es Ordnung geben, Regeln, welche den Alltag in eine Form gießen. Aber es besteht ein immenser Unterschied zwischen einer Hausordnung und einer Willkürherrschaft.

Mein Traum heißt auch weiterhin Ordnung ohne Herrschaft. Eine Ordnung die aus sich selbst heraus funktioniert. Menschen tun etwas, weil ihnen bewusst wurde, dass es in ihrem eigenen Interesse geschieht. Die Menschen haben Jahrtausende in Gemeinwesen gelebt, die von der Existenz eines Staates nichts wussten.“

„Das ist romantischer Unsinn!“, versuchte Neidhardt sie erneut zu schulmeistern.

„Natürlich hat es solche Zeiten gegeben, wer wollte das bestreiten. Auch ich akzeptiere diese Tatsache. Und weißt du wann? In der Steinzeit! In der Entwicklungsphase der Menschheit, als sich moralische und intellektuelle Ansprüche noch in den Kinderschuhen befanden. Es gab damals eine recht dünn besiedelte Erde. Alles sehr überschaubar. Die Menschen konnten auf eine Menge an Lebensraum und sonstigen Ressourcen zurück greifen. Das funktionierte eine lange Zeitperiode gut. Durchaus. Irgendwann im Laufe der Geschichte hing dem Menschen das Paradies zum Halse heraus. Es kristallisierte sich jenes Gebilde, dass dir so gegen den Strich geht, der Staat. Technologischer Fortschritt, stetig steigender Wohlstand, Sicherheiten, nur die fest gefügte Ordnung des Staates konnte so etwas auf Dauer gewährleisten.“

„Und die Freiheit wurde auf dem Altar des Fortschritts geopfert. Stück für Stück, bis nur noch ein Schatten ihrer selbst am Horizont verblasste. “ protestierte Elena.

„Freiheit? Es scheint eines deiner Lieblingsbegriffe zu sein. Du hast mir diesen bei unserem TV-Duell beständig um die Ohren gehauen. Und ich bekannte was ich davon halte. Es gibt sie nicht die Freiheit! Niemals! Nirgends! Eine Pseudofreiheit für die Reichen und Mächtigen, die in der Freiheit baden. Während die übrigen in der Wüste der Knechtschaft verdursten. Das ist alles!“

Neidhardts Worte schmerzten wie Peitschenhiebe. Die Metaphern deren er sich bediente saßen Wort für Wort. Elena gehörte einst zu jener Oberschicht. Und was das Baden in Reichtum betraf, nun das schien eine Anspielung auf ihre Gewohnheit aus früheren Tagen, einmal wöchentlich ein Milchbad zu nehmen, um ihre geschmeidige Haut zu pflegen.

Jetzt hatte er endgültig ihre Achillessehne getroffen. Elenas Vergangenheit haftete ihr wie der Panzer einer Schildkröte an. 

In den tiefen ihrer Augen regte sich erbitterter Widerstand. Jetzt nur nicht die Fassung verlieren.

„Genau so ist es! Schon viele Staaten existierten in der Vergangenheit, stark und mächtig aber unfähig allen Menschen Wohlstand und Sicherheit zu gewähren. Ich teile deine Kritik am alten Regime. Ich weine den damaligen Zuständen keine Träne nach. Doch ebenso verurteile ich deine Methoden. So etwas wird nur den Grundstein für neues Unrecht legen.

Freiheit kontra Sicherheit? Hältst du diesen Gegensatz für erforderlich? Ich nicht!

Freiheit und Sicherheit, das ist meine Devise.“

Elena schien auf der Stelle zu treten. Gab es denn kein Argument ihr Gegenüber umzustimmen?

Offensichtlich nicht. Bitter schmeckte der Kelch der Erkenntnis. Neidhardt war ungefähr so beweglich wie ein Sack Zement den man eine Woche im Regen hatte stehen lassen.

Mit Erleichterung nahm Elena  zur Kenntnis, dass er vorübergehend das Thema wechselte.

„Hat dir das Essen geschmeckt? Möchtest du noch ein Glas Wein?“, erkundigte er sich mit bedeutend freundlicherem Ton. Dann erhob er die Flasche um nachzugießen.

„Schmeckt ausgezeichnet!“, erwiderte Elena. „Ich nehme gern noch einen Schluck. Aber ich muss vorsichtig sein, damit mir der gute Tropfen nicht zu Kopfe steigt.“

„Nun, das haben schwere liebliche Wein so an sich“, bestätigte Neidhardt und füllte das Glas.

„Wenigstens in Bezug auf gutes Essen können wir schon mal Einigkeit feststellen, das ist ja schon mal was.“ 

 „Ich schlage vor wir sollten den Tisch abräumen und das Geschirr spülen, bevor der Wein seine ganze Wirkung entfaltet. Danach können wir uns ungehemmt seinem Genuss ergeben.“

Schlug Elena vor.

„Ja gute Idee! !“

„Lass mich nur machen Neidhardt. Ich denke, ich schaffe das schon alleine. Eine kleine Portion Patriarchat, sei dir gewährt.“

Entgegnete Elena während sie das Geschirr zusammenstellte.

„Wie du willst! Meinetwegen!“, knurrte Neidhardt und lehnte sich in den Korbstuhl zurück der von seinem massigen Körper vollständig ausgefüllt wurde.

Elena verschwand in der Küche und atmete tief durch. Sie bedurfte dringend dieser Verschnaufpause um ihre Gedanken zu ordnen. Sie war Neidhardt nahe gekommen. Näher als sie es je für möglich erachtet hätte. Nichts erinnerte in diesem Moment an den furchterregenden und unnahbaren Tyrannen. Sie diskutierten auf Augenhöhe. Genau das wollte sie erreichen.

Doch sie musste schmerzlich zur Kenntnis nehmen, dass sich ihr Kontahent auch von noch so stichhaltigen Argumenten nicht überzeugen ließ.

Eine Zeitlang hatte sie tatsächlich gehofft, es könne geschehen. Doch das war naiv.

Sollte sie das Thema wechseln?

Doch über was, außer Politik, konnte man sich mit einem Diktator schon verständigen?

Über Natur, Gärtnerei,darüber ließen sich bemerkenswerte Übereinstimmungen feststellen.

Doch aus diesem Grund hatte sie die gefahrvolle Reise nicht auf sich genommen.

„Kommst du zurecht? Weißt du auch noch wo alles verstaut wird?“ rief  Neidhardt ihr aus dem Wohnzimmer zu. Pfeife rauchend hatte er es sich inzwischen auf seinem Polstersessel bequem eingerichtet.

„Danke, es geht schon! Bin gleich fertig!“

Hektik war nicht von Nöten. Elena ließ sich bewusst viel Zeit.

Inzwischen war der Mond höher gestiegen und überflutete das Haus mit seinem silbernen Licht. Die Zeit schritt voran.

