Gefühle und Gewissen

 

Die Emotionen fuhren Achterbahn, während Chantal ihr Britt-Cabriolet durch die Straßen von Manrovia lenkte. Nur unter großen Schwierigkeiten gelang es ihr, das Fahrzeug unter Kontrolle zu halten. Nie in ihrem Leben hatte sie etwas Schöneres erlebt.  Die erste Liebesnacht mit einer Frau und mit was für einer. Süß und stark schmeckte der Wein aus dem Kelch der lesbischen Liebe. Noch vor zwei Tagen wäre ihr nicht im Traume eingefallen, dass sie durch die Berührung einer Frau derart aus der Fassung geraten sollte. Glück, unendlich tiefe Glücksgefühle. Mal kurz in den siebten Himmel abgetaucht, doch nun befand sie sich wieder im irdischen Jammertal mit all seinen Anfechtungen. Auch großer Gefahr ausgesetzt. Gerade noch rechtzeitig trat sie auf das Bremspedal und brachte ihr Fahrzeug zum Stehen. Nur knapp entging sie einem höllischen Auffahrunfall. Sie war taub für das Gefluche der anderen Verkehrsteilnehmer und setzte unverzüglich ihre Fahrt fort.

Auf einem Schaden am Auto hätte sie gepfiffen, der schnittige Sportwagen war Frederics Geschenk, dafür hatte er sie zuletzt wie eine Hure gedemütigt, und so mancher Faustschlag war die Folge nicht erfüllter Wünsche seinerseits, wenn ihm etwas nicht an ihr passte. Am liebsten würde sie das Gefährt noch heute dem nächst besten Tramp, der ihr gerade über den Weg lief, übereignen.

Bedeutungslos erschien das Leben das sie noch am gestrigen Tage führte. Sie dachte nur noch an die Nacht mit Elena, an der Rausch der Sinne, an das Blut, das in ihren Adern kochte, an das himmlische Gefühl der Berührung und das Prickeln auf der Haut.

Zunächst suchte sie ihre Wohnung auf. Dort wurde sie kurzzeitig zu einer Elena, denn sie tat dass was jene ein knappes Jahr zuvor an sich vorgenommen hatte, die alles entscheidende Verwandlung. Sie betrat ihr Schlafzimmer und ihr Blick fiel auf den großen Spiegel ihres Kleiderschrankes.

"Das was ich sehe ist lächerlich!" Hallte Elenas Worte in ihr wieder. Wie recht sie damit hatte. Sie entledigte sich der alberne Kostümierung und verstaute alles in einen Kleidersack, stopfte noch weitere Klamotten hinzu. Dann griff sie sich eine alte Bluejeans, ein weißes T-Shirt und eine Jeansjacke. dazu weiße Leinenturnschuhe. Im Anschluss bürstet sie ihr Haar und band es sich zu einem Pferdeschwanz straff nach hinten.

Zum ersten Mal seit langem betrachtet sie ihr wahres Selbst in der Person die ihr da vom Spiegel entgegen blickte und sie war überaus zufrieden mit sich. Und sie war sicher Elena würde es ebenso sein.

Doch schon bald kehrte die Angst zurück.

Und nun sollte sie sich in ihr Büro setzen und den Launen dieses aalglatten Don Juan aussetzen? Allein bei dem Gedanken wurde ihr schlecht. Würde sie seiner Anwesenheit standhalten oder zusammenbrechen?

Als sie ihren Wagen auf dem Hof der Sendeanstalt parkte, spürte sie die Anspannung. Die Knie zitterten und ihre Handflächen waren schweißnass. Schwankend durchschritt sie die Eingangspforte. Dabei viel ihr ein hektisches Durcheinander auf, doch wortlos setzte sie ihren Weg in die oberen Stockwerke fort, dort wo sich auch ihr Domizil befand.

Einige Kollegen diskutierten laut gestikulierend auf dem Flur gegenüber.

Aus dem Gespräch vernahm sie die erlösende Botschaft.

Frederic war nicht da und es hatte den Anschein, dass er sich auch in absehbarer Zeit nicht mehr blicken lassen würde. Die Kritiken in den Medien waren so niederschmetternd, dass es der millionenschwere Medienmogul vorgezogen hatte, sich auf unbestimmte Zeit auf seine mondäne Yacht an der Côte d' Azur zurückzuziehen. Der Feigling hatte sich einfach aus dem Staub gemacht. Millionäre haben es leicht. Die brauchen sich in solchen Situatione keiner Verantwortung zu stellen, können statt dessen alles ihren Untergebenen aufbürden.

Nicht nur die Konkurrenzpresse war über Frederic hergezogen, nein, auch sein eigenes Imperium probte offensichtlich den Aufstand und hatte sich voll auf Elenas Seite geschlagen. Das war zuviel des Guten.

Chantal betrat ihr Büro, ließ sich in den Lederdrehsessel fallen, streckte die Beine aus, ließ den Kopf nach hinten fallen und atmete tief und entspannt durch.

Eine wunderbare Nachricht, die Konfrontation mit diesem Ekel blieb ihr erspart. Erst mal zur Besinnung kommen und die Gedanken und Gefühle ordnen, die wie Stechmücken in ihrem Inneren tanzten.

