Ein kleines Glück am Rande

 

Hoffentlich hält das Wetter! Regen wäre das Letzte, was Manrovia heute gebrauchen konnte, sorgte sich Colette, während sie die S-Bahn in Richtung Hauptbahnhof bestieg. Eine Fahrkarte löste sie nicht, schließlich handelte es sich nur um zwei Stationen. Wieder mal schwarzfahren. Ein Risiko, noch einmal wollte sie sich nicht erwischen lassen. Die letzte Kontrolle lag erst wenige Wochen zurück. Aber schwarzfahren gehört sich nun mal für eine richtige Anarchistin, glaubte Colette zumindest.          

Samstag war es, früher Nachmittag, wenig Leute im Abteil. Es ging zügig voran. Grund zur Eile bestand nicht denn die Demo sollte erst gegen 15 Uhr beginnen. Colette war bewusst zeitig aufgebrochen um ohne Blessuren das Bahnhofsviertel zu überqueren.

Sicherheit war oberstes Gebot, immer dann wenn der berüchtigte Blaue Orden mobilisierte.

Die heute Demonstration hatte viele Gesichter.

Natürlich trat der elitäre Orden nicht unter seinem Namen in Erscheinung, offiziell hatte der damit überhaupt nichts am Hut. Vielmehr übernahm die von ihm initiierte Organisation „Patrioten für Melancholanien“ die Verantwortung für diese Manifestation des Willens, wie sie diese Kundgebung zu nennen pflegten.

Es ging wieder einmal um die Paria, Melancholaniens unterste soziale Klasse und deren angeblich asoziales und subversives Verhalten.

Die „Patrioten“ waren der Ansicht, dass es an der Zeit sei endlich eine härtere Gangart einzulegen um jene „verlausten, verdreckten und alkoholisierten Subjekte aus der Unterwelt“

ein für alle mal aus Manrovia, ja besser noch aus ganz Melancholanien zu verbannen.

Im günstigsten Fall gleich kurzen Prozess machen. Eliminieren, ausschalten, vernichten, bis auch der letzte seinen Geist aufgegeben hatte.

„Schöner unsere Städte und Gemeinden!- Für ein sauberes, sicheres und starkes Melancholanien!“ Solche und ähnliche Sprüche konnte man auf den zahlreichen Transparenten lesen, welche die Anhänger der „Patrioten“ schon auf den Bahnsteigen des Hauptbahnhofes entrollten. Strengstens getrennt von den ebenfalls in großer Zahl erschienenen Gegendemonstranten, die ihnen unversöhnlich klingende Parolen entgegenschleuderten.

Die Sicherheitskräfte hatten alle Hände voll zu tun um zu verhindern, dass es schon hier oben zu einer Massenschlägerei kam.

Colette duckte sich und huschte an den Gegendemonstranten vorbei, die Rolltreppe hinunter.

Auf gar keinen Fall durfte sie in die Nähe der Patrioten kommen. Sie war einfach zu auffällig gekleidet um als harmlose Passantin durchzugehen.

Aufgrund der Tatsache, dass die letzte Hitzeperiode einem Temperaturstutz das Feld überlassen hatte und dickere Kleidung erforderlich machte, hatte sich Colette  entschieden ihre typische Tracht anzulegen. Von Kopf bis Fuß schwarz, hautenge Baumwollleggins an den Beinen. Die Füße zierten schwarz glänzende Schnürlederstiefel die bis zu den Kniekehlen reichten. Darüber ein schwarzer halblanger Lederrock. Dazu schwarze lässige Damenlederjacke, schon etwas abgewetzt, dafür um so edler. Auf dem Kopf ihre legendäre schwarze Baskenmütze, auf der linken Seite weit über das Ohr gezogen. Ihr leuchtend silbern glänzendes schulterlanges Lockenhaar lugte darunter hervor und verlieh ihr etwas Majestätisches.* Schwarzer Rucksack und ebenso farbiger Stockregenschirm, den sie weniger des drohenden Regens wegen, sondern eher als Gehhilfe aufgrund ihres Bandscheibenleidens benötigte, rundeten das Gesamtkunstwerk ab.

Denn darum handelte es sich bei Colette zweifelsohne.

Lässig schwenkte sie ihren Regenschirm wie einen Spazierstock, dabei die Hüften sanft hin und her schaukelnd, so wie das eben alle Frauen tun.

Am Eingangsportal hielt sie an und richtete ihren Blick auf die Bahnhofsuhr über ihr. 14.10 Uhr. Noch fast eine Stunde Zeit. Zunächst war sammeln angesagt.

Durch die Sicherheitskräfte streng von einander isoliert gelangten die Demonstranten auf den Platz. Gepanzerte Fahrzeuge der Sondereinsatzkommandos bildeten in der Mitte eine große Pufferzone.

Colette schritt gemächlichen Schrittes durch die zu diesem Zeitpunkt noch überschaubare Menge der Antipatrioten. Ein bunt zusammen gewürfelter Haufen, alle möglichen Schattierungen waren hier zusammengekommen um für ein paar Stunden ihren Unmut über das Auftreten der berüchtigten rechtslastigen Organisation zu bekunden, während die Patrioten auf der gegenüberliegenden Seite einen fest gefügten, straff organisierten Block präsentierten.

Ein breites Bündnis unterschiedlichster Gruppen und Initiativen hatte zu dieser Kundgebung aufgerufen und noch zu diesem Zeitpunkt konnte kaum jemand abschätzen wie viele dieser Einladung tatsächlich folgten.

Etwas Vergleichbares hatte Melancholanien noch nicht gesehen. Treibende Kraft hinter allem war Cornelius und seine Bürgerbewegung. Der alte Professor hatte nach dem ausgesprochen vergeigten Erstauftritt seiner Initiative dazugelernt. Allein vermochte seine Truppe kaum eines der abgestumpften melancholanischen Gemüter zu erreichen. Aus diesem Grund suchte er den Schulterschluss zu ganz unterschiedlichen Gruppierungen. Von einer aufstrebenden Bewegung zu sprechen war zu diesem Zeitpunkt noch verfrüht, auch wenn Cornelius versuchte es in der Öffentlichkeit so darzustellen.

Der Ausgang dieser Demo konnte eine erste Antwort darauf liefern.

Nicht eingeladen waren Neidhardts Radikal-Revolutionäre. Cornelius lehnte jedwede Zusammenarbeit mit ihnen kategorisch ab. Nichts desto trotz musste mit deren Erscheinen gerechnet werden und das womöglich in großer Anzahl, um auf diese Weise die Kundgebung zu dominieren und für ihre ureigensten Zwecke zu instrumentalisieren. Keiner ging davon aus dass Neidhardt persönlich kommen würde, zu groß war das Risiko für ihn, einen Geächteten.

Ein anderer hingegen wurde geradezu sehnsüchtig erwartet und auch bei ihm war es ungewiss ob er der Einladung Folge leistete, der Dichter Kovacs. Cornelius war sogar bereit ihm das Feld als Hauptredner zu überlassen, so sehr hoffte er endlich auf dessen aktiver Mitgestaltung.

Doch Kovacs war Einzelgänger und gefiel sich in der Rolle des einsamen Rufers in der Wüste. Nie und nimmer würde der sich vor den Karren irgendeiner politischen Bewegung spannen lassen. Seine Unabhängigkeit, seine radikal-libertäre Ausrichtung waren Kennzeichen, die er niemals preisgeben wollte.

Er war ein unverbesserlicher Selberaner ** und er gedachte es zu bleiben bis an sein Ende.

Colette hoffte besonders auf dessen Anwesenheit. Eine ganze Menge hatte sie von ihm gelesen und bei der Lektüre seiner Schriften öffnete sich ihr Herz, ihr Blick begann sich zu weiten und sie konnte tiefer sehen, hintergründiger, präziser. Kovacs messerscharfe Gesellschaftsanalyse  traf ins Schwarze. Noch nie hatte einer so schonungslos die skandalösen Zustände Melancholaniens an den Pranger gestellt.

Kein Wunder das er von allen Seiten angefeindet wurde. Doch nicht nur die Patrioten hatten ihn zu Gegner erkoren, auch Neidhardt sah es als seine Aufgabe an, ihn aus dem Untergrund heraus zu verleumden wo er nur konnte, ihn als subversives Element und kleinbürgerlichen Revisionisten darzustellen, nachdem er mehrfach vergeblich versucht hatte den unbequemen Denker auf seine Seite zu ziehen.

Colette verehrte ihn dafür umso mehr.

Nachdem sie den Platz mehrfach überquert hatte, beschloss sie sich noch eine Weile auszuruhen. Schmerzen im Rücken machten sich bemerkbar. Würden ihre Bandscheiben die Belastung einer mehrere Stunden dauernden Demonstration ertragen? 

Sie begab sich noch mal in das von dichtem Gedränge geprägte Bahnhofsgebäude.

An einem Kiosk gönnte sie sich eine Portion Pommes frites und eine Apfelschorle. Danach stieg sie die Treppe zu einem der Bahnsteige hinauf, sie hoffte so einen Blick auf den Vorplatz werfen zu können. Im Moment war es ruhig. Doch mit der nächsten S-Bahn würden weitere Kundgebungsteilnehmer eintreffen. Sie ging den Bahnsteig entlang.

Ein Betrunkener hatte sich auf einer Bank niedergelassen und streckte alle vier Gliedmaßen weit von sich, den Kopf dabei über die Lehne nach hinten geklappte. Mit weit offen stehenden Mund schnarchte er so laut, dass es über den ganzen Bahnsteig hallte, so als habe er vor die gesamten, reichlich vorhandenen Baumbestände Melancholaniens noch an diesem Tage abzusägen . Ein anderer näherte sich ihm auf leisen Sohlen von hinten. Gespannt verharrte Colette um zu beobachten was sich hier wohl ereignen würde.

Der Anschleicher holte aus seinem Rucksack eine Flasche Mineralwasser, öffnete diese langsam, dann goss er deren Inhalt in einem langen Strahl dem Schnarcher in den Mund

Just in dem Augenblick als dieser geräuschvoll ausatmete. Somit verwandelte sich das schnarchen in ein gurgeln.

„krrrachhhhgrullerullerullerullerruller ruller ruller!“

Eine gehörige Portion landete schließlich in dessen Luftröhre, was ein heftiges Krächzen auslöste.

Augenblicklich war er auf den Beinen und hüpfte wie besessen auf dem Bahnsteig herum, beide Handflächen dabei auf den Hals pressend. Er würgte so extrem das sich sein Gesicht langsam blau verfärbte. Schließlich sank er zu Boden.

„Das machst die nicht noch mal mit mir“ Röchelte er mit hoher Stimmlage. Doch der andere hatte sich längst aus dem Staub gemacht.

Alltagsszenen!

Angewidert verließ Colette den Bahnsteig um sich wieder nach draußen zu begeben. Der Platz füllte sich beständig. Es waren vor allem junge Leute aus der hiesigen autonomen Szene, die sich eingefunden hatten, eingehüllt in ihre üblichen facettenreichen Trachten.

Ein altertümlicher LKW tuckerte langsam in die Mitte des Platzes und kam dort unter lauten Getriebekrachen zum stehen. Ein großer schlanker Glatzkopf entstieg der Fahrertür und  bedeutete mit einer Handbewegung dem um stehenden Autonomen zu ihm zu kommen.

Offensichtlich benötigte er deren Hilfe beim entladen.

Colette beobachtete das Geschehen aus sicherem Abstand.

Die Planen wurden beiseite geschoben und es erschien eine kleine Bühne, eine Musikanlage nebst Verstärkern kam zum Vorschein. Nun begann der Aufbau.

