Die obere Plattform

 

Elena schreckte aus dem Schlaf. Noch nicht ganz wach, konnte sie sich noch genau an den Traum erinnern. Es war jener Traum, von dem sie schon seit geraumer Zeit in regelmäßigen Abständen heimgesucht wurde „Obere Plattform, Obere Plattform“ hallten die letzten Worte in ihrem Gedächtnis nach. Sofort fiel ihr die Prophezeiung wieder ein.

„Wenn die Avatarin auf der oberen Plattform erscheint, umhüllt von gleißendem Licht und tosender Brandung, dann ist der Weg frei in die Zukunft. Eine Zukunft in Gerechtigkeit, Frieden und Glück. Eine Zukunft ohne Herrschaft und Bedrückung.“

Immer wieder diese Prophezeiung. So sehr sie auch ihren Intellekt bemühte, war es ihr bisher nicht gelungen, deren Bedeutung zu entschlüsseln.

„Obere Plattform! Wenn ich nur wüsste, wo sie zu finden ist?“ sprach Elena zu sich selbst und starrte dabei in die Dunkelheit. Ein Blick zur Uhr verriet ihr, dass es erst kurz nach vier in der Frühe war. Noch viel Zeit. Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Dafür arbeitete ihr Bewusstsein schon viel zu sehr auf Hochtouren.

Viel stand auf dem Spiel, der vor ihr liegende noch junge Tag würde die Entscheidung bringen, für sie persönlich als auch für das gesamte Land.

Unruhig drehte sich Elena von einer Seite auf die andere. Sie war es gewöhnt, das Bett zu teilen, Madleens warmen weichen Körper neben sich spürend, wenn sie morgens erwachte, doch hier war niemand. Das große komfortable Zimmer in der Residenz wirkte trotz seines Luxus kalt und steril. Es fehlte das Leben. Stille umgab sie, Totenstille. Grabesstille?

Kein Wunder, dass in dieser Umgebung die Depression Triumphe feierte.

Elena schlug die Bettdecke zur Seite, streckte ihre langen Beine auf den Boden und setzte sich auf die Bettkante,dabei den weichen Plüschteppich unter ihren nackten Füßen spürend.

Nach einer Weile schritt sie zum Fenster, ihr Blick fiel auf den in spärliches Mondlicht getauchten Innenhof. Niemand zu sehen. Kunststück, zu dieser Tageszeit. Ihr fröstelte, sie ertastete die Heizung unter dem Fenstersims, die dort leise vor sich hin gluckste, dabei die erwünschte Wärme ausstrahlte, obgleich sie nur auf Frost eingestellt war. Elena betätigte den Thermostat.

Der Winter verteidigte seine Bastion in diesem Jahr hartnäckig. Kälte und Schnee wollten und wollten  nicht weichen. Für Ende Februar eigentlich normal. Der Frühling musste sich noch eine ganze Weile gedulden. Mit besonderer Sehnsucht fieberten ihm die Menschen entgegen.

Elena schlich zur Tür, öffnete sie zaghaft und erhaschte einen Blick in den von leise vor sich hin surrenden Neonleuchten erhellten Flur. Sie trat ein Stück nach draußen. Noch niemand auf.

Warum auch? Es bestand kein Grund, um vier Uhr morgens die Residenz mit Leben zu erfüllen. Sie schloss die Tür, huschte zu ihrem Bett zurück und mummelte sich wieder in die Decke.

Sie streckte den rechten Arm aus, aber es gab nichts zu ertasten. Sie sehnte sich nach Madleen. Was würde die jetzt tun? Gerade jetzt in diesem Augenblick? „Blödsinn! Natürlich schlafen!“ sprach Elena zu sich selbst und warf sich auf die linke Seite.

Aber die Unruhe arbeitete permanent in ihrem Gehirn. Sie brauchte erst gar nicht zu versuchen wieder einzuschlafen, denn das würde ihr nicht gelingen.

Sollte sie zu Neidhardt gehen? Gut möglich, dass der schon zu Gange war, erhob er sich doch in der Regel zeitig, um sich in der Stille seinen Aufgaben zu widmen. Sie waren sich in den letzten Tagen ein gehöriges Stück näher gekommen, er würde ihre Gesellschaft mit Sicherheit nicht zurückweisen. Doch andererseits stand er ebenso unter Druck wie sie selbst und bedurfte so der Ruhe und Einkehr.

Sie verwarf ihr Vorhaben gleich nachdem sie es ersonnen.

Doch wenn die Gedanken sie ohnehin nicht zur Ruhe kommen ließen, konnte sie sich ihnen auch stellen.

Sie hatte einen Entschluss gefasst und würde sich nicht mehr davon abbringen lassen. Nach einem sich so endlos gebärdenden Kampf schien sie ihrem Ziel nahe. So glaubte sie zumindest.

Das Gespräch mit Neidhardt tags zuvor endete ohne konkretes Ergebnis. Bis in den späten Abend hatten sie beisammen gesessen und diskutiert. Es war ihr nicht gelungen, ihn doch noch umzustimmen. Ständig war er ihr ausgewichen. Wollte sich nicht eindeutig festlegen. Er akzeptierte zumindest ihren Entschluss, den ihr angebotenen Posten als Staatsoberhaupt abzulehnen. Oder kam ihr das nur so vor?

Elena richtet sich auf und strich mit beiden Handflächen über ihr Gesicht Diese quälende Ungewissheit war eine Tortur. Wäre doch alles schon überstanden. Dachte sie genauer und tiefer und analysierte das Gespräch konkreter, musste sie sich eingestehen, dass sie ebenso schlau war wie zuvor. Ein festgezurrter Knoten voll mit offenen Fragen.

Cornelius Nachfolge konnte nicht geklärt werden.

Melancholanien glich derweil immer deutlicher einem Pulverfass.

Die allmächtige Staatspartei stand vor dem Auseinanderbrechen, neue Kräfte hatten sich sowohl innerhalb ihrer Reihen als auch außerhalb formiert und drängten nach vorn.

Der Erosionsprozess war nicht mehr stoppen. Der Weg frei für Neues. Doch wie sah dieses unbekannte Neue aus? Elena vermochte es nicht zu sagen. Ungewissheit überall. Angst vor dem, was da jetzt kommen mochte, schnürte ihr die Kehle zu.

All die endlosen Debatten der letzten Tage und Wochen. Im Grunde waren sie für die Katz.

Und wieder nagte der Zweifel in ihr.

Durfte sie sich so einfach verabschieden. Lebewohl sagen und den Dingen ihren Lauf zu lassen und sich abrupt aus allem ausklinken?

Der überwältigende Teil der Bevölkerung stand hinter ihr. Das war nicht zu leugnen. Sollte sie die Menschen enttäuschen und einfach so im Stich lassen?

War es Verrat? War es Feigheit, sich einfach zurückzuziehen? Lag nicht ihre Bestimmung darin, an der Spitze zu stehen?

Hin und her und her und hin!