Sie zog die Leinenturnschuhe von den Füßen und wackelte mit ihren Zehen. Skeptisch betrachtete Chantal diese, des weiteren ihre Finger. Elena hatte ihr empfohlen, keinen knallroten Nagellack mehr zu aufzutragen, statt dessen dezente Farben einzusetzen. Chantal würde auch das beherzigen. Wie so vieles mehr. Wie konnte sie sich nur so beeinflussen lassen von Frederic und all den anderen Typen, die in ihr nur das naive Blondchen sahen. Elena hatte ihr mit einem Ruck die Augen geöffnet und dafür würde sie ihr ein Leben lang dankbar sein.

Sie fasste den Entschluss, Elenas verlockendes Angebot, bei ihr einzusteigen, vorerst noch nicht in Anspruch zu nehmen. Sie glaubte ihr, hier an dieser Stelle besser von Nutzen zu sein. Sie sehnte sich nach ihrer Nähe, andererseits fürchtete sie sich auch. Elena hatte sie eingeladen, sie in der alten Abtei zu besuchen.

Am liebsten würde sie noch heute dorthin aufbrechen, doch andererseits? Sie liebte eine Frau, die sich gerade mit einem Mann verlobt hatte, es war kaum zwei Wochen her. Leander stand Elena sehr nahe, das war Tagesgespräch und wenn man die beiden beobachtete, konnte man sich davon überzeugen, welch tiefe Zuneigung zwischen beiden waltete.

Eine zu große Nähe zu Elena würde ihr wehtun, fürchtete Chantal. Würde sie es ertragen, wenn ihre neue Göttin einen Mann vorzog, diesen womöglich bald heiratete? Eine Traumhochzeit?

Und ihr oblag womöglich die Hofberichterstattung?

Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz in der Herzgegend und die Tränen schossen ihr in die Augen.

Sie bettete ihr Gesicht auf den Armen die sie auf den Schreibtisch legte und weinte.

 

Doch nicht nur Chantals Gefühle waren in Aufruhr.  Auch in Elena tanzen die Emotionen einen heißen Tango. Die Nacht mit Chantal hatte ihr ausgesprochen gut getan. Dadurch aber kam ein lang verschüttetes Verlangen erneut zum Vorschein. Seit geraumer Zeit schon hatte es keine so zärtliche Vereinigung mehr mit einer Frau in ihrem Leben gegeben.

In ihrem früheren Leben konnte Elena ihre Affären kaum zählen, männliche, wie weibliche Liebhaber standen Schlange. Sie genoss die Abwechslung, Liebe hingegen lernte sie erst in Leanders Armen kennen. Seit ihrer Wende hatte sich ihr Leben grundlegend verändert, in jeder Hinsicht. Auch ihr Liebesleben kam zur Besinnung. Sie lebte nun schon lange monogam und fühlte sich wohl dabei. Leander war ihr alles. Sie fand bei ihm das, was sie in ihrem bisherigen Leben so sehr vermisste. Es gab keinen Grund nach anderen Männern Ausschau zu halten.

Bei Frauen gelang ihr das nicht. Um nichts in der Welt wollte sie auf die zärtlichen Liebkosungen durch Frauenhände verzichten. Gerade in der letzten Zeit tat sich ein starkes Verlangen in ihr auf. Sie sehnte sich nach einer Gefährtin an ihrer Seite, mit der sie alles teilen konnte.

Die Begegnung mit Chantal hatte ihr diese Erkenntnis noch einmal schlagartig ins Bewusstsein gerückt.

Doch hatte sie sich gerade erst mit Leander verlobt und diese Beziehung forderte vollen Einsatz. Hinzu kam ihre derzeitige Situation mit dem Wahlkampf der ihr kaum Zeit zum atmen ließ. Die Beziehung zu Leander litt gerade jetzt besonders darunter.

Es blieb nicht einmal genügend Zeit für ihn, geschweige dem für eine zweite gleichwertige Beziehung mit einer Frau.

Einen Tag vor ihrer Verlobung hatte sie ausführlich mit Leander über ihre geheimen Wünsche gesprochen. Es war ihr wichtig, ihm zu offenbaren, dass sie niemals bereit wäre, auf Frauenbekanntschaften zu verzichten. Er zeigte dafür absolutes Verständnis. Es war ok für ihn. Seiner Meinung nach war es völlig normal, das eine Frau sich nach Liebe und Zärtlichkeit sehnt, die sie mit einer anderen Frau teilen kann.

Ob Gabriela, Alexandra, Cassandra, Elena hatte mit all ihren besten Freundinnen geschlafen und war mal keine zur Hand, holte sie sich ihr Dienstmädchen unter die Decke. So konnte sie ihre Begierden frei ausleben.

Doch die Richtige, eine treue Gefährtin, die ihr wirklich etwas bedeutete, um deretwillen sie alles aufgeben würde, war ihr noch nicht über den Weg gelaufen.

Hatte sie bei Leander erstmals echte Gefühle für einen Mann entdeckt, bei einer Frau stand dieser Umstand noch aus und sie vermochte keine Lösung zu finden.