Elena nahm nach getaner Arbeit auf der großen antiken Couch Platz, legte ihre langen eleganten Beine hoch. Neidhardt betrachtete sie eine Weile wortlos, bevor er den Faden wieder aufnahm.

„Genau das ist es!  Mir ist durchaus bewusst warum dir die Menschen mit so viel Enthusiasmus  folgen. Blick in den Spiegel und die Antwort wirst du finden. Wer kann schon einem solchen Antlitz widerstehen. Ein schönes Gesicht zieht an, noch dazu wenn es eine so heitere Gelassenheit ausstrahlt und zudem so geistreich und kultiviert argumentiert. Die Menschen mögen dich, weil man dich einfach mögen muss. Das ist der Grund warum sie dir folgen. Zudem bist du berühmt, die Witwe eines verehrten Volkshelden, die alle ihr angebotenen Annehmlichkeiten ausschlug und es vorzog einen dornenreichen Weg zu gehen.

So etwas zieht in den Bann. In der Nähe eines solchen Menschen zu leben und zu arbeiten heißt an dessen Charisma teilhaben. Schon jetzt bist du eine Legende. Genieße es, bade in deiner Popularität, ich gönne es dir. Denn es wird eine Eintagsfliege bleiben.

Hand aufs Herz Elena. Ohne dich wäre deine Bewegung sehr schnell am Ende.

Nach dir die Sintflut!“

Und wieder hatte Neidhardt einen Punkt angeschnitten, der nicht von der Hand zu weisen war.

Für sie eine noch größere Herausforderung.

Elena litt unter der Verehrung die ihr entgegengebracht wurde.

„Dein Argument trifft zu. In dieser Angelegenheit muss ich mich geschlagen geben. Diese Frage bewegt mich in der Tat schon seit geraumer Zeit.“ Bestätigte Elena ohne jedoch die Niederlage im Ganzen zu akzeptieren.

„Es ist die Idee, die ewig lebt, wenn auch  der Mensch der sie ersann schon lange vergessen ist. Darauf kommt es an. Ich werde lange an mich arbeiten müssen um dahin zu kommen.

In absehbarer Zeit werden es die Menschen akzeptieren.“

Neidhardt erhob die Weinflasche um Elena erneut nachzufüllen.

„Aber nur noch einen kleinen Schluck. Ich glaube nicht mehr allzu lang und ich habe einen ordentlichen Schwips.“

Elena richtete sich auf und streckte ihre Beine unter dem Tisch aus.

„Wenn ich es mir recht überlege, ist es doch eine Schande, dass was wir gerade tun.

Streit ist immer kontraproduktiv!

Was hätten wir für Freunde werden können wenn die Natur uns nicht für so unterschiedliche Lebensentwürfe bestimmt hätte.“ Klagte Elena.

„Gutes Argument!,“ bestätigte Neidhardt. „Du sollst wissen Elena: Das ich dich keineswegs hasse. Auch wenn du es dem Tyrannen wohl nicht zutrauen willst. Ich habe schon längst begonnen dich zu mögen.  Als Mensch bist du in Ordnung, deine Gesellschaft empfinde ich als ausgesprochen wohltuend. Möglicherweise hast du deine Meinung über mich auch inzwischen revidiert. Ein guter Anfang.“

„Wir hassen das, was wir nicht kennen. Ich hörte nur immer wieder von Neidhardt dem Schlächter. In meinem Kopf konstruierte ich ein furchterregendes Bild. Einen Dämon in Menschengestalt. Es drangen nur negative Eindrücke in mein Bewusstsein. Statt dessen sehe ich nun einen Menschen vor mir, mit dem ich geistreiche Gespräche führen kann."

Elena nippte an ihrem Weinglas und verschluckte sich. Geschah dies aus Verlegenheit? Sie war gerade im Begriff ihren ärgsten Feind von allem loszusprechen. Was würde wohl noch folgen?

„Ich denke, ich sollte wirklich nicht mehr so viel trinken.“ fuhr Elena fort, nachdem ihr Neidhardt kameradschaftlich auf den Rücken geklopft hatte.

„Im Wein liegt bekanntlich die Wahrheit.  Ich bin dir außerordentlich zu Dank verpflichtete, dass du nicht mehr das Schreckgespenst in mir siehst. Lass uns doch einfach die Politik für heute Abend vergessen. Ach ja, ich vergaß ganz danach zu fragen wie lange du zu bleiben gedenkst. Ich werde mich hier noch bis Dienstag auf halten, heute haben wir Samstag.

Bleibe so lange es dir beliebt.“

„Ich habe ehrlich gesagt noch gar nicht darüber nachgedacht. Ursprünglich wollte ich  nur einen Nachmittag bleiben. Ich werde morgen früh entscheiden. Geht das in Ordnung?“, redete sich Elena verlegen heraus.

„Kein Problem!!“

Der weitere Abend verlief in einer entspannten Atmosphäre. Sie gerieten vom hundertsten ins tausendste, vermieden dabei bewusst kontroverse Themen. Wie zwei alte Bekannte die sich vor Ewigkeiten aus den Augen verloren, saßen sie nun beisammen, scherzten und flaxten herum und sprachen weiter dem Wein zu. Schließlich obsiegte bei Elena die Müdigkeit.

„Nimm es mir nicht übel Neidhardt, aber ich bin zum Umfallen müde. Es war ein anstrengender Tag. Ich brauche dringend eine Mütze voll Schlaf. Vorher springe ich noch mal kurz unter die Dusche, wenn es dir recht ist?“

„Selbstverständlich! Entschuldige! Ich war unaufmerksam. Auch ich bin müde. Du findest alles, was du brauchst. Dann wünsche ich dir eine gute Nacht. Lass dich nicht irritieren wenn du mich in aller Herrgottsfrühe herumhantieren hörst. Ich schlafe sehr schlecht. Bin deshalb zu einem notorischen Frühaufsteher geworden. Bleib nur im Bett solange du magst.“

Neidhardts freundlicher Ton formte einen gelungenen Ausklang des Abends. Dankbar verabschiedete sich Elena und zog sich zurück.

Sie betrat die spartanisch eingerichtete aber saubere Dusche und ließ das angenehm warme Wasser über ihre Haut gleiten, nach dem anstrengenden Tag eine besondere Wohltat. Schließlich folgte die lange währende Tortur des Haartrocknens. Elena fand einen Fön und benutzte ihn.

Wozu er den wohl benötigte, schoss es Elena durch den Kopf.

Sein militärisch kurzer Bürstenschnitt bedurft eines solches Hilfsmittels nicht und Damenbesuch hatte dieses Haus bisher wohl kaum erlebt.

Mit Slip und T-Shirt bekleidet hopste Elena in die Federn, mummelte sich ein. Angst verspürte sie keine. Vielmehr bemächtigte sich ihrer ein Gefühl von sicherer Geborgenheit.

Die Anstrengungen des Tages und der ungewohnte Weingenuss ließen das Zimmer bald vor ihren Augen verschwimmen und die sanften Wogen des Schlafes trugen sie mit sich fort.