Sollte das etwa das Podium für die zahlreichen Redebeiträge werden?

Das alles sah ausgesprochen klein und unscheinbar aus. Aber egal, wenn nur die Ansprachen hielten was sie versprachen.

Immer mehr Sicherheitskräfte formierten sich in der Pufferzone und auch die gegnerischen Seiten begannen sich langsam aber sicher zu füllen.  

Unter lautem Pfeifen der Gegendemonstranten rückten Fahnen und Transparente schwenkend ständig neue Patrioten in ihren martialischen Trachten vor und nahmen Haltung an. Ihre Kommandeure ließen sie strammstehen und salutieren, was auf der gegenüberliegenden Seite mit lautem Gelächter aufgenommen wurde.

Die Szenen dort erinnerten eher an ein Straßenfest. Im Gegensatz zum monolithischen Block der Patrioten, bot die Zusammensetzung der Gegendemonstranten ein Bild wie es unterschiedlicher nicht sein konnte.

Colette durchschritt erneut das Eingangsportal des Bahnhofs. Dort waren in der Zwischenzeit erste Infostände entstanden. Als erstes empfing sie eine Gruppe radikaler Veganer, die mit Flyern für eine vegane Ernährung warben. Dabei beschränkten die sich nicht mehr nur auf Menschen, nein, auch Haustiere sollten mit einbezogen werden.

„Ernähre deinen Hund vegan- und die neue Zeit fängt an!“ Konnte sie da lesen. Hallo? Geht es noch? Hunden und Katzen vegane Nahrung füttern? Hatten die denn wirklich keine anderen Sorgen.

Auch der folgende Infostand bot kaum geistreichere Kost. Eine Gruppe Studierende, aus den oberen sozialen Klassen, die ihr Herz zeitweilig für die Sorgen und Probleme der Armen entdeckt hatten, hoben ein Spruchband mit der Aufschrift

„Ein Herz für Paria!“ in die Höhe. Colette fragte sich, ob denen wohl bewusst war, dass sie die Paria-Unterschicht damit ebenso diskriminierten, denn diese Aussage suggerierte, dass die Parias offensichtlich nicht in der Lage schienen sich selbst zu emanzipieren.

„Glaubt ihr dass die Parias das nötig haben? Meint ihr nicht auch das die durchaus fähig sind für sich selbst zu sprechen?“ Wagte Colette einen der Aktivisten anzusprechen.

„Äh.. ja äh.. Sicher schon! Aber viel hört man aus deren Reihen ja nicht, was nach Selbstorganisation klingt. Da müssen wir eben ein greifen. Die muss man immer wieder zu Taten motivieren, sonst rühren die sich nicht. Die brauchen einfach Vordenker, denke ich.“ Antwortete ein hübscher in Samt und Seide gekleideter Jüngling.

„Hm! Und? Ob das vielleicht daran liegt, das die in ausreichendem Maße damit zu tun haben für ihren Lebensunterhalt zu sorgen und ihnen schlichtweg die Zeit für weit reichende Aktionen fehlt? Möglicherweise haben sie auch  einfach nur Angst und  trauen sich deshalb nicht in die Öffentlichkeit? Könnte es nicht daran liegen?“ Stellte Colette fest.

„Ja! Schon möglich! Komisch, daran hab ich noch gar nicht gedacht!“ Antwortete der Angesprochene.

„Na das ist doch wenigstens ein Anfang! Immer weiter denken,  vor allem tiefer denken, dann hab ich Hoffnung das sich die Erkenntnis am Ende doch noch einstellt!“ Erwiderte Colette bevor sie sich zum Gehen wendete.

Die Ansammlung der Autonomen im Zentrum des Platzes auf den Colette sich nun zu bewegte hinterließ einen viel lockeren und authentischeren Eindruck, trotz ihres zum Teil chaotischen Outfits und Auftretens. Viele Punker waren dabei.

Eine Wohltat im Gegensatz zu all diesen selbsternannten Gutmenschen und deren zur Schau gestellte Hilfsbereitschaft, deren krampfhaftes Begehren unbedingt etwas Gutes zu tun, vor allem um dafür von der Öffentlichkeit gelobt zu werden.

Auch Kyra hatte sich mit ihrer Gang eingefunden. Colette begab sich in deren Nähe, sie kannten sich flüchtig vom sehen her.

In Kyras Nähe verspürte Colette plötzlich so etwas wie ein Wohlgefühl, Wärme, Zuneigung, Heimatgefühle. Sie hatte keine Erklärung dafür. Aber Kyras lächeln signalisierte, dass die in diesem Augenblick wohl Ähnliches zu empfinden schien.

Schließlich packten die ihre Musikinstrumente aus und fingen einfach an zu spielen, andere begannen nach einer Zeit zu den rhythmischen Klängen zu tanzen. Auch Colette schloss sich an. Es wurde ein großer Spaß.

Alle fühlten sich in diesem Moment einem großen Ganzen verbunden, wenn sie auch noch so unterschiedliche Meinungen vertraten.

Von der Menschenansammlung völlig unbemerkt hatten die ersten Aktivisten auf der kleinen Ladefläche des LKW Platz genommen. Colette stellte fest das auch Cornelius unter ihnen war und eine Reihe anderer aus dessen Stab.

Von Kovacs hingegen fehlte jede Spur. Kaum einer ging zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass mit dem Erscheinen des Dichters noch zu rechnen sei.

„Hey Kundra, wie wär`s mit nem geilen Fick heute Abend? Siehst ja echt zum reinbeißen aus. Hähähä!“ Höhnte ein ausgesprochen unsympathisch wirkender Passant der sich hier wohl nur verirrt zu haben schien.

Noch bevor die Verspottete antworten konnte dröhnte Kyras lautes Organ.

„Verpiss dich du Wichser! Lass dir doch mal zur Abwechslung selber einen reinschieben. Aber ich kann mir nicht vorstellen das du einen findest der es dir besorgt, so wie du aussiehst!“

Mit hochrotem Kopf zog der Macho von dannen.

Colette blickte zu Kyra, die zwinkerte ihr zu und Colette erwiderte den Gruss entsprechend.

Wie gut es doch tat, Menschen an der Seite zu wissen. Menschen die einfach zur rechten Zeit zur Stelle waren, ohne auf sich zu achten.

Ja, mit jungen Frauen hatte Colette eh keine Probleme, mit denen kam sie ausgezeichnet zurecht. Sicher gab es auch alberne Tussis, doch waren diese in der deutlichen Minderheit.

Junge Frauen, die altersmäßig schon ihre Töchter sein konnten schienen geradezu einen Narren an Colette gefressen. Das hatte natürlich nichts mit sexuellem oder erotischem Interesse zu tun, nein, es handelte sich um rein freundschaftliche oder geschwisterliche Bande. Eben Mutter-Tochter-Beziehungen, wenn man es so nennen wollte. Aber immerhin. Ganz anders sah es aus wenn es um die Beziehung zu jungen Männern ging.

Warum nur klappte es bei jungen Kerlen nicht. Colette bedauerte diesen Umstand zutiefst.

Was hatte sie an sich, dass diese so ablehnend, ja mit unter feindselig reagierten? Was konnte sie tun, um diesen Umstand zu ändern? Sie stand vor einem Rätsel.

„Sag mal hast du ne Ahnung wie lange das noch dauert bis die anfangen?“

Vernahm Colette plötzlich eine Stimme zu ihrer Rechten.

„Häh?“ Erschrocken wandte sie sich um und vermochte vor lauter Ergriffenheit kaum den Mund zu schließen.

Sie blickte in das Gesicht eines bildhübschen jungen Mannes der da einfach aus dem Nichts aufgetauchte war und sich an ihrer Seite postierte

„Ich weiß nicht! Ich ähm, ich meine, ich denke… ähm, ne gute halbe Stunde geht wohl noch dahin..,.äh, ja äh…“ stotterte Colette verlegen

„Na, Zeit hab ich ja!“ Antwortete der Junge. Dann setzet er seinen Rucksack ab und kauerte sich einfach auf den Boden.

Colette konnte ihren Blick nicht von ihm lassen. Wie viele andere aus der Alternativszene war er noch sommerlich gekleidet. Der kürzliche Temperatursturz schien ihm nicht viel anzuhaben. Eine oliv-grüne Khakihose die bis zu den Knien reichte, dazu ein schwarzes ausgewaschenes T-Shirt. Schwarze Trekkingschuhe. Sein langes blondes Haar hatte er nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden. Im Gegensatz zu den meisten anderen jungen Männern aus der Szene zierte aber kein 3-Tagebart sein Gesicht. Fein glatt rasiert präsentierte er sich, so als wolle er sich dadurch von den andern unterscheiden. Seine sanft geformten Züge kamen dadurch voll zur Geltung und wirkten auf Colette wie elektrisierend. Besonders die feinen Grübchen in den Mundwinkeln hatte es ihr angetan, die besonders dann zu erkennen waren wenn ein verführerisches Lächeln sein Gesicht überzog.

Und davon machte er reichlich Gebrauch, immer dann wenn sich ihre Blicke kreuzten.

Eigentlich hatte sich Colette vorgenommen, noch einmal eine Runde zu drehen, weil das ständige Stehen auf einem Fleck ihren Bandscheiben ganz und gar nicht bekam.

Doch ging sie damit Gefahr diese sinnliche Erscheinung aus den Augen zu verlieren und dieses Risiko wollte sie auf keinen Fall eingehen.

Nach einer Weile begann sie auf der Stelle zu tänzeln, der junge Mann bemerkte das.

„Setz dich doch auch, wenn du nicht mehr stehen kannst!“

„Würde ich gerne, aber der Boden ist für mich zu hart, kann ich nicht riskieren.“

Ohne Aufforderung löste der Junge seine Isomatte aus den Riemen seines Rucksackes und breitet diese auf dem Boden aus.

„Komm, probier es mal, ist zwar auch nicht all zu dick, aber immerhin besser als gar nichts.“

Bot er mit einladenden Worten an.

Das ließ sich Colette nicht zweimal sagen und ging zu Boden.

„Hey, prima! Sitzt sich ausgezeichnet! Danke!“

„Gern geschehen!“ Und wieder dieses sinnliche Lächeln.

Dann rückte er auch noch auf zu Colette.

„Lass mir mal n`kleines Eckchen übrig!“

„Aber ja, selbstverständlich.“ Colette rückte zur Seite und ihr Objekt der Faszination näherte sich ihr auf etwa eine Handbreit.

Er holte Tabak und Rauchutensilien hervor und begann sich eine zu drehen.

Also würde Colette, die überzeugte Nichtraucherin, wieder einen gehörigen Schwall an Qualm inhalieren.

Mist! Warum müssen die nur immer alle rauchen? Dachte Colette mit einer Portion Enttäuschung im Bauch. Doch um die Gesellschaft dieses erotischen Meisterwerkes weiter genießen zu dürfen war sie bereit ihre Lungen dieser Strapaze aus zu setzen. Bei jedem anderen hätte sie schon längst fluchtartig das Weite gesucht.

„Pffrrruuuuubhhh! Biiiihhhhhhmmm!“ Die Verstärkeranlage schien aus dem vergangenen Jahrhundert zu stammen so sehr quietschte und krachte es. Zum Schluss polterte es nur noch, so dass durchaus damit zu rechnen war das sie den Leuten in den vorderen Reihen um die Ohren flog.

 Instinktiv hielt sich Colette die Ohren zu.

„Nicht mehr das neuste Modell würde ich sagen!“ Stellte ihr Nachbar fest.

Ach, sorry, hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin der Lukas.“

„Und ich bin Colette!“ Es folgte ein Handschlag wie zwischen zwei alten Bekannten.