Wäre Chantal eine geeignete Kandidatin? Sie mochte sie sehr. Würde sich auf jeden Fall regelmäßig mit ihr treffen, um das Begonnene fortzusetzen und zu vertiefen. Doch eine richtige Beziehung, mit allem, was dafür erforderlich schien? Nein, dafür fehlte ihr im Moment einfach die nötige Energie. Auch sie war nur ein Mensch aus Fleisch und Blut.

Im Augenblick musste sie sich einfach auf Leander konzentrieren und natürlich auf ihre Mission. Später, ja vielleicht, sollte es  ihr einmal vergönnt sein, über mehr Zeit zu verfügen.

Auf jeden Fall wurde ihr mit einem Schlag bewusst, wie sehr sie einer weiblichen Ergänzung  bedurfte. Nicht nur sie hatte Chantal in ein neues Leben geleitet. Umgekehrt hatte diese in ihr die alte Sehnsucht neu geweckt.

 

Als Elena am Nachmittag  sichtlich geschafft und ausgelaugt nach Hause kam, stellte sie zu ihrer großen Zufriedenheit fest, dass doch tatsächlich einmal keine Presseleute am Eingang der alten Abtei herumlungerten. Sie parkte ihr Auto und entschwand sogleich hinter der Pforte.

Geschafft, sie bedurfte dringend der Ruhe und Erholung. Insgesamt vier Wahlauftritte lagen hinter ihr, sie vermochte selbst nicht zu erklären, wie ihr das gelungen war, ohne dabei Schaden am Leib und an der Seele zu nehmen.

Der Sommer war nach kurzer Abwesenheit zurückgekehrt. Mitte Juli, dichtes Blattwerk an den Bäumen, überall sattes Grün und Blüten wohin das Auge blickte. Der alte Klostergarten erstrahlte in neuer Pracht. Viele fleißige Hände hatten mit dazu beigetragen.

Als sie so durch die Anlage schlenderte, viel ihr ein, dass sich Kovacs die letzten Wochen kaum hatte blicken lassen. Während die anderen ihr mit Begeisterung zur Hand gingen und sich mit ganzer Kraft dem Wahlkampf widmeten, hielt er sich auffällig von ihr fern.

Hatte das etwas zu bedeuten? Elena suchte nach Antworten, doch fand sie keine. Gerade jetzt, da so viel Verantwortung auf ihren Schultern lag, bedurfte sie so sehr der aufmunternden Worte dieses guten und unersetzlichen Freundes. Ihm konnte sie sich zu jeder Zeit an vertrauen, stets fand sie offene Ohren.

Er würde sie auch diesmal verstehen und ihr die Richtung weisen, dessen war sie sicher.

Wo hielt er sich auf? Elena fragte sich durch die ganze Kommune. Dabei lief ihr Kyra über den Weg.

„Phantastisch, Elena. Du warst einfach großartig letzten Abend. Ich glaube, du hast es geschafft, das ganze Land liegt dir zu Füßen. Ich sage es offen. Hab mich schwer in dir getäuscht. Damals, weiß du noch, warst du mir gar nicht sympathisch. Aber der Mensch irrt. Ich nehme alles zurück:“

„Kyra, du sollst dich doch nicht ständig bei mir entschuldigen. Ich habe das beim ersten Male schon verstanden. Aber danke dir. Wenn es dir gefallen hat, dann auch allen anderen. Gut zu wissen, wofür ich all das auf mich lade und vor allem für wen. Nein, nicht ich habe es geschafft, es ist unser aller Werk.“

„Nana, da wär ich mir nicht so sicher. Ohne dich? Da sähe die Liga ganz schön alt aus, nicht besser als die beiden altbackenen Fraktionen. Stell dir Cornelius in der Runde vor. Könnte der so argumentieren wie du?“ schmeichelte Kyra, so dass es Elena schon fast peinlich wurde.

„Ich denke, nicht viel anders als ich!“

„Sicher, das schon! Aber die ganze Art, wie du es rüberbringst, mit so viel Schwung und Elan, einfach so, dass es auch jeder verstehen kann. Und dann gehst so cool und locker an die Sache ran.“

„Sag mal, hast du zufällig Kovacs gesehen?“ Versuchte Elena abzulenken.

„Nee, den ganzen Tag noch nicht. Da fällt mir auf, gerade jetzt, da du es sagst, der macht sich schon fast die ganze Woche  rar. Es scheint, als zöge er sich immer beständiger von den anderen zurück .“

„Also wenn dir das auch aufgefallen ist, dann liege ich recht mit meiner Annahme. Ich muss ihn unbedingt finden und mit ihm reden.“

Elena verabschiedete sich und setzte ihre Suche fort. Sie streifte durch den schönen blühenden Park und ging sogar eine Weile durch den angrenzenden Wald.

Wenn er ihr nun auch noch mit einem Wort der Anerkennung entgegentrat schien das Glück perfekt. Auf seine Meinung legte Elena ganz besonderen Wert, bei all der Wertschätzung für ihn und seine Ansichten.

Endlich wurde sie an den etwas außerhalb gelegenen Klosterteichen fündig.

„Kovacs, alter Freund, da bist du ja. Ich suche dich schon die ganze Zeit. Wo hast du dich versteckt? Ich vermisse dich. Mir fehlen deine mahnenden Worte, auch wenn ich viele davon noch immer nicht ganz nachvollziehen kann!“ begrüßte sie ihn überschwänglich.