Eine ganze Weile hatte Elena tief und fest geschlafen als sie von einem unheimlichen Laut ins Bewusstsein zurückgerufen wurde.

Nachdem sie sich gesammelt hatte konnte sie den Laut deutlich als einen Schrei aus nächster Nähe deuten.

Starr vor Schreck zog sie sich die Decke bis ans Kinn. Was in aller Welt war das. Angst bemächtigte sich ihrer. Doch aus Angst wird auch der Mut geboren. Sie musste dem Geheimnis auf die Schliche kommen. Zaghaft erhob sie sich und öffnete die Tür.

Beklemmende Stille erwartete sie. Fröstelnd bewegte sie sich den Flur entlang. Jetzt fror sie tatsächlich an ihre nackten Füße. Vor Neidhardts Schlafzimmer stoppte sie.

Und wieder spaltete ein Schrei wie die Klinge eines Messers die Totenstille des Hauses.

Zögerlich öffnete Elena die Tür und lugte durch den Spalt.

Der Mond goss sein fahles Licht in das Zimmer und umflutete auch Neidhardt, der gerade im Begriff schien, seinen Kampf mit den Dämonen auszufechten.

Im Gegensatz zu Elena war es ihm nicht vergönnt einen ruhigen und gesunden Schlaf zu finden. Auch in dieser Nacht suchten ihn die Geister all jener heim, die in langen Jahren durch seine Schuld wie auch immer zu Schaden gekommen waren. Gleichsam eine Parade der Verdammten fand sich ein ,um an seinem Bett vorbei zu defilieren.

Ein Horrorszenario von Alpträumen befiel Neidhardt Nacht für Nacht und ließ ihm keine Ruhe finden.

Sein kantiger Kopf ruhte auf einem von Schweiß und Tränen durchweichten Kissen, unruhig hin und her zuckend, so als würde er gerade von Peitschenhieben traktiert.

Elenas Blick streifte den altmodischen Radiowecker, es war kurz nach 1 Uhr.

Jetzt leuchtete ihr ein, warum dieser Mann mit nur 3-4 Stunden Schlaft auszukommen schien.

Er hielt es einfach nicht länger aus. Die pure Angst vor den Dämonen der Nacht hatte ihn zum Frühaufsteher mutieren lassen, ließ ihn tagtäglich müde und ausgelaugt schon gegen vier Uhr sein Büro betreten und Zuflucht in den Akten suchen.

Tiefes Mitgefühl erfasste Elena als sie den massigen Körper mit der gequälten Seele betrachtete. Nun schien der Diktator endgültig verschwunden, hatte einem Häufchen Elend Platz gemacht.

Elena wusste, wie sie ihm helfen konnte und war fest dazu entschlossen, es zu tun.

Ihr bot sich eine einmalige Chance. Erlöste sie ihm von seinen Qualen, wären positive Auswirkungen auf das ganze Land die Folge.

Langsam tastete sich Elena an sein Lager. Hilflos wie ein Neugeborenes lag sein Leben nun in ihren Händen.

Sie umfasste seinen fiebrigen Kopf und riss ihn mit einem Ruck aus den Alpträumen.

Erschrocken blickte Neidhardt in Elenas Antlitz.

„Elena, du? Bist auch du gekommen, um Rechenschaft zu fordern?“ röchelte er in großer Anstrengung. „Du kannst dich beglückwünschen. Einen grandioser Sieg. Der Tyrann, den du so verachtest, liegt geschlagen am Boden. Du bist die einzige, die Neidhardts Geheimnis bisher gelüftet hat. Nun kannst du allen sagen welch depressiver Charakter das Land beherrscht. Dich mögen sie, dir werden sie alles glauben...“

Sanft legte sie ihren Zeigefinger auf seinen Mund, um den Redefluss zu unterbinden.

„Glaubst du wirklich, dass ich dessen fähig bin? Hältst du mich für so gemein, das ich aus dieser Erkenntnis Kapital schlagen könnte?“, flüsterte Elena mit beruhigender Stimme in sein Ohr. „Ich sehe keinen Tyrannen in diesem Zimmer, nur einen Verzweifelten, der dringend der Hilfe bedarf. Wenn ich täte, was du von mir glaubst, wäre ich kaum besser als du, oder irgendein anderer Tyrann. Lass mich dir helfen. Nichts, was zwischen uns geschieht in dieser Nacht wird je das Ohr eines anderen erreichen. Es bleibt unser beider Geheimns.“

Neidhardt wollte zum Widerspruch ansetzten doch Elena hinderte ihn daran.

„Ruhig, ganz ruhig! Sag überhaupt nichts mehr! Vertraue mir!“

Sie stieg auf das große breite Bett, hockte sich im Schneidersitz an das Kopfende und bettete den Kopf des hilflosen Diktators sanft in ihren Schoß, tupfte ihm mit einem Tuch das sie fand, den Schweiß von seiner Stirn. Sie streichelte ihn eine ganze Weile, bis er ruhig und ausgeglichen atmete.

Dabei überlegte sie, was zu tun sei.

Ein solcher Vorgang stellte für Elena so etwas wie Routine dar. Als Madleen noch das kleine verschreckte Mäuschen war, als dass sie zu ihr gekommen, erlebte sie ähnliches. Auch ihre Frau musste langsam aufgebaut werden. Doch bei ihr genügte schon eine zärtliche Berührung um neue Lebenskraft zu entfachen. Zwischen Elena und Madleen bestand ein festes Band des Vertrauens, eine Liebe, die bisher auch den heftigsten Anfechtung Stand gehalten hatte.

Auch vielen anderen konnte sie schon auf diese Weise helfen, konnte Trost spenden und neue Energien entfesseln.

Neidhardt hingegen schien der Begriff Vertrauen ein Fremdwort. In seiner unangefochtenen Position konnte er sich so etwas gar nicht leisten. Hinter jeder noch so kleinen Geste der Menschlichkeit konnte sich Schwäche verbergen. Das drohte seine Stellung ins Wanken zu bringen.

Hier bedurfte es wirkungsvollere Geschütze.

Elena war entschlossen den therapeutischen Beischlaf zu praktizieren.

Sie begann sich zu konzentrieren, hielt Neidhardts Kopf mit den Händen fest umschlossen.

Sie ließ das Feuer der Göttin ihre Seele umfangen, bis sie sich als eine ruhige brennende Flamme empfand, die über dem Boden schwebte. Elena fühlte sich Schritt für Schritt nach innen gezogen. Eine leichte Angst stieg in ihr auf und Schweißperlen traten ihr auf die Stirn.

„Lass los, Neidhardt, leg deine Seele in meine Hände!“ hörte Elena ihre Stimme. Sie befand sich im Zweifel darüber, ob die Stimme aus ihr selbst oder aus dem Universum sprach.