„Was soll ich nur tun?“ Diese Frage ließ sie nicht zur Ruhe kommen.

 Sich am Ende doch noch erweichen lassen und nachgeben?

Nein, sie konnte und sie würde ihr Vorhaben durchsetzen! Sie war ein Mensch wie jeder andere, nicht unersetzlich. Klopfte morgen der Tod bei ihr an, musste es ja auch weitergehen. Es gab Leute, imstande, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen, die ermutigt von den neuen Freiheiten, eigene Initiativen ins Leben gerufen hatten und bereit zum Aufbruch waren.

Sie hatte ihren Teil erbracht. Das musste genügen! Sicher wäre die Bevölkerung zunächst bitter enttäuscht, später jedoch würden sie zur Einsicht gelangen, dass es so für alle das Beste war. Nie wieder sollte sich das Land derart auf eine Person fixieren, so etwas konnte nur wieder in eine neue Diktatur münden. Melancholanien würde zur Demokratie zurückkehren, das galt als sicher, wo sonst sollte es auch hin? Ein Übergangskabinett war beschlossene Sache, das zumindest konnte sie in ihren langen Gesprächen sicherstellen. Parteien würden wieder entstehen, sich nach einer bestimmten Zeitspanne zur Wahl stellen, die stärksten würden den Sprung ins Parlament schaffen. Dann musste eine Regierung gebildet werden und die Dinge sich in eine bestimmte Richtung entwickeln. Die alten Zeiten würden  wiederkehren, so wie vor der Revolution. Eine Restauration? Colettes Warnung hallte unaufhörlich in ihrem Kopf und drohte ihr den Verstand zu rauben. Die Privos erhielten ihre alten Privilegien zurück, die Prekas würden zur Arbeit gehen und ihr Tagwerk damit verbringen, den Reichtum für die Privos zu erwirtschaften, um diesen wieder ein Leben in Luxus zu ermöglichen. All jene, die nicht mit halten konnten, zu schwach, um sich zu behaupten, drohte der Absturz ins Uferlose, Neoparias.

Nein, niemals! Meldete sich eine Stimme aus dem Unterbewusstsein. Nie wieder Zeuge eines solchen Unrechts werden! Doch was dann? Demokratie oder Diktatur, etwas anderes gab es  bisher nicht. Oder doch?  Die Diktatur hatte man soeben erfolgreich überwunden, folglich gab es nur die Demokratie. In der Diktatur herrschte Unfreiheit, Bespitzelung, Angst denunziert und verhaftet zu werden. Es gab nur eine Meinung, die der allgegenwärtigen Staatspartei, die öffentlichen Medien waren gleich geschalten. Dafür aber gab keine Privos, keine Prekas und keine Parias mehr, alle waren gleich, gleich auch in der Unterdrückung.

Soziale Mindeststandards sorgten dafür, dass alle genug zum Leben hatten, ein preisgünstiges Gesundheitswesen, relativ freier Zugang zur Bildung etc.  

Drohte die Demokratie diese Egalität wieder zu beseitigen?

„Ein Zeichen! Ich brauche ein Zeichen! Irgendetwas!“ rief Elena verzweifelt in die Nacht.

Was aber war mit der Akratie?

Ein zartes Pflänzchen, zerbrechlich, empfindlich, anfällig für Missdeutungen jedweder Art.

Akratasien, ein Flickenteppich, der etwa ein Drittel des melancholanischen Staatsgebietes ausmachte. Wie konnte sie so naiv sein zu glauben, die übrigen zwei Drittel einfach abzuwickeln und in die Geschichte zu verabschieden?

Immer bedrohlicher setzte sich die Erkenntnis in ihr durch, dass sie einfach die Rechnung ohne den Wirt gemacht hatte. Die Mehrheit der Bevölkerung Melancholaniens verehrte sie als Person, für die Akratie aber konnte sich zu diesem Zeitpunkt kaum jemand begeistern.

Ohne Elena an der Spitze war das Scheitern vorprogrammiert, blieb die Akratie ein Traum ohne Bezug zur Wirklichkeit. Sie drohte sich binnen kurzer Zeit in Luft auflösen.

Nicht der melancholanische Reststaat würde sich dem Denken und Leben Akratasiens anschließen, sondern umgekehrt die Bewohner Akratasiens sehr bald in alte Gewohnheiten zurückfallen.

 

Elena wurde übel bei dem Gedanken. Leander, Kovacs und die vielen anderen hatten einige Jahre zuvor ihr Leben gegeben, um dieses verrottete System auf den Misthaufen der Geschichte zu befördern, um Emanzipation für Prekas und Parias zu erstreiten. Nun drohte sie selbst zur Verräterin zu werden, indem sie mittat, das Alte zu restaurieren.

Denn das würde sie, wenn auch indirekt, sollte sie sich tatsächlich zum Rückzug entschließen.

Tränen bildeten sich in ihren Augen. Alles umsonst! Es gab keine Gerechtigkeit! Niemals! Elena kam sich ausgesprochen miserabel vor.

„Ich bin eine Verräterin! Nur eine schäbige Verräterin!“ sprach Elena leise vor sich hin …

Nein, ganz konnte und durfte sie sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Sie musste weiter streiten für ein bisschen Gerechtigkeit, Glück und Liebe im ganzen Land. Sie musste die  Akratie weiter fördern, in kleinen Schritten die neuen Wege erproben, in der neuen erweiterten Föderation, um auf diese Weise in die Gesellschaft zu wirken. Wenn man ihrer Hilfe bedurfte, stand sie bereit, um ein zu schreiten. Aber einen herausragenden Posten bekleiden? Vielleicht ganz oben an der Spitze? Das wollte sie unbedingt vermeiden. Dieser Entschluss stand fest, er war unumstößlich.

Sie war ein Mensch, einfach nur ein Mensch und nichts weiter.  An ihrer Seite stand eine zärtliche und treue Geliebte und Gefährtin und sie hatte eine Tochter, denen würde sie sich in der Folgezeit vor allem widmen. Denn nur all zu oft hatten die sich in der Vergangenheit in Verzicht üben müssen. Wenn hier alles soweit geordnet war, einfach weg, einfach mal raus. Nichts sehen, nichts hören, nichts tun außer leben. Leben in den Tag hinein, ausspannen, sich zurücklehnen und sich vom Zufall treiben lassen. Danach war ihr jetzt.

Mit Madleen und Tessa eine Weile ans Meer fahren, das mochten alle drei. Abstand gewinnen, nur nichts von Politik erfahren. Das würde ihr jetzt besonders gut tun. Und sie würde sich diesen Freiraum erobern, koste es, was es wolle.

So sah er aus, ihr Plan. Nach gegebener Zeit könnte sie zurückkehren und sich, wenn gewünscht, am Aufbau des Landes beteiligen.

Um Colette brauchte sie sich keine Sorgen mehr zu machen. Die war bei Betül in den besten Händen. Die beiden konnte sie getrost sich selbst überlassen. Die würden in der Abtei verbleiben und bis zu ihrer Rückkehr die Fäden in der Hand halten.