„Ganz meinerseits! Auch ich habe dich sehr vermisst, die letzten Wochen. Aber du bist ja soooo sehr beschäftigt, dass man schon den Fernseher einschalten muss, um deiner ansichtig zu werden.“ antwortete der Angesprochene und Elena konnte sich keinen Reim darauf machen, ob es sich dabei um seine üblichen Neckereien handelte oder ob er ihr Tatsächlich böse war.

„Bin total geschafft! Vier Auftritte alleine heute. Das haut den stärksten Inuit vom Schlitten.

Du kannst dir nicht vorstellen, wie sich die Stimmung im Lande von Tag zu Tag ändert. Das ist es wert. Ich glaube, wir haben es geschafft. Die Menschen stehen hinter uns!“

„Hinter uns? Du wolltest sagen hinter dir?“ fiel ihr Kovacs ins Wort.

„Ja, sie stehen hinter mir! Wenn man es so ausdrücken will. Hinter mir, hinter uns? Wo liegt da der Unterschied?“ wollte Elena wissen und lies sich auf einer Bank am Ufer des Teiches nieder.

„Aha! Für dich gibt es da keinen Unterschied? Wenn du es so siehst! Du bist wir und wir sind du, oder? Ist es das, was du sagen willst?“ Kovacs schien mürrisch, war er heute mit dem linken Bein zuerst aufgestanden?

„Was ist mit dir? Warum bist du so grantig heute, großer Dichter! So kenne ich dich  gar nicht.“ beschwerte sich Elena.

„Nun, es gab bisher auch keinen Grund dafür!“

„Aber jetzt! Jetzt gibt es einen?“

„Ja, so ist es! Jetzt gibt es in der Tat einen!“

„Also, jetzt versteh ich gar nichts mehr! Wie lange schon warten wir auf so eine Situation?  

Die Stimmung im Land verlagert sich Tag für Tag zu mehr zu unseren Gunsten. Du kannst es förmlich riechen. Die Menschen beginnen aufzuwachen. Ein echtes Tauwetter. Du solltest sehen, wie begeistert die Massen sind, wenn ich zu ihnen spreche. Wie sie sich überzeugen lassen. Wie sie uns zujubeln!“ versuchte Elena zu überzeugen.

„Ja, das ist schön für dich!“ bürstete Kovacs Elena kurzerhand ab.

Elena erhob sich von der Bank und zog Kovacs zu sich.

„Warum bist du so gemein zu mir? Was hab ich dir getan?“

„Ich sehe eine große Gefahr, das ist es. Ich fürchte, du könntest den Boden unter den Füßen verlieren.“

„Aber warum denn das? Das musst du mir ausführlich erklären! Setz dich! Ich habe ein Recht zu erfahren, warum du mir so etwas zutraust!“ Elenas Tonfall wurde strenger.

Kovacs nahm nach einigem Zögern an Elenas Seite Platz, man konnte ihm die Anspannung anmerken. Er befand sich offenbar in einem großen Zwiespalt.

„Elena, ich bin fest davon ausgegangen, dass du dich in der Zwischenzeit meiner Überzeugung angeschlossen hast. Nun muss ich beobachten, wie du in zunehmenden Maße in alte Denkstrukturen zurückfällst. Erinnerst du dich? Wir wollten die Herrschaft abschaffen. Nun bist du es, die nach der Herrschaft greift. Und da soll ich nicht traurig sein?“

„Herrschaft? Wer spricht von Herrschaft? Warum unterstellst du mir so etwas Ungeheuerliches? Nie würde mir das in den Sinn kommen. Es geht um Veränderungen in unserem Land. Wir müssen die alten Machthaber in die Wüste schicken. Erst dann können wir daran gehen, das Neue aufzubauen.“

„Da bin ich mit dir einer Meinung: Aber doch nicht auf diese Weise!“ lehnte Kovacs ab.

„Aber dann sag mir doch, auf welche Art und Weise dann? Wenn du einen besseren Vorschlag hast, dann raus damit!“

Kovacs schwieg. Damit hatte sie ihn getroffen. Denn er konnte hier kaum argumentieren.

„Siehst du? Dein Schweigen verrät mir, dass auch du mit deinem Latein am Ende bist. Aber mich kritisieren.

Warum gräbst du einen Graben zwischen uns?“

Elena schmiegte sich an ihn, so wie sie es so oft getan hatte.

„Mein Schweigen bedeutete keine Zustimmung!“

„Aber was sollen wir tun? Wir wollen verändern,  wollen Gerechtigkeit auf allen Ebenen. Meinst du, mir gefällt es, mich so in Szene zu setzen? Da irrst du dich gewaltig.

Mir hängt das alles zum Halse raus. Ich vernachlässige meine Arbeit in der Sozialstation, ich vernachlässige Leander und so vieles mehr, das mir Freude macht. Alles für diesen Wahlkampf. Erinnerst du dich, du selbst hast dich einst dafür ausgesprochen, Cornelius zu unterstützen, um seine Organisation an die Macht zu bringen. Um danach mit dem Aufbau unseres Netzwerkes zu beginnen. Es waren deine Worte! Hast du sie vergessen?“

„Nein, natürlich nicht! Aber ich konnte damals nicht ahnen, welche Dimensionen das an nehmen würde.“ musste Kovacs gestehen.