„Blicke nach vorne, Neidhardt, auf die Welt, die in dieser Nacht geboren wird. Das Alte ist vergangen. Neues wird sich offenbaren. Du fühlst dich geborgen, getragen und gestärkt.

Mit jedem Pulsschlag der Freude wirst du sehen, dass dir dieser Zustand längst vertraut ist, du ihn nur noch nicht erkunden konntest, weil soviel Schutt auf deiner Seele lagert und die Sicht versperrt. Du wirst nun von einem warmen nährenden Wasser eingehüllt und geleitet.

Die alten Empfindungen spülen wir davon. Dein Leid beginnt sich aufzulösen. Damit wird auch das Leid des ganzen Landes ausgelöscht. Die Welt ändert sich, sie wird für dich, wie für alle anderen zu einem umspannenden Netz das aus Fäden unendlicher Güte und Liebe verwoben ist.“

Neidhardt lag ruhig atmend in Elenas Armen, er begann die neuen, ungewohnten Kräfte wahrzunehmen, die Körper, Geist und Seele durchdrangen.

Er spürte, wie Wasser ihn umströmte. Sein Körper wurde weich und geschmeidig, alle Verhärtungen lösten sich, bis er sich im Gleichgewicht mit sich selbst befand.

Er nahm ein sanftes Licht war, das in den dunklen Abgrund seiner Seele strahlte und alles in bunten Farben erstrahlen ließ. Neidhardt hatte das eigenartige Gefühl, dass alle Menschen denen er einst Leid und Schaden zufügte, Lebende wie Tote, sich um ihn versammelten und ihm vergaben. Wie mit einem Supermagneten zogen sie die Schuldkomplexe aus seinem Bewusstsein.

Er glaubte sich mit ausgebreiteten Flügeln am Himmel schwebend, dabei auf die vertraute aber auch so neue Erde herabblickend.

Elena befand sich noch in Trance. Ruckartig wurde sie entlassen. Ihre Blicke begegneten einander. Sie schienen auf eine unaussprechliche Art mit einander verbunden, so als habe nie ein anderes Verhältnis zwischen ihnen bestanden. Anarchaphilia hatte einen neuen Bund gestiftet.

Benommen ließ sich Elena auf die Decke fallen, dieser Akt hatte auch sie in Mitleidenschaft gezogen. Sie atmete mehrere Male gleichmäßig durch. Der Schweiß rann wie in Bächen von ihr. Sie entledigte sich ihrer spärlichen Bekleidung und streckte sich nackt neben ihm aus, schmiegte sich dicht an seinen massigen Körper.

Nach einer Weile des Ruhens befreite sie auch Neidhardt von seiner Nachtbekleidung  und begann ihm die Nackenmuskeln zu massieren, so als wolle sie der geistigen nun auch die körperliche Entspannung folgen lassen.

„Geht es dir jetzt besser?“  durchdrang Elenas Stimme die wohltuende Stille.

Nickend bejahte Neidhardt.

Langsam drang Elena in die intimen Bereiche seines Körpers vor. Zunächst ließ er es geschehen, werte aber nach einer Weile sanft aber mit Nachdruck ab.   

„Das ist lieb von dir Elena, aber zwecklos. Versuch es erst gar nicht, dann wirst du dir eine Enttäuschung sparen. Meine zweite Achillesferse. Es funktioniert nicht. Es klappt seit vielen Jahren nicht mehr. Das ist der Grund, warum ich den Kontakt zu Frauen meide wie der Teufel das Weihwasser. Jenes Gefühl ist mir vollkommen fremd geworden.“

Elena schockierte diese Aussage, doch bei genauem Überlegen passte das zu diesem Mann.

Eine Woge des Mitgefühls bahnte sich den Weg. Die verhärtete Seele hatte auch jene Kanäle verschüttet.

Beruhigend redete Elena auf ihn ein.

„Und du glaubst dich dafür schämen zu müssen. Nein! Dazu besteht kein Grund. Lass mich dir auch dabei helfen. Erst ab diesem Augenblick bist du wirklich frei.

Die Göttin der Liebe ist im Begriff, dir ein neues Leben zu schenken. Ich tue es gern. Für dich, aber auch für mich, denn ich möchte es ebenso.“ fügte sie intuitiv hinzu.

Der Energiestrom hatte auch die sexuelle Kraft in ihr entfesselt und das damit verbundene Bedürfnis, sich auszuleben.

Sie war die Königin dieser Nacht, würde ihn reich beschenken und mit ihm das ganze Land.

Noch einmal rief sie die Macht an, diesmal in der Manifestation der Liebenden.

Sie setzte sich auf den massigen Körper und begann ihn zu stimulieren. Es bedurfte einer gewaltigen Anstrengung, ihn aus seinem Ghetto zu befreien.

„Ich glaube, ich beginne dich zu lieben Neidhardt.“

Es war die Art wie sie es sagte, er fühlte einen warmen Strom seinen Körper durchfluten, der ihm Kopf und Herz erhitzte.

Die so lange eingekerkerten Gefühle begannen sich zu reaktivieren.

Er betrachtete ihren, im silbernen Schein des Mondlichtes bronzefarben schimmernden Körper mit Wohlgefallen.

Er fühlte sich wie ein durch die Wüste irrender, halb verdursteter beim Anblick einer kühlen Quelle inmitten einer palmengesäumten Oase. Das Verlangen überkam ihn wie eine Lawine.

Mit einem Ruck zog er Elena auf sich. Zart küßte er sie und eine Wolke der Glückseligkeit rollte seinen Rücken entlang. Seine Hand kam der ihren entgegen, ihre Finger krallten sich in seine. Gierig griff er nach ihren vollen Brüsten und zerzauste ihre kupferrote Lockenmähne.

Doch vor der Vereinigung schreckte er noch immer zurück. Noch immer diese unüberwindlich scheinende Barriere. Die Versagerangst baumelte wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf.

Doch diese Nacht schien gesegnet.

Als würde er von einem Sog mit gerissen, drang er plötzlich problemlos in Elena, deren Brust ein Stöhnen der Zustimmung entließ.

Er fühlte sich von ihr rückhaltlos mit einer zärtlichen Liebe umfangen. Was so lange tief verborgen, nun trat es ans Licht.

Eine ganze Weile lagen sie tief vereint beieinander.

Der Diktator starb in dieser Nacht, an seiner Statt wurde der Mensch geboren.

Elena konnte die Kräfte nicht länger bändigen. Sie umschlang ihn und bewegte sich in den Rhythmen des ältesten aller Tänze. Neidhardt überließ sich ihr vertrauensvoll und leidenschaftlich. Er wollte der Frau in seinen Armen alles schenken, was die Nacht für ihn bereithielt. Er suchte in ihr heftiger und kühner nach dem, was der Körper jenseits aller irdischen Ebenen in der göttlichen Ekstase wahrer Liebe erreichen konnte.