Doch was würde sie bei ihrer Heimkehr vor finden, angenommen, sie bliebe wirklich länger fort? Das Chaos etwa? Unregierbarkeit? Zerstrittene Fraktionen, die sich nicht zu einigen verstanden? Einen neuen Neidhardt, der schon in den  Startlöchern saß und nur auf seine Gelegenheit wartete? Am Ende eine Diktatur, noch viel brutaler als jene, die sie gerade hinter sich gelassen? Oder die andere keinesfalls bessere Variante, die alten Zustände aus vorrevolutionärer Zeit?

Nein, nicht schon wieder grübeln? Hörte das denn niemals auf?

„Lasst mich endlich in Ruhe, ihr Dämonen! Ich werde nicht schwach! Ich bleibe unnachgiebig! Keinen Deut werde ich wanken.“

Zunächst aber musste sie diesen Tag überstehen. Eine große Hürde war zu nehmen.

Elena erhob sich erneut, setzte sich an den Schreibtisch, kramte ihr Manuskript hervor, das sie am Vortag verfasst hatte, ihr Verzichtserklärung auf alle öffentlichen Ämter. Die würde sie in wenigen Stunden im Parlament verlesen. Jedwede Empfehlung hatte sie bewusst unterlassen.

Damit aber riskierte sie ein Machtvakuum.

Frustriert legte Elena die Papiere beiseite. Verzichten oder doch zur Verfügung stehen, das war hier die Frage.  Hin und her gerissen und raufte sie sich die Haare.

Bestand überhaupt Hoffnung auf einen Konsens?

Wieder schlich sie zum Bett zurück, doch die Gewissensbisse wollten und wollten nicht weichen.

Ein Scheideweg! Aber warum nur schieden sich allein an ihr die Geister?

Sie konnte es nicht ändern, sie entschied, einfach alles auf sich zukommen zu lassen. Aber andererseits, sie wollte nicht klein beigeben. Diesmal nicht!

„Ich bleibe hart! Hart wie die Felsen des Sandsteinmassivs, das hinter der Abtei zum Himmel strebt.“

 

Nichts desto trotz fiel Elena nach einer Weile in einen leichten Schlummer! Sie fand sich im Traum vor dem Sandsteinmassiv oberhalb der Abtei wieder. Plötzlich eine gewaltige Detonation inmitten der Felsens. Ein Spalt öffnete sich und eine Reiterin auf einem großen Schwarzen Hengst erschien, die ihr fast zum verwechseln ähnlich sah, nur das sie bedeutend kräftiger und muskulöser wirkte. 

Aradia! Sie war frei! Nun konnte sie niemand mehr aufhalten. Die Kämpferin für Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit, für Gerechtigkeit und Frieden stand bereit die neue Aufgabe zu übernehmen. Stolz ritt sie den Berghang hinunter. Dann setzte sich sich in Richtung Manrovia in Bewegung. In Hand umdrehen hatte sie ihr Ziel erreicht und befand sich vor dem Parlamentsgebäude. Der Traum kennt keine Distanzen.

Die Pforte öffnete sich und sie ritt direkt in den Plenarsaal ein. Vor dem Rednerpult hielt sie an, stieg von ihrem Pferd, zog die kupferne Doppelaxt aus ihrem Gürtel und hielt sie nach oben. Durch das Fenster darüber drang ein grelles Licht in Form eines Feuerball ein und senkte sich auf die erhobene Axt hernieder.

"Akratie!" Rief Aradia.

Elena schreckte aus dem Schlaf, richtete sich auf und rieb sich das Gesicht.

Ein erneuter Blick zur Uhr verriet, dass sie nur wenige Minuten geschlafen hatte.

Nach einer Weile ließ sie sich zurück in die Kissen fallen.

„Anarchaphilia?  Ich weiß dass du es bist, die mir diese Träume sendet.  Offensichtlich geht es nur noch mit Hilfe aus der transzendenten Welt. Wir Menschen sind mit unserem Latein am Ende.

Ich überlasse es dem Schicksal, eine Entscheidung zu treffen. Tue du es für mich, wenn du so allwissend bist, wie du ständig vorgibst. Suggeriere den versammelten Abgeordneten morgen im Parlament deine Vorstellung und lass sie in Folge dessen eine Entscheidung finden. Eine Entscheidung, die allen zugute kommt.

Sprach Elena dabei den Blick starr zur Decke gerichtet

Was wollte ihr Anarchaphilia sagen?

Akratie! Sie konnte das Wort schon nicht mehr hören. Rätsel, nichts als Rätsel. Akratie bedeutete Nichtherrschaft. Dadurch wurde alles nur noch komplizierter. Aber andererseits, wenn Akratie tatsächlich Nichtherrschen bedeutete, bräuchte  sie am Ende gar nicht zu regieren.

Sollte sie etwa heute die Akratie verkünden? Das konnte nicht sein! Die Leute würden sie glatt für verrückt erklären. Aber immerhin, es war eine Option. Nicht sofort, keine Revolution, eine Evolution würde die Akratie bringen. Die Antwort lag auf der Hand.

Nachdem alles geregelt wäre, konnte sie nach Hause fahren, mit Madleen und Tessa ans Meer flüchten, mit ein paar dicken Bücher im Gepäck, die alten Theorien, die ihr Kovacs an vertraute hatte, hinzu die Weisheiten der Weltgeschichte, die Sufi-Lehren, der Buddhismus und noch vieles mehr. Damit würde sie sich gründlich auseinandersetzen. Zeit haben, in sich zu gehen. 

Doch kaum hatte sie diesen Entschluss gefasst, verwarf sie ihn schon wieder. Denn nichts von alledem konnte geschehen. Ihr Gewissen verbat ihr, sich aus der Affäre zu ziehen. Denn entschloss sie sich tatsächlich zur Flucht, würde, wie richtig befürchtet, das Land in einem chaotischen Zustand versinken.

 

Die Stunden quälten sich dahin. Endlich Zeit, sich zu erheben. Diese Tatsache kam ihr wie eine Erlösung vor.

Elena betrat die kleine Nasszelle, um sich frisch zu machen. Nun musste sie wieder Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild legen. Sie schien schon fast aus der Übung. Zum Glück bedurfte es nicht vieler Handgriffe, ihre lange kupferrote Lockenmähne saß wie immer. Auf Schminke konnte ihr Engelsgesicht getrost verzichten. Die natürliche Schönheit brauchte nicht durch Extras betont zu werden.

Bei der Kleidung allerdings musste sie einen Kompromiss akzeptieren. Ihr persönlich hätte es nichts ausgemacht, in Thermohosen und Stiefeln und gefütterter Cordweste zu erscheinen, jener Kleidung, die sie in dieser Jahreszeit zu tragen pflegte und in der sie einfach nur sie selber war. 

Wieder war es Madleen, die darauf bestand, dass ihr Äußeres dem Anlass entsprechend bemäntelt wurde.