Es hatte den Anschein als kämen sie sich jeden Augenblick ein stückweit näher.

Es war schon weit nach 15 Uhr als die Kundgebung startete. Auf der kleinen Bühne war so überfüllt dass sie zu bersten drohte, soviel hatten sich dort eingefunden. Zum Erstaunen aller auch ein Vertreter der oppositionellen Superdemokraten der versuchte sich in den Vordergrund zu spielen indem er beanspruchte als erster das Wort zu ergreifen. Doch kaum das er sich vorgestellt hatte ging seine Rede in einem ohrenbetäubenden Pfeifkonzert unter, die Buhrufe ertönten erstaunlicher Weise von beiden Seiten des Walls.

Wutentbrannt verließ der Vertreter der loyalen Opposition die Bühne und tauchte in der Menge unter.

Zur gleichen Zeit begannen die Patrioten mit ihrer Manifestation der Stärke.

„Hurra! Hurra! Hurra! Melancholanien voran! Parias vernichten, jetzt! Alle Macht den Starken!“ So oder ähnlich ertönte es von deren Seite. Darauf reagierten die wutentbrannten Gegendemonstranten in entsprechender Weise. Trillerpfeifen, Tröten, Trompeten oder einfach nur lautes Buhen übertönte den gesamten Platz, so laut das auch die eigenen Redner kaum zu verstehen waren.

Inzwischen hatte Cornelius das Mikro erobert und versuchte verzweifelt seine Ansichten unter das Volk zu bringen.

„Wir haben uns heute hier versammelt….“ Er kam noch immer nicht gegen den Lärmpegel an.

Die Arme weit nach oben gerissen ,bedeutete er der Versammlung ihn doch endlich einmal ausreden zu lassen und nach einer Weile trat erstaunlicherweise Ruhe ein.

„Wir haben uns heute hier eingefunden um dafür Sorge zu tragen, dass die unerhörten Parolen der so genannten Patrioten für Melancholanien nicht unwidersprochen bleiben.“ Setzte der alte Professor erneut an.

„Wir werden diesen Spaltern da trüben beweisen, das es noch so etwas wie einen Zusammenhalt in der Bevölkerung gibt. Die Paria gehören zu uns, sie sind ein Teil unsere Volkes. Sie haben Lebensrecht, so wie alle Menschen. Wer gegen sie hetzt, versündigt sich an den Grundprinzipien der Zivilisation. 

„Was meint der? Von welcher Zivilisation spricht der? Ich ging immer davon aus das Melancholanien schon lange keine Zivilisation mehr ist?“ Stellte Lukas mit Verwunderung fest.

„Ich auch nicht!“ Pflichtet ihm Colette bei. Ich hoffe es bleibt nicht bei diesem langweiligen Kram. Warum zeigt Cornelius nicht einfach die Alternativen auf?“

„Alternativen? Ja hat er denn welche vorzuweisen?“ Wunderte sich Lukas erneut.

Colette hatte dem nicht entgegen zu setzen.

In der Tat. Cornelius war ein ehrenwerter Mann und man nahm ihm sein Engagement durch aus ab und die ehrlichen Absichten die dahinter standen, aber eine wirkliche Antwort hatte er nicht zu bieten.

Ebenso uneindeutig setzte er seine Rede fort und nach kurzer Zeit zeichnete sich Langeweile bei den Demonstranten ab.

 

„Lasst uns zusammenstehen und den selbsternannten Patrioten auch weiterhin Paroli bieten, wir alle wissen wer hinter ihnen steht. Es ist der Blaue Orden der unser schönes modernes Land in eine mittelalterliche Feudalgesellschaft verwandeln will. Das dürfen wir nie und nimmer geschehen lassen. Allein vermögen wir nichts, nur gemeinsam können wir es schaffen. Einen Finger kann man brechen, aber fünf Finger sind eine Faust. Einigkeit macht stark und nach diesem Prinzip werden wir von nun ab  handeln.

Ich freue mich dass so viele der Einladung unserer Bürgerbewegung gefolgt sind und sich an dieser Gegendemonstration beteiligen. Das ist ein guter Vorsatz für die Zukunft. Darauf wollen wir bauen. Hier oben auf unserer improvisierten Rednertribüne haben sich einige Vertreter befreundeter Initiativen versammelt, auch sie werden gleich das Wort an euch  richten. Alle sind mit dem gleichen Vorsatz erschienen, der heißt: Lasst den selbsternannten Patrioten nicht die Bühne!“

„Sieg! Sieg! Sieg!“ Erklang es von Seiten der Patrioten, deren Redner verstanden es die Massen zu begeistern. Cornelius hingegen hatte zwar viel geredet aber kaum etwas gesagt.

Am Ende hörte keiner mehr hin.

Im Anschluss sprachen weitere Vertreter der Bürgerbewegung, sowie anderer Organisationen die der Einladung gefolgt waren. Doch der Lärmpegel war inzwischen so beträchtlich das man rein gar nichts mehr verstand, zudem funktionierte die Verstärkeranlage noch immer nicht richtig.

Colette begann sich ernsthaft zu sorgen. Würde sich die Demo in dieser Weise fortsetzen, hatten die Patrioten allen Grund ihre Siegparole zu skandieren.

Wo In aller Welt blieb Kovacs? Nur er schien noch in der Lage die Situation zu retten, zumal sich plötzlich in ihrem Rücken eine neue Herausforderung aufbaute.

Scharen von Anhängern der Radikal-Revolutionäre drängten nun auf den Platz, bereit auf ihre Weise in die Auseinandersetzung ein zugreifen. Einige ihrer Funktionäre bahnten sich ihren Weg durch die Menge und drängten in Richtung Bühnen-LKW. Dabei schoben und pressten sie die Anwesenden zusammen.

In letzter Minute hatte sich Colette und Lukas vom Boden erhoben um nicht überrannt zu werden. Dabei wurden sie dicht aneinandergepresst. Ein Umstand den Colette als ausgesprochen angenehm empfand.

Einige Radikal-Revolutionäre versuchten sich Zutritt zur Plattform zu verschaffen, die dort Versammelten stellten sich ihnen in den Weg, vergeblich. 

„Wir haben euch nicht eingeladen! Bleibt wo ihr seid und stiftet dort Unfrieden. Wo ihr auch auftaucht sät ihr Zwietracht. Ihr seid ja auch keinen deut besser als die da drüben.“ Cornelius wies mit dem Zeigefinger auf die Patrioten die auf der anderen Seite ihre Fahnen schwenkten.

Doch Lars der Anführer der Revolutionäre stieß den Alten einfach zur Seite, dann riss er einem anderen das Mikrofon aus der Hand.

„Ihr wollt uns am Reden hindern? Nein! Das schafft ihr nicht! An uns kommt niemand vorbei. Ob ihr uns eingeladen habt oder nicht ist einerlei. Jetzt sind wir hier und ihr habt gefälligst zu hören wir zu sagen haben.“

Pfiffe ertönten, doch es war nicht eindeutig ob diese Zustimmung oder Ablehnung bekundeten.

„Seht auch doch an! Hat man je etwas Armseligeres gesehen? Ihr wollt euch den Patrioten in den Weg stellen? Die lachen euch aus und das mit Recht. Vor so einem desolaten Haufen fürchten sich  nicht einmal die Fliegen. Die machen kurzen Prozess mit euch noch bevor ihr es bemerkt, die Patrioten, der Blaue Orden und wie sich dieses rechtsextreme Pack auch sonst noch so zu nennen pflegt. Ohne uns und unsere radikal-revolutionäre Partei seid ihr nichts. Allein durch unsere Führung könnt ihr den Durchbruch schaffen. Ihr besitzt ja nicht einmal ein tragfähiges Konzept. Wir hingegen haben eines und zwar etwas Konkretes, ein Programm das in die Zukunft weist und das sich sehen lassen kann. Die Revolution wird kommen, sie ist schon da, aber ohne straffe Führung wird sie wie eine Welle an der Kaimauer zerschellen.

Hiermit erheben wir offiziell Anspruch auf Führung, ob es euch gefällt oder nicht. Wir werden die Patrioten vor uns her treiben bis sich auch der letzte von ihnen in sein Rattenloch verkrochen hat. Lang lebe die Revolution, lang lebe ein neues, ein besseres Melancholanien! Lang lebe unser Vorsitzender Neidhardt!“

Nun war es genug, die Ordner griffen ein und drängen die Gruppe wieder von der Ladefläche. Doch Lars hatte erreicht was er wollt, der Beifall ließ breite Zustimmung zu seinen Worten erkennen.

Lediglich aus den Reihen der Autonomen waren Buhrufe zu vernehmen. Kyra und ihre Gang präsentierten den Revolutionären den Stinkefinger.

Als die Patrioten von der Auseinandersetzung auf der gegnerischen Seite Wind bekamen brachen sie in schallendes Gelächter aus.

Solche Szenen waren bei denen undenkbar.

„Na prima! Da haben die in den Medien doch gleich den rechten Aufmacher. Die blamieren sich ja bis auf die Knochen!“ Schimpfte Lukas und Colette konnte ihm nur beipflichten.

Lars und sein Trupp gaben sich noch nicht geschlagen und versuchten sich erneut ihr Terrain zu erobern. Es sah ganz nach einer nahenden Schlägerei aus.

„Verdammt noch mal wo bleibt Kovacs? Ich hätte nicht gedacht, das er uns im Stich lässt!“ Colette reckte ihren Kopf nach allen Seiten, aber von dem Dichter fehlte bislang jede Spur.

Doch da! War er das nicht! Colette erhob sich auf die Zehenspitzen um weiter blicken zu können. Ja, die lange hagere Gestalt mit dem langen grauen Pferdeschwanz und der legendären Lederweste bahnte sich gelassen ihren Weg durch die Ansammlung, von den meisten noch unbemerkt.

„Da! Da ist er! Siehst du Lukas! Das ist Kovacs, unsere letzte Hoffnung! Komisch das du noch nie von ihm gehört hast?“ Wunderte sich Colette.

„Ich stamme ja auch nicht aus Melancholanien! Bin sagen wir mal eher auf der Durchreise.“

„Ja, dachte ich mir. Du sprichst keine der mir bekannten Dialekte. Klinkt sehr alpin würde ich sagen.“ Glaubte Colette zu wissen.

„Richtig geraten! I bin a Esterächer! Meine Heimat ist Tirol!“ bestätigte Lukas.

„Echt? Wau! Schönes Land! Ich bin Alpenfan! Wir haben hier nur noch einen Zipfel des prächtigen Hochgebirges. Aber darüber reden wir später. Lass uns jetzt hören was der große Dichter zu sagen hat.“

In der Zwischenzeit hatte Kovacs die Treppe erobert und war auf der Plattform erschienen, gespannte Ruhe senkte sich auf die Versammlung.

„Na der hat uns gerade noch gefehlt!“ Empörte sich Lars. „Ich ging davon aus dass der die Einladung in den Wind schlägt. Also müssen wir mit vereinten Kräften noch mal ran. Es muss auf jeden Fall verhindert werden, dass der spricht. Bisher läuft alles in unserem Sinne. Aber der könnte uns doch noch in die Suppe spucken.“

„Aber lass ihn doch reden. Was ist denn schon dabei?“ Wollte Ronald wissen.

„Bist du verrückt? Denke daran welch beißenden Kritiken der über Neidhardt veröffentlich hat.“ Lehnte Lars ab.

„Aber bedenke auch was Neidhardt uns immer wider unter die Nase reibt. Wir sollen uns eingehend mit solcherlei Ideen auseinandersetzen. Und das möchte ich jetzt. Mich interessiert einfach was der Mann zu sagen hat und das ist alles.“ beharrte Ronald weiter auf seiner Meinung.