Als der Höhepunkt verklungen war, ließ sich Elena erschöpft aber erfüllt von sinnlicher Begierde neben ihn nieder und kuschelte sich in seine starken Arme. Dieser zog sie an sich und hüllte sie ein.

Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, bis er in einen tiefen und erholsamen Schlummer glitt.

Trotz Müdigkeit lag Elena noch eine ganze Weile wach.Sich dabei den Gedanken widmend.

Was hatte sie getan? Sie schlief mit einem Mann den sie noch bis vor zwei Tagen abgrundtief zu hassen schien, der das Land in Angst und Schrecken versetzt hatte. Einem Mann, zudem alt genug, ihr Vater zu sein.

Träumte oder wachte sie? Sie konnte und wollte es nicht deuten. Sie fühlte sich unendlich wohl und das genügte.

Schließlich glitt auch sie in den Schlaf.

Beide schliefen fest, die Arme in einander verschlungen. Ein Lächeln lag über ihren müden Gesichtern, ein Zauber ging von ihnen aus.

 

Als Elena am andern Morgen erwachte hatte die Helligkeit vom neuen Tag bereits Besitz ergriffen und kitzelte ihre Nasenspitze.

Das Bett neben ihr war leer. Sie fühlte sich frisch und ausgeschlafen, doch wo war Neidhardt? Es war bereits 8 Uhr durch. Sie vernahm Geräusche aus den Nachbarzimmer Selbst nach dieser Nacht hatte der Frühaufsteher obsiegt. Es widerstrebte seinem Ordnungssinn, sich gehen zu lassen.

Eigenartig, zu Hause war sie die die Frühaufsteherin. Es kostete immer eine gehörige Portion Anstrengung ihre Schlafmütze Madleen aus den Federn zu locken.

Elena erhob sich, schlang sich  die Decke um und versuchte die Lage zu erkunden.

Im Wohnzimmer knisterte bereits der alte Ofen, die Wärme die er von sich gab war an diesem kühlen Herbstmorgen besonders willkommen.

Aus der Küche drang der Duft von Kaffee und frisch gebackenen Brötchen an ihre Nase und weckte den Appetit.

Langsam tastete sie sich vor.

Während sie sich noch ihren süßen Träumen hingab, hatte Neidhardt bereits den Ofen befeuert und ein üppiges Frühstück bereitet.

Er war gerade im Begriff den großen Tisch des Wohnzimmers einzudecken ,als Elena den Raum betrat.

„Guten Morgen Neidhardt! Schon so fleißig am Morgen? “, begrüßte ihn die Traumfrau.

„Nun, ich bin halt immer früh zugange“ erwiderte er  etwas verlegen ihren Gruß. „Du schliefst so tief und fest, ich wollte dich auf keinen Fall wecken.“

„So gut möchte ich es am Morgen bei mir auch mal haben. Da wir oft bis in die Nacht zu tun haben, läuft der Tag eher schleppend an. Madleen ist zwar ein Schatz und im Haushalt unschlagbar, aber auch ein rechter Morgenmuffel.“

„Dann nimm einfach Platz und lass dich heute mal verwöhnen,“ lud Neidhardt ein.

„Sofort, aber zunächst möchte ich mich ein wenig frisch machen und anziehen muss ich mich ja auch noch.“

Sie wickelte die Decke ab und schritt nackt davon.

Nach einer Weile erschien sie angezogen aber noch immer barfuß und nahm Platz an Neidhardts reichlich gedeckten Tisch.

„Und du frierst wirklich nicht an die Füße? Es ist noch recht kalt heute morgen, besonders der Boden.“

Sorgte sich Neidhardt.

„Ach wo! Ich sagte dir schon gestern dass ich gerne barfuß laufe.

Das ist für die Füße außerordentlich gesund.“

„Nun ich denke, wer so schöne Füße hat sollte sie  nicht vor der Welt verbergen ,“ scherzte Neidhardt.

„So findest Du?“, erwiderte Elena, blickte zu Boden und wackelte mit den Zehen.

Im Anschluss bediente sie sich von den Gaben des Tisches.

„Sag, wo hast du denn die frische Brötchen her so weit draußen? “ mampfte Elena mit vollem Mund.

„Ach, die Brötchen? Die mache ich selber. Selbstversorgung ist alles. Vor allem, wenn man in der Wildnis wirklich ungestört sein will.“

„Du überraschst mich immer mehr. Ich denke, du wärst der geradezu perfekte Hausmann.“

Elena gefiel sich zwar darin, eine Weile mit belangloser Konversation aufzuwarten, spürte aber den Drang  die Ereignisse der gestrigen Nacht anzusprechen.

Selbstverständlich musste das auf diplomatische Art geschehen.

Neidhardt ließ sich nichts anmerken, das entsprach ganz und gar seinem Naturell. Er war kein emotionaler Typ. Doch die Ereignisse hatten ihn gründlich aufgewühlt.

„Wie fühlst du dich heute morgen? Geht es dir wieder besser? Ich meine, ich will nicht so mit der Tür ins Haus fallen. Wenn du nicht reden willst, ist das in Ordnung. Ich habe dich womöglich überrumpelt, letzte Nacht, das war nicht meine Absicht.“

„Ich fühle mich ausgezeichnet und das verdanke ich dir. Ein ungewohntes Gefühl, dass ist wahr. Ich habe keine Ahnung, was sich derzeit in meinem Inneren abspielt. Ich denke, das wird sich in den kommenden Tagen erweisen. Eines aber kann ich mit Sicherheit sagen. Ich werde kaum imstande sein einfach zur Tagesordnung  überzugehen.“ Offenbarte sich Neidhardt. Ein trauriges Lächeln huschte über seine kantigen Züge. Sichtlich gerührt ob seiner Offenheit versuchte Elena ihre Gedanken in Worte zu kleiden.

„Du glaubst sicher zu der Annahme berechtigt, dass ich besser damit umgehen kann. Da irrst du dich. Auch mein Leben kann nach dieser Nacht nicht in den gewohnten Bahnen verlaufen.

Mit allem habe ich gerechnet, nur damit nicht!

Einfach zu dir gehen,  ein paar Wahrheiten wechseln und wieder verschwinden, das war meine Absicht. Keineswegs wollte ich dich auf diese Weise anmachen oder dich gar aus der Fasung bringen. Ich habe Vertrauen zu dir gefunden. Ich fühle mich zu dir hingezogen.

Dein Anblick, Pfeife rauchend unter deinen Bäumen sitzend ,vertrieb allen Hass und alle Angst in mir. Schon zu diesem Zeitpunkt gab es keinen Diktator mehr.“

Es sprudelte nur so aus ihr. Elena unterbrach ihren Redefluss um die Wirkung zu erkunden.

„Tja, was soll ich dazu sagen?“, erwiderte Neidhardt nach einigem Zögern. „Du hast mein Leben ganz schön durcheinander gewirbelt. Fällt einem so einfach vor die Füße, bringt mal schnell den gewohnten Lebenslauf durcheinander. Und dann ? Du wirst gehen und in deine bunte Welt voller Leben und Lachen zurückkehren und mich einsam zurücklassen.