Sie hatte ein Kostüm ausgesucht, schlicht aber modisch und elegant. Einen langen schwarzen, eng an liegenden Rock, der ihre Beine nur eine Handbreit über den Knöcheln freigab.

Dazu ein violetter Blazer mit V-Ausschnitt. Darunter sollte sie einen schwarzen Rolli tragen. Als einzigen Schmuck nur ihre Lieblingskette aus Silber dazu ihr selbst entworfener Anhänger mit dem Symbol der Akratasischen Föderation. 

An den  Füßen schwarze Pumps mit flachen Absätzen. Standhaft hatte sie sich geweigert, hochhackige Schuhe zu tragen. Bei einer Körpergröße von 1,89 cm wären die auch kaum von Nöten. Elena überragte auch so alle anderen. Ob sie den langen schwarzen Fleetmantel überziehen sollte würde sie entscheiden, wenn sie draußen war, sie warf ihn zunächst über einen Stuhl in der Ecke.

Noch einen Blick auf die Papiere werfen, alles war geordnet. Sie packte diese in eine schwarze Ledermappe und betrat den großen langen Flur, schritt bedächtig geradeaus, bis sie zu einem großen Wandspiegel kam. Sie betrachtete die Person, die da auf sie blickte.

„Bin ich das wirklich?“ fragte sie leise ihr Gegenüber. Bezaubernd sah sie aus, einer Göttin gleich. Wohl niemand würde diese Sinnlichkeit heute in den Schatten stellen, was ihr Aussehen betraf, schien sie außer Konkurrenz. Wie geschaffen für ein Staatsamt. Doch dazu würde es nicht kommen. Nur diesen Tag überstehen, dann freute sie sich endlich darauf, nach Hause zu kommen, konnte es nicht erwarten, diese Klamotten einzumotten um wieder ihren bequemen Landlook über zu streifen.

Sie erreichte Cornelius Privatgemächer. Dort gedachte sie zunächst mit Melancholaniens Noch-Staatsoberhaupt das Frühstück einzunehmen. Gemeinsam würde sie dann mit ihm zum Parlament fahren, das per Staatskarosse in knapp zwei Minuten zu erreichen war. Dort musste sie sich  behaupten. Der Ausgang der Debatte lag im Dunkeln.

Sie klopfte an die Wohnungstür und ein Bediensteter öffnete. Cornelius hatte sich bereits am Frühstückstisch platziert.

 

„Guten Morgen, Elena! Schön, dass du meiner Einladung gefolgt bist!“ begrüßte sie Cornelius.

Elena erwiderte den Gruss mit einem Kuss auf dessen Wange. Danach nahm sie auf der gegenüberliegenden Seite Platz.

„Habe ich doch gern getan!“

Sie schenkte sich einen Kaffee ein.

„Wie geht es dir heute Morgen, Cornelius?“

„Naja, den Umständen entsprechend, könnte schlimmer sein. Mach dir aber um meinetwillen keine Sorgen.“

„Tue ich aber! Das ist im Moment die größte Sorge, die ich habe!“ widersprach Elena.

„Ich bin froh, diese Bürde endlich los zu werden.Nie habe ich mich in dieser Funktion heimisch gefühlt! Eine Last war sie durch und durch. Aber die Sorge, was nun werden soll, ist es, die mich quält.“ antwortete der alte Mann mit sorgenvoller Mine.

„Und du bist nach wie vor der Meinung, dass ich für diese Bürde herhalten soll?“ wollte Elena wissen.

„Natürlich wärst du die Idealbesetzung! Aber ich habe deine Ablehnung akzeptiert. Ich kann verstehen, wenn du nicht willst. Schließlich konnte ich mich von dem kunterbunten Leben in deinen Kommunen überzeugen. Ich an deiner Stelle würde ebenso handeln.! Nun heißt es aber jemand finden, der sich eignet und das kommt der Suche einer Nadel in einem Heuhaufen gleich!“

„Und Neidhardt hat auch dir gegenüber definitiv abgelehnt?“

„Er hat! Und wer ihn kennt, weiß, dass seine Entscheidung ebenso endgültig ist wie die deine!“ gab Cornelius mit einem Anflug der Erleichterung zu verstehen.

„Nie hätte ich das für möglich gehalten! Dein Eindruck auf ihn muss enorm gewesen sein, Elena.“

„Es muss wohl so sein! Aber habe ich wirklich so viel dazu beigetragen? Und wenn ja, warum ist mir das nicht schon viel früher gelungen?“ bedauerte Elena.

„Nun, darüber solltest du dir jetzt nicht den Kopf zerbrechen! Geschehen ist geschehen. Wir müssen den Blick in die Zukunft richten.“

„Ich bin mir sicher, dass wir eine Person finden, die sich eignet! Daran wird es, denke ich, nicht scheitern. Es gibt genügend Leute, die sich diese Funktion nicht entgehen lassen werden.“ Stellte Elena mit einem Augenzwinkern fest.

„Ha, das glaube ich gerne! Nur ob das zum Besten des Landes wäre, sei dahingestellt!“

Elena schwieg, schmierte sich ein Butterbrötchen, doch großer Appetit stellte sich nicht ein, statt dessen ein Grummeln im Bauch. Lampenfieber? Sie und Lampenfieber? Die große Elena, die ihre Massenauftritte früher so genossen hatte? Lang, lang war es her. Ganz und gar aus einem anderen Leben.

„Alles Aufschneider, Elena. Ich habe mich in den meisten getäuscht. Was hatten die nicht alle für großspurige Pläne. Aber gib einem von denen ein Amt, eine Funktion mit einem fürstlichen Einkommen verbunden, dann löst sich aller Enthusiasmus in Luft auf. Ich bin gespannt, in welchen Branchen die alten Revolutionäre versuchen, neu durchzustarten. Hm, einige seien, so sagt man, schon jetzt eifrig dabei, neue Seilschaften zu knüpfen. Was tut man nicht alles für die Karriere?“

„Von irgendetwas muss der Mensch ja leben. Viele Funktionäre kamen aus Prekakreisen, möglicherweise sogar von den Parias. Keine angenehme Vorstellung, nach einer Laufbahn als Minister, Staatssekretär oder in der Parteihierarchie wieder ganz von vorne anzufangen.“ stellte Elena fest.

„In der Tat! In der Demokratie steigt es sich nicht so leicht nach oben. Das richtige Parteibuch nützt dort nur wenig, da sind andere Qualitäten gefragt.  Der Umfang des Bankkontos bestimmt die Leitlinien der Politik. Solches aber können vor allem die Privo vorweisen.“ bestätigte Cornelius und schenkte sich noch einmal Kaffee nach.

„Aber du isst ja gar nichts! Hast du denn gar keinen Appetit!“

„Nicht richtig! Ich bin in Gedanken schon drüben. Ich habe nicht den geringsten Schimmer, wie es heute ausgeht!“ bekannte Elena.