„Also ich kann Ronald nur beipflichten. Ich möchte seine Worte ebenfalls höre, habe mich viel mit seinen Ansichten beschäftigt, da ist einiges darunter das sehr überzeugend klingt.“ Stimmte Ansgar zu.

„Na hör dir das an! Hat euch der durchgeknallte Schreiberling etwa schon infiziert mit seinen abstrusen Vorstellungen, ein Grund mehr ihm am sprechen zu hindern.“ Lars geriet immer mehr in Rage.

„Wenn es uns nicht gefällt können wir immer noch ein schreiten, zunächst sollte er eine faire Chance bekommen.“  Schlug Ansgar vor.

„Jetzt ist es aber genug! Das ist ein Parteiauftrag, seit wann hinterfragen wir einen solchen, seit ihr denn alle….“

„Ja ich bin es wirklich! Wie ihr euch überzeugen könnt, seid ihr keiner Sinnestäuschung erlegen. Ich habe lange mit mir gerungen ob ich der Einladung Folge leisten soll. Noch heute morgen hegte ich starke Zweifel an diesem Unterfangen.“ Begann Kovacs plötzlich zu sprechen.

„Na warum bist du dann nicht zu hause geblieben? Halt einfach den Mund das ist das Beste für uns alle. Keiner will deinen Schwachsinn hören!“ Schleuderte ihm Lars entgegen.

Das fanden die Zuhörer ganz und gar nicht komisch.

„Lass ihn reden! Las ihn reden!“ Erklang es von allen Seiten.

Nun musste sich Lars wohl fürs erste geschlagen geben.

„Ich bin stets dankbar für die Tatsache dass es noch ein paar vernünftige Menschen gibt in diesem Land.“ Setzte Kovacs erneut an.

„Ihr wollt von mir einige Worte zur aktuellen Situation in Melancholanien. Gut! Ihr sollt sie bekommen. Es ist an der Zeit eine deutlichere Sprache zu sprechen als allgemein üblich.

Unsere Freunde von den Radikalen Revolutionären wollen mich nicht hören, sie können mich nicht leiden. Nun, da befindet ihr euch in guter Gesellschaft, den Patrioten dort drüben geht es ähnlich, auch die Wünschen mir Pest und Cholera zugleich. Sagt mal warum tut ihr euch eigentlich nicht zusammen?“

In der Zwischenzeit waren immer mehr Revolutionäre auf den Platz geströmt und vernahmen die zuletzt gehörten Worte mit Empörung.

„Frechheit! Halts Maul!  Faschist! Reaktionär! Hau ab!“ Gegenüber bemerkten die Patrioten wer auf der anderen Seite das Wort ergriffen hatte und stimmte ihrerseits in den Chor der Verleumder ein.

„Kovacs raus! Kovacs raus! Stopft dem Anarchistenschwein das Maul! Schießt ihn auf den Mond den Volksverführer!“

„Könnt ihr sie hören? Klingen sie nicht toll, die vereinten Chöre der Intoleranten? Für die einen bin ich ein Faschist, die anderen bezeichnen mich als Anarchist. Entscheidet selbst was mir am ehesten entspricht. Ich bin der Ansicht, man kann nicht beides gleichermaßen sein. Oder etwa doch? Gut, meinetwegen, dann bin ich eben Anarchist! Bisher habe ich eine solche Selbstbezeichnung nicht verwendet.

Die Anarchisten, Feindbilder aller Autoritären und Totalitären, schon seit uralter Zeit.

Eines habe ich heute mit Sicherheit dazugelernt. Ich weiß nicht wessen Diktatur ich mehr fürchten soll, jene der Patrioten und des Blauen Ordens, der wie ein Puppenspieler im Hintergrund deren Fäden zieht. Oder etwa jene der Radikal-Revolutionäre. Sie predigen Freiheit, doch haben sie ebenfalls nur eine neue Form der Knechtschaft im Gepäck.“

„Unverschämtheit! Hau ab! Kovacs raus!“ brüllten die Revolutionäre voller Wut. Doch bekundeten immer mehr Demonstranten ihre Zustimmung. Kyra und ihre Gang durchschritten die Reihen und feuerten die Versammelten an. Deren Stimmen sollte das Gebrüll der Neidhardtanhängern deutlich überlagern und natürlich auch jenes Gekreisch das von Seiten der Patrioten zu ihnen drang.

Auch Colette beteiligte sich mit Leidenschaft daran und ermutigte Lukas es ihr gleich zu tun.

„Auch ich besitze kein Patentrezept für die Zukunft.“ Setzte Kovacs seine Rede fort.

„Leute die behaupten sie seien im Besitz eines solchen, sind immer unglaubwürdig. Die Patrioten dort drüben machen es sich sehr einfach. Sie schieben alle Schuld auf die Schultern der Armen und Schwachen, all jener die ohnehin schon am Boden liegen und sich nicht mehr wehren können. Sie glauben, wenn alle Paria vernichtet werden und somit die vorgeblichen Schmarotzer und Parasiten das Sozialsystem nicht mehr belasten, ginge es mit der Wirtschaft wieder bergauf, denn das dadurch Eingesparte könnte dann allen anderen Bevölkerungsschichten zugute kommen. Das ist absoluter Unsinn. Die eliminierten Paria machen lediglich Platz für neue. Die Oberschicht Melancholaniens und deren Marionettenregierung braucht die Paria als wichtiges Druckmittel um die nächst höher stehenden Klassen in Schach zu halten. Die wirklichen Adressaten sind ohnehin die Preka. Ihr seid die Mehrheit der Bevölkerung. Um euch geht es und um eure Loyalität dem Staat gegenüber. Geht die verloren, dann ist die Zeit gekommen für revolutionäre Veränderungen.“

Kovacs drehte sich um und blickte auf die stolzen Fahnen schwenkenden Patrioten herab.

„Ihr selbst ernannten Patrioten. Die meisten von euch gehören ebenfalls zur Prekakaste, ihr seid einer ebenso erbarmungslosen Arbeitshetzte, Ausbeutung und Unterdrückung ausgesetzt, wie all jene die sich gegenüber eingefunden haben. Ihr befindet euch in der sozialen Skala auf gleicher Höhe und trotzdem fühlt ihr euch überlegen, glaubt etwas Besseres zu sein, wähnt euch in einer trügerischen Sicherheit. Denkt ihr etwa, eurem Schicksal zu entgehen nur weil ihr den Nationalismus, den Patriotismus für euch entdeckt habt? Nur weil ihr schöne bunte Fähnchen schwingen könnt, die eure Chefs in eure Hände gaben?

Ihr seid und ihr bleibt Preka, daran kann auch der Patriotismus nicht das Geringste ändern. Ihr laßt euch instrumentalisieren und bemerkt es nicht einmal. Gut, ich will Nachsicht üben. Denn ich weiß unter welchem Druck sich die meisten von euch befinden. Es ist schwer einem Menschen etwas begreiflich zu machen, wenn sein Lohn davon abhängt, dass er es nicht versteht. Sie haben euch in der Hand, die Patrone für die ihr euch Tag für Tag verausgabt.

Herren über Leben und Tod. Mit einer einzigen Unterschrift sind sie imstande eure Existenz zu ruinieren und dafür sorgen dass ihr euch selbst in den Reihen der Paria wieder findet, auf die ihr jetzt noch voller Verachtung herabseht. Lasst euch nicht täuschen. Nur weil ihr euren Chef mit Du anredet seid ihr noch lange nicht seine Freunde. In dessen Augen seid ihr nichts und niemand. Allein eure Arbeitskraft verleiht euch einen Status.“

„Buuuuhhhhh!“ Diese Reaktion ließ keinen Zweifel daran, dass die Patrioten nicht daran dachten umzukehren. Eine einzige Rede vermochte da nicht viel auszurichten. Um dass zu bewerkstelligen bedurfte es eines langen Entwicklungsprozesses.

Daraufhin wandte sich Kovacs der Gegendemo zu.

„Und noch ein paar Worte an euch, die ihr an die gewaltsame Revolution glaubt. Eure Gesinnung mag echt und lauter sein. Im eurem tiefsten Innersten wollt ihr tatsächlich Veränderungen, Verbesserung. Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und sozialen Frieden. Das unterscheidet euch von denen da drüben. Aber eure Methoden sind falsch. Ihr wollt die Macht erobern und behalten. Nach einer Übergangsphase werdet ihr euch auf die zunächst gesäuberten Throne schwingen und der herrenlosen Kronen bemächtigen. Die alte entmachtete Elite wird einfach durch eine neue ersetzt und regiert mit eiserner Faust an deren statt weiter. Dann ist es vorbei mit der Freiheit. Und eine Gleichheit kann unter solchen Umständen gar nicht erst entstehen. Das zarte Pflänzchen Emanzipation erstickt  in einer neuen Form der Diktatur. Unliebsame Geister werdet ihr recht bald zum schweigen bringen und nur eure Meinung wird zum Maß aller Dinge.

Nein, mit autoritären Methoden schaffen wir keine Freiheit und eine Gemeinschaft lässt sich nicht durch Zwang und Druck kollektivieren.  

Nur auf der Grundlage der freien Vereinbarung können wir etwas Neues und Gerechtes schaffen.“

„Ach und wie sieht sie aus, deine schöne, neue Welt, wenn die Frage erlaubt ist. Wie willst du ein Volk dahin bewegen? Glaubst du tatsächlich die Patrioten können sich in ein solches Gemeinwesen integrieren?“ provozierte Lars von neuem.

„Auf diese Frage habe ich gewartet. Sie ist durchaus zulässig. Denn an ihr scheiden sich die Geister. Um ehrlich zu sein. Ich kann es nicht sagen. Es hängt einfach vom Grad der Entwicklung ab. Die Patrioten werden ihre Fahnen in die Ecke stellen und auf uns zugehen müssen, wenn es ihnen ernst ist mit einem friedlichen Neubeginn. Und was euch Revolutionäre betriff, ihr müsst es ihnen gleich tun um euren guten Willen zu demonstrieren und um glaubwürdig zu erscheinen. Aber den Anfang  müssen jene auf der anderen Seite setzen und zu aller erst ihre schmutzige Gesinnung aufgeben.“

„Und du glaubst die könnten einmal in der Lage dazu sein?“ Rief Colette aus der Mitte der Versammelten.

„Ja! Wenn es uns gelingt sie zu überzeugen. Mit stichhaltigen Argumenten und wenn wir imstande sind ihnen eine echte Alternative zu bieten.“

„Unsinn! Das glaubst du doch selber nicht!“ Widersprach Lars energisch.

Doch der einsetzende Beifall deutete darauf hin dass die Mehrheit der Demonstranten bereit war sich seiner Meinung anzuschließen.

„Wir müssen es versuchen. Mehr kann ich euch im Moment nicht bieten. Eines aber ist sicher.

Wir erreichen ganz und gar nichts wenn wir beständig auf einander dreinschlagen. Das nützt einzig und allein den Eliten, den Reichen und Mächtigen die von den Uneinigkeiten profitierten. Das was heute hier geschieht ist ein Scheingefecht. Ein Nebenschauplatz, der  von den tatsächlichen Problemen ablenken soll. Die unteren sozialen Schichten werden aufeinander gehetzt um den Eliten auch in Zukunft ein schönes sicheres Leben zu garantieren. Geht in euch! Denkt tiefer! Erkennt und der Weg ist frei in eine neue Zeit!“

Abrupt brach Kovacs seine Rede ab und war im Begriff die Bühne zu verlassen. Doch der einsetzende Beifall hinderte ihn daran.