So ist es doch, oder?“

Seine Worte entsprachen der Wahrheit.

Es gab ein Zuhause und da würde ein farbiges, abwechslungsreiches Leben ihrer harren. Sie hatte alles was ein Menschenherz begehrt.

Auf sie wartete Madleen die zärtliche treue Geliebte und Gefährtin sowie Tessa ihre kleine Tochter, eine richtige kleine Familie. Hinzu kam eine Menge an Freunden die ihr mit Achtung begegneten.

Wer aber wartete auf Neidhardt? Was hatte er von diesem Leben?

 

Eine überdimensional große, kalte, menschenleere Wohnung im Regierungspalast zu der außer ihm niemand Zutritt hatte. Die Menschen fürchteten sich vor ihm und mieden seine Gesellschaft. Sein Garten hier schien die einzige Zuflucht. Ein Paradies in menschenleerer Natur.

Er hatte damit zu leben gelernt, kam offensichtlich ganz gut damit zurecht, trotz seiner nächtlichen Heimsuchungen.

Und nun? Wer gab ihr das Recht seine Schutzmauer zu durchbrechen nur um ihn noch hilfloser zurückzulassen?

Womöglich hatte sie ihm nur einmal mehr vor Augen geführt, was er schon sein Leben lang entbehren musste.

„Das werde ich nicht tun!“ meldete sich Elena in wilder Entschlossenheit zurück. „Im Moment bin  auch ich ratlos, aber ich werde fortsetzen, was ich in der vergangenen Nacht begonnen. Es wird keine Eintagsfliege bleiben, das verspreche ich dir.

Um es dir zu beweisen fange ich gleich damit an. Was hältst du davon, wenn ich noch einen Tag und eine Nacht bleibe. Ausreichend Zeit zu denken, zu reden und noch viele andere schöne Dinge tun.“

Tiefe Freude erfüllte das Herz des Diktators.

„Das wäre mir mehr als Recht Elena! Aber kannst du denn so einfach deinen Pflichten fernbleiben? Was ist denn mit deiner Tochter?“

„Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen. Tessa genießt das seltene Privileg zweier Mütter. Madleen ist immer für sie da, die beiden sind vernarrt in einander seit dem Tag, als sie sich zum ersten Mal in die Augen blickten

Es mag schockierend klingen, aber ich habe oft den Eindruck, Madleen ist die bedeutend bessere Mutter von uns beiden.“

„Elena gehört in der Tat allen!“ warf Neidhardt ein.

„Ich bin des Öfteren unterwegs. Tessa hat sich längst an diesen Zustand gewöhnt. Ich wüsste nicht, wie ich ohne Madleen auskommen sollte.“

„Du liebst Madleen? Sie ist dir sicher eine treue Geliebte?“

„Sie ist meine Frau. Ja, ich liebe sie mehr als mein Leben.“

„Ach ja eure berühmte Kirschblütenhochzeit war seinerzeit in aller Munde. Ich muss gestehen, du hast wirklich Geschmack. Was für ein wunderschöner Beweis echter Liebe.“ Erinnerte sich Neidhardt.

„Aber das ist kein Grund warum zwischen uns nicht auch noch mehr geschehen könnte. Madleen und ich führen eine offene Beziehung. Man kann eine Liebe nicht erzwingen, wenn man den anderen mit Ketten an sich bindet und voller Eifersucht jede seiner Bewegungen kontrolliert. Ich bin, wie schon erwähnt oft und mitunter lange unterwegs. Meine Liebste hält indes zu Hause die Stellung. Sollte eine von uns in eine Situation geraten, vergleichbar derer von gestern Nacht, ist das kein Problem. Wir gestatten uns unsere Seitensprünge.Aber wir sprechen offen darüber. Madleen wird erfahren was zwischen uns geschah, sonst niemand.“ Gab Elena zu verstehen.

„Da kann man euch nur beglückwünschen und beneiden. In solchen Angelegenheiten kann ich leider nicht mit reden. Solche Gefühle stehen bei mir jenseits aller Vorstellungskraft.“ Bedauerte Neidhardt zutiefst.

„Ich denke nicht mehr lang. Letzte Nacht hast du das Eis durchbrochen. Und es wird weiter tauen. Dessen bin ich mir absolut sicher. Übrigens bist du jederzeit eingeladen meine kunterbunte kreative Welt in Augenschein zu nehmen. Nun ist eine völlig neue Situation entstanden. Du kannst mit gutem Gewissen meiner Einladung folgen.“

„Das ist sehr nett von dir . Aber bedenke! Neidhardt in Anarchonopolis! Ein Tabubruch ohne gleichen. Ich könnte mir vorstellen, dass einige gar nicht begeistert wären. Würde ich einfach so vor der Türe stehen. Wenn ich ehrlich bin kann ich das auch keinem verübeln.“

Neidhardts Worte holten Elena in die Realität zurück. Schon wieder hatte er Recht. Für ihn musste es eine Sonderregelung geben.

„Wir werden einen Weg finden. Mir fällt schon etwas ein. Du hast Recht. Andererseits haben auch die übrigen in unserer Gemeinschaft ein Vorleben, und auch da gibt es nicht nur positives zu berichten. Es wird einen neuen Neidhardt geben."

„Das wünsche ich mir, aber ich fürchte es ist zu spät.“ Widersprach Neidhardt mit einem Ausdruck von Niedergeschlagenheit in seinen Augen.“ Bedenke, du bist viele Jahre jünger als ich. Du hattest Grund zur Hoffnung. Nun ja und dein Aussehen, deine Ausstrahlung haben mit Sicherheit auch ihren Beitrag dazu geleistet.“

Elena wagte nicht zu widersprechen. Es lag ihr fern ihn mit platten, oberflächlichen Komplimenten zu narren.

Sie legte ihre zarte Hand auf die seine. Diese Geste bedurfte keiner weiteren Erläuterung.

Forschend blickte Elena in sein müdes Gesicht.

„Auf jeden Fall finde ich es schön, dass du mir noch einen Tag schenken willst,“ wich Neidhardt geschickt aus und drückte ihre Hand.

„Die Nebel lichten sich, es scheint ein schöner Tag zu werden. Wenn du magst kann ich dir die Umgebung zeigen. Mit meiner Arbeit bin ich ohnehin schon so gut wie fertig. Ich denke wir können uns den Müßiggang leisten.

„Sehr gern! Ich hoffe nur wir müssen nicht allzu viele Barrieren überwinden, wenn wir spazierengehen.“ Antwortete Elena und versuchte damit die Melancholie des Augenblickes zu vertreiben.

„Keine Sorge Elena. Ich bin nicht lebensmüde. Dort wo ich dich hin geleite gibt es weder Minen noch Hochspannungszäune.“ Beruhigte Neidhardt, der offensichtlich die Ironie in ihren Worten überhört hatte.