„Ich auch nicht! Aber ich bin stets auf Überraschungen vorbereitet. Das solltest du auch! In der Politik gibt es immer Momente, die in jeder Hinsicht ganz neue Seiten auf schlagen. Möglicherweise haben wir heute Abend eine Situation, mit der keiner zu rechnen gewagt hätte.“

Sie redeten weiter über dies und das, um sich ein wenig abzulenken. Denn beide stellten fest, dass es wenig Sinn macht, sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die ohnehin nicht zu ändern waren. Sie konnten dem Rad der Geschichte nicht in die Speichen greifen, das mussten sie akzeptieren. Alles Vorsehung, Schicksal, höhere Gewalt, wie immer man es nennen mochte.

„Wie geht es deiner Frau, Elena? Warum ist sie nicht mitgekommen? Und eure Tochter hättest du sich auch gerne dabei? Mir fällt erst jetzt auf, wie einsam du dich fühlen musst?“

Wahr gesprochen, Elena konnte das nur bestätigen, denn einsam fühlte sie sich in diesem Moment wie kaum zuvor in ihrem Leben.

„Madleen wollte nicht. Für solches Brimborium konnte sie sich noch nie  begeistern. Naja und eine von uns sollte vor Ort erreichbar sein. Wir haben ein großes Projekt in Anarchonopolis zu verwalten.“ erklärte Elena. Madleens dunkle Vorahnungen, was die Zukunft betraf, ließ sie lieber unausgesprochen.

„Ein wundervolles Paar seid ihr! Ich kann immer wieder nur sagen, wie sehr ich mich freue, dass du doch noch dein großes Glück gefunden hast, nach all dem Leid!“ betonte Cornelius.

„Wahrlich ein großes Glück. Und deshalb wirst du sicher auch verstehen, dass ich es nicht leichtfertig aufs Spiel setzen möchte.“

Cornelius nickte schweigend.

Der Blick zur Uhr offenbarte ihr, dass es inzwischen 9 Uhr war. Um 10 sollte die Sitzung des Parlamentes beginnen. Zeit zum Aufbruch. Elena verfluchte leise den Uhrzeiger, immer bedrohlicher eilte sie dem Augenblick der Bewährung entgegen.

„Ich hole nur schnell meinen Mantel, danach können wir aufbrechen!“ Elena unterbrach abrupt das besinnliche Beisammensein, eilte durch den langen Flur in ihr Zimmer zurück, griff nach dem Mantel, den sie vor Aufregung hatte liegen lassen. Wie gut, dass ihr Madleen den noch eingepackt hatte, denn ihr fröstelte immer noch. Auch wenn der Weg zum Parlamentsgebäude nicht weit war und sie die Strecke fuhren, es war immerhin Februar.

Wie eine Königin schritt sie die große Treppe hinab. Der Wachposten am Eingang öffnete die Tür. Cornelius erwartete sie an der Staatskarosse, mit Hut und Mantel ebenfalls gut gegen die Kälte gewappnet. Gestützt auf einen Gehstock. Er selbst öffnete die Tür der schwarzmetallic glänzenden Luxuslimousine und bestieg nach Elena den Wagen.

Der Chauffeur setzte zur Fahrt an. Elena fühlte sich ein wenig, als fahre sie zu einer Beerdigung. Und im übertragenen Sinne war es das auch. Heute würde ein Abschnitt der melancholanischen Geschichte unwiederbringlich zu Grabe getragen. Sie war sich der großen Tragweite des Augenblickes bewusst.

Es schien, als ließe sie auf dieser kurzen Fahrt noch einmal ihr ganzes Leben Revue passieren.

Einzelne Menschen hatten sich am Straßenrand postiert. Viele waren es nicht. Doch das sollte sich bald ändern. Die ganze Stadt war in Aufruhr. Noch bemerkte Elena davon nichts. Vielleicht achtete sie auch nicht weiter darauf in Anbetracht der Tatsache, unter welcher enormen Anspannung sie sich befand.

„Madleen, warum bist du nicht bei mir? Jetzt in dieser Stunde, wo so viel auf dem Spiel steht?

Warum hast du mich allein gelassen? Ich brauche deine Wärme in dieser kalten Zeit.“ sprach sie in Gedanken.   

Doch sie akzeptierte, denn Madleen und alle, die sie liebte, gehörten nicht hierher in diesen Dschungel der Intrigen, der Falschheit und des Verrates. Sie musste diese Schlacht für sich alleine schlagen.

Inzwischen hatten sie das Parlamentsgebäude erreicht. Die Tür öffnete sich und nach Cornelius betrat sie die Straße. Trist, grau und abweisend erhob sich das Gemäuer vor ihr in den Himmel. Sie schlug den flauschigen Kragen ihres Mantels hoch, griff nach ihrer schwarzen Ledermappe und klemmte diese unter ihren rechten Arm. Mit dem linken hakte sie sich bei Cornelius unter.

Bedächtig schritten sie durch die Eingangspforte. Die Wachposten standen stramm.

Weder Cornelius noch Elena konnten diesem Anblick etwas abgewinnen. Gezielt hielt Cornelius auf die breite Treppe zu, die zum Plenarsaal führte, der sich ein Stockwerk darüber befand.

„Die Treppe rauf? Wollen wir nicht lieber den Aufzug benutzen?“ schlug Elena mit Verwunderung vor.

„Nein! Noch bin ich imstande, Treppen zu steigen. Mein letzter Gang als Staatsoberhaupt dieses Landes soll in Würde geschehen. Der greise Cornelius lässt sich nicht im Aufzug zu seiner letzten Sitzung fahren. Wer immer heute als mein Nachfolger herabsteigen wird, muss sich dessen erinnern.“

Schritt für Schritt erklommen beide die steilen mit rotem Teppich ausgelegten Stufen.

Der Aufstieg bereitete Cornelius unendliche Beschwerden, doch ließ er sich nichts anmerken, verzog keine Mine. Doch in der Hälfte musste er pausieren.

„Nur einen Moment! Es geht gleich weiter!“ entschuldigte sich Melancholaniens Noch-Präsident nach Luft ringend.

Zwischen einem Aufgebot von Pressefotografen erschien plötzlich Neidhardt, um die beiden in Empfang zu nehmen. In dem Moment, als die Fotografen ihre Geräte erhoben, um die beiden in einem Meer von Blitzlichtern zu ertränken, wehrte Neidhardt mit herrischer Geste ab. Sofort ließen sie ihre Apparate sinken. Noch beugten sie sich der Diktatur. Die Demokratie gewährte diese Pietät nicht immer, nicht selten wurden dort selbst Staatsleute zu gehetzten Tieren.

„Ich grüße dich, Cornelius! Ich grüße dich Elena!“ nahm Neidhardt die beiden in Empfang. „Ich grüße dich, Neidhardt!“ Elena küßte dessen Wangen. Cornelius nickte nur höflich, er war außerstande, zu sprechen, zu sehr hatte der Aufstieg seine Kräfte verzehrt.