Ständig skandierten sie seinen Namen und ließen ihn hochleben. Auch Colette war außer Rand und Band und es gelang ihr Lukas mit zu reißen.

„Kovacs du hast uns aus der Seele gesprochen. Wir alle danken dir für deine Worte. Einfache Worte. Geradlinig und verständig! Das ist es was wir brauchen in dieser hochexplosiven Zeit.“ Versuchte Cornelius seinen Dank auszudrücken. „Ich glaube dem gesagten brauche ich nichts mehr hinzuzufügen. Nehmt die Worte an und bewegt sie in euren Herzen.“

 

Auf der gegnerischen Seite aber fand man das ganz und gar nicht. Dort staute sich die Wut zu einem Feuerwerk der Emotionen. Kovacs hatte mit seiner Feststellung in ein Wespennest gestochen, hatte den empfindlichsten Nerv offen gelegt. Die Patrioten waren arme Schweine und das wussten sie nur zu gut. Doch wer lässt sich schon gerne eine solch unangenehme Wahrheit unter die Nase reiben? Die plötzliche Erkenntnis ein Niemand zu sein, ist nicht sehr erbaulich. Aufklärer vom Schlage eines Kovacs hatten es von je her schwer ihre Botschaft unter die Leute zu bringen, zu allen Zeiten, in jedem Winkel dieser Welt. Wie viel einfacher hingegen agierten die patriotischen und nationalen Erweckungsprediger, die jenen abgehängten Verlierergestalten unablässig ein falsches Selbstwertgefühl suggerieren. Du bist stark, weil du einer starken Nation angehörst, einer Herrenrasse, oder einer „wahren“ Religion und was es sonst noch so gab mit dem mensch sich identifizieren mochte. Selbst der Leistungssport, vornehmlich der Fußball wurde dafür schon des Öfteren missbraucht.

Stets ist der Mensch geneigt all jenen Gehör zu leihen die einem aus der Seele sprechen, die glauben dazu berufen ,einem den lange schon verlorenen Selbstwert wieder zu verschaffen.

Wer in der Öffentlichkeit eine unangenehme Wahrheit verkündet, darf sich nicht wundern deren Opfer zu werden. Kovacs war sich dessen bewusst.

 

Die Sicherheitskräfte hatten alle Hände voll zu tun um die Patrioten am Durchbruch zu hindern. Die gepanzerten Einsatzfahrzeuge rückten in Stellung, richteten ihre Wasserkanonen auf den wütenden Mob.

Doch dann brach die Linie und der rechte Mob stürmte in die Mitte des Bahnhofplatzes um über seine Gegner herzufallen. Es entstand ein fürchterliches Durcheinander. Gedränge, Geschubbse, schließlich die ersten Handgemenge. 

Lukas packte Colette am Arm um sie aus der Schusslinie zu ziehen.

Eine richtige Entscheidung, denn einen Augenblick später kamen die ersten Wasserwerfer zum Einsatz. Doch zum entsetzen aller richteten sie ihren Strahl nicht etwa auf die Patrioten  sondern auf die Gegendemonstranten, trieben diese vor sich her, ihren Gegnern direkt in die Arme.

Einige der rechtsextremen Schläger hatten in der Zwischenzeit das Bahnhofsgebäude erobert, drangen auf die Gleise vor und behinderten den Verkehr. Von den erhöhten Bahnsteigen bewarfen sie die Teilnehmer der Gegendemo sowie unbeteiligte Passanten mit Steinen und Flaschen. Eine ging direkt neben Colette zu Boden, zerbarst in tausend Scherben. Nun hieß es nur noch Kopf einziehen. Autonome prügelten sich mit den Sicherheitskräften auf der gegenüberliegenden Seite, ein Pflasterstein flog und zertrümmerte das Schaufenster einer Herrenboutique. Ein Trupp besonders aggressiver Patrioten stürme einen Drogeriemarkt und schlug mit Baseballschlägern auf Kunden und Personal ein, die Sicherheitskräfte schauten unbeteiligt zu und griffen nicht ein.

„Los weg hier! Das wird langsam zu brenzlig! Ich habe heute überhaupt keinen Bock auf Schlägereien!“ Rief Lukas und riss Colette erneut mit sich. Er griff nach ihrer Hand und gemeinsam eilten sie durch die Gänge der Bahnhofsunterführung.

Außen angelangt griff sich Lukas ans Knie und sein Gesichtsausdruck ließ einen Schmerz erkennen. Ein Stein hatte ihn am Schienbein erwischt.

„Verflucht noch mal, auch das noch! Verdammte Scheiße!“

„Hat es dich schlimm erwischt?“ Wollte Colette wissen.

„Naja war ein fieser Schmerz!“

Ungläubig betrachtete Lukas sein Bein.

„Scheint nichts gebrochen! Aber tut höllisch weh. Puuh, kann nur ganz schlecht auftreten. Na mit der Demo ist`s wohl erst mal Essig.“

„Glaubst du dass du gar nicht mehr laufen kannst?“ Sorgte sich Colette.

„Ach, irgendwie wird ich das schon schaffen!“ Er versuchte aufzutreten, benötigte dafür mehrere Anläufe.

„Allein geht das bestimmt nicht! Komm ich helfe dir!“ Bot Colette bereitwillig an.

„Ach Unsinn! Einen Tiroler haut so schnell nichts um. Weist du wir sind echte Naturburschen, Holzfäller und so. So`n kleiner Schmerz kann uns nicht schaden.“

Dann versuchte er noch einmal aufzutreten, aber es wollte nicht so recht gelingen.

„Ja, genau das sieht man. Sei doch nicht so stolz, was ist denn schon dabei? Du hast mir geholfen jetzt helfe ich dir. Ist doch o.k.“ Colette ließ nicht locker.

Schließlich stimmte Lukas zu, denn es war wichtig sich erst einmal aus der Gefahrenzone zu entfernen.

„Komm, leg deinen Arm um meine Schulter.“ Forderte ihn Colette auf und Lukas tat wie ihm geheißen.

Dann umfasste Colette dessen Taille und zog ihn fest an sich. Es schien als seien beide Körper  auf merkwürdige Art elektrisiert.

„Und? Geh es so?“

„Ja, ich denke schon! Lass es uns doch einfach mal probieren!“ Antwortete Lukas.

Dann machten sich beide auf den Weg. Es funktionierte, schnell hatte sie die Unterführung hinter sich gelassen und befanden sich auf der anderen Seite des Hauptbahnhofes wieder.

Der Zug der Gegendemonstranten hatte sich trotz der gewaltsamen Ausschreitungen wie geplant in Bewegung gesetzt.

Die Patrioten begannen ihren Aufmarsch in die entgegengesetzte Richtung. Die Sicherheitskräfte glaubten auf diese Weise ein weiters Aufeinandertreffen der verfeindeten Parteien zu unterbinden.

„Aber du hast doch nicht etwa vor den Demonstrationszug mit zu laufen?“ erkundigte sich Colette.

„Ja! Warum denn nicht?“

„Aber doch nicht mit diesem Bein?“

„Ach, es geht schon wieder! Ist halb so schlimm wie zunächst erwartet.“ Wiegelte Lukas ab.

 „Das kann unmöglich dein ernst sein!“

„Mach dir keine Sorgen um mich, obwohl ich es natürlich ganz toll finde, wie sehr du um mich besorgt bist. Nein, die laufen doch runter zum Autonomen Zentrum, wie ich in Erfahrung bringen konnte. Da muss ich hin! Denn ich muss mir noch einen Schlafplatz für die Nacht suchen.“

„Ins Autonome Zentrum? In diese versiffte Absteige? Kommt überhaupt nicht in Frage.“ Lehnte Colette mit Nachdruck ab.

„Ach und wo soll ich deiner Meinung sonst hin?“

„Na zu mir! Du schläfst heute Nacht mit mir… pardon, bei mir wollte ich sagen. Ich wohne in einer WG, habe dort ein Zimmer. Nichts Besonderes. Aber auf jeden Fall besser als in diesem Chaos.“

Lautete Colettes eindeutiges Angebot.

„Hey, wie komme ich denn dazu? Danke! Aber mache ich dir da auch keine Umstände?

„Ach was! Alles o.k.! Wir müssen zwar ein wenig zusammenrücken. Ich hoffe es macht dir nichts aus mit mir in einem Bette zu schlafen. Ist ein schönes breites Doppelbett, ausreichend Platz!“ klärte Colette auf.

„Also dann schlafe ich doch mit dir und nicht nur bei dir!“ erwiderte Lukas mit einen schelmischen Lächeln.

„Hm! Kommt ganz darauf an wie man es sieht, würde ich sagen. Also was ist?  Willst du erst laufen? Oder gehen wir gleich zu mir?“

Colette schien es auf einmal sehr eilig zu haben. Die Aussicht diesen Adonis heute Nacht neben sich im Bett zu haben war einfach zu verführerisch.

„Na, ein kurzes Stück noch, würde ich sagen. Ich bin ja eigens wegen dieser Demo hierher gekommen. Ich sag dir schon sollte es nicht mehr gehen. Wohnst du weit von hier?“

„Nein! Nur zwei Stationen mit der S-Bahn. Können wir in 20 min erreichen.“

Die Demonstration setzte ihren Weg fort. Aber ihre Reihen hatte sich schon deutlich gelichtet.

Die Ausschreitungen hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Mal auf eine Demo gehen und für soziale Gerechtigkeit streiten, in Ordnung! Aber sich dann tätlich angreifen lassen? Das war dann doch ein wenig starker Tobak. Um wen ging es hier denn? Um die Paria! Und sich um deretwillen von den Patrioten schlagen und treten lassen? Nein, so weit konnte die Freundschaft doch nicht gehen.

Colette und Lukas hielten an und ließen den Zug an sich vorbeidefilieren, ihre Körper dabei eng aneinander. Colette wurde es wärmer und wärmer, ihre Erregung steigerte sich von Augenblick zu Augenblick.

„Also von mir aus können wir jetzt zu dir gehen!“ Meinte Lukas, Colette vernahm es mit besonderer Genugtuung.

Sie machten kehrt und strebten wieder dem Bahnhofsgebäude entgegen in der Hoffnung dort eine inzwischen entspannte Lage vorzufinden.

Zum Glück war Ruhe eingekehrt. Einige Händler, die dort ihre Geschäfte betrieben, waren unter lautem Fluchen mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt. Überall lagen Glassplitter, dem Anschein nach hatte es eine ganze Reihe von Schaufenstern entschärft.

Colette löste sogar zwei Fahrkarten.  Auch wenn sie nur zwei Stationen zu fahren hatten. Offensichtlich wollte die notorische Schwarzfahrerin Lukas damit beeindrucken.

Ein Umstand der sich als weise herausstellte, denn es waren rund ein halbes Dutzend Kontrolleure im Abteil. Colette und Lukas hatte nichts zu befürchten. 80 Mark Bußgeld blieb ihnen erspart. Ein anderer hatte weniger Glück. Ausgerechnet ein Schwarzafrikaner. Eigenartig, einen Schwarzen beim Schwarzfahren zu erwischen. Es gab Diskussionen im Land ob man Menschen mit schwarzer Hautfarbe als „Schwarzfahrer“ bezeichnen durfte, oder ob es sich dabei womöglich um eine Diskriminierung handelte.

Dem Kontrolleur schien das allerdings nicht zu beeindrucken. Wild gestikulierend fuchtelte er mit den Armen in der Luft herum.

„Hey Bimbo, du sein eine blinde Passagier!“

„Lernen sie gefälligst erst mal richtig sprechen, dann reden sie mit mir!“ Antwortete der Angesprochene selbstsicher in einem akzentfreien melancholanisch.