Nach dem ausgiebigen Frühstück räumten sie zunächst den Tisch ab. Elena verabschiedete sich für einen Moment um in aller Ruhe ihre Morgenmeditation zu halten.

Beide hatte dringend eine Pause nötig. Es stand ihnen noch der ganze Tag und die folgende Nacht zur Verfügung.

Elena durchstreifte den großen Garten. Erst jetzt wurde sie sich der gewaltigen Dimensionen bewusst. Es war tatsächlich ein Paradies, wenn auch ein ausgesprochen einsames. Nun lag es in ihrer Macht, es mit Leben zu füllen.

Andererseits empfand sie die Stille wohltuend.

Die Stille ist die große Freundin der Seele. Wie wahr gesprochen. Denn die Stille enthüllt die Schätze der Einsamkeit. Ja, die Stille war die Schwester des göttlichen. Doch musste man der Stille zunächst Raum verschaffen, um ihr die Möglichkeit zu geben ihr Werk unter den Menschen zu vollenden.

Zuhause musste Elena schon beachtliche Entfernungen überwinden, um zu ihren Lieblingsplätzen in der Natur zu gelangen.

Hier fand sie alles vor der Haustür. Wieder war es ein Baum, eine große schlank gewachsenen Birke die Elenas Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

Elena ließ sich beglückt darunter nieder.

Die erste Antwort auf die Frage, wie es wohl weitergehen sollte hatte sie damit erhalten.

Neidhardt begann schon zu bangen, ob seine gerade erst gefundene Liebe nicht doch schon Hals über Kopf das Weite gesucht hatte. Erlöst nahm er ihre Gegenwart war.

Aus der Trance erwacht bemerkte Elena, wie sich ihr ein Eichhörnchen näherte.

Flach auf dem Bauch liegend spielte Elena mit dem possierlichen Tier, das scheinbar jegliches instinktives Angstgefühl überwunden hatte.

Neidhardt ließ sich leise auf der etwa zwanzig Meter entfernten alten Holzbank nieder. Er betrachtete die Szenerie mit Genugtuung. Ein Anblick der ihm erneut inneren Frieden zu schenken vermochte.

Wer war sie? Wer war dieses wunderschöne, charmante Geschöpf, das sich berufen fühlte, ihn aus langer Umnachtung zu befreien. Womit hatte er ihre Gegenwart verdient?

Sein bisheriges Leben prägte eine Sterilität, die jedem anderen Menschen längst in die Verzweiflung getrieben hätte. Er schien für Zweisamkeit oder gar Partnerschaft nicht die geringste Voraussetzung mitzubringen. Doch in den innersten Zellen seines Bewusstseins schlummerte ein Hauch von Sehnsucht. Er hatte sich dieses Paradies erschaffen weil die Einsamkeit auf ihn lastete. In der Menschenmenge des Alltages fühlte er sich noch verlassener.

Die Ruhe und die Disziplin, die ihn umgab, alles Fassade. Darunter tat sich ein steiler Abgrund auf.

Der Blick auf die heitere beschwingte Elena die da seelenruhig mit einem Eichhörnchen spielte, schien ihm auf einmal auf brutale Weise zu verdeutlichen dass er offensichtlich umsonst gelebt hatte. Doch verspürte er keine Melancholie, vielmehr akzeptierte er diese Tatsache und erfreute sich des Augenblickes.

Schließlich bemerkte Elena seine Anwesenheit.

„Neidhardt, ich habe dich gar nicht bemerkt. Bist du schon lange hier?“

 "Etwa fünf Minuten. Ich wollte dich nicht stören. Es war so ein friedlicher Anblick. So etwas sagt bedeutend mehr aus, als tausende von Worten.“

Beim Klang der tiefen Bassstimme suchte das Tierchen fluchtartig das Weite.

„Siehst du Elena, selbst die Tiere fürchten sich vor mir.“

„Unsinn, Neidhardt, das war deine tiefe Stimme. Tiere entwickeln oftmals instinktiv ein intimeres Verhältnis zu Frauen.“

Versuchte Elena seinen Minderwertigkeitskomplex auf der Stelle zu zerstreuen.

Sie begab sich zu ihm und ließ sich auf dem Boden vor ihm nieder, schmiegte ihren Kopf an seine Schenkel.

„Knie doch nicht so vor mir Elena! Oder bedeutet das, dass du dich mir unterwerfen willst?“

Werte Neidhardt ab.

„Lass nur, es macht mir nichts aus. Ich gefalle mir einfach in dieser Pose.“

„Eigentlich bin ich nur gekommen, um mich zu erkundigen ob und wann du mit mir einen Gang in die Natur unternehmen willst. Ich schlage vor, wir essen noch zu Mittag und setzen uns danach in Bewegung.“ Schlug Neidhardt vor.

„Sehr gern, ich brenne darauf den Rest dieser geheimnisumwitterten Gegen zu erkunden.“

 

Nachdem sie sich gestärkt hatte, brachen sie auf.

Wie nicht anders zu erwarten präsentierte sich die Gegend menschenleer. Das Paradies gehörte nur ihnen allein.

Neidhardt führte Elena zunächst an einen kleinen See, etwas oberhalb der Umfriedung gelegen.

Es war ein herrlicher Tag im Spätherbst. Der Waldweg auf dem sie entlanggingen, schlängelte sich ein paar km um die azurblaue Tiefe des Sees herum, verschwand zuletzt in den Hügeln jenseits davon. Die Wasseroberfläche des Sees erglühte von den langen orangefarbenen Strahlen der Sonne, während feuchter Herbstdunst wie ein verwirrter Geist über das Land zu wogen begann. Der moderige Geruch herabfallenden Laubes stieg vom Boden auf wie Rauch aus einem Kamin.

Elena, hakte sich bei Neidhardt unter, schmiegte sich ganz an seine Seite, während sie genussvoll die frische Waldluft inhalierte.

Das Bedürfnis Trost und Schutz in den starken Armen eines Mannes zu suchen war ihr bisher fremd. So etwas wie einen Beschützer hatte sie nicht nötig, sie deren Leben dazu bestimmt, anderen Schutz und Trost zu gewähren.

War es Schwäche? Sollte sie sich dafür schämen? Nein!  Sie genoss die Nähe des Mannes an ihrer Seite. Das Verhältnis, das sich hier anzubahnen schien würde in keine Abhängigkeit führen. Zwei autonome Seelen hatten sich gefunden.

Ehrfürchtig verneigte sich Elena vor dem Wald.

Das goldene Licht streichelte sie, die bunten Farben über dem Land schienen sie zu begrüßen.

Der Gesang der Stille machte sie glücklich.

Sie hatten eine baumlose Anhöhe erreicht, zu ihren Füßen erstreckte sich der Herbstwald in die Tiefe. Ein majestätischer Ausblick. Wortlos blickten sie in die Weite. Über den Baumwipfeln breitete sich ein inniger Frieden aus.

