Erwachende Tiger

 

Früher Nachmittag, Lato hatte es sich auf der oberen überdachten Terrasse seiner Zikkurat(1) bequem gemacht. Nur auf diese Weise ließ sich die brennende Sonne über Assur(2) einigermaßen ertragen. Heute ergossen sich ihre Strahlen besonders erbarmungslos über die Dächer der Stadt, deren rote Lehmziegel wie glühende Holzscheide in der Sonne leuchteten.

Hier, in der am weitesten von der Erde entfernten Etage, wehte beständig ein angenehmer Luftzug. Der mächtige Oberpriester hatte sich dort eingerichtet um einen Blick über die Stadt zu erhaschen, in deren kleinen Gassen das geschäftige Treiben des Marktes langsam erstarb.

Die Menschen zogen sich ins Innere ihrer Lehmhäuser zurück, wo sie ihren Tätigkeiten nachgingen, erst zum frühen Abend hin würden sich die Straßen wieder beleben.

Angenehme Ruhe , eine Wohltat für das Gemüt. Wenn nur nicht dieser penetrante Gestank wäre, dessen Wolken auch noch bis in die oberen Gemächer drangen.

Lato döste vor sich hin, sein übergewichtiger Körper ruhte, halb liegend, halb sitzen auf einer Holzpritsche, von seinen Sklaven eigens nach oben verbracht, um ihrem Herrn die nötige Behaglichkeit zu verschaffen.

Von Zeit zu Zeit schreckte Lato nach oben und reckte den Kopf in die Höhe. Noch immer  keine Spur von den Besuchern die er im Laufe des Tages noch erwartete. Langsam bemächtigte sich Ungeduld seiner strapazierten Nerven. Würden die überhaupt kommen? Wie konnte er so sicher sein, dass die drei mächtigsten Fürsten der Nachbarstädte seiner Einladung nachkommen würden? Immerhin handelte es sich dabei um Männer, die noch vor nicht allzu langer Zeit seine Feinde waren. Sein Bündnisangebot kam überraschend und er musste damit rechnen dass sie es zurückwiesen.

Doch hatten sie eine Wahl? Kaum, denn ihre Reiche litten ebenso unter der ständigen Gefahr, die von den Amazonen ausging, wie sein Eigenes. Die Not zwang zu unkonventionellen Methoden. Über den Schatten springen, alte Ressentiments für eine Weile hinter sich lassen, solange bis die Gefahr gebannt. Sie mochten sich noch immer nicht, doch dass spielte in dieser Situation keine Rolle. Es war kaum damit zu rechnen, dass sie einander um den Hals fielen und Blutsbrüderschaft gelobten. Wie aber würden sie dann mit einander umgehen? Das vermochte keiner zu sagen. Spannung bestimmte das Geschehen. Es konnte auch sein, dass die  hohen Herren schon nach 5 Minuten Gespräch wutentbrannt das Weite suchten.  Effektivität bestimmte das Handeln. Lato musste überzeugend wirken, das dürfte ihm nicht schwer fallen, darin war er bestens geübt.

Er war der mächtigste Priester des großen Gottes Assur(3), jenes gefürchteten Weltenherrschers der der Stadt ihren Namen gab und auch von den meisten anderen Fürsten der umliegenden Stadtstaaten anerkannt wurde. Als religiöse Instanz kam Lato gewisse Autorität zu, als weltlicher Fürst war er jedoch nur einer unter vielen, der beständig Krieg gegen die anderen führte.

Er war von behäbiger Gestalt, wog mindestens zweieinhalb Zentner, sein massiger Umfang kam von dem guten Essen dass er sich täglich gönnte. Die Völlerei war eine seiner Lieblingsbeschäftigung. Kahlköpfig und bartlos erinnerte seine Erscheinung eher an ein erwachsenes Baby.

Bewegungen waren seine Sachen nicht, zu größeren Fußmärschen kaum noch in der Lage, ließ er sich fast ausschließlich auf der Sänfte tragen.

Langsamen Schrittes bewegte er sich auf die Mauer zu und blickte auf die Straße, tatsächlich, der erste Abgesandte war erschienen, es handelte sich um Gilgas den Fürsten der Stadt Ninive.

Der hielt sich an die Abmachung und war nur mit einem klein Gefolge in der Stadt erschienen.

Lato rief nach seinen Sklavinnen, die ihn nun die Treppe hinunter geleiteten, eine nicht ganz einfache Aufgabe, die entsprechend viel Zeit in Anspruch nahm.       

Währenddessen hatte Gilgas seinen Streitwagen verlassen und näherte sich dem Stadttor. Sein Erscheinungsbild stand im krassen Gegensatz zu jenem seines Gastgebers. Ein gut aussehender Mann Ende Vierzig, mit gepflegten schwarzen Vollbart und ebenso farbigen Locken die ihm bis zu den Schultern reichten, breite Schultern und kräftigen, kampferprobten Körperbau alles in allem eine würdevolle Erscheinung. Der geborene Herrschertyp.

Er hasste Lato und es ekelte ihm diesem Widerling die Hand reichen zu müssen. Seine Linke hielt den Knauf seines kostbaren Bronzeschwertes umfasst, so als befürchte er, es jeden Augenblick benutzen zu müssen.

Aber er konnte sich dem Bündnis nicht entziehen, er von allen am wenigsten, denn seit seine Tochter Gomela zu den Schwertschwestern übergelaufen war, haftete ihm der Geruch des Verrates an. Sympathisierte er am Ende mit den Amazonen? Dieses Gerücht galt es schnellstmöglich aus der Welt zu schaffen

Lato begrüßte ihn mit gestelzter unterwürfiger Geste.

„Ich grüße dich Gilgas von Ninive. Ich freue mich ganz besonders dass du meiner Einladung als erster gefolgt bis. Komm herein, sei Gast in meinem Haus.“

„Ich grüße dich ebenso erhabener Priester des Assur, des Schutzgottes unserer Herrschaft. Es wird mir eine Ehre sein, als Gast in diesen heiligen Mauern zu verweilen.“ erwiderte Gilgas ebenso Freundlichkeit vortäuschend, aber so schlecht gespielt, dass es jedem Umstehenden sofort auffallen musste.

Während dessen kündigte ein Fanfarenstoß die Ankunft eines weiteren Gastes an, es war Enlil von Harran. Gilgas wandte dem Geschehen seinen Rücken zu. Die Begegnung mit dem Neuankömmling bereitete ihn bedeutend mehr Kopfzerbrechen als jene mit Lato, denn bei Enlil handelte es sich um jenen Fürsten, der vor Zeiten bei ihm um Gomelas Hand angehalten hatte. Assur war ein mächtiger Staat und die Verbindung der beiden Fürstenhäuser hätte ein bedeutendes Reich zur Folge. Doch es kam anders. Gomelas Flucht hatte Enlil der Lächerlichkeit preisgegeben. Um ein Haar wäre es zu kriegerischen Auseinandersetzungen gekommen.

Enlil war nur geringfügig jünger als Gilgas, welliges graues Haar zierte seinen bartlosen Kopf. Mit einer Körpergröße von fast 2 m überragte er alle anderen. Seiner ganzen Erscheinung nach ein eitler Snob, der seine Umwelt stets mit abschätzigen Blicken bedachte.

Wie ein stolzer Gockel bewegte er sich auf die wartenden zu.

„Ich grüße Enlil von Harran. Erfreue uns mit deiner Anwesenheit. Ich denke, ich brauche dir Gilgas von Ninive nicht vorzustellen.“ Der Seitenhieb saß, beide Fürsten musterten einander mit misstrauischen Blicken. Schließlich reichten sie sich widerwillig einander die Hände.

„Ich hatte vor einiger Zeit die Ehre Gilgas Gastfreundschaft zu genießen. Seinen Palast habe ich noch in genauer Erinnerung.“ Erwiderte Enlil ohne seinen Beinahe Schwiegervater eines Blickes zu würdigen.

Wortlos schritten die drei in Richtung Innenhof der wuchtigen Tempelanlage. Wind kam auf und wehte ihnen den Wüstensand entgegen.

Lato führte die beiden durch den Vorhof, am Heiligtum vorbei. Als sie vor dem Allerheiligsten angelangt waren, warfen sich alle drei wie auf Befehl auf die Knie, keiner wollte den mächtigen Kriegsgott erzürnen.

Der Weg führte sie schließlich in die prächtigen Privatgemächer Latos.

Angenehme Kühle erwartete sie dort und verschaffte die ersehnte Linderung.

Die Sklavinnen des Oberpriesters hatten einen Tisch mit allerlei Köstlichkeiten bereitet.

Lato lud die Gäste zu Tisch. Ein Platz blieb noch frei, jener von Urgat von Nisibis. Mit dessen eintreffen wäre die kleine Runde erst einmal komplett. Sollte es an diesem Tag zu einer Einigung kommen, würde man den Kontakt zu den Fürsten der etwas entfernter liegenden Städte suchen um sie in das Bündnis einzubeziehen.

Nachdem alle drei Platz genommen hatten senkte sich zunächst andächtiges Schweigen über den erlauchten Kreis.

Eine heikle Situation die eigentlich eine Unmenge an Fingerspitzengefühl bedurfte.

Doch Lato, der sich als Gastgeber im eindeutigen Vorteil wähnte, wagte eine Provokation, wohl um abzuschätzen wie weit er bei seinem langjährigen Gegner Gilgas gehen konnte.

„Lieber Gilgas, was macht eigentlich eure Tochter Gomela? Habt ihr etwas von ihr in Erfahrung bringen können? Ich hoffe doch dass sie wohlauf ist?“

Wut bemächtigte sich des beleidigten Fürsten. Doch er durfte auf gar keinen Fall die Fassung verlieren.

„Ich... ich habe keine Tochter mehr! Ich habe die Gedanken an sie ausgelöscht und werde ihren Namen nie mehr über meine Lippen bringen. Mit einer Verräterin habe ich nichts zu schaffen. Sie existiert nicht mehr!“

Jedes Wort war gelogen. Seit dem Weggang der geliebten Tochter litt Gilgas wie ein Hund.  

Die Wunde in seinem Herzen blutete nach wie vor unaufhörlich. Gomela war sein ein und alles. Ein unersetzlicher Verlust. Schlimm genug, wäre sie tatsächlich gestorben, doch sie war zur Verräterin geworden, hatte die Familienehre entweiht und besudelt. Die Prinzessin von Ninive als Schwertschwester. Das war unverzeihlich.

„Nun ich denke, wir brauchen dieses Thema nicht weiter zu erörtern“, sprang ihm Enlil eigenartigerweise zur Seite. Ihm schien dieses Thema ebenso unangenehm, immerhin war er der Hauptgeschädigte.

„Aber lieber Lato eine andere Frage interessiert mich brennend. Man sagt dass ihr euch nur mit den schönsten Frauen umgebt, vor allem blutjungen Mädchen. Selbst eure Leibsklaven sollen allesamt weiblich sein?“

Das saß. Lato errötete leicht. Doch schnell erlangte er die Fassung wieder und konterte mit seiner ganz eigenen Schlagfertigkeit.

„Ihr habt wohl recht gehört lieber Enlil, dem ist tatsächlich so. Sagen wir einfach mal ich folge damit nur meiner Natur. Sklavinnen sind einfach zu handhaben. Viel, viel einfacher als Ehefrauen. Die Ehe ist meine Sache nicht! Viel zu viel an Konventionen. Warum sollte ich ein Ehegelübde auf mich nehmen wenn ich mir von vorn herein der Tatsache bewusst bin, dass meine Natur mich dazu zwingt es zu brechen?“

Er nahm einen kräftigen Zug aus seinem Weinpokal und konnte nur im allerletzten Augenblick einen Rülpser vermeiden. Trotzdem stieg Gilgas der säuerliche Weingestank in die Nase, der direkt aus Latos Mund zu ihm drang und er ekelte sich. Die wenigen Minuten die sie hier verbracht hatten, erschienen ihm schon wie eine Ewigkeit und nichts verlangte ihm mehr als diesen Ort schnellstmöglich wieder zu verlassen.

„Und wie sieht es mit hübschen Knaben aus? Geht dein Geschmack auch in diese Richtung?“ hakte Enlil sehr zu Gilgas Leidwesen nach.

„Selbstverständlich! Ich nehme nur das vorzüglichste von beiden Seiten. Im Moment verlangt es mich aber nach der Weiblichkeit!“

Gilgas räusperte sich, dann polterte er voller Ungeduld in die Runde.

„Könnten wir jetzt endlich zur Sache kommen. Die Entscheidung die wir heute zu treffen haben ist von großer Wichtigkeit!“

„Sehr weise gesprochen edler Fürst. Dem wollen wir uns auch nicht länger verschließen.“

entgegnete Lato. Plötzlich öffnete sich die Tür und der Haushofmeister kündigte die Ankunft des letzten erwartenden Gastes an.

Hastig betrat Urgat von Nisibis den Saal.

„Ich bitte um Verzeihung! Ich habe mich verspätet. Ich grüße dich oh Hohepriester des Assur und euch edle fürstliche Nachbarn.“

„Aber keine Ursache, lieber Freund. Wir haben mit den Unterhandlungen noch gar nicht begonnen. Komm setz dich zu uns und beehre uns mit deiner Teilnahme.“ Lud Lato schmeichlerisch ein.

Der angesprochene kam der Einladung sogleich nach. Urgat war ein klein und hager, mit schütterem Haar und  einem schmalen Gesicht aus dem eine weit nach vorn gekrümmte Nase hervorstach, seine Bewegungen wirkten ungeschickt und nervös, so dass man befürchten konnte, das er im nächsten Augenblick sämtliches Geschirr vom Tisch fegte.

„Also gut1 Lasst uns beginnen. Ich habe euch hier her gebeten um mit euch ein Bündnis auszuhandeln. Wir alle leiden unter den ständigen Übergriffen dieser Schwertschwestern. Sie kommen über uns wie ein Schwarm schmerzhaft stechender Wespen und gefährden unsere Sicherheit, unsere Wirtschaft, ja unser aller Leben. Mir ist bewusst, dass es uns allen nicht leich fallen wird, standen wir uns alle doch für sehr langer Zeit als Feinde gegenüber, genauso wie es unserer Väter und die Väter unserer Väter taten.

Lasst uns die Fehde begraben. Denn der gemeinsame Feind kann nur von einer vereinten Streitmacht geschlagen werden. Diese boshaften Schwestern müssen vernichtet werden. Ihre Namen ausgelöscht für alle Zeit.“

„Wahr gesprochen Hoherpriester. Weg mit ihnen. Es sind Furien, Teufelinnen, Dämoninnen in Menschengestalt. Ich möchte ihr Blut sehen.“ Ereiferte sich Urgat noch immer etwas außer Atem.

„Ich kann mich euch nur anschließen. Keine Gnade, mit keiner von ihnen!“ Pflichtet ihnen Enlil bei, dabei demonstrativ auf Gilgas blickend, noch immer den Schwertknauf in der Hand haltend, so als sei er damit verwachsen.

Seine Gomela war ein Glied der gegnerischen Streitmacht, er würde ihr im Kampf gegenüber stehen, was für eine grauenvolle Vorstellung.

„Nun Gilgas, ich denke du wirst uns ebenso unterstützen? Oder bist du etwa anderer Meinung. „Forschte Urgat nach.