Colette konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

Schnell waren sie am Zielort. Ihre neue WG in der sie vor einigen Wochen unter gekommen war, befand sich in unmittelbarer Nähe des S-Bahnhofes. Dementsprechend lag nur noch ein kurzer Fußmarsch vor ihnen, ein Umstand den Lukas begrüßte.

„Dann immer rein in die gute Stube!“ Lud Colette ein und öffnete die Haustür. Es ging eine Treppe nach oben.

„Wie gesagt, kein Palast. Aber es wohnt sich hier ganz gut!“ Glaubte Colette sich noch einmal entschuldigen zu müssen.

„Warum entschuldigst du dich denn immerfort. Ist doch in Ordnung. Sehr gemütlich würde ich sagen.“ entgegnete Lukas. „Wohnst du schon länger hier?“

„Seit 2 Monaten! War ein rechter Glücksfall, ich stand damals gerade vor der Obdachlosigkeit.“

„Braucht mir nichts zu sagen, kenne ich nur zu gut. Ich weiß gar nicht mehr wie oft ich schon die WG`s gewechselt habe, da muss ich schon genauer nachdenken.“

Inzwischen hatte Lukas auf einem großen Korbstuhl Platz genommen.

„Lass mal deine Wunde sehen. Hm, ist geschwollen. Ich denke da müsste man gleich kühlen. Zum Glück haben wir fast immer Eiswürfel im Haus.“ Schlug Colette vor.

„Ach mach dir keine Umstände. Sicher, es schmerzt noch, aber das wird schon wieder von alleine besser.“ Lehnte Lukas ab.

„Ach was! Das sind keine Umstände! Keine Widerrede! Ich sehe nur mal unten in der Gefriertruhe nach. Wenn du Durst hast, bedien dich einfach.“ Colette wies auf eine Ecke, dort bewahrte sie ihre Getränke auf.

Kurze Zeit später erschien Colette schon wieder im Zimmer. In der Hand hielt sie einen großen Lappen.

„So hier ist das Eis. Bein hochlegen! Das wird dich gleich kühlen!“ befahl Colette und Lukas gehorchte diesmal widerspruchslos. Es war eben Mama Colette, in dieser Rolle gefiel sie sich am besten. Sie war geradezu süchtig danach von Menschen um geben zu sein, günstigstenfalls von bedeutend jüngeren wie eben Lukas, denen sie ihre Fürsorge angedeihen lassen konnte.

„Und? Schon besser?“

„Ja, ich glaube schon!“

„Siehst du! Wenn es getaut hat, hol ich gleich noch einmal eine Portion!“

Colette überspielte geschickt ihre Verlegenheit, denn so cool wie sie sich gab war sie ganz und gar nicht. Die Nervosität hatte sie gepackt. Schon lange konnte sie keinen so gut aussehenden Typen mehr bei sich beherbergen. Sie befürchtete ihre Unsicherheit konnte ihr letzten Endes noch zum Verhängnis werden und sie würde alles vermasseln.

„Äh… ja…, äh. Nun bist du also hier!“

Kaum hatte Colette die Worte über ihre Lippen da bereute sie diese schon. Etwas Blöderes war ihr wohl nicht in den Sinn gekommen. Was kam als nächstes? Schönes Wetter? Oder was machst du so? All die unsinnigen Fragen, die man immer dann zu stellen pflegt, wenn einem Verlegenheit in die Ecke drängt.

„Ähm, aus Tirol kommst du? Hm, was hat dich dann ausgerechnet in unser schönes Melancholanien verschlagen?“ Schon besser. Jene Frage zeichnete sich wenigstens durch eine gewisse  Art von Logik aus.

„Ach, ich bin ständig unterwegs. Mal hier mal dort! Ich ziehe herum durch die Welt, so wie es mir gefällt, wie ein Zigeuner würde ich sagen.“

„Pssst! Nur ja nicht dieses Wort aussprechen. Wie ein Sinti-und-Roma wolltest du sagen vermute ich.“

„Ja genau das! Hm wenn das besser klingt! Ich tauch einfach überall dort auf wo es Action gibt. Politische meine ich. Ich jage sozusagen den großen Demos hinterher.“ Gab Lukas zu verstehen.

„Interessant! Dann vermute ich mal das du viel erlebst auf deinen Wanderungen durch Europa.“ Hakte Colette nach.

„Schon ne ganze Menge! Es kommt einfach darauf an dabei zu sein. Immer ganz vorn im Kampf für ne bessere Welt, wenn das nicht zu abgehoben klingt. Ob bei Blockuby in Frankreich, ob beim Protest gegen G7, beim schottern gegen Castortransporte im Wendtland.

Demnächst geht’s in den Hambacher Forst. Du weist doch sicher wo das ist und warum es dabei geht?“

„Ich bin im Bilde, hab mich auch viel mit Widerstandsbewegungen auseinandergesetzt. Allerdings nicht mehr so aktiv wie früher, bin halt nicht mehr ganz taufrisch. Aber zu dir zurückzukommen. Jetzt hast du Station in Melancholanien gemacht. Wie kamst du ausgerechnet auf unser Land?“

„Melancholanien ist ein hochinteressantes Land!“ Glaubte Lukas zu wissen. “Hier geht im Moment so richtig die Post ab. Da steht irgendwann ne Revolution ins Haus, wage ich mal die Prognose. Da möchte ich dabei sein. Wo kann man das  noch erleben? In Österreich etwa? Vergiss es! Aber Melancholanien, jenes Land das als erstes am Ende der Geschichte angelangt ist.“

„Aber du glaubst doch nicht etwa diesem Unsinn? Du konntest dich vor wenigen Augenblicken davon überzeugen, dass die Geschichte hier höchst präsent ist. Posthistorische Zeitalter hingegen sehen Revolutionen gar nicht erst vor.“

Versuchte Colette aufzuklären.

„Dann bist du also auch so ne Art von Berufsrevolutionär, wenn ich mal eine einigermaßen zutreffende Bezeichnung finden soll. So wie auch ich eine bin, auf meine Weise“ Meinte Colette.

„Wenn du so willst! Hab nicht weiter drüber nachgedacht, aber wird schon zutreffen. Wichtig ist einfach nur Erfahrungen zu sammeln. Schließlich ist man nur einmal jung. So lange es möglich ist lass ich mir den Wind um die Nase wehen.“

Wie wahr gesprochen. Eine gute, eine gesunde Einstellung zum Leben. Colette beneidete ihn darum und natürlich auch um die Möglichkeiten die ihm offenbar zur Verfügung standen.

Doch wovon bestritt er seinen Lebensunterhalt? Wir konnte er all das finanzieren? Gab es jemanden im Hintergrund, eine wohlhabende Familie, begüterte Freunde oder Bekannte, die ihm unter die Arme griffen?

Colette waren solche Typen wohlbekannt. Häufig hatte sie mit diesen unter einem Dach gelebt. Die berufsmäßigen Demonstranten und ihr revolutionärer Tourismus. Überall dabei sein, immer ganz vorne an der Front, so waren sie, auch wenn sicher eine gehörige Portion Aufschneiderei mit ihm Spiel war und die Hälfte ihrer Berichte einzig und allein  ihrer Phantasie entsprang, sie waren Menschen die es verstanden zu leben. Heut ist heut, morgen ist weit. Den Augenblick auskosten, denn niemand vermochte zu sagen ob es noch einen nächsten gibt. Wie armselig dagegen das Leben der Preka in den Fabriken und  auf den Baustellen, in den Bürohäusern und Supermärkten. Auch die hatten nur ein Leben und wie gingen sie damit um? Rackern, rackern bis zum umfallen. Das Leben verschieben, auf später. Aber später? Wann ist das? Für viele gab es nie ein Später.

Jener Sorgen waren Leute wie Lukas enthoben. Arbeit spielte, wenn überhaupt, in ihrem Leben nur eine äußerst untergeordnete Rolle. Sie wollten die Arbeiterklasse aus dem Joch befreien ohne deren Leben wirklich zu kennen. Wie denkt, fühlt und lebt ein Preka, der sein ganzes Leben am Fließband verbringt. Für Lukas eine fremdartige Schattenwelt.

Colette hingegen kannte dieses Leben nur zu gut, vor allem in jüngeren Jahren hatte sie dessen Würgegriff am eigenen Leibe erfahren müssen.

Nie wieder! Diesen Schwur gab sie sich dereinst und gedachte ihn zu halten, ganz gleich was auch kommen mochte. Lieber wollte sie Armut und Unsicherheit in Kauf nehmen als sich noch einmal einer solchen Knochenmühle auszuliefern.

Man muss das Leiden erst durchleben, bevor man sich davon emanzipieren kann. Doch für Lukas war das keine Maxime.

„Wenn nichts dazwischen kommt geht es im nächsten Jahr auch mal für ne Zeit in die Staaten!“ Fuhr Lukas fort.

„In die Staaten? Du meinst nach Amerika?“

„Genau dahin! Du das wird echt geil sag ich dir. Wollte ich schon lange. Bisher aber klappte es nicht. Aber für nächstes Jahr bin ich zuversichtlich.“

„Was macht das Knie?“ Erkundigte sich Colette. „Soll ich noch mal Eis holen?“

„Nee, ist schon besser, danke! Ja, hat schon mal gut geholfen. Wie gesagt mach dir keinen Umstände.“

Es wurde weiter erzählt.  Sie kamen dabei vom hundertsten ins tausendste. Zwischendurch hatte Colette etwas zu essen gemacht, und sie verspeisten es auf dem Zimmer. Draußen sickerte die Dämmerung über den Himmel, bis sie den Tag vollständig verschluckt hatte. Später setzte Regen ein, die Tropfen trommelten gegen die Fensterscheiben und auf das sich davor befindliche Vordach aus Glas.

Das verlieh der Situation einen zusätzlichen Hauch von Behaglichkeit.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Zeit beständig näher rückte, da sie mit Lukas das Lager teilen durfte, wurde Colette immer nervöser, andererseits war sie aber auch todmüde und es gelang ihr kaum noch die Augen offen zu halten.

„Also ich werde mich jetzt zur Ruhe begeben. Müde, es war ein anstrengender Tag für mich, dieses rum gelaufe und auf einer Stelle stehen. Du bist um einiges jünger, in dem Alter verkraftet man das noch besser.“ Gestand Colette.

„Gute Idee! Mich hat der Tag auch ganz schön geschlaucht. Auf welcher Seite soll ich liegen?“

„Am besten links, an der Wand, wenn es dir nichts ausmacht.“ Schlug Colette vor.

„Kein Problem! Es ist dein Bett und du entscheidest.“

Lukas entkleidete sich bis auf Unterhose und Unterhemd. Colette verschlug es fast den Atem beim Anblick diese sportlichen und muskulösen Körpers. Da würde sie sich aber beherrschen müssen um ihre Erregung zu verbergen. Sie selbst schlüpfte schnell in ihr Nachthemd, bevor es all zu offensichtlich wurde was sie fühlte und begehrte. Dann huschte sie schnell unter die Decke.

Nach wenigen Augenblicken gesellte sich ihr Lukas zu.

„Ja, dann Gute Nacht! Träum was Schönes!“ Wünschte Lukas.

„Dir auch! Gute Nacht!“ Murmelte Colette, die ihm bereits den Rücken zugedreht hatte.

So lagen sie eine ganze Weile einfach so nebeneinander. Doch der Schlaf wollte sich bei beiden nicht einfinden.