Ein Saaldiener nahm Hut und Mantel an sich, auch Elena entledigte sich ihres wärmenden Schutzes.

Cornelius zur Linken, Neidhardt zur Rechten, so schritt Elena durch die Tür in den Plenarsaal.

Die Sitzung war bereits im vollen Gange. Wortfetzen wirbelten durch die Luft. Elena fühlte sich an einen Bienenstock erinnert. Noch eine kleine Treppe nach oben, dann hatten sie die obere Plattform erreicht. So nannte man die Loggia, die für das Staatsoberhaupt reserviert war.

Als sich Neidhardt den Versammelten präsentierte, brach die Debatte abrupt in sich zusammen, gespenstischen Ruhe. Spannung, man konnte die Luft knistern hören.

Nur ein Abgeordneter erhob sich und wagte, das Wort zu ergreifen.

„Neidhardt, wir wollen Gewissheit. Die meisten hier können noch immer nicht glauben, dass du auf den Posten des Großen Vorsitzenden verzichten willst. Ist es dir ernst damit, dann äußere dich hier öffentlich. Sag den Leuten im Saal und all jenen, die sich draußen versammelt haben und denen, die zuhause an den Bildschirmen sitzen, dass du definitiv nicht zur Verfügung stehst. Bisher gehen nur Gerüchte um. Das ist schädlich für das Land. Bekenne dich und beende diesen unhaltbaren Zustand.“

Noch vor wenigen Wochen hätte niemand gewagt, auf diese Weise mit Neidhardt zu reden. Der Generalsekretär der Staatspartei war sakrosankt, Kritik an seiner Person ein schweres Vergehen.

Neidhardt schwieg, blickte nur auf die unter ihm liegenden Reihen herab. Zum letzten Mal diesen Ausdruck der Macht genießen, bevor er, wie Cornelius, für alle Zeit der Macht entsagen wollte. Abtreten zu Elenas Gunsten, so hatten die beiden es ausgehandelt. Elena selbst ahnte nichts. Sie hielt sich im Hintergrund auf, wollte sich nicht unnötig bemerkbar machen.

Denn immerhin, so glaubte sie im Augenblick noch, würde sie hier und heute nur eine Nebenrolle spielen. Schließlich hatten beide ihren Entschluss akzeptiert.

„Ja, Neidhardt, sprich zu uns! Lass uns nicht im Unklaren! Wir alle haben ein Recht, zu erfahren, was hier vor sich geht!“ meldete sich ein anderer Mutiger zu Wort.

Die Diktatur verlor weiter an Kraft, war bereits in die Demokratur übergegangen und nicht mehr lang und die Demokratie konnte sich wieder in all ihrer Kraft entfalten.

Ein allgemeines Gemurmel setzte ein. Immer mehr wagten ihren Unmut offen zu bekunden.

Doch Neidhardt schwieg noch immer. Was hatte er vor, fragte sich Elena. Konnte oder wollte er nicht sprechen. Das war so ganz und gar nicht seine Art. Er, der gewaltige Riese, vor dem noch vor Kurzen alle das Zittern bekamen, wenn er nur in Erscheinung trat.

Tumultartige Szenen spielten sich in den Reihen der Abgeordneten ab. Elena fürchtete das schlimmste. Würde sich hier bald Gewalt ihre Bahn brechen?

„Was tut er? Was hat er vor? “ sorgte sich Elena.

„Ich weiß es nicht, Elena! Ich werde Neidhardts Gemütszustand nie ergründen!“ antwortete Cornelius leise.

Inzwischen hatte sich Neidhardt an das Rednerpult begeben und betrachtete von hier aus das Gezänk zu seinen Füßen.

Plötzlich riss er beide Arme nach oben. Auf der Stelle endete der Tumult. Die perfekte Regie von einst, sie funktionierte noch. Der Diktator kehrte für einen Moment zurück und mit ihm die eisernen Prinzipien der Gefolgschaft, des Gehorsams und der Treue.

„Ihr wollt wissen, wie ich mich entschieden habe? Gut, ich will es euch sagen!“ begann Neidhardt schließlich seine mit Spannung erwartete Rede.

„Es ist richtig! Ich strebe das Amt des Großen Vorsitzenden nicht an! Eure Vermutungen sind richtig. Und nicht nur das.

Nach gründlicher Überlegung habe ich mich weiterhin entschlossen, auch von meiner Funktion als Generalsekretär der Radikal-Revolutionären Partei zurückzutreten.“

Wieder entstand Tumult, diesmal drohte alles in Chaos zu münden.

Erneut hob Neidhardt die Arme, doch diesmal wollte keiner mehr verstummen. Der Diktator hatte abgedankt, in diesem Moment stand nur noch ein einfacher Genosse vor ihnen.

Nur mühevoll gelang es dem Parlamentspräsidenten, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

„Ist das jetzt die Zeit, sich zurückzuziehen? Willst du unser Land in dieser schwierigen Situation einfach im Stich lassen?“ rief ihm einer der Abgeordneten wutentbrannt entgegen.

„Ich lasse Melancholanien keineswegs im Stich!“ verteidigte sich Neidhardt.

Ich werde auch weiterhin in beratender Funktion meine Hilfe zur Verfügung stellen.

Ihr alle, die ihr heute hier zusammengekommen seid und noch vor wenigen Tagen nicht den Mut hattet mir auch nur eine unangenehme Frage zu stellen. Kaum zeigt man eine schwache Stelle, schon glaubt ihr, das Parlament in ein Bierhaus verwandeln zu können.

Ich lasse Melancholanien nicht verwaist zurück. Auch wenn ihr mir diese Niedertracht zutraut.

Ich habe vorgesorgt und mich schon vor Zeiten um eine Nachfolge bemüht.

Melancholanien wird mit diesem Tag sein Ende finden. Schon morgen können wir diesen Namen nur noch in den Geschichtsbüchern wieder finden. Die Zukunft liegt in Akratasien, jenem Land, das wir noch bis vor kurzen als unseren Feind betrachteten. Die beiden ungleichen Landesteile werden sich unter diesem Namen vereinigen.

Es gibt in unserem Land eine Person die alle anderen überragt, eine Person, die sich die Liebe und das Vertrauen der übergroßen Mehrheit unseres Landes längst erworben hat. Ich gehe davon aus, dass sich auch eine deutliche Mehrheit dieses Hauses in der Lage sieht, dieser Person heute und hier Ihr Vertrauen auszusprechen.“

Elena wurde es immer unangenehmer, sie begann zu ahnen, was hier gespielt wurde. Sie blickte zu Cornelius, doch der senkte nur seinen Kopf. Er wagte es nicht, ihr in diesem Moment in die Augen zu sehen.

„Hiermit spreche ich mich ganz offen dafür aus, Elena zur Nachfolgerin unseres Vorsitzenden Cornelius zu wählen. Ich fordere von euch, diesen Vorschlag zu unterstützen.“ sprach Neidhardt nun die beklemmende Wahrheit offen aus.