„Ich liebe dich!“, gestand Elena selbst überrascht von der Direktheit ihrer Worte.

„Ich liebe dich auch! Ich bedaure zutiefst, das ich je ein anderes Gefühl zwischen uns zulassen konnte!“

Er legte seinen Arm um sie und drückte sie an sich. Noch eine ganze Weile verharrten sie auf diese Weise und ihre Blicke verloren sich in der unendlichen Weite.

Danach setzte sie ihren Gang fort.  Sie durchstreiften die Gegend ohne auf die Zeit zu achten.

Zum Schluss vermochte keiner von ihnen zu sagen wie lange sie unterwegs waren.

Erst als am späten Nachmittag die Sonne im Begriff war vor der Dämmerung zu fliehen, kehrten sie zurück. Sie bereiteten sich ein kleines Mal zu und nahmen es ein.

Elena musste mit sich ringen, um nicht der Versuchung zu erliegen noch länger zu bleiben, so sehr hatte sie sich verloren.

Neidhardt erging es nicht viel anders.

Nach unendlichen Stürmen hatte er endlich einen Hafen gefunden um seinen Anker auszuwerfen.

Der Augenblick zählte, die Zukunft musste warten.

Lange saßen sie beieinander, tauschten sich aus, hörten Musik.

Schließlich durften sie noch einmal eine zauberhafte Liebesnacht erleben, befreit von allem Druck, in Vertrauen und Gelassenheit.

 

Um so größer war die Wehmut, als sich Elena am darauf folgenden Morgen zur Abreise rüstete. Sie wollte den Weg einschlagen, den sie zwei Tage zuvor gekommen.

„Du glaubst doch nicht im ernst, dass sich dich nach allem was geschehen ist noch einmal durch das Minenfeld laufen lasse.“ Wehrte Neidhardt ihr Ansinnen ab, nachdem sie sich ihm offenbart hatte.“ Der Elektrozaun bildet keine Gefahr mehr, denn ich habe bereits gestern Abend den Befehl erteilt ihn vom Netz zu nehmen. Bedeutend mehr Zeit wird aber das Räumen des Minenfeldes in Anspruch nehmen. Mit Sicherheit lasse ich dich da nicht noch einmal durch.“

„Das war deine erste gute Tat Neidhardt! Weitere werden folgen! Aber ich muss doch zu meinem Auto, wie soll ich es denn sonst erreichen?“

„Ganz einfach! Inzwischen haben meine Leute die Stelle gesichert. Ich brauche nur noch den Autoschlüssel, dann schicke ich eine Patroullie dorthin,die bringen es bis vor den Eingang. Dann kannst du bequem von hier deine Fahrt antreten. Dürfte etwa eine Stunde dauern. Für mich bedeutet das noch eine Stunde länger in deiner Gegenwart, welch ein Gewinn.“

Elena widersprach nicht, war ihr doch bewusst, wie Recht er hatte, stattdessen sank sie  noch einmal in seine Arme  und überließ sich seiner Wärme.

„Ach, übrigens was ich fragen wollte. Was sind das eigentlich für ekelhafte Kreaturen die du in den Kanal ausgesetzt hast. So etwas Scheußliches habe ich noch nie gesehen?“, wollte Elena noch wissen.

„Nun das sind…. Aber bitte nicht lachen, Elena! Es sind…. Attrappen. Einer meiner Ingenieure hatte den glorreichen Einfall. Das sollte noch einmal besonders abschreckend wirken. Ich gebe zu, ausgesprochen albern. Selbstverständlich werden die Dinger sofort demontiert.“

Kichernd schmiegte sich Elena an Neidhardts Brust.

Von einem so großen Körper liebkost zu werde stellte ein weiteres Novum in ihrem Leben dar.

Madleen war fast einen ganzen Kopf kleiner. Deren Körper  weich, zart und  geschmeidig Auch Leander war kleiner als sie. Und sowohl Leander als auch Madleen waren einige Jahre jünger.

„Ich muss mich erst an den Zustand gewöhnen, auf die Zehenspitzen zu erheben, um den Menschen den ich liebe zu küssen.“

„Und ich muss mich daran gewöhnen überhaupt jemand zu küssen,“ erwiderte Neidhardt.

„Werden wir uns wirklich wieder sehen oder wache ich gleich mit der erschreckenden Erkenntnis auf, alles nur geträumt zu haben.“

„Wir werden, Neidhardt! Sag wann ich kommen soll, und ich tue es.“

Die Patrouille erschien schneller als erhofft. Wie geplant hatte sie Elenas Auto ausfindig gemacht und wohlbehalten zum Gartenhaus gebracht. Sie entwand sich Neidhardts Umarmung und schritt schweren Herzens zu ihrem Jeep, dabei einen kurzen Blick nach hinten werfend, ein Lächeln, ein angedeuteter Kuss. In Elenas Augen glänzten Abschiedstränen. Sie hasste Szenen wie diese. Nur schnell weg.

Sie startete den Wagen und setzte sich in Bewegung, sah nur noch wie Neidhardt seinen Arm zu einem letzten Gruß erhob, während sie hinter einer scharfen Kurve verschwand.

Vorbei jene Episode ungeahnter Gefühle und Leidenschaften. Nun hieß es zurück in den Alltag.

Tränenbäche ergossen sich über ihre Wangen. Sie bog in eine Einfahrt und stoppte den Wagen um sich ganz ihrem Gefühlsausbruch zu überlassen.

Erst jetzt wurde sie sich der möglichen Konsequenzen für ihr Leben bewusst

Sämtliche Regeln und Prinzipien hatte sie gebrochen.

Nie wollte sie sich von der Staatsmacht korrumpieren lassen, widerstand bisher stets allen Versuchen der Machthaber sie für ihre Ziel einzuspannen. Ihre Frontalopposition hatte sie zu dem gemacht was sie war.

Und nun? Sie hatte ausgerechnet mit dem obersten Repräsentanten des Regimes eine Affäre begonnen. Würde sie überhaupt noch einen Hauch von Glaubwürdigkeit besitzen, sollte dies publik werden? Sicher, es handelte sich um ihr Privatleben, außer Madleen bräuchte niemand davon zu erfahren. Doch andererseits gab es überhaupt so etwas wie eine Privatsphäre? Sie war eine Person der Öffentlichkeit, selbst ihre Beziehung zu Madleen wurde wie selbstverständlich öffentlich zelebriert.

Neidhardt konnte sie nicht in ihr Leben integrieren. Dieser Tatsache musste sie sich stellen. Trotzdem wollte sie ihn wieder treffen, koste es was es wolle.

Ihre Heimfahrt nahm zu ihrer Überraschung bedeutend mehr Zeit in Anspruch als geplant

Zu viele Gedanken drängten durch ihr Hirn. Immer wieder musste sie stoppen, benötigte Pausen um sich zu vergewissern, dass sie sich in der Realität und nicht in einer ihrer Trancen befand.