„Colette? Schläfst du schon?“

„Nein! Du auch nicht wie ich vernehmen kann?“

„Geht mir einfach so viel durch den Kopf, all das was sich heute ereignet hat und so. Verstehst du? Jetzt liege ich einfach so neben dir. Als wir heute Morgen aufstanden und uns auf den Weg begaben kannten wir uns noch gar nicht, wussten nicht um des anderen Existenz. Ist das nicht eigenartig?“

„Wie das Leben so spielt. Ich hätte auch nie im Leben damit gerechnet diese Nacht mit einer anderen Person zu verbringen.“

„Hast du häufig Leute bei dir auf dem Zimmer? Ich hab gar nicht danach gefragt, ob du in einer Beziehung lebst. Gibt es einen oder eine? Hast du besonders Vorlieben was das Geschlecht betrifft?“

Jetzt wurden Lukas Fragen direkter und Colette war froh das er das Thema angeschnitten hatte. Was bezweckte er damit? Wollte er ihr damit etwas Bestimmtes sagen?

„Nein, ich fühle mich zu allen Geschlechtern hingezogen. Männer, Frauen, Kundras. Eine bestimmte Person gibt es nicht, jedenfalls nicht im Moment. Ich bin frei. Und selber?“

„Oh im Moment genieße ich ebenfalls die Freiheit und das Singledasein. Bei mir waren es vor allem Frauen. Eigentlich ausschließlich!“ Gab Lukas zu verstehen.

Dann gab es für Colette keine Chance. Schade! Sie hatte sich wohl mehr versprochen. War sie jetzt enttäuscht? Sicher, doch hatte sie gelernt mit solchen Situationen umzugehen.

Dann fuhr Lukas auf einmal fort und das was er sagte hob Colettes Stimmung deutlich.

„Weißt du, das es das erste Mal ist dass ich mit einer Kundra so eng bei einander liege. Auch wenn du dich nicht als Mann fühlst und nicht so lebst, dein Körper ist eindeutig.“

„Und ist dir das jetzt unangenehm?“

„Keineswegs! Nein, das ist es ja gerade. Es ist, wie soll ich sagen…äh. Ach was, fangen wir ganz von vorne an. Schon als ich dich dort auf dem Platz stehen sah, war ich von dir fasziniert. Ich habe keine Erklärung dafür, aber es ist so. Ich hätte mich mit meiner Frage auch an jeden anderen dort wenden können, waren ja genug Leute versammelt. Aber warum ging ich ausgerechnet auf dich zu?“

„Gute Frage! Und? Findest du mich attraktiv?“ Colette ging aufs Ganze. Mehr als eine Abfuhr konnte sie sich ja nicht einhandeln.   

„Wenn du mich so direkt fragst: Ja! Auf jeden Fall! Du bist keine Marilyn Monroe, aber das ist auch gar nicht nötig. Deine Attraktivität hat etwas ganz besonderes, findet sich keinesfalls in Konkurrenz zu anderen Frauen Viel habe ich von deinem Körper nicht gesehen, du verstehst es ihn gut zu verhüllen, ich denke du hast deine Gründe dafür. Aber ich könnte mir vorstellen dass der etwas Einmaliges zu bieten hat.“

Colette schlug die Bettdecke zur Seiten, dann zog sie das Nachthemd mit einem Satz über ihren Kopf.

Lukas betrachtete das Wesen neben sich voller Bewunderung, Ehrfurcht und Interesse, dann ließ er sanft seine Handfläche über Colettes Brüste gleiten, bis hinunter zum Bauchnabel. Ein Gefühl wie kalt und heiß auf einmal, so oder ähnlich könnte man umschreiben was die Kundra  in diesem Moment verspürte, es kam ihr so vor als würde sie jeden Moment ab heben und sich in Richtung Decke bewegen.

„Wau! Hast du eine schöne weiche und geschmeidige Haut. So etwas habe ich noch nie gefühlt, du bist ja weicher als eine Frau.“

Lukas Worten gefielen Colette, im Gegensatz zu früher, als sie noch ein Kind oder jugendlich war. Da hänselten ihre Mitschüler sie aufgrund ihres pummeligen weichen Körpers. Ein Junge hatte ein Junge zu sein. Und zu einem Jungen gehörte nun einmal eine gehörige Portion Härte. Härte in jeder Hinsicht, auch oder vor allem was die Ausstrahlung betraf.

Lukas zog sich mit einem Ruck das Unterhemd über seinen Kopf. Jetzt endlich konnte Colette dessen sportlich-athletischen Körper betrachten und sie beließ es nicht dabei. Sie erwiderte die Berührung mit der gleichen Intention.

„Das was du zu bieten hast kann sich aber auch sehen lassen.“

Lukas wurde immer intensiver. Nein, ein grober Tiroler Holzhacker war er ganz und gar nicht. Sanft, zärtlich und ausgesprochen gefühlsbetont, so nahm sie seine Berührung war. Es war eine Wohltat.

Endlich war es soweit und er entledigte sich auch seiner Unterhose und nun konnten die Dinge ihren Lauf nehmen.

Im Zimmer flackerten noch die Teelichter in ihren roten Gläsern und verliehen der Szene eine noch sinnlichere Aura.

Colette und Lukas liebten sich leidenschaftlich, wild und hemmungslos. So lange bis sich die Eruption aus beiden ergoß. Es schien als haben beide den ganzen Tag nur auf diesen Augenblick hingearbeitet. Im Anschluss lagen sie eng ineinander verschlungen und gönnten sich eine lange Zeit der Zweisamkeit

Colette schmiegte sich eng an Lukas’ Seite, der die neue Freundin in seinen starken Armen hielt und mit einer Handfläche ihre Wangen streichelte.

Worte bedurfte es in diesem Augenblick keine. Schließlich war es soweit das beide gemeinsam in den Schlaf fielen. In der Traumwelt setzten sie ihren Liebesakt fort, noch intensiver, denn in der Welt jenseits der Realität gab es keine Zurückhaltung.

Als sich die Morgendämmerung langsam ihren Weg über den Nachthimmel eroberte und die ersten zaghaften Strahlen der Sonne durch die Vorhänge an den Fenstern in das Zimmer drangen lag Colette schon lange wach. In ihrem Kopf arbeitete das vor wenigen Stunden erlebte, unaufhörlich weiter.

Lukas schlief noch an ihrer Seite, sie spürte seinen Atem, was zu einer Gänsehaut führte und dem Wunsch nach einem ewigen Jetzt. Die Zeit anhalten und in dieser Stellung bis zur Unendlichkeit verharren. Doch das Leben kannte solche Auszeiten nicht. Es ging weiter, immer weiter im gewohnten Trott. Auch für Colette sollte in absehbarer Zeit wieder der Alltag beginnen. Lukas würde sich verabschieden, ihr für alles danken und dann seiner Wege gehen. Abschiedsschmerz? Colette musste damit rechnen, auch wenn sie sich gewappnet fühlte um sich davon nicht in den Abgrund ziehen zu lassen.

Im Moment fühlte sie sich gut. Schmerzfrei seit langer Zeit, spürte sie am Morgen nicht den sonst üblichen bohrenden Druck in der Halswirbelgegend und in ihren Schläfen.

Schon das allein war ein Gewinn.

Leise stöhnend erwachte schließlich auch Lukas und wandte sich ihr zu.

„Guten Morgen, meine Schöne! Hattest du eine gute Nacht!“ Flüsterte er ihr leise ins Ohr.

Danach legte seinen Arm um sie zog sie zu sich und begann erneut ihr Gesicht zu streicheln.

„Hmmmm;“ Stöhnte Colette. „Eine Wunderschöne!

„Schon mit vielen Mädchen teilte ich das Bett, aber noch nie hielt ich so etwas Außergewöhnliches in den Armen. Du bist ein großes Geheimnis, Colette.“

„Du auch! Du auch!“

Colette suchte seine Nähe, schlang die Decke um beider Körper, so als könne sie mit diesem Akt die Nacht zurückholen.

Es bestand kein Grund zur Eile. Beide hatten alle Zeit der Welt, niemand drängte sie, ein wesentlicher Vorteil, wenn man ein Aussteigerleben führt.

Vormittags war das Haus, das Colette seit kurzem ihr Zuhause nennen konnte, weitgehend menschenleer und somit konnte sie sich darin bewegen wie es ihnen beliebte. Sollten sie beschließen bis zum Nachmittag liegen zu bleiben, keiner würde sie vermissen.

Colette wollte festhalten, auch wenn sie sich der Unmöglichkeit dieses Wunsches bewusst war.

Schließlich erhob sie sich, denn sie wollte nicht riskieren dass sich der Nacken-Kopfschmerz doch noch einstellte, was er immer tat wenn sie zu lange liegen blieb.

Schnell eine Katzenwäschen dann runter in die Küche um ein improvisiertes Frühstück zu bereiten. Mittels Tablett schaffte sie alles nach oben. Dann nahmen sie im Bette ihr Mahl zu sich.

„Komisch! Das ist das erste Mal das ich im Bett frühstücke.“ bekannte Lukas.

„Ich auch!“ gestand Colette. Dann mussten beide lachen.

„Und wie bist du dann auf diese Idee gekommen? Eine gute Idee, möchte ich hinzufügen.“

Danach stupste er mit dem Zeigefinger ihre Nase.

„Ach mir war einfach danach. Ich wollte einfach sicherstellen, das wir beim Frühstück nach Möglichkeit ungestört bleiben.“

„Hast du heute was besonders zu tun? Ich meine Termine oder so etwas?“ Wollte Lukas wissen.

„In meinem Leben gibt es kaum noch so etwas wie Termine. Ich habe erst einmal alle Zeit der Welt. Und selber? Hast du einen Tagesplan?“

„Nein, auch nichts besonders! Ich wollte mich heute wieder auf den Weg machen, bin ja eigens für die Demo hierher aufgebrochen.“

Nun war es also raus, die kalte Wahrheit. Aber Colette würde sich damit abfinden.

„Aber ich denke, sehr eilig habe ich es nicht. Im Moment liegt nichts an. Ich könnte mir zum Beispiel noch in Ruhe die Stadt ansehen.“

„Genau! Das könnten wir gemeinsam tun . Ich zeige dir alle was von Belang ist.“ bot sich Colette als Fremdenführerin an.

„Hey, das ist eine wundervolle, eine geniale Idee!“

Lukas gab ihr mit der Handfläche einen kleinen Klaps auf den nackten Po.

Normalerweise verbat sich Colette solche Anzüglichkeiten bei jungen Kerlen, bei ihm hingegen genoss sie es ausgesprochen.

„Gibt es in eurer Stadt etwas Besonders zu sehen? Etwas da sich unbedingt gesehen haben muss?“

„Hm einiges schon. Die City kennst du ja schon. Großstadt eben, so wie dutzende andere auch. Aber einiges historisches kann sich sehn lassen. Dorthin werde ich dich führen. Die große Burganlage ist leider Tabu, dort hat sich  der Blaue Orden eingenistet. Hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen.

Aber die Alte Benediktinerabtei kann besichtigt werden, wenn du auf so etwas stehst.“

„Ja gerne! Mal ein wenig Kultur und Erbauung ist immer angebracht, gerade nach einem so aktionsreichen Tag wie gestern.“ Stimmte Lukas zu.

„Wunderbar, dann lass uns nicht lange bei der Vorrede auf halten, sondern so bald als möglich aufbrechen.“

Es wurde ein schöner Tag. Das Wetter tat seinen Teil dazu. Angenehme Wärme senkte sich herab,der Sommer holte schnell wieder auf. Wie geschaffen für einen Ausflug.

Colette und Lukas schlenderten gemächlichen Schrittes durch Manrovias City, doch das geschäftige Treiben stieß bald beide ab.

Noch mal kurz am Bahnhof vorbei, einen Gegend die man ansonsten mied.