„Welche Dimensionen? Was willst du damit sagen?“

„Die ganze Art, wie dieser Wahlkampf von statten geht. Ihr bedient euch der gleichen Metaphern wie die Etablierten. Platte Sprüche, hohle Phrasen, kaum Inhalt, keine konkreten Aussagen, wie es weitergehen soll nach einem eventuellen Sieg. Ich kann euch den Vorwurf nicht ersparen, auch ihr verdummt die Massen.“

Nun war es heraus, Elena kämpfte mit den Tränen.

„Du stellst uns mit denen auf eine Stufe? Womit habe ich das verdient?“

Kovacs versuchte seinen Arm um Elena zu legen, doch die entwand sich seiner auf rüde Art.

„Ich will dich nicht verletzen. Ich habe dich noch immer sehr gern. Aber gerade deshalb sehe ich es als meine Pflicht, dich auf gravierende Irrtümer hinzuweisen. Was glaubst du, kannst du tun, wenn dir tatsächlich die Macht zufällt?“

„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Kommt Zeit, kommt Rat, lass uns doch erst mal die Wahl zu einem guten Abschluss bringen!“

„Siehst du? Genau das, was ich meine. Du solltest dir aber schon jetzt den Kopf darüber zerbrechen, denn dass du den Sieg davon trägst liegt auf der Hand, bei den Umfragewerten. Dann wirst du plötzlich vor einem Berg mit gewaltigen Problemen stehen, kleine Schwester. Ein Sieg könnte sich im Nachhinein als große Niederlage erweisen. Was wirst du tun? Wie wirst du dich verhalten, wenn es soweit ist?“ bohrte Kovacs unbarmherzig nach.

„Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht!“ Elena hielt sich die Handflächen vor s Gesicht.

„Du solltest es wissen. Ich kann dir sagen, was geschehen wird. All jene, die dir heute lautstark zujubeln, werden dich schon bald abgrundtief hassen. Denn du wirst all deine Versprechen, die du jetzt voreilig gabst, brechen müssen.“

„Aber warum denn?“

„Weil du sie niemals erfüllen kannst. Glaubst du, dass du, nur weil du die Mehrheit im Parlament erobert hast, auch die tatsächliche Macht in deinen Händen hältst? Ein großer Irrtum, dem schon so mancher Reformer auf den Leim ging. Die wirkliche Macht liegt in ganz anderen Händen. Sieh doch, wie oft haben wir zusammen gesessen und diskutiert? Als ich versucht habe euch darauf hinzuweisen, das die ökonomische Macht die tatsächliche ist? Willst du dich mit den großen Konzernen dieses Landes anlegen? Möchtest du sie zwingen, deinen Vorstellungen zu folgen? Glaubst du, die lassen sich das so einfach gefallen?“

„Wenn du mich so direkt fragst, ja! Genauso habe ich mir das vorgestellt, sicher noch nicht im Detail, aber auf diese Weise könnte ich womöglich handeln!“ glaubte Elena.

„Da wirst du dir eine Menge Feinde machen, dann möchte ich nicht in deiner Haut stecken.

Die werden sich zu wehren wissen, darauf kannst du Gift nehmen. Erinnere dich des Abends, als ich euch darauf hinwies. Die werden damit beginnen, dich zu boykottieren, wichtige Investitionen werden nicht mehr getätigt und so weiter und so fort. Das Land schlittert noch viel tiefer in die Krise und sie werden dich und deine Regierung dafür verantwortlich machen.

Wenn all das mehr nicht hilft, werden noch drakonischere Maßnahmen  folgen. Die schrecken auch vor Gewalt nicht zurück. Du bist doch mit den Gepflogenheiten des Blauen Ordens bekannt?

Aber das allerschlimmste, sie werden das Volk gegen dich aufhetzen. All jene die heute noch Hosianna rufen,könnten dann schon bald etwas anderes schreien nämlich, Kreuziget sie!“

Dem konnte Elena kaum etwas entgegensetzen, musste sich eingestehen, dass er wieder nur die Wahrheit sprach. Er war es und würde es immer bleiben, der einsame Mahner in der Wüste.

„Aber du verlangst von mir doch nicht allen ernstes, das ich jetzt einen Rückzieher mache. Nach dem Motto. April April, Leute, war eben nur ein Spaß, ihr könnt getrost wieder nach Hause gehen?“

„Das kannst du natürlich nicht! Du hast die Lawine ins Rollen gebracht, nun musst du dich ihr stellen. Aber ich halte es einfach für wichtig, dich vorzuwarnen. Glaube mir, es wird eine große Enttäuschung. Wenn du nicht recht bald nach erfolgreicher Wahl mit Ergebnissen aufwartest, wird dich das Volk in den Boden stampfen, so wie du es derzeit mit Helmfried und seinen Spießgesellen tust. Der wird sich dann eins ins Fäustchen lachen, denn ihn geht das alles nichts mehr an.“

„Rosige Aussichten, muss ich sagen! Du kannst einem auch jede Freude nehmen. Nicht nur das Leander immer trübsinniger wird, nun fällst auch du mir in den Rücken. Alle sind begeistert, aber jene, die mir von allem am nächsten stehen, wenden sich von mir ab. Das muss ich erst mal verdauen.“