Jetzt war es heraus. Elena fühlte sich verraten und verkauft. Ihr wurde schwindelig. Tränen traten in ihre Augen, doch sie wollten sich nicht über ihr Gesicht ergießen.

„Du hast es gewusst, Cornelius! Nicht wahr? Du hast es gewusst und mich einfach im Unklaren gelassen!“ schrie Elena Cornelius an. Doch der konnte erneut nur seinen Blick von ihr wenden.

Wie konnte man ihr das antun? Warum wollte man sie nur auf so abscheuliche Weise täuschen?

Im Plenarsaal tobte der Trubel derweil weiter. Aber die Spannung schien einer leichten Hoffnung gewichen.

Nur langsam begriffen die Anwesenden, was Neidhardt da gerade ausgesprochen hatte. Elena als Staatsoberhaupt, das kam einer erneuten Revolution gleich. Oder hatten sie sich verhört?

„Neidhardt, ist das dein Ernst? Bist du dir sicher, dass du Elena auf diesem Posten sehen willst?“ rief ihm einer der Abgeordneten entgegen.

„Ich bin mir absolut sicher. Ich habe mir diesen Entschluss gründlich überlegt. In diesem Moment der Krise gibt es keine Bessere auf diesem Posten als Elena.

Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung möchte Elena an der Spitze sehen und wir sollten dem Willen des Volkes entsprechen. Wir haben nicht das Recht, unser Volk weiter, wie bisher,  zu übergehen, wenn es um so tief greifende Entscheidungen geht. Elena muss unsere Vorsitzende werden. Sie wird Staatesoberhaupt eines wiedervereinigten Landes. Ich schenke ihr mein Vertrauen und Cornelius tut das auch. Zollt nun auch ihr Elena eure Ergebenheit! Lang lebe Elena!“

Zunächst senkte sich gespenstische Stille herab. Doch dann, langsam, ganz langsam konnte man aus verschiedenen Winkeln verhaltenen Applaus vernehmen. Dann wurde es mehr immer weitere schlossen sich dem an, bis alles in einen tönenden Jubel mündete.

„Wo ist Elena? Wir wollen Elena sehen! Jetzt und hier!“ ertönte es aus allen Ecken.

Elena hielt sich die Ohren zu, so als könne sie dadurch alles doch noch von sich wenden.

„Elena, du musst dich zeigen! Du hast keine Wahl, du musst den Auftrag annehmen.“ bedrängte sie Cornelius.

„Nein, ich will nicht! Ich kann nicht! Warum tut ihr mir das an? Ihr habt mich betrogen alle beide und ich war naiv genug, darauf reinzufallen. Das habt ihr euch fein ausgedacht hinter meinem Rücken, aber so nicht. Hier! Ich habe eine eigene Verzichtserklärung verfasst, die werde ich vor dieser johlenden Menge verlesen.“

Elena holte das Papier aus ihrer Mappe und fuchtelte damit in der Luft herum.

„Nein, das darfst du nicht! Wenn du das tust, wird noch heute das absolute Chaos ausbrechen, nicht nur hier im Parlament, nein überall im ganzen Land. Willst du das verantworten? Das glaube ich nicht!“

„Glaub, was du willst, Cornelius! Ich spiele hier nicht mit! Macht, was ihr wollt aber laßt mich in Ruhe. Ich habe genug von eurem Intrigenspiel!“

Neidhardt, inzwischen wieder auf der oberen Plattform angekommen, bedeutete ihr, zu ihm zu treten und sich an seiner Seite den Versammelten zu zeigen. Jetzt ging es ums Ganze. Würde der Befreiungsschlag gelingen? Sie schluckte und trat nach vorn.

Als die Menge ihrer ansichtig wurde, verstummte sie abrupt. Eisige Stille, man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. Zweifel machten sich breit.“ „Ist das auch Elena, oder will uns Neidhardt eine Komödie vorspielen?“ rief einer.

„Mehr Licht, mehr Licht!“ ertönte es aus einer anderen Richtung. Vor allem die Hinterbänkler konnten ihr Antlitz nicht deutlich genug erkennen.

Neidhardt und Elena auf der oberen Plattform, die beiden Erzfeinde, noch vor weinigen Wochen undenkbar.

Man gab die Anordnung, die Scheinwerfer auf der gegenüberliegenden Tribüne einzuschalten.

Diese waren direkt auf Elena ausgerichtet.

Es klackte mehrmals und Elena stand im gleißenden Licht. Irrtum ausgeschlossen! Es war Elena und sie schien bereit für ihre neue Aufgabe. Erst verhalten, dann immer stärker setzte wieder tosender Applaus ein, gleich einer Meeresbrandung die geräuschvoll ans Ufer schwappt.

In diesem Moment fiel der Schleier. Es bestand kein Zweifel. Alles stimmte? Die Obere Plattform, das gleißende Licht, die Meeresbrandung, die Prophezeiung erfüllte sich in diesem Augenblick. Doch eine fehlte. Wer war die Avatarin? Wollte es Elena noch immer nicht begreifen?

Sie war es selbst. Die Prophezeiung war auf sie ausgerichtet. Wortlos ließ Elena das Papier in ihrer Hand zu Boden fallen. Sie saß in der Falle, es gab kein Zurück mehr. Tränenbäche ergossen sich aus ihren Augen. Die jubelnde Menge störte das nicht, die hielten das für Freudentränen. Die Offiziere in den vorderen Reihen warfen ihre Mützen in die Höhe. Die Abgeordneten fielen sich in die Arme. Wer wollte unter diesen Umständen ihre Verzichtserklärung hören?  Und die Prophezeiung? Es war vollbracht.

Es dauerte nicht lange und die euphorische Hochstimmung schwappte aus dem Parlamentsgebäude auf die Straßen und Plätze, in die Fabriken und Büros, in Schulen und Krankenhäusern. Überall im ganzen Land schlossen sich die Menschen der Freudenkundgebung an.

Hupkonzerte, Glockenleuten, Sirenengeheul. Spontane Siegesfeiern, es wurde getanzt und gelacht. Ihre Elena würde sie regieren. Was für eine Nachricht!

 

Nur wenigen war ganz und gar nicht zum Feiern. Madleen saß mit den andern zu Hause vor dem Bildschirm und verfolgte das Geschehen mit leidvollem Blick. Auch sie konnte die Tränen nicht mehr halten, schluchzte laut ihre Verzweiflung aus sich heraus. Hatte sie Elena  endgültig verloren? Gab es von nun an überhaupt kein Privatleben mehr? Alles würde sich schlagartig ändern, dessen war sie sich bewusst. Das, wovor Elena noch vor wenigen Tagen gewarnt hatte, war eingetreten. Sie würde die Verantwortung tragen müssen, ohne ausreichend darauf vorbereitet zu sein.