„Was soll die Frage? Natürlich bin ich auf eurer Seite! Wo sollte ich sonst stehen. Ich habe mit diesem Weiberpack nichts zu schaffen!“

Unwillkürlich schossen ihm die Tränen in die Augen.

„Niemand wird deine Treue in Frage stellen lieber Gilgas. Wir alle setzen unser Vertrauen in dich. Deine Familienangelegenheiten sind dabei ohne Belang!“ Stichelte Lato.

„Meine Familie? Was hat meine Familie damit zu tun. Was willst du damit sagen?“

Wir ein Blitz schoss Gilgas von seinem Sessel in die Höhe.

„Die Frage, die wir alle uns stellen ist, ob du bereit bist dein Schwert zu führen gegen eine Streitmacht in deren Reihen deine Tochter kämpft.“ Nun war es heraus, Enlil hatte den Finger in die Wunde gelegt.

„Wie kannst du es wagen meine Treue an zu zweifeln?  Wie oft soll ich es noch wiederholen? Ich habe keine Tochter mehr. Gomela ist tot, tot, tot, tot, tot“ Mit jedem Male wenn er das Wort tot über seine Lippen brachte, drang die Speerspitze tiefer ein sein Herz. Ausgerechnet von diesem Mann musste er sich das sagen lassen. Jenem Mann, der die Verantwortung trug für das Zerwürfnis zwischen Vater und Tochter.

„Bitte, bitte beendet euren Streit. Ich bin fest von deiner Bündnistreue überzeugt, Gilgas von Ninive. Und ihr solltet es ebenso tun:“ Schaltete sich Lato ein.

Dann trat er die Flucht nach vorne an.

„Zunächst gilt es den Oberbefehl zu klären, einer muss ihn übernehmen. Das wird alles andere als einfach. Ich bin Priester und diene dem Tempel, für mich kommt es auf keinen Fall in Frage. Ihr anderen steht euch im Range gleich, das könnte zu Konflikten führen die wir unbedingt vermeiden müssen.

Am schlimmsten aber wiegt die Tatsache, dass wir gegen eine Armee kämpfen müssen die ausschließlich aus Frauen besteht. Eine schmutzige, unehrenhafte Sache. Frauen gehören an den Herd und nicht in den Krieg. Sie haben uns zu dienen und nicht zu bekämpfen. Ist der Sieg unser, es wäre nichts Besonderes, allerdings könnte der Anführer als Schlächter gebrandmarkt werden

Unterliegen wir jedoch in der Schlacht, wird die Schande besonders den Oberbefehlshaber treffen. Besiegt von einer Armee aus Frauen. Also wer von euch wäre bereit?“

Alle drei senkten ihren Kopf. Damit war zu rechnen. Die anderen Fürsten die dem Bund noch beitraten, würden kaum anders reagieren.

„Hmm, etwas anderes habe ich nicht erwartet.“ Lato stellte den Weinpokal etwas unsanft auf den Tisch.

„Und? Wie soll es jetzt weitergehen?“ Wollte Urgat wissen.

„Keine Angst, wir finden eine Lösung. Einer Eingebung folgend habe ich Vorsorge getroffen und zwar schon vor geraumer Zeit!“

„Darf man in Erfahrung bringen worin diese Vorsorge besteht!“ Erkundigte sich Enlil

„Man darf! Ich habe vor Wochen schon meine Fühler ausgestreckt um nach zu forschen ob es eine Person gibt, die für diese Aufgabe die geeigneten Voraussetzungen erfüllt. Nach langer erfolgloser Suche wurde ich schließlich fündig.“ Fuhr Lato fort.

„Ach, was du nicht sagst! Warf Enlil mit etwas spöttischen Unterton ein.

„Ein Mann fürs Grobe, der geborenen Schlächter. Genau der Richtige für unser Unternehmen.“

Lato klatschte in die Hände und sein Haushofmeister erschien auf der Stelle. Der Hohepriester gab ihm Anweisungen. Nach einer Weile betrat er wieder den Raum, begleitet von einem verwegen aussehenden Mann, bei dessen Anblick alle drei Fürsten instinktiv den Knauf ihrer Schwerter umfassten und sich abrupt von ihren Stühlen erhoben.

„Das... das ist Grondor. Willst du uns zu Narren machen Lato? Was geht hier vor? Was soll der Unsinn? Gab Gilgas in aller Deutlichkeit seine Entrüstung preis.     

Grondor war ein behaarte Rohling mit zerzaustem Bart und Haupthaaren, auch wenn er sich große Mühe gab es zu verbergen und die Kleidung die er trug ein gewisses Maß an Kultiviertheit ausstrahlte, konnte er seine niedere Herkunft kaum verbergen. Ein Mann mit wenig Bildung und Manieren schienen ihm völlig unbekannt.

„Grondor ist der Anführer einer gefährlichen Räuberbande. Die Überfälle auf unsere Handelskarawanen haben unserer Wirtschaft schweren Schaden zugefügt. Das ist kein Mensch, das ist ein Tier. Schrecklich, schrecklich, ich werde mich mit diesem Strolch auf keinen Fall an einen Tisch setzen.“ Entsetzte sich Enlil und fuchtelte dabei mit den Armen in der Luft herum.

Grondor schien das völlig kalt zu lassen, er grinste nur verschlagen vor sich hin. Er hatte nicht erwartet dass ihn die hohen Fürsten in ihr Herz schlossen. Sein einziges Interesse galt der  Beute, die ihm der Feldzug gegen die Amazonen bringen würde. Deshalb war er hier.

„Ruhe! Ich bitte um Ruhe! Ich kann eure Misstrauen verstehen. Aber ich verbürge mich für Grondors Loyalität. Ich habe mehrmals mit ihm verhandelt und ich kann euch versichern, dass er uns eine wirkliche Hilfe leisten kann. Er ist unser Mann. Grondor ist bereit den Oberbefehl über eine Vereinte Streitmacht zu übernehmen. Er fürchtet die Amazonen ebenso wie wir und dass macht uns alle zu natürlichen Verbündeten.“ Versuchte Lato die Wogen zu glätten.

„Dieser Kerl saß bereits in meinem Verlies. Er war meinen Soldaten ins Netz gegangen. Zwei Tage vor seiner Hinrichtung ist ihm die Flucht gelungen. Nur deshalb steht er hier.

Und jetzt erwartest du dass ich ihn als Oberbefehlshaber akzeptiere, den Teufel werde ich tun.“ ereiferte sich Gilgas.

„Gilgas hat völlig Recht! Das was du uns hier zumutest ist unmöglich. Dieser Mann ist Abschaum, ein Verbrecher durch und durch. Nein, da mache ich nicht mit.“ Stimmte Urgat zu.

Lato hatte mit Grondor vereinbart, dass sich dieser soweit als möglich jeglicher Äußerung enthalten sollte. Das was aus seinem Munde käme, würde die edlen Fürsten nur noch mehr in Rage bringen.

„Natürlich ist Grondor ein Verbrecher, auch der Handel in meiner Stadt hatte unter seinen Raubzügen zu leiden. Doch im Vergleich zum Schaden den wir alle durch die Amazonenschwestern erlitten haben, ist das alles zu verschmerzen. Dort steht der Feind den es zu schlagen gilt. Grondor bekommt die Möglichkeit sich frei zu kaufen. Oder besser ausgedrückt, sich frei zu kämpfen. Schlägt er sich gut und zufrieden stellend, wird er begnadigt und bekommt, sagen wir mal einen Rang als General in einer unserer Kriegerscharen. Möglicherweise auch eine richtige Stadt um dort als eigenständiger Herrscher zu wirken. Wir werden sehen. Das ist es was ich anzubieten habe. Wenn du einverstanden bist

dann schlage ein.“

„Einverstanden! Ich schlage ein!“ Hörten die Anwesenden seine Stimme“

„Oh, dieses Wesen kann sogar sprechen. Das hätte ich nie für möglich erachtet.“ Stänkerte Urgat.

„Das ist unerhört! Soll dieser Strolch am Ende sogar noch belohnt werden für seine Untaten. Sind wir wirklich schon so tief gesunken?“ Empörte sich Gilgas erneut.

„Ja! Ja, ich fürchte das sind wir!“ Lautete Latos pragmatische Antwort. „Wir dürfen uns dieser Wahrheit nicht weiter verschließen. Es gibt keine Alternative. Wir brauchen dieses Bündnis, sonst werden wir bald auf unsanfte Weise aus unserem Schlaf geweckt. Die Schwestern müssen weg. Das ist das Wichtigste. Vergesst dass niemals. Deshalb wird uns Grondor führen!“

Eine kurze Debatte schloss sich an, doch bald waren sie sich einig und die anderen stimmten zähneknirschend zu.

„Lieber Grondor, hiermit bist du zum Oberbefehlshaber unserer Streitkräfte ernannt. Wir ermächtigen dich dazu. Du hast freie Hand bei der Ausführung deines Auftrages. Wenn die Zeit gekommen, werden unsere Heere bereitstehen.“ Bestimmte Lato

„Ja. Ich werde diese Weiber zerquetschen mit meinen bloßen Händen. Blut wird fließen knüppelhageldick. Aber vorher werde ich sie nehmen, eine nach der anderen...“

Gab Grondor von sich.

„Das wirst du! Ohne Zweifel, das wirst du!“ 

Lato geleitete den Räuberoberst auf penetrante Art nach draußen.

Endlich waren die Edlen wieder unter sich. Erleichtert, von der Anwesenheit dieses Subjektes befreit zu sein, ließen sie sich in ihre Sessel fallen.

„Puuh! Endlich ist der fort! Das war ja kaum noch zu ertragen.“ angewidert rümpfte Enlil seine Nase.

„Meine Zweifel bleiben! Ich habe zugestimmt ja. Aber ich bin weiterhin der Meinung dass es ein großer Fehler war. Vor allem was die Zugeständnisse betrifft die du ihm gemacht hast Lato. Das könnte uns schon bald auf die Füße fallen.“ Bekannte Gilgas noch einmal.

„Ja glaubt ihr im ernst, dass ich erwäge sie ihm zu erfüllen? Haltet ihr mich für so naiv?

Dieser Strauchdieb ist unser Werkzeug, nicht mehr und nicht weniger. Lasst ihn die Drecksarbeit für uns tun. Wir verbleiben im Hintergrund. Verliert er die Schlacht, dann ist es zunächst seine Niederlage. Sollen die Amazonen mit ihm machen was sie wollen.

Natürlich hoffen wir auf den Sieg. Danach werden wir weiter sehen. Akzeptiert er den Lohn den wir ihm gewähren, ist es gut. Sollte er jedoch unverschämt werden und mehr verlangen als ihm zusteht, damit rechne auch ich, werden sich Mittel und Wege finden ihn los zu werden. Keine Angst, ich habe alles einkalkuliert.“

„Du hast tatsächlich an alles gedacht. Sehr gut, Lato! Ich unterstütze dich dabei. Ich finde dein Vorgehen angemessen. Wenn die Sache gut läuft sind wir alle unsere Sorgen auf einen Streich los, die Amazonen und Grondors Räuberbande. Dafür lohnt es sich zu kämpfen.“

Stimmte Urgat zu.

„Du hast es erfasst!“ Lato lehnte sich zurück und nahm einen großen Schluck Wein.

Dann müssen wir nur noch klären wer die größte Trophäe erhält?“ Warf Urgat plötzlich ein.

„Ach und die wäre?“ Wollte Gilgas wissen.

„Na Aradia natürlich, die Königin der Amazonen. Dieser Holzklotz Grondor rechnet zwar damit dass sie ihm in seiner Eigenschaft als Anführer zusteht, doch da hat er sich gründlich getäuscht. Ich melde nämlich meinen Anspruch auf sie an.“ Bekundete Enlil sein Interesse

„Keineswegs! Weil ich sie für mich beanspruche!“ Widersprach Urgat.

„Es gibt ja noch eine weitere Königin. Ich überlasse dir dafür Inanna die ältere Schwester und eigentliche Gründerin des Amazonenbundes.“ Bot Enlil an.

„Was die? Nicht mehr zu gebrauchen, die ist krank, ein Krüppel. Die können wir getrost den Schakalen überlassen. Nein, Aradia ist die Anführerin. Ich möchte sie in meinem eigens dafür angefertigten Käfig zur Schau stellen, sie eine Weile gebrauchen und wenn die Zeit gekommen ist feierlich hinrichten lassen.“ Beharrte Urgat auf seinem Anspruch.

„Nichts dergleichen! Ich werde sie gebrauchen. Ich habe extra ein Verlies für sie bauen lassen, dort werde ich Befriedigung finden, bevor ich sie ins Jenseits befördern lasse.“ Entgegnete Enlil kompromisslos.

Lato klatsche kurz in seine Hände.

„Schluss mit der Diskussion. Jetzt spreche ich in meiner Eigenschaft als Hohepriester.

Aradia gehört mir. Sie war mein Eigentum schon im zarten Alter. Ich werde sie nehmen, nicht für mich. Sie gehört dem Tempel. Ich übereigne sie als Opfer für unseren Kriegsgott und all die anderen Götter. So soll man es schreiben! So soll es geschehen.“

Die anderen hatten sich zu fügen. Denn dem Anspruch der Götter durfte selbst ein Fürst nicht in die Quere kommen.

 

Die Unterredung mündete noch in den Austausch verschiedener Themen.

Schließlich löste sie sich auf. Keiner der Beteiligten verspürte große Lust länger als erforderlich zu bleiben und Lato würde ohnehin den Nachmittag lieber mit seinen jungen Sklavinnen verbringen als mit missmutigen Fürsten.

Erschöpft schritt Gilgas die langen Flure entlang, erleichtert über den Umstand dieser Runde endlich entfliehen zu können. Doch dann überkam ihn wieder die Depression. In Hinblick auf die erbärmlichen Gestalten, die er soeben verlassen hatte, wurde er sich noch einmal im vollen Umfang der Tatsache bewusst welchen Schatz er für immer verloren hatte. Seine Tochter würde nie mehr nach Hause kommen. Doch am schlimmste wog der Gedanke dass er ihr womöglich auf dem Schlachtfeld begegnen würde, als Feindin.

Der Schmerz in der Herzgegend brachte ihn zum Halten und er beugte sich leicht vornüber  hielt sich mit der linken Hand die Brust. Mit der rechten suchte er Halt an der weiß getünchten Wand.   

Für die Nachfolge war gesorgt, sollte es ihn erwischen. Gilgas hatte noch drei Söhne. Doch die taugten allesamt nicht viel.

Gomela war ganz anders. Sie war die älteste der Geschwister. Charakterlich stark wie ein Fels, standfest, wissensdurstig, neugierig auf das Leben, kritisch, gerecht und immer offen für alle Eventualitäten, verstand sie es schon frühzeitig in großen Zusammenhängen zu denken. Die geborene Fürstin, auch ohne Mann an ihrer Seite.

Nein, die würde sich nie einem Mann unterwerfen. Sie lebte jetzt mit einer Frau zusammen, mit einer Schwertschwester Namens Daraya, so jedenfalls hatten es seine Spione in Erfahrung gebracht, die, als Händler verkleidet, bis in das Hauptquartier der Amazonen vorgedrungen waren.

Das passte zu ihr und ihrem ungestümen Wesen. Verwegen, frei und unzähmbar.