„Wie ich schon betonte, Elena, ich will dich nicht beleidigen, ich will dich nicht kränken und dir schon gar nicht die Freude nehmen. Ich sehe, wie du dich engagierst, mit welcher Energie du ans Werk gehst. Kaum ein gewöhnlicher Mensch wäre dazu imstande. Du bist eine wahre Meisterin, das habe ich immer an dir geschätzt. Aber gerade weil ich dich so mag, muss ich mich von solchen Methoden distanzieren. Das führt einfach in ein Nichts, in ein Niemandsland. Einen Herrscher durch einen anderen austauschen hat noch niemals tiefgreifende Veränderungen gebracht. Möglicherweise kurzfristig, kann schon sein, aber irgendwann werden die meisten Regierenden zu Despoten.“

„Und das du traust mir zu?“

„Aber nein, so war es doch nicht gemeint. Nicht willentlich, aber unbewusst, möglicherweise auch aus ganz lauteren Absichten. Du willst den Menschen etwas Gutes tun und erreichst womöglich dessen Gegenteil. Du bist dir gar nicht bewusst dass dir nach und nach alles aus den Händen gleitet. Sei wachsam Elena, beug dich nicht zu weit aus dem Fenster mit Versprechungen, ich prophezeie dir, du wirst die meisten brechen müssen.“

„Ich will mir das nicht länger anhören. Ich bin tief enttäuscht von dir. Ich glaubte einen echten Freund in dir zu haben und muss feststellen, dass ich mich geirrt habe. Es tut unendlich weh.“

Elena erhob sich und wollte sich zum Gehen wenden. Doch Kovacs hielt sie fest.

„Elena, gerade weil ich dein Freund bin. Falsche Freunde sind es, die nur zustimmen und zu allem Ja und Amen sagen, die dir schmeicheln und dich in den Himmel heben. Echte Freunde sagen sich auch mal die Meinung und weisen einander auf die Fehler hin. Nichts weiter habe ich getan. Du kannst mich dafür jetzt nicht tadeln.“

Elena riss sich los und lief, so weit sie konnte. Dann hielt sie inne, setzte sich an eine alte Weide, die hier schon seit Generationen stand. Was war das für ein Tag? Sie hatte gehofft sich mit dem vertrauten Freude auszusprechen, ihm ihre Sorgen, Nöte und Zweifel anzuvertrauen und nun dies. Sie verstand die Welt nicht mehr. Sie hielt sich die die Handflächen vors Gesicht und konnte sich der Tränen nicht mehr erwehren.

 

Viele Tränen flossen an jenem Tag im Juli, als die Sonne wieder heiß vom Himmel brannte.  

Chantal hatte sich schon am Morgen wieder gefangen. Sie glaubte mit ihren Gefühlen fertig zu werden.

Sie lief durch die Etagen des Senders und konnte kaum jemanden antreffen, es herrschte eine besondere Art von Anarchie. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, wie es weiter gehen sollte. Frederic hatte hier bisher das alleinige sagen, behielt sich ständig das letzte Wort in allen Belangen vor. Die politische Richtung sakrosankt. Veränderungen nicht vorgesehen.

Davon war nichts mehr zu spüren, hier herrschte bereits die Revolte. Die Redakteure konnten zum ersten Mal von ihrer angeblich garantierten, aber in Wirklichkeit nie zu Geltung gebrachten journalistischen Freiheit Gebrauch machen.

Eine Versammlung wurde ein berufen, neue Instruktionen sollten erfolgen.

Charles, Frederics Stellvertreter und bisheriger Vertrauter erkannte die Zeichen der Zeit und schlug sich auf die Seite derer, die Neuerungen anstrebten.

Chantal traute ihren Ohren nicht als sie erfuhr, was man alles zu ändern gedachte. Freie Berichterstattung in jeder Hinsicht, das hörte sich viel versprechend an.

„Eine Sache gäbe es noch zu klären. Wir müssen ständig auf dem Laufenden sein, was Elena betrifft. Alle verfügbaren Redakteure sind auf sie angesetzt. Aber sie kommen nicht in deren unmittelbare Nähe.  Elena war eine von uns, vergeßt das niemals, die kennt sich mit der Materie aus. Ist misstrauisch und wägt genau ab, wem sie freigiebige Interviews gibt. Ich brauche eine Person, die über jeden Zweifel erhaben scheint, in der Lage, sich ihr zu nähern. Eine Person die ihr Vertrauen genießt"

„Ich, ich, ich mache das!“ schrie Chantal aus der hinteren Reihe.

„Aber warum denn ausgerechnet du?  Freiwillig in den Außendienst?  wollte der Überraschte wissen.

„Ich mache das!“ wiederholte Chantal und kämpfte sich durch die Reihen.

Charles hielt die Manuskripte mit den Anweisungen in der Hand.

„Gib her!“

Ohne ein weiteres Wort entfernte sie sich aus der Versammlung und stürzte zur Tür hinaus.

„Was ist denn mit der los?“ wollte Charles wissen.

„Na was denn schon? Die hat`s erwischt! Verknallt ist sie in Elena! Das Elenavirus scheint bedrohlich um sich zu greifen!“ gab einer der Kollegen den entscheidenden Hinweis.