 

Elenas Gedanken wanderten zu ihrem verstorbenen Mann. Was würde Leander wohl zu alldem sagen? War sie imstande, seine Träume zu verwirklichen? Oder würde nun sie selbst zum Spielball der Mächtigen, wie vordem Cornelius? Es ist leicht aus der Sicht der Ohnmacht die Mächtigen zu kritisieren. Doch was, wenn Ohnmacht selbst zur Macht wird?

Von diesem Augenblick an hielt sie alle Fäden in den Händen.

Elena blickte um sich, Cornelius und Neidhardt waren verschwunden. Allein gelassen. Ganz auf sich gestellt, der Machtwechsel war vollzogen. Ihr fröstelte wieder. Aber es war keine Kälte, die sie in diesem Moment erzittern ließ.

Der Jubel wollte nicht enden. Elena krallte sich mit den Händen an die Brüstung. Es sind jene Momente der Geschichte, die sich wohl für immer im Bewusstsein der Menschen festsetzen. Solch eine Stimmung sollte sie sobald nicht wieder erleben. Schon morgen würde der Alltag beginnen. Ein trister Alltag. Denn die unerledigten Aufgaben, die Cornelius und Neidhardt ihr überlassen hatten, türmten sich gen Himmel.

Da plötzlich dieses Wort: Akratie! War das der Schlüssel? Konnte sie das Wagnis eingehen?

Ja, sie konnte und sie würde es tun. Sie war auf Abruf in dieser Funktion. Und jenes Amt, das sie nun bekleidete, sollte das erste sein, das sie auf dem Altar der Akratie opferte.

Doch sie vermied es, schon jetzt und hier die Akratie auszurufen. Eine Zeit des Übergangs war eingetreten und sie wurde beauftragt, diesen Übergang zu leiten. Wie lange, das vermochte in diesem Augenblick kein Mensch zu sagen.

Noch am gleichen Nachmittag wurde Elena im Parlament zur Präsidentin der Föderativen Akratasischen Union (FAU)* vereidigt, wie sich das Staatsgebilde von nun an nennen sollte. Die Ironie bestand darin, dass sie auf die Verfassung eines noch bestehenden Staates schwören musste, den sie zu tiefst verachtete, denn die neue Föderation musste  erst formiert werden. Sie sah es als ihre Hauptaufgabe an, eben diesen  Staat sobald als möglich zu demontieren.

Die neue FAU sollte, so die Idealvorstellung nur noch als eine Art von Netzwerk fungieren, gespannt über einer Fülle sich autonom verwaltender Körperschaften verschiedenster Art.

Die Akratie als ökonomische und soziale Grundlage dienen, nicht als Weltanschauung oder Ideologie. Eine spirituelle, philosophische und weltanschauliche Vielfalt sollte die bisherige graue ideologische Einfalt ersetzen.

Wussten die Verantwortlichen, die ihr dieses ungeliebte Amt in aller Eile übergaben, was sie taten? Sicher nicht! Das aber war deren Problem, nicht das ihre. Sie wollten Elena und die hatten sie jetzt. Sie würden ihre Art zu regieren akzeptieren müssen. Wenn nicht, dann sollten die sich gefälligst jemand anderen suchen, der ihnen genehmer erschien.

Eine neue Zeitrechnung wurde mit diesem Tag eingeleitet. Das Ende der Geschichte?

Die Fahne der Neidhardt-Administration wurde eingeholt und wenig später flatterte das Banner Akratsiens über allen. Nun wurde auch optisch sichtbar was sich vor wenigen Minuten hier zugetragen. Genau um Mitternacht dieses Tages hörte Melancholanien auf zu existieren.

 

Als Elena am Abend allein auf dem Balkon des Präsidentenpalastes stand, frierend und einsam, die Parade einer unendlich scheinenden Menschenmenge abnehmend, hin und wieder winkend, so wie sich das gehörte, wurde ihr erst das ganze Ausmaß  bewusst, auf das sie sich eingelassen hatte.

Nun war sie hier oben angekommen, auf einen Posten den sie niemals wollte.

Es war einfach nur grotesk.

Ihre erste Amtshandlung bestand darin, eine Nachricht an Madleen zu senden.

„Komm schnell! Ich brauche dich so sehr!“ Das war alles. Deutlicher konnte sie wohl ihre Gemütsverfassung nicht beschreiben.

Dieser kantige Bauklotz, trist und grau, unpersönlich und kalt. Hier sollte sie wohnen, residieren, regieren?

Nur wenige Stunden waren seit ihrem Amtseid vergangen. Schon wurde sie von tiefer Sehnsucht heimgesucht. Sehnsucht nach dem bunten Treiben drüben in der Abtei, in Anarchonopolis, ihrer Heimat, Sehnsucht nach der Gemeinschaft, Sehnsucht nach ihrer Tochter, nach ihrer Geliebten, nach Colette und allen, die ihr ans Herz gewachsen waren in der langen gemeinsamen Zeit, die sie dort verbringen durfte.

Wie sollte sie das alles bewältigen?

Für eine bestimmte Zeit musste sie wohl oder übel hier leben, schon um den Schein zu wahren. Mit Madleen und Tessa, vielleicht auch noch der einen oder der anderen aus der Gemeinschaft, könnte sie es ertragen.

Colette würde wie vereinbart in der Abtei verbleiben und dort die Stellung halten. War sie noch Akratasiens Königin? Natürlich war sie das und sie würde es bleiben, solange sie lebte, auch wenn ihrem Amt nun mehr vor allem spirituelle Bedeutung zukam.

Später aber und dieser Entschluss keimte schon in ihr, würde Elena die gesamte Verwaltung dorthin verlegen. Wenn die Zeit gekommen war. Schon morgen würde sie damit beginnen, alles in die Wege zu leiten, langsam, ganz langsam. Sie wollte die Evolution, nicht die Revolution. Die Akratie lässt sich nicht von heute auf morgen per Dekret durchsetzen, so sie denn gelingen soll. Und Akratie wollte sie, nichts anderes. Mit Sicherheit musste sie mit großem Widerstand rechnen, doch das war ihr gleich. Wer sich einmal dem Kampf für die Herstellung der Herrschaftslosigkeit verschrieben hatte, konnte sich dem nur schwerlich wieder entziehen.

Weg mit ihnen, den Tyrannen, ob sie sich nun Diktatoren oder Demokraten nannten. Hier stand sie, gerüstet zur Tat. Sie wollte diesen Posten nicht, da sie ihn aber nun einmal innehatte, würde sie mit Belieben damit verfahren. Eine Präsidentin, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Ein Staatsoberhaupt, das doch im Grunde keines war, da eine libertäre Gesellschaft einer solchen Funktion eigentlich nicht bedurfte.

„Lang lebe die Akratie!“ Wann immer sie zu kommen gedachte.

 

Ende Teil II

 

 

* FAU ist die Abkürzung für die syndikalistische Basisgewerkschaft Freie Arbeiter-Union.

Die Kleingewerkschaft, deren Wurzeln bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zurückreichen, konnte in den letzten Jahren einige spektakuläre Arbeitskämpfe führen und für sich entscheiden.