Hatte sie möglicherweise den richtigen Weg gewählt? Immer häufiger ertappte sich Gilgas bei solcherlei ketzerischen Gedankengängen.

Als er den Außenbezirk der Tempelanlage erreicht hatte, bemerkte er dass es ihm immer schlechter ging, ihm war übel und schwindlig und das lag nicht etwa an dem Wein, von dem er nur sehr wenig genommen hatte. Nur unter Aufbietung seine ganzen Kräfte gelang es ihm den Säulengang zu erreichen.

Da plötzlich überkam ihn diese schreckliche grauenhafte Vision, die ihn bisher nur in seinen nächtlichen Alpträumen heimsuchte. Er sah sich in voller Rüstung und mit gezogenem Schwert über ein Schlachtfeld reiten, übersät mit hunderten, ja tausenden Leibern erschlagener Amazonenkriegerinnen. Das Blut floss in Ströme und bilde regelrechte kleine Bäche, die einen Hügel hinunter rannen. Der süßlich-beißende Gestank stieg ihm in die Nase und drehte ihm den Magen um. Dort suchte er den Leichnam seiner Tochter Gomela.

Schließlich entdeckte er sie in einem Haufen übel zu gerichteter, nackter, toter Schwertschwestern.

Ihr Oberkörper reichte bis zur entblößten Brust aus dem Leiberberg. den Kopf weit nach unten fallend, Blut aus ihrem halb offenen Mund tropfend und ihre toten, weit offen stehenden Augen durchdrangen ihn schärfer als der schmerzhafteste Schwertstoß.

„Hhhhmmmmmm!“

Nun kam es ihm hoch.

Gilgas sacke zusammen, auf den Knien erbrach er sich schließlich an einer Marmorsäule.

Auf allen Vieren schleppte er sich weiter nach draußen, darum betend dass ihn seine Soldaten nicht in diesem Zustand zu Gesicht bekamen.

Mühevoll schaffte er es wieder auf die Beine und täuschte seinem wartenden Gefolge Stärke vor, was ihm aber nur leidlich gelang.

Zwei Soldaten nahmen ihn in Empfang, stützten ihn und geleiteten ihn schließlich zu seinem prunkvoll ausgestatteten hölzernen Reisewagen.

Froh über die Tatsache nicht auch noch den langen Weg nach Ninive reiten zu müssen, versank Gilgas in einen unruhigen Schlummer und bekam von dem sich anschließenden  Aufbruch kaum noch etwas mit.

So endete der Tag des Bundeschlusses. Vier Männer die sich nicht mochten, verbündeten sich mit einem berüchtigten Banditen, den sie noch viel weniger mochten und ernannten diesen zu ihren Anführer. Nun stand dem Feldzug nichts mehr im Wege, dem Feldzug gegen die gefürchteten Amazonen, die alle fünf am allerwenigsten mochten.

 

 

Bisher hatte sich nur eine kleine Menschenansammlung vor dem rustikalen, im alpinen Stil errichteten Jagdschlösschen eingefunden. Voller Unruhe und sichtlich nervös schritt Marek vor der steinernen Treppe, die zur Terrasse des Anwesens führte, auf und ab.

Der politisch rechts orientierte Patriotische Kampfbund hatte zu dieser geheimen Zusammenkunft geladen. Würde die Tarnung funktionieren, die man eigens dafür auserkoren? Als Motorradclub, der hier ein harmloses Treffen veranstaltete? Die schönen Tage die der April seit kurzem bot, luden allerorts solche und ähnliche Vereine ein, sich nach langer Winternacht, wieder zu Aktivitäten ins Freie zu begeben.

Delegierte aus dem ganzen Land wurden erwartet, die jeden Moment mit ihren dröhnenden Stahlrössern auftauchen konnten.

So auffällig wie nur möglich wollte man auftreten. Gerade dass, so glaubten die Verantwortlichen, würde am aller wenigsten Verdacht erregen.

Das Jagdschloss diente bereits in vorrevolutionärer Zeit als Ausflugshotel für die gehobenen Klassen der Gesellschaft. Seit kurzen wurde es wieder als privates Unternehmen geführt, bekannt und beliebt für sein hohes gastronomisches Niveau.

Eine neue Straße führte direkt vor das auf einem Plateau gelegene Refugium, eingebettet in eine malerische Hügellandschaft, vom aufstrebenden Frühling in sattes Grün getaucht und mit einer Fülle lieblicher Frühblüher garniert. Im Blick das Grauhaargebirge, dass sich in der  Ferne am südlichen Horizont erhob.

Marek war der Inhaber dieses schmucken Ambientes. Er gehörte dem neu gegründeten Kampfbund an, doch hatte er lange gezögert ehe er sein Einverständnis gab, das Treffen hier abzuhalten. Es konnte sich im nachhinein als geschäftsschädigend erweisen, denn die Patrioten hatten einen ausgesprochen schlechten Ruf. Darunter befanden sich zahlreiche Bildungsferne. Abgehängte und Verlierertypen  jedweder Couleur, die sich als Heimatlos empfanden und unter dem Dach dieser obskuren Vereinigung eine neue Identität zu finden glaubten. Der Patriotismus ist bekanntlich die letzte Zuflucht des Verlierers.

Das hatte schon vor Zeiten der Dichter Kovacs erkannt und eindringlich davor gewarnt die einfach gestrickten Leute zu vergessen. Doch genau das zeichnete sich in den zurückliegenden Monaten immer deutliche ab.

Plötzlich spitze Marek die Ohren, er glaubte in der Ferne ein dumpfes Donnergrollen zu vernehmen. Das Heulen von Motorrädern, die sich in einem langen Tross den leicht aber stetig ansteigenden Berg hinauf bewegten. Lauter, immer lauter. 

 

Schließlich konnte er die ersten Konturen erkennen.

Als sie immer näher kamen, glaubte er den Boden vibrieren zu hören. Dann donnerten die Stahlrösser an Marek vorbei, so dicht und aufdringlich, dass er sich die Ohren zuhielt.

Die Patrioten umrundeten das Hotel mehrfach, bis sie davor zum Stehen kamen. Erleichtert atmete der Besitzer auf. Dann bewegte er sich auf den Anführer der Gruppe zu. Wie ein Ritter, gerade siegreich aus der Schlacht heimgekehrt, zog er den silbermetallic-glänzenden Integralhelm vom Kopf, dann erhob er sich vom Sattel.

Gleich im Anschluss setzte er eine dunkle Sonnenbrille auf die Augen. Gekleidet in schwarze Motorradlederkluft hatte er sich die dunkelblonden Haare nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er steckte sich einen Kaugummi in den Mund und begann auf penetrante Art zu schmatzen. Seine Erscheinung wirkte gewöhnlich bis abstoßend, dem Chef einer berüchtigten Rockerbande nicht unähnlich. Wahrscheinlich war er das auch, bevor die Patrioten ihn ,in Ermangelung geeigneter Führungskader, für ihre Zwecke rekrutiert hatten, mit der Aussicht eines baldigen Aufstieges in der neu zu schaffenden Parteihierarchie und einem  damit verbundenen sicheren Auskommen. Kevin, so sein Name, ein diametraler Gegensatz zu seinem Gastgeber Marek, der ihm, vornehm in einen dunkelgrauen Anzug gekleidet, die Hand zum Gruß entgegenstreckte.

„Naja, ganz annehmbar deine Bude, würde ich sagen. Ich denke, geeignet für unsere Zusammenkunft.“ Dann ließ er den verärgerten Hotelbesitzer einfach stehen und stieg auf eine Parkbank um von seinen Zuhörern besser gesehen zu werden.

Er stemmte die zu Fäusten geballten Hände in einer Art Siegerpose in die Lenden.

„Alle mal herhören! Wenn auch noch nicht alle erschienen sind, lasst uns schnell mit unserer Besprechung beginnen. Es gibt eine Menge Arbeit. Wir sind nicht zum Vergnügen hier. Die  später Eintreffenden haben eben Pech wenn sie nicht alles mitbekommen. Es ist mir zu Ohren gekommen dass die Leute aus den anarchistischen Syndikaten und Initiativen Wind von unserem Treffen bekommen haben und bald in Scharen hier auftauchen werden um Ärger zu machen.“

Ein sorgenvolles Raunen ging durch die Reihen der Anwesenden, die sich ständig durch Neuankömmlinge erweiterte.

Ein buntes Gemisch aus allen Schattierungen der Rechten. Vom Rechtsrocker mit tätowierter Glatze und Nietenlederjacke bis zum Trachtenjanker tragenden Altkonservativen, alle waren sie erschienen.  Die ersten Fahnen wurden enthüllt und begannen stolz im Wind zu flattern.

Kevin spuckte den zerknautschten Kaugummi aus, dann setzte er seine Rede fort.

„Sollen sie nur kommen, diese linken Krakeeler, wir werden ihnen ein gebührenden Empfang bereiten. Der Kampf beginnt mit dem heutigen Tag. Noch wähnen sie sich in Sicherheit. Noch sind sie in der Mehrheit. Doch unserer Anhängerschaft wächst von Tag zu Tag. Je mehr von diesem queeren Abschaum in unser Land strömt um es mit seinem widerwärtigen Gestank zu verpesten, desto mehr finden den Weg in unsere Reihen.“

Jubelrufe ertönten, erst verhalten dann immer stärker, bis sich schließlich ein donnernder Applaus entlud.

„Die Zeit der Abrechnung ist gekommen, sie hat uns wohl endgültig eingeholt. Wenn ihr tut was sich sage dann verspreche ich euch, dass wir diesen Abschaum aus dem Lande werfen. Wir brauchen Ruhe und Ordnung. Doch wer könnte sie garantieren? Eine Elite! Es kann nur eine Elite führen, es hat immer Eliten gegeben und es wird sie auch Zukunft geben. Ihr konntet euch die zurückliegenden zwei Jahre davon überzeugen wohin es führt, wenn man die einfach gestrickten an die Macht lässt, Chaos und Unordnung wohin das Auge blickt Sie nennen es Anarchie und genau das ist es auch. Aber damit ist Schluss, wir sind angetreten um aufzuräumen und wir werden es gründlich tun.“

„Bravo!!! Hurra!!! Sieg! Sieg! Weg mit der Akratie! Weg mit Elena und Colette! Es lebe Melancholanien wie es einmal war!“ Schallte es Kevin entgegen.

„So sei es! Ihr habt das Problem erkannt. Lasst uns mit dieser Weiberwirtschaft aufräumen. Lasst Männer endlich wieder wahre Männer sein. Lasst uns Anarchonopolis schleifen bis nur noch eine Ruine davon übrig bleibt. In der Welt, die wir zu errichten gedenken, werden anständige Frauen wieder den Platz einnehmen der ihnen von Natur aus zukommt. Nie wieder sollen Frauen sich anmaßen Männerrechte mit Füßen zu treten. Nie wieder soll die führende Rolle des männlichen Wesens in Frage gestellt werden. Die klassische Familie muss wieder Leitkultur einer vorbildlichen Beziehung werden.“

Applaus! Applaus von allen Seiten. Die Begeisterung kannte keine Grenzen. Vor allem die anwesenden Frauen des erst vor wenigen Tagen ins Leben gerufenen Patriotischen Frauenrings, bekundeten laut kreischend ihre Zustimmung.

„ Das gesunde Volksempfinden ist auf dramatische Weise gefährdet. Dieses queere Gesindel, diese degenerierten Gestalten, mit ihren verzerrten Affengesichtern. Sie vergiften durch ihre Anwesenheit unsere Jugend und sie schänden unsere Kinder. Wir werden ihnen ihr schmutziges Handwerk legen, ein für alle mal. Dann werden Männer wieder Männer und Frauen wieder Frauen sein. Zu hundert Prozent. Es gibt nichts dazwischen. Missgeburten die sich weder als das eine noch das andere definieren, haben hier nichts verloren.“

„Jaaaaaaa! Jagt sie davon! Schwuchteln raus aus Melancholanien! Tunten und Transen gehören an die Wand gestellt!“

Die ersten begannen in eine Art Ekstase zu fallen und schlugen wie wild um sich. Andere begannen wie wild besessen eine Art Veitstanz aufzuführen.

„Mach dir Luft! Lass es raus, was dich quält! Macht kaputt was euch kaputt macht! (4)

Zerstörung den Zerstörern! Schüttelt sie ab, die euch aufgezwungene abnorme Lebensweise, werdet wieder rein! Rein an Leib und Seele. Die artfremden Eindringlinge haben keine Macht über uns. Wir sind ihnen in allem überlegen. Wir sind stark. Unseren Willen zur Befreiung kann uns niemand nehmen. Unsere Würde wird wieder auferstehen.

Doch um das zu erreichen bedürfen wir eines festen Bündnisses. Einen Bund mit einer straffen Führung. Einen Befehlshaber, über jeden Zweifel erhaben. Er wird euer Befreier sein.

Wollte ihr ihm die Treue schwören? Treue, wenn es sein muss bis in den Tod!“

„Ja! Ja! Ja! Ja! Der Befreier soll unser Führer sein. Führer nimm uns bei der Hand und führe uns ins Heimatland!“

„Das ist es was ich von euch hören wollte. Ich habe gute Nachricht! Er wird kommen! Nein, er ist schon da. Ich verfüge über sichere Informationen darüber dass sich der Führer bereits seit geraumer Zeit in Melancholanien aufhält. Noch aber kann er es nicht wagen seine Identität offen zu legen. Noch ist er gezwungen im Untergrund zu leben. Versteckt, verborgen. Er möchte sich unerkannt ein Bild von den Zuständen vor Ort machen und tritt in den unterschiedlichsten Verkleidungen auf.

Wenn die Zeit gekommen, wird er sein Geheimnis lüften.

Seid wachsam! Auf dass ihr den Tag der Befreiung nicht verschlaft. Der Hausherr kommt in sein Eigentum, bereitet ihn einen grandiosen Empfang. Der Messias ist gekommen.“

Wieder brandete Jubel auf. Auch die Neuankömmlinge, die kaum etwas von der Rede mitbekommen hatten, schlossen sich dem Siegestaumel an.

Dann stimmten sie die Hymne des alten untergegangenen Blauen Orden an.

Die ersten Tränen wurden vergossen.

„Ähm... ähm … ähm. Ich schlage vor sich jetzt nach drinnen zu begeben. Der Konferenzsaal ist vorbereitet und steht zur Verfügung. Das Personal ist angewiesen euch in allem zu unterstützen.“ Lud Marek mit hastig gesprochenen Worten ein, dabei ängstlich um sich blickend, so als fürchte er jeden Augenblick den Ansturm von Gegendemonstranten.

„Das will ich doch sehr hoffen. Es wäre unklug uns zu enttäuschen. Ich hoffe du hast verstanden.“ Entgegnete Kevin mit arroganter Pose.

„Abmarsch nach drinnen! Zackzack! Ein bisschen Dalli, wenn ich bitten darf. Alles hängt in diesen Stunden von unserem entschiedenen Handeln ab.“

Dieser herzlichen Einladung konnte keiner widerstehen. Wie eine Hammelherde strömten sie den Aufgang hinauf und zwängten sich durch die enge Pforte, dabei den Portier fast zu Boden trampelnd. 