 

Chantal hatte, was sie wollte. Wie besessen eilte sie auf den Parkplatz und bestieg ihren Wagen, noch benötigte sie diesen, auch wenn er sie ständig an Frederic erinnerte.

Sie schwang sich auf den Fahrersitz, startete und ab ging die Post. Allein der Gedanke sich in Elenas Nähe auf halten zu dürfen, löste ein Gefühl in ihrer Magengegend aus,  so als habe sie gerade einen Zentner Brausepulver verschluckt.

 

Noch ein anderer hatte an diesem Tag mit Gefühlen zu kämpfen. Lars wurde von heftigen Gewissenbissen gepeinigt. Warum war er dazu auserkoren, gegen Elena anzutreten um sich zum Buhmann der Nation zu machen?

Es schien, als habe der Elenavirus auch ihn infiziert.

Er wartete aber bis zum nächsten Tag um sich seinem Patron zu offenbaren.

Zu diesem Zweck erhob er sich bedeutend früher als üblich, um Neidhardt allein zu sprechen.

Dieser befand sich schon zu früher Stunde in seinem Arbeitszimmer.

Eine Zeitlang schritt er unruhig vor dem Haus auf und ab. Nervös, wie immer, wenn eine Unterredung mit Neidhardt bevorstand. Er qualmte noch eine Zigarette um sich zu beruhigen, versuchte zu klopfen, hielt aber inne. So tat er es noch zweimal, bis er sich dazuimstande sah den dazugehörigen Mut aufzubringen.

Lars klopfte so heftig an der Tür, als ginge es um sein Leben.

„Herein!“ tönte es aus dem Inneren.

Lars trat ein und wurde von Neidhardts mürrischem Ton begrüßt.

„Warum schlägst du nicht gleich die Tür ein, He? Vorsicht mit der Türklinke, die löst sich seit einiger Zeit beim Zuziehen aus dem Splint! Also, was willst du, fasse dich kurz, meine Zeit ist enorm begrenzt.“

Lars kam sogleich zur Sache.

„Hör mal, Neidhardt. Ich habe in der vergangenen Nacht kaum ein Auge zugetan. Ich nutzte die Zeit, um gründlich über alles nachzudenken.“

„So? Du denkst neuerdings? Wer hätte es gedacht? Ist ja schon mal ein gewaltiger Fortschritt!"

„Pass auf, wo soll ich an fangen? Also gut. Ich habe mir überlegt, dass es großer Unfug wäre, gegen Elena anzutreten. Du warst Zeuge ihres Auftritts, die ringt alle in Grund und Boden. Wir könnten doch auf eine eigene Kandidatur verzichten und stattdessen dazu auffordern, die Neue Liga zu unterstützen. Damit würden wir in der Bevölkerung jede Menge an Pluspunkten sammeln. Die lieben Elena, liegen ihr zu Füßen, es ist doch äußerst unklug, sich mit ihr in aller Öffentlichkeit anzulegen.“

„Geht das schon wieder los? Ich glaubte, mich deutlich genug ausgedrückt zu haben. Ich will  kein Wort mehr hören. Wir kandidieren und Basta! Was willst du denn? Wir legen uns doch gar nicht mit ihr an. Das war unsere Strategie von Anfang an. Im Windschatten ihres Erfolges einfach mitschwimmen.“ entgegnete Neidhardt wie gewohnt mit scharfer Stimme.

„Ja, schon richtig, das wäre auch politischer Selbstmord. Aber wir könnten doch erheblich mehr für sie tun. Ich habe mir ihre Argumente an gehört, vieles klang durchaus plausibel.

Und wenn du sie gesehen hättest. Was für eine Powerfrau. Die ist unschlagbar. So etwas hat die Welt noch nicht gesehen. Ich denke, es klingt nicht zu ketzerisch wenn ich sage, sie ist ein Geschenk des Himmels.“ Kam Lars immer deutlicher ins Schwärmen.

Neidhardt riss die Hände nach oben, so als wolle er auf die Aussagen mit einem Gebet antworten.

„Womit habe ich das verdient. Ich bin der letzte Aufrechte in einem historischen Kampf. Hast du dich also auch von ihr blenden lassen? Ich hätte es wissen müssen. Du bist einfach nur unfähig, eine dir angetragene Aufgabe gewissenhaft auszuführen. Du kannst dir eine Scheibe von ihr abschneiden, wärst du von deiner Mission nur halbwegs so überzeugt wie sie von der ihren, könntest auch du Berge versetzen. Nein, aber du willst nicht. Das ist alles!“

"Das mag  sein. Ich habe es von Anfang an zu verstehen gegeben, dass ich nicht für diese Aufgabe tauge. Du aber wolltest nicht auf mich hören. Ich stehe allein da vorn, mit ihr, du kannst hingegen alles aus sicherer Distanz betrachten. Da ist es natürlich einfacher. Ich aber stehe als der letzte Depp in der Öffentlichkeit“ versuchte sich Lars weiter zu rechtfertigen.

„Ach nein! Jetzt bin am Ende  Schuld, oder?“

Neidhardt wurde immer aufbrausender, Zeit für Lars die Notbremse zu ziehen. Um nichts in der Welt wollte er jetzt einen von Neidhardt berüchtigten Wutausbrüchen über sich ergehen lassen.