Als sie im Begriff waren eine der zahlreichen Brücken über den Radung zu überqueren kam ihn ein unflätiger Machotyp entgegen und rempelte beide an. Aus Versehen oder mit Absicht konnte nicht geklärt werden.

„Hey passt doch auf wo ihr hin tretet. Eij, was bist du denn für eine? Ach ne Kundra. Wir wärst denn mal mit rasieren oder frisieren? Weist du wie du aussiehst? Häh? Wie dreimal ausgekotzt und fünfmal hingeschissen? Ehä ehä ehähähähähähä!“

Lukas fand das überhaupt nicht komisch.

„Hey was soll das? Du hast meine Freundin beleidigt!“

„Ehä …. Freundin? Ehä ehä ehähähähähähä. So was bezeichnet einer wie du als Freundin! Ehä ehä ehähähähähähähähähähä. Ich lach mich kaputt!“

„Du hast nicht vor dich bei ihr zu entschuldigen?“

„Nee, wieso denn ? Wie komm ich denn dazu? Ehä ehä ehähähähähähä!“

Lukas holte aus und rammte ihm sein Knie mit voller Wucht zwischen die Beine. Es folgte ein urischer Schrei, dann ging der Macho mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie.

„Hey, weist du wie du jetzt aussiehst, da unten? Wie fünfmal ausgekotzt und zehnmal hingeschissen.“

Dann wandte sich Lukas Colette zu.

„Wettern das unser Freund in den nächsten Wochen ausschließlich im Knabenchor singen wird!“

„Wie ich sehe, hat sich dein Bein schon wieder erholt.“ erwiderte Colette, während sich der Typ noch immer stöhnend am Boden wälzte.

„Ist wieder in Ordnung! Aber ich habe das andere Bein benutzt. Wie gut es doch ist auf zwei Beinen zu stehen!“ Lukas hatte wie immer einen flotten Spruch parat.

Was war das? Ein junger Typ, den sie kaum kannte hatte sich für sie eingesetzt, hatte ihr Schutz und Sicherheit gewährt, ihre Ehre verteidigt. So etwas kannte Colettes bisheriges Leben kaum.

War es das das wonach sie sich im tiefsten Innersten sehnte, wenn auch nur insgeheim?

Einen starken Typ an ihrer Seite, einen Mann der für sie kämpfte, an dessen Seite sie sich sicher und geborgen fühlen konnte? Einem dem sie ihr Vertrauen schenken und von dessen Händen sie Nacht für Nacht Zärtlichkeiten erfuhr?

Danach verzehrte sich Colette seit sie zu denken gelernt hatte. Schon damals auf dem Schulhof wenn alle über sie herfielen, sie schlugen, sie traten, sie bespuckten und mit Schimpfworten übelster Art betitelten. Doch es kam keiner. Kein Retter! Schon gar keine Retterin! Immer allein, immer auf sich gestellt. Keine starke Schulter um sich anzulehnen.

Jetzt hatte sie einen, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Nur nicht allzusehr daran gewöhnen mahnte sie eine innere Stimme.

Wie kann einer wie du mit einer wie der? Der Macho hatte nur ausgesprochen was viele dachten, wenn sie dem ungleichen Paar begegneten.

Hatte sie am Ende alles nur geträumt? Nein es war real, so wirklich wie der Wind der ihr auf der Brücke ins Gesicht blies.

Die unangenehme Episode vergessen. Das konnte diesen herrlichen Tag nicht die Stimmung nehmen.

Lukas schlang sein Arm um ihre Schulter, sie umfasste seine Taille, dann setzten sie ihren Weg fort.

Sie bestiegen die Straßenbahnlinie die bis zur Endstation „Alte Abtei“ fuhr.

Heute hatte es Colette wieder vorgezogen schwarz zu fahren und mutete Lukas das gleiche zu.

Und tatsächlich waren Kontrolleure im Wagen. Also noch ein schwarzer Schatten, der sich auf diesen strahlend schönen Tag senkte?

Als Wiederholungstäterin war sie aktenkundig. Es erwartete sie womöglich eine empfindliche Strafe. War das alles was sie Lukas zu bieten hatte?

Sie hatte kein Glück! Noch nie! Immer wenn sie sich an etwas besonders freute gab es schon wenige Augenblicke später ein böses Erwachen.

Doch welch Wunder, an der nächsten Station stiegen die vermeidlichen Unglücksboten aus und Lukas und Colette konnten ihre Fahrt ungehindert fortsetzen.

An der Endstation waren sie die letzten Fahrgäste die den Waggon verließen, außer ihnen war niemand bis hierher gefahren.

Endstation? Ja, das war es auch, im übertragenen Sinne. Als Colette das Portal der Basilika betrachtete hatte sie wieder jenes eigenartige Gefühl des Nach-Hause-Kommens, wie immer wenn sie hier her kam. Seit ihrem unheimlichen Brückenerlebnis und ihrem Neustart ins Ungewisse, kam sie in unregelmäßigen Abständen hier her und jedes Mal überkam sie dieses merkwürdige undefinierbare Gefühl auf irgendeine Art hierher zu gehören. Auch Lukas schien begeistert von der ganzen Anlage, dem hatte sie das gar nicht zugetraut. Aber warum eigentlich?

Langsam schritten sie über das Gelände und sahen sich vieles an.

Nur noch wenige Mönche bewohnten die Abtei, etwa 10 an der Zahl, viel zu wenig für so ein großes Areal. Es gab Gerüchte, dass eine Auflösung und ein anschließender Verkauf bevorstand. Colette bedauerte das sehr. Auf welche Weise konnte der gewaltige Komplex dann genutzt werden? Da gab es nicht viele Varianten. Ein superreicher Müßiggänger aus der Privo-Oberschicht würde sie sich ihrer bemächtigen. Wieder ein Kulturgut, das dadurch der Allgemeinheit verloren ging.

Doch Colette wollte nicht daran denken. Jetzt war sie hier und sie fühlte sich glücklich. Ein seltener Umstand und sie wollte das so lange wie irgend möglich genießen.

Sie betraten schließlich das Innere der Basilika. Colette griff nach Lukas Hand und drückte diese fest.

Sie nahmen in einer Bankreihe Platz und genossen die wohltuende Still ringsum. Nur wenig Besucher im Kirchen schiff.

Colette von Akratasien ! Da war sie wieder diese innere Stimme, die zu ihr aus dem Dunkeln sprach. Akratasien. Noch immer konnte Colette nichts mit diesem Namen anfangen. Kein Atlas der Welt gab ihr einen Hinweis darauf wo sich dieses merkwürdige Land befand.

Nach einer Weile verließen sie die Halle und Colette fühlte sich etwas benommen als sie an die frische Luft traten.

Ein lauer Sommerwind wehte durch die Bäumen. Wolken schoben heran doch zum Glück entluden sie ihre Laßt nicht über ihren Köpfen dafür wurde es etwas kühler.

„Frierst du?“ Erkundigte sich Lukas.

Kopfschüttelnd verneinte Colette. Schon wieder diese Fürsorge. Die war echt. Man konnte der Kundra nichts vormachen, sie war hochsensible und verstand es auch die unausgesprochenen Worte zu verstehen.

Langsam traten sie den Heimweg an. Wann würde er sich zum Aufbruch rüsten?  Wieder allein. Allein mit sich und ihren unerfüllten Sehnsüchten. Aus diesem Grund hatte sie es nicht eilig mit dem ankommen.

Colette öffnete die Tür, niemand zu sehen. Das betrachtete sie als Glück. Am allerwenigsten war ihr jetzt nach oberflächlicher Konversation mit ihren WG-Genossen.

In ihrem Zimmer angelangt machte Lukas keinerlei Anstalten aufzubrechen.

Colette vermied es tunlichst ihn auch noch darauf anzusprechen. So verstrich die Zeit in heiterer und ausgelassener Stimmung.

Am späten Nachmittag war wagte sich Colette auf dünnes Eis und sprach ihn darauf an.

„Ich habe es nicht eilig damit. Ich kann gerne noch bis Morgen bleiben. Mir läuft nichts weg!“

Das ging runter wie Honig. Lukas schenkte ihr noch eine Nacht. Eine Nacht voller Zärtlichkeit und Wärme. Eine Nacht des tiefen Abtauchens in erotische Sphären, die einem Menschen wie Colette ansonsten weitgehend verschlossen blieben. Es gab zwar Sex in ihrem Leben, aber kaum einen Zustand den man Liebe nennen könnte.

Colette durfte noch einmal kosten den süßen Nektar der Sinnlichkeit und sie würde den Becher den man ihr reichte bis zur Neige leeren. Noch einmal kam die Kundra voll auf ihre Kosten und ließ sich wie auf einer Wolke treiben, dabei immer darauf gefasst einen Absturz möglichst zu vermeiden.  

Am Folgemorgen ging Lukas ohne viele Worte zu machen. Colette war dankbar für diese Tatsache, denn nichts hasste sie mehr als große Abschiedsszenen.

Doch es war nicht wie sonst. Es gab kein Gefühl der Dunkelheit und der Leere wie früher. Für Colette brach an diesem Morgen keine Welt zusammen. Natürlich war sie traurig, aber sie hatte gelernt damit umzugehen. Sie durfte zwei wundervolle Tage und Nächte erleben und das alleine zählte. Ihr Akku war gewissermaßen aufgeladen. Von den Erlebnissen mit Lukas würde sie Wochenlang zehren können. Greif zu, nimm was sich dir bietet und frage nicht nach morgen. Nach dieser Devise gedachte sie zu leben.

Schon nach einer Stunde erinnerte nichts mehr an Lukas, sie hatte nicht einmal seine Telefonnummer. Hätte sie ihn danach fragen sollen? Aber warum? Er würde sie vergessen so oder so? Und womöglich war es so das Beste.

Einsam war Colette, aber war sie das nicht immer? Nichts Neues. Ein Zustand an den man sich irgendwann gewöhnt.

 

Was die politischen Ereignisse betraf so hatte die Demonstration ihre Wirkung in vielfältiger Weise erreicht. Zum ersten Mal offenbarte sich wie tief gespalten und zerrissen das Land doch war und welcher Abgrund sich offenbarte. Die Nachtwächterregierung würde schon in absehbarer Zeit nicht mehr in der Lage sein, das Heft in der Hand zu halten, mit ungeahnten Folgen für die Bevölkerung. ***

Bei nicht wenigen hatte ein Umdenken eingesetzt. Ronald, Ansgar und einige andere aus Neidhardts Führungsstab hatten Gewissensbisse. So konnte man mit dem Dichter Kovacs nicht umgehen. Sie beschlossen Kontakt mit ihm aufzunehmen und wollten ein Gespräch.

Auch Elena hatte an der Demo teilgenommen, unbemerkt, als stumme Zuhörerin. Und was sie vernahm bestärkte auch sie ihr waghalsiges Vorhaben in Angriff zu nehmen.

Die Entwicklung strebte ihren Ziel entgegen.

 

 

        

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* Die spätere Königin von Akratasien wirft ihren Schatten schon einmal voraus.

 

** Der Begriff stammt von dem österreichischen Anarchisten Franz Prisching (1864-1919, der einfache Handwerker brachte im Nebenberuf die Zeitschrift „Der G`rode Michel heraus. Er war zwar Anarchist, wollte sich aber vor keinem Karren spannen lassen, nicht einmal vor jenem der Anarchisten.

 

  *** Vorbild sind die Zustände  in Deutschland 1932, das langsame Dahinsiechen der Weimarer Republik, die von Rechten und Linken gleichermaßen in die Zange genommen wurde und von unfähigen, ständig wechselnden Regierungen, die mit Notverordnungen am Volk vorbeiregierten, nicht gerettet werden konnte.