Viele der angereisten Bildungsfernen hatten noch nie in ihrem Leben ein solch mondänes Anwesen von innen gesehen. Eingerichtet im rustikalen Stil, mit jeder Menge Jagdtrophäen an der Wand, einer stolzen Sammlung unterschiedlichster Waffen aus verschiedenen Zeitepochen. Wertvollen Ölgemälden mit bizarren Jagddarstellungen und grandiosen Berglandschaften. Holzgeschnitzte Möbel dienten als Einrichtung.

Der Konferenzraum, in ein Meer aus Fahnen und Wimpeln getaucht, strahlte Siegessicherheit und Herrschaftsanspruch aus. Über dem auf einem erhöhten Podium errichteten Präsidium prangte ein überdimensionales Gemälde dass den bayrischen König Ludwig II in seinem Krönungsornat darstellte. Der schien einsam und hilflos dem Treiben ausgeliefert, dass sich zu seinem Füßen abspielte. Der hochsensible, weltentrückte aber absolut friedfertige Märchenkönig hätte mit diesem obskuren Treiben mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nichts am Hut. 

Einige der Glatzköpfigen Proletpatrioten begannen vor Ungeduld mit den Fäusten auf die geschliffene Tischplatte aus feinem Ebenholz zu pochen, so dass sich Mareks Haare vor Wut

wie Antennen  in die Höhe reckten. Die konservativen Politopas, die noch aus dem aristokratischen Umfeld des Blauen Ordens stammten, versuchen vergeblich auf Benimmregeln zu achten.

„Wir wollen den Führer sehen! Wir wollen den Führer sehen! Führer geh voran wir folgen dir! Führer , Führer her mit dir!“

Bald gingen die ersten Tassen und Teller aus feinem Meißner Porzellan zu Bruch, die, zu geschmackvollen Service zusammengestellt, auf der langen Tafel ihrer Bestimmung harrten.

Marek hielt sich die Augen zu und sank in einen großen Plüschsessel am Rande in sich zusammen. Der Schaden, den diese ungehobelten, bildungsfernen Vandalen anrichteten, war schon in diesem Augenblick beträchtlich. Wie würde es wohl aussehen wenn sie am Abend endlich verschwunden waren?

Kevin stieg auf den Tisch des Präsidiums, holte seine Pistole aus dem umgeschnallten Waffenkoppel, hielt sie nach oben und schoss zweimal in die Luft.

„Ruhe jetzt!!!! Habt ihr den Verstand verloren, oder was? Gut, ich kann eure Ungeduld verstehen. Aber mit undisziplinierten Verhalten kommen wir keinen Schritt weiter.“

„Wir möchten endlich wissen, wann es losgeht! Es hat lange genug gedauert. Wir wollen nicht mehr warten. Wann räumen wir endlich auf mit diesem Dreckspack?“

Sven, ein muskelbepackter, glatzköpfiger Rohling mit Nietenlederweste auf dem nackten Oberkörper, dessen Arme von den Schultern bis zu den Fingerspitzen mit lauter Nazisymbolen tätowiert war, sprach aus was ein Großteil der Versammelten dachte.

Ein altgedienter Patriot aus der guten alten Zeit erhob sich um das Wort zu ergreifen. Gepflegtes graues Haar, gezwirbelter Kaiser-Wilhelm-Bart, Goldgestellbrille, dunkelbraune Trachtenjacke und weinrote Krawatte, einen deutlicheren Kontrast zu seinem Vorredner konnte es kaum geben.

„Kevin du musst Ordnung schaffen. Du hattest vollkommen Recht. Disziplin, Disziplin und nochmals Disziplin, dass ist es was wir am dringlichsten benötigen. Wir müssen dem Volk unseres Landes beweisen, dass wir anständige Melancholanier sind. Wir sind das Volk! Nicht dieses dekadente Pack in der Abtei. Aber das können wir nur wenn wir uns anständig und gesittet in der Öffentlichkeit präsentieren. Mit diesen Leuten dort drüben haben Menschen wie ich nur sehr wenig zu schaffen.“ Er wies mit dem Finger auf Sven.

„Halt die Schnauze Opa, oder ich polier sie dir!“ Dann zeigte der Angesprochene auf penetrante Weise den Stinkefinger.

„Das ist doch unerhört! Was sind das für Manieren! Hier bleibe ich auf keinen Fall!“

empörte sich der Alte und schickte sich an unter lautem Protest den Saal zu verlassen, wurde aber

von einem herbei eilenden Saalordner brutal zum Setzen genötigt.

„Hinsetzen! Maul halten! Hier verlässt keiner den Saal bis ich es gestattete. Erst wenn wir unser Gründungsmanifest ratifiziert haben, ist die Zusammenkunft offiziell beendet.“ Schnauzte Kevin in die Menge.

Immer deutlicher begann der Anführer sein wahres Gesicht zu zeigen. Da sprach alles andere als ein Gentleman. Er war Prolet, dass ließ sich nicht verleugnen, je länger er auf dem Podium stand. Seine Rede vor der Tür hatte er sehr genau einstudiert und x-Mal probehalber rezitiert. Selbstverständlich waren Worte, Begriffe und Redewendungen nicht auf seinem Mist gewachsen.

Er hatte sich einfach aus dem im Untergrund noch reichlich vorhandenen Schriftgut des Blauen Orden bedient und das meiste angeschrieben. (5)

Doch was bedeutete das schon? Entscheidend war, dass er es verstand, mithilfe seines plumpen Auftretens, die Massen zu begeistern. Das alleine zählte.

„Wir kennen den Wortlaut noch gar nicht. Kaum einer in der Runde hatte Gelegenheit sich damit vertraut zu machen.“ Warf Gustav in die Runde, ein untersetzter Spießbürger wie aus dem Bilderbuch. Auch er in feinen Zwirn gekleidet und seine guten Manieren herauskehrend.

„Zunächst müssen wir darüber diskutieren und danach abstimmen. Ich stelle hiermit den Antrag auf...“

„Hier wird nicht geredet. Lange Diskussionen können wir uns nicht leisten. Die Zeit drängt. Der Führer erwartet ein schnelles Ergebnis“ Lehnte Kevin das Ansinnen auf schroffe Weise ab.

„Jörg!“

„Hier!“ Ein schmächtiger blasser Jüngling erhob sich wie vom Blitz getroffen und nahm instinktiv Haltung an.

„Such dir ein paar Helfer, dann verteilt ihr die Ausdrucke! Aber dalli!“ Befahl Kevin.

„Zu Befehl! Wir sofort erledigt!“ Jörg hastet so schnell durch den Raum dass er zweimal an einem Stuhlbein hängen blieb und der Länge nach auf den Boden stürzte.

Am unteren Ende erhob sich ein Typ der wie ein italienischer Mafioso gekleidet war. Schwarzer Nadelstreifenanzug, dunkles Hemd und Silberkrawatte. Eine Sonnenbrille und ein dicker Schnauzbart zierten sein Gesicht. Sein schwarzgrau meliertes Haar triefte nur so von Pomade.

„Hey Leute, mal ganz cool bleiben. Wir haben viel erreicht die letzten Wochen und ich finde es toll, dass sich so viele hier eingefunden haben. Ich möchte euch einfach meinen Dank aussprechen für euren Mut, eure Tapferkeit und eure Kraft zum Durchhalten. Wir können mit dem heutigen Tag Geschichte schreiben. Aber damit uns das gelingt brauchen wir eine gute Grundlage. Wir sollten alles genau prüfen und abwägen und das können wir nur in der Diskussion, deshalb kann ich meinem Vorredner in voller Länge beipflichten. Auch ich möchte eine Debatte anregen!“

„Ach nein was du nicht sagst?“ Unterbrach ihn Kevin. „Du möchtest also eine Debatte. Und wer bist du dass du glaubst eine Forderung stellen zu können. Ich kenne dich! Du hast dich schon bei so mancher Organisation angedient und nun bist du bei uns gelandet. Warst du nicht auch mal bei den Anarchisten?“

„Aber nein! Wie...wie kommst du darauf? Ich war immer ein treuer Patriot und ich werde es immer sein, das gelobe ich bei alles was mir heilig ist.“ Versuchte er sich zu rechtfertigen.

„Meinetwegen! Wer eine unrühmliche Vergangenheit hat, Schwamm drüber. Wir brauchen Leute die arbeiten. Aber ich dulde keine Opposition. Ich fordere bedingungslose Gefolgschaft dem Führer gegenüber.“

„Ja! Ja! Es lebe der Führer. Wann geht es endlich los? Wir wollen Blut sehen. Das Blut der Anarchisten.“ Polterte Sven, dabei eine Bierflasche krachend auf die Tischplatte werfend.

Marek hielt sich nur noch die Ohren zu. Wann nahm dieser Alptraum ein Ende? Nie und nimmer hätte er seine Zustimmung geben dürfen.

Jörg und einige andere der ebenfalls neu gegründeten Jugendorganisation waren indes dabei die Ausdrucke auf den Tischen zu verteilen.

„Aber lesen dürfen wir sie doch noch, oder? So viel Zeit sollte wenigstens bleiben, meine ich.“  Meldete sich der ältere gepflegte Herr vom Anfang noch einmal zu Wort.

„Natürlich dürft ihr sie lesen. Später, irgendwann. Ist mir egal. Jetzt brauche ich eurer Handzeichen, dass ist alles.“

Nun schien die Stimmung zu kippen. Nicht wenige waren wohl mit der Art des Umgangs äußerst unzufrieden!

„Das ist Diktatur!“ Meldete sich jemand aus einer dunklen Ecke.

„Wer hat das gesagt? Zeige dich, oder du bist ein Feigling. Und? Was wäre so schlimm an dieser Vorstellung? Wie ich vorhin sagte. Es kann nur eine starke Hand führen in dieser verworrenen Zeit. Die Diktatur kann uns retten, sie ist der Weg aus dem Jammertal der Unterdrückung.“

„Ja! Es lebe die Diktatur! Es lebe der Führer! Wir werden ihm gehorchen. Ganz gleich was auch immer er befiehlt. Er wird uns in Bereitschaft finden.“ Grölte Sven in die Runde, dann erhob er die rechte Hand zum Gruß. 

„Er kann auf uns zählen! Wir stehen für ihn ein! Wir sind auch bereit unser Leben zu opfern wenn es sein muss!“ Pflichtete ihm ein anderer bei.

„Seht ihr! Solche Worte will ich hören! Ihr Akademiker und Intellektuellen, all ihr vornehmen Leute die ihr heute gekommen seid. Blickt auf diese einfachen Menschen. Sie haben spontan begriffen worum es sich handelt. Mir ist bewusst, dass der Zweifel tief in euren Knochen sitzt. Heute und hier habt ihr die Möglichkeit ihn ein für allemal hinter euch zu lassen.“

Das Stimmengewirr wurde immer unübersichtlicher. Nach wie vor waren viele nicht davon überzeugt, dass eine Diktatur der rechte Weg sei um die Probleme des Landes zu lösen. Sie waren zum Kampf bereit. Doch der Bund den sie heute schließen sollten, konnte sich als überaus brüchig erweisen. Dieser Haufen Unzufriedener konnte jeden Moment wie ein Kartenhaus in sich zusammen brechen.

Die Versammlung drohte zu scheitern. Kevin war sich dieser Sache nur all zu bewusst. Dieser Umstand würde die Bewegung um Monate in der Entwicklung zurückwerfen. Der Führer musste her, doch der zog es weiterhin vor im Dunkel zu agieren. Guter Rat war teuer.

Die Schützenhilfe nahte. Sie kam ausgerechnet vom politischen Gegner. Wie so oft in der Geschichte.

 

Die militanten Anarchisten hatten selbstverständlich Wind von diesem Treffen bekommen und sich schon Tage zuvor darauf vorbereitet um eine entsprechende Aktion zu starten.

Deren Eintreffen ließ auch nicht lange auf sich warten. Während die Patrioten gerade im Begriff waren ihr Gründungsmanifest mit deutlicher Mehrheit, aber eben nicht einstimmig, anzunehmen, formierte sich in etwa zwei Kilometer Entfernung eine große Gruppe der Linken Opposition um dem Spuk ein baldiges Ende zu bereiten. Ein Stoßtrupp war ebenfalls auf Motorrädern erschienen, andere kamen mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Mit ihrem martialischen Outfit stand ein Großteil der Radikalen Anarchos den rechten Patrioten in nichts nach. Auch bei Anarchisten sind Springerstiefel, Khakihosen und Lederjacken sehr beliebt. Was die Haartracht betraf, unterschieden sie sich allerdings erheblich von ihren rechten Antipoden. Sie waren entweder langhaarig, mit kunstvoll geformten Rastalocken oder sie hatten Punkerfrisuren. Es waren aber auch viele ganz „normale“ Leute erschienen, die hier ihren friedlichen Protest gegen das Treiben der Patrioten bekunden wollten. Den Ton gaben aber eindeutig die Militanten an.

Angeführt wurden sie von Dagmar, die sich immer deutlicher zu Elenas erbitterter Rivalin und Gegnerin mauserte. Dabei waren die beiden einander derart ähnlich dass man sie für Zwillingsschwestern hätte halten können. Auch wenn Dagmar etwa einen halben Kopf kleiner war als Elena, in ihrer Entschlossenheit, ihrem Mut, ihrer absoluten Souveränität und ihrem Charisma stand sie ihr in nichts nach.

In ihrer Lederkluft, komplettiert durch Schirmmütze und Sonnenbrille stellte sie Elenas perfekte Kopie dar.

Zum ersten Mal gab es eine Person, die der bisherigen, unangefochtenen Anführerin zur ernsthaften Herausforderung wurde. Sie hatte ohne weiteres das Zeug Elena zu ersetzen. Je schwächer und depressiver Akratasiens Kanzlerin wurde, desto stärker wurde Dagmar. Für das Land ein unverzeihlicher Frevel. Als Verbündete hätten die beiden Bahnbrechendes leisten können und den Rechten schon bald das Wasser abgegraben. Stattdessen begünstigen sie durch ihre Feindschaft die Gefahr von Tag zu Tag mehr.

 Gespannte Erwartung! Alles wartete auf Dagmars Befehl zum Angriff auf das Jagdhotel. Sie ließ sich bewusst Zeit und glaubte den rechten Zeitpunkt bald gefunden.

 

Drinnen gingen derweil die Auseinandersetzungen weiter. Die Delegierten wollten sich einfach noch nicht mit dem Ergebnis zufrieden geben. Plötzlich stürmte Jörg in den Saal um den Anwesenden das Auftauchen der Anarchisten zu verkünden.

„Die…die Anarchoschweine, sie sind da, sie formieren sich etwa 2 km weiter südlich und sind zum Angriff bereit.“

Bei nicht wenigen, vor allem älteren Delegierten löste diese Nachricht kaltes Entsetzen aus.

„Wir müssen hier raus! Diese Anarchos sind zu allem fähig! Die zünden uns, wenn es darauf ankommt, auch noch die Bude über den Köpfen an. Ich kenne die! Mit denen ist nicht zu spaßen.“ Meldete sich der Mafiosotyp wieder zu Wort.

„Du hast uns einen sicheren Ablauf der Zusammenkunft versprochen. Für unseren Schutz sei ausreichend gesorgt, so lauteten deine Worte Kevin. Wie konnte so etwas passieren. Das ist unerhört!“ Warf der ältere Herr in Trachtenjanker dem Organisator entgegen.

„Ruhe! Verdammt noch mal! Was seid ihr nur für Hosenscheißer!“ Richtete Kevin das entscheidende Machtwort an die Versammlung.