„Das…das habe ich nicht gesagt! Versteh doch, wir können nicht gegen Elena siegen! Sie scheint regelrecht über den Dingen zu stehen. Die lässt ihre Gegenkandidaten wie die Marionetten tanzen, wenn sie will.“

„Wer spricht denn davon, sie zu schlagen? Ihr hört nicht zu, wenn ich euch versuche unsere Strategie einzuschärfen, ihr hört einfach nicht zu, das ist euer Problem. Meinst du, ich wüsste nicht auch dass sie unschlagbar ist. Sie wird die Wahl gewinnen, das steht fest. Hier die neuesten Umfragewerte, frisch eingetroffen.“

Hastig blätterte Neidhardt in einem vor im liegenden Stapel Papieren.

„Die Liga erreicht inzwischen satte 45 %, Tendenz weiter steigend. Die beiden alten hingegen weit abgeschlagen, die können sich schon mal drauf vorbereiten, ihre Wunden zu lecken. Aber hier sieh, unsere Werte liegen stabil bei derzeit 11%. Versuche doch einfach dein Gehirn zu benutzen. Eine gute Prognose, wir würden dieses Ergebnis aus dem Stand erreichen. Haben wir Sitz und Stimme im Nationalforum, können wir einen wichtigen Etappensieg verbuchen. Alles weitere klärt sich in Folge. Stell dir nur vor, wir würden das Zünglein an der Waage? Dann können wir unsere Bedingungen diktieren.“

„Ja, sicher! Aber trotzdem ist mir bange bei der Sache. Wir könnten doch unsere Positionen einer gründlichen Revision unterziehen uns ganz neu aufstellen. Warum gibt es überhaupt zwei Parteien, die doch im Grunde das gleiche anstreben. Wäre es nicht doch erfolgversprechender sich zu vereinen, um noch mehr rauszuholen. Unter Elenas Führung, ja, da könnten wir….“

„Jetzt ist es aber genug!“ unterbrach ihn Neidhardt schroff. „Revisionismus, das ist eine revisionistische Entartung erster Klasse. Das ist Verrat an unseren heiligen Prinzipien. Ich hasse Revisionisten. Revisionismus bedeutet das Ende aller Visionen. Schärfe es dir ein! Die Partei, die Partei, die hat immer recht. Die Partei kann nicht irren, die Partei ist unfehlbar. Die Lehre der Partei ist allmächtig, weil sie wahr ist. Alles was die Partei denkt, sagt und tut, ist gut. Wir haben eine historische Mission zu erfüllen, die Partei ist dazu auserkoren, die Macht in diesem Lande zu erobern und für immer zu sichern. Die Partei ist unser aller Schicksal, niemand kann sich der Partei und ihren Forderungen entziehen.“

Jedes Mal, wenn er das Wort Partei aussprach, schlug er so heftig mit der Faust auf die Tischplatte, dass die kleine Steingutvase mit den frisch gepflückten Kartäusernelken auf und nieder tänzelte, so dass Lars diese schon auf dem Boden sah.

Neidhardt setzte seine Standpauke mit ungebremster Heftigkeit fort.

„Ich bin damit gestraft, von lauter Unfähigen um geben zu sein. Feiglinge seid ihr, Memmen. Da, wo sich euer Rückgrad befinden sollte, habt ihr nur gekochtes Mark. Hat euch diese rothaarige Hexe den Verstand geraubt? Seid ihr infiziert von ihren Sprüchen, von ihren Gesten, von ihrem Körper? Gibt es in meinen Reihen nicht einen einzigen Aufrechten, imstande, ihren Verlockungen zu widerstehen? Es ist zum Mäusemelken. Warum bin ich nur von so einer Horde Idioten umringt? Muss man denn alles selber machen? Könnt ihr denn nicht einmal euren Kopf zum Denken benutzen?“

„Neidhardt, ich erdulde alles, was du von mir verlangst. Ich studiere die Parteistatuten, das große Manifest und all die bedeutenden Klassiker, bis ich sie auswendig im Schlaf rezitieren kann. Aber lass Elena in Ruhe. Ich sage es noch mal, du hättest sie hören sollen. Diese Ausstrahlung, dieses Charisma. Es ist einfach nicht möglich ihrem Charme zu widerstehen…“

„Raus! Raus bevor ich mich vergesse! Verschwinde aus meinen Augen und lass dich vorerst nicht mehr bei mir blicken.“

Schwungvoll erhob sich Neidhardt, so dass der Schreibtischstuhl nach hinten kippte, rannte um den wuchtigen Tisch aus alter Eiche. Geistesgegenwärtig ergriff Lars die Flucht und entschwand in Windeseile durch die Tür, ohne sie hinter sich zu schließen.

Mit einem Ruck zog Neidhardt diese hinter sich zu, so heftig, dass er nun selbst die Türklinke aus dem porösen Schloss gezogen hatte.

„Verfluchter Mist!“

Wutentbrannt feuerte er den Messinggriff in Richtung Fenster, der festen Annahme, die bereits geöffnet zu haben. Doch das war ein Irrtum. Stattdessen krachte die schwere Türklinke mit voller Wucht in die geschlossene Fensterscheibe, so dass diese unter lautem Klirren in tausend Scherben in sich zusammenfiel.