„Ein Haufen Jammerlappen und nichts weiter. Sobald sich der Feind am Horizont blicken lässt, feige den Schwanz einziehen. Das habe ich gern. Der Führer wird begeistert sein wenn ich ihm davon berichte. So, nun  der Reihe nach. Wo sind die Leute von der Kameradschaft?“

„Hier!“ Hier! Hier! Hier!“

Überall reckten sich Arme in die Höhe.

„Ihr postiert euch draußen und tut was ihr in den letzten Monaten im Ausbildungscamp gelernt habt, wenn es soweit ist. Eure Aufgabe heißt, Schutz der Zusammenkunft, heißt Schutz der Delegierten. Beschützt die neue freie Idee. Abmarsch nach draußen!“

Sofort begannen sich die Reihen zu lichten.

Vor allem die Bildungsfernen verließen den Saal, sie gehörten der neu gebildeten Schutztruppe an, deren Aufgabe darin bestand solchen Veranstaltungen Sicherheit zu gewähren.

„Alle andern bleiben hier! Ich dulde keine Feigheit! Wir sind mit unserer Arbeit noch nicht zu Ende. Abstimmung jetzt! Auf der Stelle! Wer ist dafür, die Gründungsurkunden zu ratifizieren?“

In Anbetracht der brisanten Situation gab es plötzlich keinen Bedarf mehr für langatmige  Diskussionen.

Einstimmigkeit! Die Geburt einer neuen Bewegung. Einer eingeschworenen Gemeinschaft, zu allem entschlossen und bereit dem Feind in die Augen zu blicken. Möglicherweise durch Blut und Tränen gestählt. Ein Zustand ganz nach dem Geschmack der Rechten. Kampf, immerwährender Kampf bis zum endgültigen Sieg.

„Hervorragend! Es ist vollbracht! Wir haben mit dem heutigen Tag unseren bisher vor allem im Verborgenen agierenden Kampfbund offiziell bestätigt. Der Führer kann zufrieden sein.

Nun lasst uns feiern. Es gibt allen Grund dafür. Unser Festmahl sei der Kampf den wir uns schon in wenigen Augenblicken zu stellen haben. Damit werden wir Geschichte schreiben.“

 

Auf der Gegnerischen Seite warteten alle wie gebannt auf das Kommando. Schließlich reckte Dagmar den rechten Arm in die Höhe.

„Wie lautet die Parole? Keine Handbreit den Faschisten! Es gibt kein Recht auf rechte Propaganda. Nieder mit den Patrioten! Wehret den Anfängen! Vorwärts!“

Wie ein summender Hornissenschwarm setzte sich der Motorradtross in Bewegung und hielt auf das mondäne Anwesen zu.

Marek nutze einen Augenblick der Unachtsamkeit um heimlich aus dem Saal zu flüchten. Er rannte auf die Terrasse, dann die Treppe hinab aufs freie Feld. Mit kreisenden Armbewegungen versuchet er die heran rückenden zum Halten zu bewegen. Vergeblich! Sie brausten einfach an ihm vorbei und er konnte von Glück sagen, nicht über den Haufen gefahren zu werden.

Aus den Reihen der folgenden Demonstranten erschall der Ruf: „Keine Gewalt! Keine Gewalt! Lasst uns auf friedliche Weise unsern Protest vortragen.“

Doch die Vorhut auf den Motorrädern bekam davon schon nichts mehr mit. Längst hatten sie das Jagdschlösschen umzingelt. Mit den rechten Schlägern, die vor der Tür Position bezogen hatten lieferten sie sich zunächst ein heftiges Wortgefecht. Fäuste und Stinkefinger wirbelten auf beiden Seiten durch die Luft. Dann erhoben sich die ersten Baseballschläger und was sonst noch an schlagkräftigem Werkzeug zur Verfügung stand.

Die Anarchos bildeten eine Gasse, dann brauste Dagmar auf ihrem Feuerstuhl heran. Erklomm in Sekundenschnelle die Treppe die zur Terrasse führte und lenkte Ihr Kraftrad mit voller Wucht in die geschlossene Tür des Wintergartens, der dem Konferenzsaal vorgelagert war.

Voller Panik ergriffen die dort noch immer versammelten Patrioten die Flucht nach draußen, doch ein Entkommen schien unmöglich aufgrund der Tatsache, da sich die Anarchisten bereits überall verteilt hatten.

Auf der Terrasse, auf den Fluren und im Foyer entwickelte sich eine Massenschlägerei, in Folge dessen fast das gesamte umstehende Mobiliar zu Bruch ging.

Die Delegierten hasteten nach draußen, dort wurden sie von den Militanten Anarchos mit Faustschlägen und Fußtritten in Empfang genommen.

„Keine Gewalt! Keine Gewalt gegen Leute die sich ergeben! Keine Gewalt gegen Flüchtende!“ Hörte man warnende Rufe von weiter hinten.

Im Konferenzsaal traf Dagmar auf Kevin.

„Hab ich dich endlich erwischt du Dreckskerl. Lange musste ich auf diese Gelegenheit warten. Aber diesmal entkommst du mir nicht. Diesmal mache ich dich fertig. Wenn du kein Feigling bist, stellst du dich dem Kampf.“

„Das will ich gerne tun du Anarchoschlampe. Bevor ich dich ins Jenseits befördere werde ich dir noch die nötigen Manieren lehren.“

Kevin holte eine Fahrradkette hervor und wirbelte damit in der Luft herum. Dann schlug er auf sein Gegenüber ein. Geschickt konnte Dagmar den Hieben ausweichen.

„Ist das alles was du zu bieten hast? Du enttäuschst mich. Armseliger Macho!“

„Keine Angst. Du wirst deine Abreibung noch bekommen. Das waren lediglich Aufwärmübungen!“

Er holte aus und hieb in Richtung Beine. Dagmar wurde getroffen und landete auf dem Boden, ihre robusten Schnürstiefel federten den Schlag weitgehend ab.

„Na? Hab ich dir zu viel versprochen?“

Blitzschnell richtet sich sie sich auf und konzentrierte sich auf den nächsten Angriff seinerseits. In Windeseile griff sie nach einer Stange die sich an ihrem Motorrad befestigt hatte.

In dieser Waffengattung schien sie unschlagbar. Wie eine Furie stürzte sie sich auf den Oberpatrioten und riss ihm die Kette weg. Dieser griff nach dem Schlagstock, den er am Koppel befestigt hatte und parierte die Schläge.

So ging es eine Zeitlang weiter und so manch kostbares Mobiliar gab bei dieser Gelegenheit

seinen Geist auf.

Kevin musste sich jedoch eingestehen, der kampferprobten Amazone nicht mehr lange stand zu halten. Damit hatte er nicht gerechnet. Doch wie konnte er sich aus der Affäre ziehen, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren?

Die meisten seiner Mitverschworenen hatten das Gebäude längst verlassen und lieferten sich in der nahen Umgebung Gefechte mit den Anarchos. Im Haus befand sich kaum noch einer.

Nach reichlicher Überlegung entschloss sich der Oberpatriot die bei vielen Rechtsextremen beliebte Hasenfußtaktik anzuwenden, die darin bestand ,schnell das Weite zu suchen, wenn der Gegner übermächtig ist, sich dabei aber möglichst nicht beobachten zu lassen.

Mit einem Sprung durch ein nah gelegenes Fenster rette er sich ins Freie.

„Feiges Schwein! Auf Schwache und Wehrlose eindreschen, das könnt ihr ausgezeichnet. Aber einen ebenbürtigen Gegner die Stirn bieten? Da geht euch schnell die Puste aus. Lauf nur weg! Ich werde dein feiges Verhalten im ganze Lande publik machen!“

Rief ihm Dagmar nach.

Dann holte sie tief Luft und schritt die Flure entlang wo zertrümmerte Möbel und Einrichtungsgegenstände das wahre Ausmaß der Schlacht offenbarten.

Am Eingang traf sie auf den verzweifelten Marek, der mit apathischem Blick am Boden kauerte.

„Was habe ich getan? Womit habe ich das verdient? Sieh was du und deine Leute angerichtet haben. Sieht so etwa die Freiheit aus die ihr Anarchisten den Menschen bringen wollt? Ihr redet permanent von Frieden, Harmonie und Gewaltlosigkeit und was ist das hier?“

Dagmar streckte den Arm aus und richtet den Zeigefinger auf ihn.

„Armseliger Wurm! Du bist selber schuld! Du hättest ablehnen können, aber du hast es nicht getan. Wer Faschisten Unterschlupf gewährt, hat keine Gnade zu erwarten. Faschismus fällt nicht unter die Meinungs-und –Versammlungsfreiheit. Lass dir das eine Lehre für die Zukunft sein.“

 

Diese gewaltsame Aktion brachte den Patrioten die nötige Publicity, und sie verstanden sie geschickt zu nutzen. Ab diesem Zeitpunkt zelebrierten sie sich in der Öffentlichkeit als Märtyrer, als politisch Verfolgte, als Rechtlose die um Emanzipation kämpften. Die Zustimmungsrate zu ihren Ansichten steigerte sich weiter. Das Ansehen der Anarchisten hingegen sank nach diesem Vorfall deutlich ab.

Wehrt den Anfängen! Ein verständlicher Einwand. Doch ist es nicht andererseits auch eine Tatsache, dass Hunde die laut bellen oft nicht beißen?

Sollten die Rechten doch ihre Parolen weiter blöken. Schien es angebracht ihnen besser mit Nichtbeachtung zu begegnen? Konnte das die bessere Lösung sein?

Überall im ganzen Lande flammten in den Folgetagen und Wochen Auseinandersetzungen ähnlicher Art auf.

 

Dagmar würde sich für ihr eigenmächtiges Verhalten vor dem Rat verantworten müssen, das bot ihr einerseits eine Plattform ihre militanten Ideen weiter zu verbreiten, andererseits ihr Verhältnis zu Elena deutlich verschlechtern.

 

Und Anarchonopolis? Was tat der Innere Kreis der Schwesternschaft?  Die waren nach wie vor mit sich und ihren privaten Problemen beschäftigt und verschliefen weitgehend die dramatischen Veränderungen die sich anbahnten.

 

 

„Eeeeeeeve! Hilf mir! Komm schnell!“ Schrie Chantal während sie auf dem Bett lag und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Bauch hielt. Kalter Schweiß floss in Strömen von ihrer Stirn.

Wie ein aufgescheuchtes Huhn hastete Eve zu ihrer Geliebten.

„Es ist so weit! Oh mein Gott, ich glaube es kommt! Nein!!! Nicht hier! Ich muss sofort nach unten auf die Station.“ Chantals Anweisungen waren eindeutig und korrekt. Das Kind in ihrem Bauch würde noch im Laufe des Vormittags das Licht der Welt erblicken.

„Alles wird gut, mein Liebling! Ich eile! „ Eve platzte beinahe vor Aufregung. Kaum dass sie sich erhoben hatte um zum Haustelefon zu sprinten, machte sie kehrt um bei ihrer Gefährtin zu sein, sie in den Armen zu wiegen und die schweißbedeckte Stirn zu tupfen.

„Bitte Eve! Lass mich! Rufe in der Klinik an.“ Endlich kam die Geliebte der Bitte nach.

Verzweifelt versuchte sich Chantal aufzurichten, doch ein stechender Schmerz hinderte sie daran.

Wenn nur alles gut ginge. Warum hatte sie nicht auf Elenas Rat gehört und sich bereits am Abend zuvor nach unten begeben, so wie es Kyra getan hatte, die ebenfalls jeden Moment damit rechnen musste zu gebären?

Kyra wohnte in der alten Försterei, die sich zwar in der Nähe des Konventsgebäudes befand, aber eben nicht im gleichen Haus. Aus diesem Grund waren Alexandra und Folko auf Nummer sicher gegangen. Diese Vorsichtsmaßnahme sollte sich als richtig erweisen, denn auch Kyra kämpfte bereits unablässig mit den Wehen. Alexandra wich nicht mehr von deren Seite, steigerte sich zuweilen so sehr in ihre Aufgabe , dass man glauben konnte sie selbst und nicht ihre Geliebte würde heute das Glück der Mutterschaft ereilen.

Derweil wartete Folko, unterstützt von Ronald, draußen auf dem Flur. Ein wenig ärgerlich, da ihn Alexandra kurzerhand vor die Tür gesetzt hatte..

„Ich finde es einfach nicht in Ordnung, dass wir Männer immer außen vor sind, wenn es um solche Dinge geht. Natürlich ist die Tatsache ein Kind in die Welt zu setzen zu aller erst Frauensache, das bestreite ich ja gar nicht. Aber ohne mein Zutun läge Kyra jetzt nicht dort.“

„Setz dich doch erst mal hin! Du machst mich mit deinem hin und her Gelaufe ganz nervös.

Als unsere Zwillinge kamen war ich gar nicht in der Nähe. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern. Zur gleichen Zeit fand eine wichtige ZK-Sitzung statt. Neidhardt beharrte darauf dass ich daran teilnahm. Das brachte es mit sich dass ich erst mit einigen Stunden Verspätung meine neugeborenen Kinder begrüßen konnte.“ Versuchte Ronald zu beschwichtigen.

„Naja, was kann man von Neidhardt auch anders erwarten. Von einem funktionierenden Familienleben hat der ungefähr soviel Ahnung wie die Kuh vom Schlittschuhlaufen. Aber Alexandra sollte es wissen. Ich möchte bei meiner Frau sein, jetzt in dieser  Stunde, wo sie so zu kämpfen hat.“ Beschwerte sich Folko weiter.

„Ach sei doch froh dass du das nicht mit ansehen musst. Wenn das Kind da ist, wenn du den ersten Schrei hörst, wartest du einfach bist du gerufen wirst. Dann gehst du durch die Tür und alles ist in Butter. Mutter und Kind wohlauf, so zumindest die Hoffnung. Warum sollen Männer sich nicht auch mal hinter ihrem Mann sein verstecken dürfen. Gut, einverstanden! Ich werde mit Alexandra reden. Ich mache ihr unmissverständlich klar, welche Rechte dir an deinem Kinde zustehen! Versprochen!“ Sicherte Ronald zu.

„Danke! Wie lange dauert das denn noch? Das ist ja zum wahnsinnig werden!“ Wieder erhob sich Folko und schritt hastig im Wartezimmer auf und ab.

Plötzlich öffnete sich der Aufzug. Lukas und Eve entstiegen und wuchteten eine fahrbare Liege in den Flur. Chantal hatte sich wieder etwas beruhigt, aber die Anspannung schien ihr ins Gesicht geschrieben

Es sah ganz danach aus als ob der Klapperstorch am heutigen Tag gleich zweimal seinen Botendienst abzuleisten hatte.

„Hallo Eve! Hallo Chantal! Alles in Ordnung? Ist es bei euch auch soweit? Das ist ja wirklich ein Zufall!“ Begrüßte Ronald die Neuankömmlinge.

„Ich bin fix und fertig! Das war eine Nacht, sag ich dir. Ich mache drei Kreuze wenn alles vorüber ist.“ Erwiderte Eve.

„Na und ich erst recht!“ Bestätigte Chantal, dann lies sie erschöpft den Kopf auf die Liege fallen. Kurz darauf waren alle im Entbindungszimmer verschwunden.

Lukas erschien wenig später mit einem Ausdruck der Erleichterung  auf seinem Gesicht im Wartebereich.

„Na schon wieder draußen? Möchtest du nicht zusehen?“ neckte ihn Ronald.

„Nee, nicht wenn es sich vermeiden lässt. Puah, da können wir Männer aber von Glück sagen, dass uns so etwas erspart bleibt.“ Lukas ließ sich neben den beiden auf der Bank nieder. Schweigen. Keiner wollte in diesem Moment etwas sagen, gespanntes Warten. Welche der beiden Frauen würde wohl als erste von ihrer Last befreit?

Da öffnete sich der Aufzug erneut und Elena hastete dem Entbindungsräumen entgegen. Die wartenden Männer hatte sie dem Anschein nach gar nicht bemerkt, so vertieft war sie in ihre bevorstehende Aufgabe. Eine beruhigende Tatsache, dass die Kanzlerin persönlich zugegen war. Für das Wohl ihrer Schwestern war ihr kein Weg zu weit und keine Anstrengung zu groß, selbst wenn dadurch wieder eine Kabinettssitzung verschoben werden musste.

„Ich finde dass sich Elena einfach zu viel zumutet? Ihr nicht auch? Ist doch war! Von einer Krisensitzung zur nächsten und dann nimmt sie sich noch genügend Zeit für die Menschen die ihr anvertraut sind. Wie schafft die das nur? Ihre Kondition ist umwerfend. Aber einmal fällt auch der sicherste Eskimo vom Schlitten. Damit müssen wir stets rechnen.“

Stellte Lukas zutreffend fest.

„Also erstens heißt das nicht Eskimo sondern Inuit und zweitens hast du vollkommen Recht. Elena bedarf dringend der Ruhe. Doch überzeuge mal einem Workaholic von der Tatsache dass er einer ist. Da liegt das Problem. Sie muss selbst darauf kommen. Wenn nicht, was können wir machen?“ erwiderte Ronald. Dann wurde er in seinem Redefluss unterbrochen als sich der Aufzug ein drittes Mal öffnete und Pater Liborius erschien.   

„Bin…bin ich zu spät? Ist das Kind...äh...ich meine, sind die Kinder schon da?“

„Nein! Bisher noch nicht! Na, jetzt kann ja nichts mehr schief gehen. Mit einem solchen geistlichen Beistand dürften die Geburten eine Kinderspiel werden.“ Antwortete Lukas wie immer auf seine schnodderige Art.

„Komm setzt dich Pater Liborius! Dann warten wir eben zu viert.“ Lud Ronald ein.

„Hätte nie gedacht dass ich so etwas noch mal erleben darf. Ist absolutes Neuland für mich. Aber ich muss mich mit dem Gedanken vertraut machen, es geht kein Weg daran vorbei. Praktisch weiß ich nicht einmal was ich tun soll. Kann ich eine Vaterschaft akzeptieren?“

Die drei anderen sahen sich nur verblüffend an. Niemand schien mit den Worten des Paters  etwas anfangen zu können

„Kannst du uns mal erklären was du damit sagen willst. Ich verstehe im Moment nur Bahnhof.“ Lies Ronald seine Unkenntnis erkennen.

„Ach ja, ihr seid noch nicht im Bilde. Naja, dann sollt ihr es als erstes erfahren. Chantal und ich waren uns darüber einig, dass wir das Geheimnis um die Vaterschaft erst am Tag der Geburt lüften.“ Erwiderte der Pater.

„Du...du willst damit sagen, dass du der Vater von Chantals Kind bist?“ Bohrte Ronald ungläubig weiter.

„Du sagst es!“

„Also das haut mich um. Ich meine... Moment mal. Ähm... Folko, würdest du dich bitte setzen? Ich gehe davon aus dass du das Kind auch im Sitzen bekommen wirst. Ähm...ähm.. ich meine natürlich dass ähm... das Kind auch kommt während du sitzt. Man, ich bin schon total durcheinander. Aber wie in aller Welt? Ich meine doch nur wie kommst du zu Chantal? Das verstehe ich nicht?“ Schien Ronald aus allen Wolken zu fallen.

„Na wie ich es immer gesagt habe: Unser blondes Gift bekommt alle, wenn sie nur will. Schade, ich wäre auch ganz gern bei ihr gelandet. Aber mich wollte sie dem Anschein nach nicht. Ah, jetzt verstehe ich auch warum, sie steht auf ältere Semester. Und unser Pater scheint der Richtige zu sein...“

„Lukas tu uns einen Gefallen und halt die Klappe. Einfach nicht hin hören Pater. Du bist tatsächlich der Vater von Chantals Kind. Das ist wirklich eine Überraschung. Ich glaube, damit hat wohl keiner gerechnet. Also ich wünsche euch nur das Allerbeste.“ Bekundete Ronald.

„Also mir reicht`s Ich gehe jetzt rein. Ganz egal was die da drinnen sagen!“ Meinte Folko und erhob sich erneut.

„Folko, bleib sitzen! Zum letzten Mal. Warum bin ich überhaupt mitgekommen? Wie ich eben schon bemerkte,  damals, als meine Zwillinge kamen, befand ich mich gerade in einer ZK-Sitzung. Während Neidhardt seinen Fünf-Jahres-Plan erläuterte, wurde ich Vater. Ich hab gar nichts bemerkt, so schnell ging das. Ich...“

Plötzlich konnte man das zarte Wimmern eines Neugeborenen durch die noch immer geschlossene Tür hören.

„Hört ihr das?“ Wollte Folko wissen.

„Nee, wir hören nichts! Sind alle stocktaub!“ Erwiderte Lukas.

„Wer mag es sein? Welche ist es? Meines oder deines?“ Folko blickte auf den alten Pater.

Der senkte nur verlegen das Haupt.

„Das wirst du noch früh genug erfahren. Spätestens wenn die Tür geöffnet wird.“ Glaubte Ronald zu wissen.

Augenblicke vergingen, die den werdenden Vätern und ihren Begleitern wie Jahre vorkamen.

Endlich öffnete sich die Tür. Madleen die ebenfalls beim Geburtsvorgang als Helferin fungierte, erschien in der Tür.

Wie von der Tarantel gestochen, schossen alle vier Männer in die Höhe.

„Na, man könnte ja den Eindruck bekommen, dass ihr alle betroffen seid. Folko, du bist gefordert. Kyra war die erste. Ihr geht es gut und ihr habt ein ausgesprochen nettes Töchterchen bekommen. Du kannst jetzt eintreten. Ihr anderen müsst euch noch gedulden, denn Chantal hat es noch nicht überstanden. Aus diesem Grund muss ich ebenfalls gleich wieder rein.“

Schnell war die Tür verschlossen und das langwierige Warten ging weiter.

Nach einer weiteren Zeitspanne, die niemand so richtig ermessen konnte, drang erneut ein Wimmern nach draußen. Es klang irgendwie anders. Und dem war auch so.

Pater Liborius faltete seine Hände. Chantal hatte ihm soeben ein großes, wunderbares und niemals erwartetes Geschenk gemacht. Von diesem Augenblick an sollte sich sein Leben grundlegend ändern. Nichts würde mehr so sein, wie es einmal war. Auch wenn seine unmittelbaren Lebensumständen zunächst unangetastet blieben.

Tief in sich versunken harrte der alte Pater der Dinge die sich ihm gleich offenbarten.

Ronald blickte stumm zu ihm, erst jetzt bemerkte er die Veränderung an seinem Aussehen.

Die schneeweißen Haare akkurat kurz geschnitten, lugten nicht wie sonst üblich unter der schwarzen Baskenmütze hervor. Auch den Drei-Tage-Bart hatte er sich rasiert.

Er schien vorbereitet.

 

Folko hatte indes damit zu kämpfen sein Recht als Vater zu erstreiten.

„Gutschigutschigutschigutschigutschi! Ach nein was für ein wunderbares Täubchen. Ich bin total vernarrt in dich meine süße Kleine.“ Alexandra, an Kyras Bettrand sitzend wog das kleine Bündel in ihren Armen und schien kaum bereit es aus der Hand zu geben.

Folko hatte sich auf der gegenüberliegenden Seite platziert und drückte Kyras Hand, dann beugte er sich über sie und verabreichte ihr einen zärtlichen Kuss.

„Endlich hast du es überstanden, mein Engel. Geht es dir auch wirklich gut?“

„Ja! Mach dir keine Sorgen. Etwas schwach und müde, aber das ist normal nach so einer Tortur. In eins, zwei Tagen bin ich wieder auf den Beinen.“ Erwiderte Kyra in ihrer gewohnt coolen Art, die Dinge anzugehen.

„Nun haben wir also eine Tochter. Und bleibt es bei dem Namen den wir ausgesucht haben.“ Wollte der stolze Vater wissen.

„Ja, natürlich, Verena! Wie abgemacht.“ Bestätigte Kyra.

„Ich finde der Name passt ausgezeichnet zu ihr. Er strahlt so etwas Würdevolles und Erhabenes aus. Genau das Richtige für unsere kleine Prinzessin.“ Begrüßte Alexandra diese Namenswahl.

„Sag mal, möchtest du unsere Tochter nicht auch mal in den Armen halten?“ Erkundigte sich Kyra.

„Ja, sicher! Wenn ich darf!“

„Was für eine Frage, Folko. Alexandra reich die Kleine doch mal rüber.“

Wortlos gehorchte die Geliebte, doch man konnte ihrem Blick entnehmen dass sie nur äußerst unwillig dazu bereit war ihren Anspruch zu teilen.

Endlich hatte Folko die Möglichkeit, sich mit seiner Tochter vertraut zu machen. Die beiden schienen sich auf Anhieb zu verstehen.

 

In der Zwischenzeit hatte auch Ronald das Zimmer betreten um sich kundig zu machen. Pater Liborius hingegen verharrte noch immer im Gebet versunken auf der Bank im Wartezimmer.

 

„Hallo Kyra! Alles in Ordnung? Geht es dir gut? Na wie ich sehe haben sich Vater und Tochter schon miteinander bekannt gemacht. Das ist gut!“ begrüßte Ronald die frisch gebackene Mutter, die sich mit ihrer Rolle erst langsam anfreunden musste.

„Mir geht es gut! Der Kleinen auch! Was wollen wir mehr.“

„Das ist also unsere Verena! Sieh mal Ronald, ist sie nicht wunderschön?“ Voller Begeisterung präsentierte Folko dem Freund das Neugeborene.

„Das ist sie in der Tat! Du kannst stolz darauf sein!“

„Ein echter Wonneproppen.  Ich denke, du hast sie genug gehalten Folko, reich sie mir doch einfach wieder rüber.“ Forderte Alexandra.

Folko gehorchte. Ronald betrachtete den Vorgang mit einigem Unbehagen.

„Aber warum setzt du dich nicht Ronald? Hol dir einen Stuhl und bereichere unsere kleine Runde.“ Lud Kyra ein.

Ronald blickte sich im Zimmer um.

Dann zog er einen Stuhl heran und platzierte sich an der Seite seiner  Frau.

„Hier! Aber nur einen kurzen Blick drauf werfen.“ Alexandra hielt ihm das Bündel unter die Nase.

„Hallo, hallohallo, meine Kleine. Gutschigutschigutschigutschigutschi!“

„Na also ich werde dann mal wieder gehen.“ Folko machte Anstalten sich zu erheben

„Wenn ihr meine Hilfe benötigt, meldet euch einfach. Ihr wisst ja wo ich zu finden bin. Komm erst mal wieder zu Kräften Kyra, dann werden wir weiter sehen.“

Danach küsste er seine Frau.

„Alles klar, Folko! Du kannst ja heute abend noch mal vorbeischauen. Ich halte derweil die Stellung! Gutschigustchigutschigutschi!“

„Ach da fällt mir ein, dass ich mit meiner Frau noch einige wichtige Dinge zu besprechen habe.“ erhob sich Ronald abrupt, so als habe ihn gerade eine spontan Eingebung erreicht.

Dann nahm er Alexandra mit viel Gefühl den Säugling aus der Hand und drückte diesen seinem Freund in die Arme.  

„Komm Alexandra! Wir machen uns einen Gemütlichen, drüben in der Försterei.

Ich habe mir den Tag frei gehalten. Zeit mal wieder was zu unternehmen, der Frühling gibt uns die Kraft dazu. Unsere Zwillinge werden sicher schon mit Ungeduld auf uns warten.“

„Wieso? Die sind doch bestens betreut?“ wunderte sich die Angesprochene.

„Das meine ich nicht! Komm Alexandra! Also bis später ihr zwei.“

Ronald hob seine Frau mit einem Schwung von ihrer Sitzgelegenheit und drängte sie schließlich zur Tür hinaus.

„Was soll das Ronald? Hast du noch alle Tassen im Schrank?“

„Lass Folko einfach noch ein Stück übrig von der Kleinen, schließlich ist der ihr Vater!“

„Oh, wie toll das du mich daran erinnerst. Hätt ich doch glatt vergessen. Was soll der Unsinn? Was hast du so wichtiges mit mir zu besprechen, dass du mich meiner Geliebten entziehst? Kyra ist meine Frau, meine Gefährtin und meine Schwester. Vergiss das bitte niemals.“

„Wie könnte ich! Das ist es was ich mit dir besprechen möchte. Zuerst mit dir allein, später dann, wenn wir wieder alle zusammen wohnen gemeinsam mit den anderen. Es müssen Regeln getroffen werden, wie unser Leben in Zukunft von Statten geht wenn es weiter funktionieren soll. Und damit können wir nicht früh genug beginnen.“

 

Bei Chantal und Eve, eine Tür weiter, ging es etwa zur gleichen Zeit bedeutend ruhiger zu.

Hier waren die Lebensverhältnisse weitgehend frei von Konflikten, da es sich bisher ausschließlich um zwei Personen handelte. Eve wog die kleine Lucy in ihren Armen, ihre Stimmung schwankte zwischen Neugier, Freude und Spannung. Sie hatte plötzlich ein Kind ohne es geboren zu haben. Eine Tatsache die nicht leicht zu verstehen war.

Zunächst war sie froh über den Umstand dass ihre Frau Chantal alles gut überstanden hatte und sich ebenso wie ihr Neugeborenes bei guter Gesundheit befand. Auch die Vorstellung dass sie die Traumfrau an ihrer Seite schon nach wenigen Tagen wieder so liebkosen konnte wie sie sich dass wünschte, war verlockend.

Doch schwebte ein nach wie vor ungeklärter Tatbestand bleischwer über ihrem Kopf.

Noch immer war ihr Lucys Vaterschaft nicht bekannt. Chantal hatte versprochen das Geheimnis am Tage der Geburt zu lüften. Doch traute sich Eve nicht in diesem Augenblick die Frage in den Raum zu werfen.

„Und wie gefällt sie dir, unsere Kleine?“

„Cool! Absolut umwerfend! Ich hätte nicht gedacht, dass mich das so in den Bann ziehen könnte. Sie sieht dir sehr ähnlich würde ich mal sagen!“ Erwiderte Eve mit ihrem typischen verschmitzten Lächeln.

„Ach du! Das kann man doch jetzt noch nicht erkennen. Möglicherweise sieht sie am Ende gar dir ähnlich?“ Neckte Chantal.

„Na du nun wieder! Aber es ist toll dass du deinen Humor wieder hast. Die letzten Tage waren wirklich schlimm. Geht es dir auch wirklich gut?“

„Mach dir keine Sorgen. Ich bin ok .“

„Dann beginnt jetzt etwas Neues für uns beide. Die unbeschwerte Zeit dahin, würde ich sagen.“ Stellte Eve fest.

„Ja, nun beginnt der Ernst des Lebens, wie man früher immer so treffend formulierte. Wenn Klein-Lucy uns das erste Mal unsanft aus dem Schlafe schreit, dann ist Schluss mit lustig. Ich hoffe es wird dir nicht zu viel.“

„Ich werde es eben lernen. Auch ich hatte Gelegenheit mich in den zurück liegenden neun Monaten ausgehend vorzubereiten, wenn auch nicht auf so direkte Art wie du.“

„Da bin ich beruhigt. Du wirst es schon schaffen. Wir beide werden es schaffen. Sag mal, als du eben draußen warst hast du da Pater Liborius entdeckt?“ Wollte Chantal plötzlich wissen.

Eve konnte sich keinen Reim auf diese Frage machen.

„Ja, der saß im Wartezimmer auf der Bank. Warum willst du das wissen?“

„Könntest du ihn bitten herein zu kommen. Ich habe ihm etwas Wichtiges mit zu teilen.“ Antwortete Chantal. Dabei versuchte sie sich zu erheben, lies sich aber sogleich wieder auf das Kopfkissen fallen.

„Bleib doch liegen! Kein Problem! Ich hole den Pater. Soll ich mich verdünnisieren, wenn du allein mit ihm sprechen willst?“

„Auf keinen Fall. Das geht euch beide an.“

Noch immer ahnte Eve nicht worauf Chantal hinaus wollte. Sie ging  zur Tür und bedeutete den alten Pater zu kommen. Dieser kam der Bitte  umgehend nach, schritt durch die Tür und blieb am Fußende des Krankenbettes stehen.

„Komm doch zu mir Liborius, setz dich! Hier an meine linke Seite. Du Eve nimm zur Rechten Platz. Die beiden gehorchten.

„Siehst du! Das ist deine Tochter, lieber Pater Liborius. Wir haben sie Lucy genannt. Ich hoffe dir gefällt der Name?“ Dann reichte Chantal den Säugling herüber. Der Pater nahm sie in die Hände und betrachtete sie voller Freude. Eve konnte kaum glauben was sie so eben gehört hatte. Träumte sie? War das ein Scherz? Der alte Pater war der Vater von Chantals Tochter?

„Ein schöner Name. Er gefällt mir gut. Ihr habt eine richtige Entscheidung getroffen. Es ist euer Kind und ihr allein seid dafür verantwortlich.“

Gab der Pater zu verstehen.

„Du kannst Lucy sehen wann immer du möchtest. Unsere Tür steht dir jederzeit offen. Du bist uns stets willkommen.“ Bot Chantal an.

„Ich danke dir! Ich denke ich werde regelmäßig Gebrauch davon machen. Viele Säuglinge und Kleinkinder durfte ich schon in den Armen halten. Das ist zunächst nichts Neues für mich. Immer dann wenn Taufen anstanden. Es waren die Kinder anderer Leute. Ich hätte mir nie träumen lassen, einmal ein eigenes zu wiegen.“

„Es ist alles real, lieber Liborius. Du träumst nicht. Mache dich vertraut mit dem was du in den Händen hältst. Sie ist ein Teil von dir. In ihr wirst du weiter leben.“. Chantals Worte rührten den Alten zu Tränen. Nur unter Mühe gelang es ihm sich ihrer zu erwehren. 

„Das ist beruhigend zu wissen. Ich habe nicht umsonst gelebt. Die Kleine ist die Entschädigung für all die Anfechtungen und all den Verdruss den ich zu ertragen hatte.“

Nach einer Weile des Schweigens legte er den Säugling wieder in die Arme der Mutter.

Eve betrachtete alles mit andächtigem Schweigen. Sie hatte tausend Fragen, doch blieben sie unausgesprochen.

Chantal tastete nach der Hand des Paters und drückte sie sanft.

„Ich bin für dich da! Wenn du Hilfe brauchst werde ich mir die Zeit für dich nehmen und dir in allem beistehen.  Ob in Haushaltesdingen, oder bei deiner Arbeit, oder... ja auch wenn du einsam bist und einen Menschen brauchst der einfach nur da ist. Du kannst auf mich zählen.“

„Nein!“ Meldete sich Eve plötzlich zu Wort.

„Nicht du bist für ihn da. Wir sind für dich da Pater Liborius.“

„Ich danke euch! Euch beiden! Ich... ich muss das alles erst einmal verarbeiten. Ihr versteht wenn ich mich zurückziehen möchte?“

„Kein Problem! Lass alles in nRuhe auf dich wirken. Und wie gesagt. Du bist uns jederzeit willkommen!“ Wiederholte Chantal ihr Angebot.

Der Pater drückte Chantal noch einmal, dann tat er es mit Eve, danach entschwand er in Windeseile durch die Tür.

„Also Chantal, ich muss ein ernsthaftes Wort mit dir reden.“ entfuhr es Eve.

„Warum hast du mir das nicht gesagt? Pater Liborius ist der Vater deines Kindes. OK. Mit ihm habe ich überhaupt kein Proble. Ich mag ihn sehr und das habe ich dir gegenüber mehrfach geäußert und trotzdem hast du mich außen vor gelassen? Warum?“

„Ich hatte Angst davor dass du womöglich nicht klar damit kommst und diese Beziehung nicht recht erst zu nehmen verstehst!“

„Oh, ich nehme sie ernst, sehr ernst sogar. So ist es in Ordnung. Ich könnte mir vorstellen, das wir wunderbar mit einander harmonieren.“ Bekannte Eve, beugte sich zu ihrer Geliebten um ihr einen Kuss zu verabreichen.

„Na da bin ich beruhigt!“

„Das kannst du! Ich befürchtete die ganze Zeit dass dir so ein Sonnyboytyp ausgeholfen hat. Du verstehst was ich meine. Typ Jungunternehmer oder Playboy, Solariumgebräunt und mit Goldkettchen behangen. Die mag ich ganz und gar nicht.“

„Aber Eve, wo denkst du hin? Meinst du dass ich sowas nötig habe? In dir habe ich den Schatz meines Lebens gefunden. Einen anderen brauche ich nicht. Und überhaupt seit wann gibt es denn Jungunternehmer oder Playboys in Akratasien?“

„Ich weiß nicht, kam mir nur so in den Sinn! Ich bin voll zufrieden. Mein Kindheitstraum geht in Erfüllung. Zwei Menschen waren es, nach denen ich mich in meiner so ganz und gar nicht liebevollen Kindheit und Jugendzeit sehnte.  Da wäre einmal die Traumfrau, die kämpfende Amazone an meiner Seite. Eine die mich aus allem raus haut und mich auf ihrer Burg in Sicherheit bringt, in deren Armen ich die Liebe meines Lebens finden kann. Nun darf ich an deren Seite leben.“

„Und die andere Person?“

„Du wirst es nicht glauben. Einen Großvater! Einen, der mit mir im Wald spazieren geht und am Abend  Geschichten erzählt. Eine Respektperson mit schneeweißen Haaren, auf  die man voller Ehrfurcht blickt. Nun ist also auch dieser Wunsch in Erfüllung gegangen. Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt. Aber sag mal. Wie kamst du ausgerechnet auf ihn? Du bist einfach zu ihm gegangen und hast ihm offenbart, dass er dir ein Kind zeugen soll? Oder wie darf ich das verstehen? “

„Nein, natürlich nicht so. Es war die Chronik, die uns zusammen gebracht hat!“

„Die Chronik? Ich verstehe nicht!“

„Du erinnerst dich doch an unser Projekt für die historische Erforschung unserer Heimat.

Dazu gehört auch, dass ich eine Chronik über die Abtei erstelle. Wann sie entstanden ist. Wie sie sich entwickelt hat und so weiter und so fort. Einen geschichtlichen Überblick. Pater Liborius hat mir dabei geholfen, wer käme wohl besser dafür in Frage? Ein wandelndes Lexikon in historischen Fragen. Häufig habe ich ihn in seiner Eremitage aufgesucht, in meiner Freizeit,immer dann, wenn du mit deinen Aufgaben beschäftigt warst, mit der Band unterwegs, oder deiner Clique. Ich habe mir die Zeit einfach genommen und mich von meiner Arbeit im Ministerium freigestellt. Wie schön dass so etwas in der Akratie jederzeit möglich ist.

Es hat sich langsam entwickelt. Wir kamen uns immer näher und bemerkten das Verlangen in uns. Es hat seinerseits viel an Überwindung und meinerseits viel an Überredungskünsten gekostet, bis wir soweit waren. Und dann ist es geschehen! Eines Tages waren wir beide soweit. Es war schön, einfach nur schön. Wir haben es beide genossen und Lucy ist das Produkt dieser spontanen, ungewöhnlichen Liebe.“

„Hört sich spannend an! Und so romantisch! Der alte Pater findet am Abend seines Lebens doch noch seine Liebe!“ begeisterte sich Eve.

„Doch wie soll es jetzt weitergehen? Wir werden uns um ihn kümmern, dass seht schon mal fest. Aber zwischen uns bleibt alles wie bisher?“

„Ja natürlich! Du bist und bleibst meine Hauptbeziehung. Daran wird sich niemals etwas ändern. Aber Pater Liborius bekommt seinen Platz an unserer Seite. Wir werden uns um ihn kümmern so dass es ihm im Alter an nichts fehlt.  Doch zunächst müssen wir uns Elena zuwenden. Sie bedarf dringend der Unterstützung, solange ihre Beziehung zu Madleen nicht

wiederhergestellt ist. Sie gehört in unsere Mitte. Wir müssen noch enger zusammen rücken. Was hältst du davon?“

„Großartige Idee! Ich bin dabei!“

„Ich denke ich müsste mal mit Madleen darüber reden. Natürlich erst wenn ich wieder auf den Beinen bin. Wir müssen sie wieder mit Elena versöhnen. Es kommt auf den Versuch an. So wie es jetzt läuft kann es unter keinen Umständen weiter gehen.“

Erwiderte Chantal mit Entschlossenheit in der Stimme.

 

Als sich Elena nach getaner Arbeit anschickte die Krankenstation zu verlassen stand ihr auf einmal Madleen gegenüber. Ein für beide sehr bedrückender Umstand. Sehnsuchtsvolle Blicke kreuzten sich. Das verlorene Paradies zum Greifen nahe. Alles vergeben und vergessen. Komm wieder zu mir und alles wird wieder wie es einmal war. Doch keine von beiden brachte diese Worte über ihre Lippen. Stattdessen nur Leere, gähnende Leere.

„Geht es dir gut?“ Wagte Elena den Faden aufzuheben.

„Ja! Es geht schon! Und dir? Wie geht es dir?“ Entgegnete Madleen kurz angebunden.

„Ja, wie es eben geht. Es muss irgendwie am Laufen bleiben.“

Beide senkten den Blick, es tat einfach zu weh, in die Augen der einst so heiß Geliebten zu blicken.

„Du fehlst mir so!“ Elenas Aussage traf den wunden Punkt.

„Du mir auch!“ Madleens Offenbarung entzündete einen Hoffnungschimmer in Elenas Herzen.

„Dann lass es uns noch einmal versuchen. Es tut mir alles so unendlich leid. Lass uns reden, einfach über alles reden.“ Elenas Bitten beschämte Madleen.

„Später! Später vielleicht! Im Moment ist alles noch so frisch. Ich bin verletzt. Wir brauchen den Abstand.  Glaube mir! Es ist besser so. Im Moment!“

„Ja, wenn du meinst!“

„Ich... ich geh dann mal!“ Madleen hastete zur Tür hinaus und lies die Gefährtin allein in ihrem Schmerz.

Elena vergrub ihr Gesicht tief in den Handflächen und lies den Tränen freien Lauf.

 

Am Abend hatten sich Ronald und Folko noch auf ein Bier in der rustikalen „Dorfkneipe“

eingefunden. Die Bezeichnung Dorfkneipe sollte den alternativen Charakter dieses Etablissements hervorheben. Eingerichtet in einem der zahlreich vorhandenen ehemaligen Wirtschaftsgebäude der Abtei. Ein imposanter Bau aus grauem Naturstein, der auf zahlreiche Jahrhunderte zurückblicken konnte. Eine Künstlerkneipe, deren Inneneinrichtung eine Symbiose aus -bäuerlich-ländlicher Heimatromantik und postmoderner Alternativszene vermittelte.

Sie wurde bereits unmittelbar nach der Besiedlung der Abtei durch die Kommune in der Zeit des vorrevolutionären Melancholanien errichtet. Doch erst nach Ende der Neidhardt-Diktatur  zum Magneten, der zahlreiche Lebenskünstler, Aussteiger, Individualisten und Möchte-gern-Intellektuelle jedweder Couleur anzog. Selbstverständlich stand sie auch den bildungsfernen  Bevölkerungsschichten offen. Doch nur sehr wenige Angehörige dieser in zunehmenden Maße marginalisierten Gruppen fanden ihren Weg dorthin. Und jene die es tatsächlich schafften ihren Fuß über die Schwelle zu setzen, fühlten sich schnell in die Rolle von Außenseitern und Abgehängten gedränt, da sie den hochgeschraubten und gestelzten Worten kaum folgen konnten.

Die Nächte waren jetzt im März noch empfindlich kühl, so dass der große Kachelofen an der Wand nach wie vor befeuert werden musste.

Eine Menge alter Bücher, die in Regalen an den Wänden oder auch auf den im Raum verteilten Stützbalkenkonstruktionen ihren Platz gefunden hatten sorgten zusätzlich für eine intellektuelle Atmosphäre. An den ockerfarbig gestrichenen Wänden prangten zahlreiche Plakate aus verschiedenen Zeitepochen, meist mit revolutionären Inhalten. Das größte davon stellte das berühmte Konterfei Che Guevaras dar, der auf wundersame Weise alle Neuankömmlinge zu begrüßen schien. Die bronzene Karl-Marx-Büste am Eingang fungierte als eine Art Platzeinweiser.

Zahlreiche Devotionalien aus längst vergangenen Tagen waren überall im Raum verteilt. Von der alten handbetriebene Kaffeemühle, über Bierhumpen und Zinnteller, bis hin zum altertümlichen Nachttopf. In einer dunklen Ecke befand sich sogar eine handbetrieben Wäschekurbel.  

An originellen Einfällen mangelte es wahrlich nicht.

Die Theke war einem englischen Pub nachempfunden. Madleen hatte sich auf einem der hölzernen Barhocker niedergelassen und betrachtet sich im gegenüberliegenden Spiegel. Ihr war zum Heulen übel. Sie tat sich, was ihre depressive Stimmung betraf, keinen Zwang an und lies einfach alles raus.

„Huhuhuhuh,hehehehe! Schluchz, Schluchz!“ Es war herzzerreißend. Die Tränen liefen in wahren Bächen über ihr Gesicht und verwandelten ihr Make-up, das sie eigentlich gar nicht nötig hatte, in eine klebrige Masse.

Folko und Ronald betrachteten die Szene mit einem Gefühl dass eine Mischung aus tiefen Mitgefühl und Sorge darstellte. 

„Sag mal hast du zufällig mitbekommen wieviel Kognak sich Madleen inzwischen genehmigt hat?“ Wollte Folko wissen.

„Keine Ahnung! Aber sie trinkt gar keinen Kognak, ich glaube es ist Wodka.“ antwortete Ronald.

„Kognak oder Wodka! Was spielt das für eine Rolle? Fakt ist, dass es ihr ganz und gar nicht bekommt. Ich kann mich nicht erinnern sie je in einem erbarmungswürdigeren Zustand gesehen zu haben.

Wetten das Elena jetzt zu Hause hockt, oder wo auch immer und an einem ähnlichen Herzschmerz leidet.“ Entgegnete Folko mit einer für ihn ansonsten ganz und gar unüblichen Wut im Bauch.

„Das mag sein. Mir tut das alles auch unendlich leid. Aber so läuft es nun mal, auch die leidenschaftlichste Beziehung kommt irgendwann einmal in eine tiefe Krise.“ Antwortete Ronald, dem das Geschehen weit weniger zu schaffen machte. Schließlich hatte er mit Alexandra derzeit genug an Stress.

„Huhuhuhuhubhuh!“

Madleen drohte geradezu in sich zusammenzusacken, sosehr gab sie ihrem Gefühlen freien Lauf.

„Das kann man sich ja nicht mehr mit anhören! Weißt du was ich am liebsten tun möchte? Jetzt! Auf der Stelle?“ Empörte sich Folko.

„Nein! Aber du wirst es mir sicher gleich sagen!“

„Rüber an die Theke gehen. Sie zum Gehen auffordern! Tut sie es nicht, auf die Schultern nehmen und hinaus tragen. Dann unter die kalte Dusche, bis sie zur Besinnung kommt. Trocken rubbeln und im Anschluss direkt bei Elena abliefern, dort wo sie hingehört! Punkt!

Ronald klatsche in die Hände.

„Bravo! Hervorragender Einfall. Würde ich sofort unterstützen. Wenn es nach uns ginge und unserer Logik. Es geht aber nun mal nicht nach uns und deshalb müssen wir uns da raus halten. Die beiden sind erwachsene Leute. Die müssen allein damit klar kommen. Auch wenn es uns nicht gefällt und durch ihr Verhalten das Leben hier in der Gemeinschaft unter Umständen eine großen Gefahr ausgesetzt wird.“

„Endlich hast du es erfasst! Darauf möchte ich die ganze Zeit hinaus. Ihr Verhalten stellt eine Gefahr für uns alle dar.“

 

„huhuhuhuhuhhehehehe!“ Klang es weiter von der Theke herüber.

„Immer noch so traurig, Madleen? Das solltest du aber nicht! Das Leben ist viel zu kostbar um es wegen einer gescheiterten Beziehung aufzugeben. Das Ende einer Beziehung öffnet neue Türen. Vor allem Türen zum inneren Selbst. Es kann ein neuer Anfang sein1 Du bist durch den Verlust in die Lage versetzt dich neu erfinden."

Quatschte sie jener Typ an, der Madleen schon seit geraumer Zeit auf den Fersen war und wie eine lästige Schmeißfliege an ihr hing.

Ein großer schlanker, überdurchschnittlich gut aussehender Mann , etwa Ende 40 ,mit schmaler Nase, fein geschwungenen  Mundwinkeln, silbergrauen in kleinen Locken gekräuselten Haaren. Er war salopp in einen dunkelblauen Jeansanzug gekleidet. Aus dem am Hals geöffneten Hemdkragen lugte ein weinrotes Tuch mit weißen Punkten hervor. Jetzt fehlte eigentlich nur noch der breitkrempige Texashut und der Cowboy war perfekt. Sein ganzes Erscheinungsbild erinnerte an den US-amerikanischen Filmschauspieler Jeff Chandler.(6) Ja, es hatte den Anschein als sei der schon in jungen Jahren ergraute Hollywoodstar und Frauenliebling der 50ger Jahre wieder auferstanden, so frappierend war die Ähnlichkeit. Ein Gesicht wie nach Maß gearbeitet.

„Ach, was weißt du schon. Ich habe meine große Liebe verloren, Elena ist unersetzlich. Ich … ich bin so dämlich… ich bin. Ich kann… einfach nicht mehr.“ Lallte Madleen, das sprechen schien ihr immer schwerer zu fallen.

„Las mich in Ruhe! Geh! Hau ab! Was willst du überhaupt von mir?“

„Nanana! Redet man so mit seinem helfenden Engel? Betrachte mich einfach als einen. Ich möchte dir helfen in deiner Not. Aber du musst es auch wollen.“

 

„Na hör dir das an. Da kann einem ja schlecht werden. Dieser Typ ist echt zum kotzen.“ Mokierte sich Folko.

„Ja, gute Feststellung! Was ist das denn überhaupt für einer?“ Wollte Ronald wissen.

„Der Knilch kam schon vor ein paar Wochen hier an. Der gefiel mir von Anfang an nicht. In meiner Eigenschaft als Verantwortlicher der allgemeinen Sicherheit habe ich ihn mal unter die Lupe genommen. Aber bitte nicht weitersagen. Ich weiß dass das nicht erlaubt ist. Aber manchmal erweisen sich solche illegalen Eingriffe in das Freiheitsprinzip als durchaus sinnvoll und notwendig.

Absolut undurchsichtiger Typ. Niemand scheint zu wissen wer er ist, woher er kommt und was er so getrieben hat. Höchst verdächtig!“

„Aber du kennst unseren Grundsatz, dass niemand sich hier offenbaren muss, der es nicht aus eigenem Stücken tut. Die Vergangenheit ist ausgelöscht. Jeder hat ein Recht auf einen Neuanfang ohne Wenn und Aber.“

„Der Grundsatz ist mir wohl bekannt. Ich finde ihn in dieser Form inakzeptabel. Ich habe meine Kritik an diesem Gesetzt mehrfach geäußert. Das ist einfach nur naiv und leichtfertig.

Die Leute die nach Akratasien kommen sollten zumindest überprüft werden.“ Unterstrich Folko noch einmal seine ablehnende Haltung.

„Nun, das hast du getan, bist aber zu keinem gewünschten Ergebnis gekommen.“

„Ich behalte ihn trotzdem im Auge. Ich kann mir nicht helfen, aber der erinnert mich an jemanden. Jemanden aus meiner nicht ganz so rühmlichen Vergangenheit. Aber ich kann dir beim besten Willen nicht sagen wo ich ihn verorten soll. Da geht etwas unheimliches, etwas diabolisches von ihm aus. Die fast makellose Erscheinung ist einfach zu perfekt um wahr zu sein.“ Versuchte sich Folko zu erinnern.

„Hm, sympathisch ist der wirklich nicht. Du magst Recht damit haben. Gut, beobachte weiter. Ich habe davon nichts gehört. Es bleibt unser Geheimnis.“

 

„Die Welt ist bunt liebe Madleen. Ich werde sie dir zu Füßen legen. Wann immer dir danach ist. Wenn du bereit bist deine Beziehung aufzugeben, wirst du mich finden.“ Der Typ küsste auf ausgesprochen penetrante Art Madleens rechte Hand. Sie ließ es geschehen.

 

„Na da hört sich doch alles auf! Der will sie auch noch in ihrem Vorhaben bestärken. Dem möchte ich links und rechts eine in die Visage hauen.“ Ereiferte sich Folko weiter.

„Was ist denn heute mit dir los? So kenne ich dich  ja gar nicht. Du bist doch sonst stets besonnen und cool, wenn es um solche Dinge geht.“ Wunderte sich Ronald.

„Der Typ macht mich total nervös. Ich weiß auch nicht warum. Habe so was noch nie erlebt, bisher.“

Der Fremde hatte vor allem Madleen in Beschlag, aber es schien, als richteten sich seine Augen zwischenzeitlich immer  wieder auf Folko, so als ob er versuchte ihn zu provozieren.

„Oh welche Verschwendung liebe Madleen. Du solltest nicht weinen. Eine so schöne Frau hat keinen Grund im Liebeskummer zu vergehen. Dir steht alles offen. Alles! Du kannst jeden haben, wenn du nur willst. Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben, sie führt dich in ein unentdecktes Land der Freude und des Genießens.“

Raspelte der Typ weiter jede Menge Süßholz. Madleen schien in zunehmenden Maße davon beeindruckt.

 

Die innere Unruhe schien Folko langsam um den Verstand zu bringen. Warum nur versetzte ihn dieser Fremde so sehr in Rage. Könnte er sich doch nur erinnern.

„Ich kann mir das nicht länger anhören. Der treibt mich schier zum Wahnsinn mit seinem schleimigen Gehabe.“

„Wollen wir uns an einen anderen Tisch setzen?“ Bot Ronald an.

„Ach, bringt auch nichts. Der Typ hat etwas, ich weiß es nicht. In mir kommt auf einmal die ganze Vergangenheit hoch.“

„Auch ich spüre Unsicherheit und Sorge.“ Stellte Ronald auf einmal fest.

„Ich habe nur in Erfahrung bringen können, dass er zunächst versucht hat Elena zu umgarnen, mit irgendeinem dubiosen Projekt, das er hier starten will. Dafür benötigt er wohl Grundstücke. Geld scheint er zu haben, aber Amerikaner ist er nicht. Wenn dem so wäre, könnten wir uns beruhigt zurücklehnen. Elena hat ihn abblitzen lassen. Die ist Gott sei Dank gegen Typen solcher Art resistent. Madleen leider nicht. Nun versucht er sich bei ihr einzuschmeicheln. Leider mit Erfolg würde ich sagen.“ Fuhr Folko fort.

Auf der kleinen Bühne gegenüber bereitete sich die Band um die Sängerin Ana auf ihren Auftritt vor. Heute abend sollte es wieder Live-Musik geben.

Während dessen rutschte Madleen ganz langsam an der Theke in sich zusammen. Der viele Alkoholkonsum zeigte nun nachhaltige Wirkung

Der fremde Typ fing sie auf, hielt sie auf seinen Armen und trug sie schließlich zur Tür hinaus.

„Das kann ja wohl nicht wahr sein.“ Empörte sich Folko und erhob sich spontan.

Ronald hielt ihn zurück.

„Bleib sitzen! Wir können uns hier nicht einmischen, so leid es mir auch tut.“  

„Dieser hohle fadenscheinige Typ als Ersatz für Elena? Die Vorstellung ist geradezu grotesk! Was denkt sich Madleen nur dabei?“

„Die ist im Moment außerstande logisch zu handeln. Du hast vollkommen Recht, diese hohlen und hageren Typen sind immer unheimlich. Wie lies doch William Shakespeare seinen Julius Caesar gleich im ersten Akt sagen. >Lasst dicke Männer um mich sein, solche die Nachts ruhig schlafen. Die sind ungefährlich. Der Cassius dort hat einen holen Blick...“

Weiter kam Ronald mit der Rezitation des literarischen Klassikers nicht.

Wie eine Rakete schnellte Folko in die Höhe so dass der Stuhl nach hinten kippte und zu Boden ging. Cassius?

Beim Hören dieses Namens lichtet sich der Schleier und er erinnerte sich plötzlich. Der römische Feldherr Cassius hatte sich nach verlorener Schlacht ehrenvoll in sein Schwert gestürzt. Doch ein anderer mit ähnlich klingenden Namen erfreute sich nach wie vor des Lebens. Cassian, neben Folko, letzter Überlebende Kommandeur des legendären Blauen Orden aus vorrevolutionärer Zeit. Der hatte nach dessen Niederlage eine neue Karriere als Söldnerführer gestartet und trieb an den verschiedensten Orten der Welt sein Unwesen, galt als einer der meistgesuchten Terroristen schlechthin.

Stets war damit zu rechnen dass er eines Tages in die alte Heimat zurückkehren würde.

Ständig änderte er seine Identität. So wie es schien nicht nur den Namen, sondern auch sein Aussehen.

Die Welt hielt Cassian für tot und hatte ihn vergessen. Alle gingen davon aus dass er in der letzten Schlacht gegen Neidhardts Revolutionäre gemeinsam mit allen anderen Führungskräften des Ordens den Tod gefunden hatte.

Ein fataler Irrtum.

Nur Folko wusste dass er sich in letzter Minute mit einer kleinen Einheit der drohenden Vernichtung durch Flucht hatte entziehen können. Kyra hatte er eingeweiht.

„Was ist denn jetzt schon wieder? Hast du etwa einen Geist gesehen?“

„Ja, so etwas ähnliches! Es ist die Erinnerung! Deren Stachel dringen tiefer als eine vergiftete Pfeilspitze.“ Gestand Folko.

„Du erinnerst dich`? Du weißt wer das ist? Kennst du ihn tatsächlich aus früheren Tagen? Du siehst plötzlich so blass aus!“

„Ich... ich bin mir nicht sicher. Ich muss tiefer in mich gehen und genauer forschen. Noch gibt es  keinen Beweis für meinen Verdacht. Aus diesem Grund möchte ich dir das Geheimnis im Moment auch noch nicht anvertrauen. Mir.. mir ist wirklich nicht gut. Ich halte es für besser mich jetzt zurück zu ziehen.“

„Jaja! Und ich kann wieder die Zeche für den heutigen Abend übernehmen. Na geh schon! Ich erledige das. Aber das nächste Mal bist du dran. Geh in dich und wenn du sicher bist gib mir Bescheid.“

Von der Kleinkunstbühne drangen futuristische Klänge herüber. Es wurde somit eh zu laut für eine tiefschürfende Unterhaltung. Folko stürzte nach draußen und lies Ronald zurück.

Noch mal auf die Krankenstation, nach Kyra und der Kleinen sehen.

Was für ein Tag! Just in dem Moment da ihm eine Tochter geschenkt wurde, meldet sich die unrühmliche Vergangenheit zurück.

Das alles konnte kein Zufall sein. Sein Spürsinn hatte ihn bisher noch nie im Stich gelassen.

In den Folgetagen würde er sich diesem Typen an die Fersen heften, ihn keinen Augenblick unbeobachtet lassen, bis er hundertprozentig sicher war.

 

 

 

(1) Zikkurat-        Stufenturm in babylonischen Tempeln

 

(2)Assur, Nisibis, Ninive und Haaran –historischen Städte im alten Nordmesopotamien

 

(3)Assur- Stadtgott des Stadtstaates Assur, nach der Entstehung des altassyrischen Reiches   breitete sich seine Verehrung auch auf die andern Städte aus Nordmesopotamien aus

 

(4) Macht kaputt was euch kaputt mach- dieser Schlachtruf der 68ger Revolte wurde schon lange von den Rechtsextremen okkupiert und für ihre Zwecke sinnentstellt.

 

(5) Es gilt heute als sicher dass Hitler die meisten Stellen seiner Schrift „Mein Kampf“ nicht selbst verfasst sondern etwa zwei Drittel davon abgeschrieben hat. Er bediente sich verschiedener Autoren. Der Großteil davon stammt von dem obskuren Begründer der so genannten Ariosophie Georg Lanz von Liebensfels

 

(6) Jeff Chandler (1918-1961) war ein US-amerikanischer Filmschauspieler der vor allem durch Rollen in Abenteuerfilmen und Western bekannt wurde. Der 1,93 cm große Hüne mit dem silbergrauen Haaren galt in den 50ger Jahren als männliches Sexsymbol.

Chandler starb, erst 42-jährig, an den Folgen einer missglückten Operation.