Gefesselte Matriarchin

 

Melancholanien wurde von einer starken Krise erfasst. Schon seit Wochen hielt das land eine schwere Rezession im Würgegriff und nichts deutete auf deren baldiges Ende hin. Der ungewöhnlich milde Winter dieses Jahres verhinderte zwar den vorzeitigen ökonomischen Kollaps, aber wer es verstand die Zeichen in der rechten Weise zu deuten, kam schnell zur Erkenntnis wie es wirklich um das Land bestellt war.

 

Versorgungsengpässe wohin man auch blickte. Die Produktivität sank auf einen Tiefststand.

Wie so oft wenn Regierungen kaum noch nennenswerte Konzepte vorzuweisen haben, griff sie auch dieser Krisensituation, zu drakonischen politischen Maßnahmen um die Bevölkerung in Schach zu halten.

Doch die Melancholanier waren es leid. Die Tatsache, dass es mit Akratasien in direkter Nachbarschaft ein Gebilde gab in dem es Freiheit, Gerechtigkeit, Ausgewogenheit und allem Anschein nach auch noch einen bescheidenen Wohlstand zu geben schien, machte die Menschen zusehend rebellisch. Zwar verhinderte die Grenze nach wie vor größere Fluchtbewegungen, doch immer häufiger kam es zu spektakulären Ausbrüchen mit Sensationscharakter.

Doch konnte eine Flucht auf Dauer keine Lösung sein, es bedurfte grundlegender Änderungen in Melancholanien ,deshalb formierte sich immer deutlicher eine Widerstandsbewegung, auch wenn diese nicht in der Öffentlichkeit agieren konnte, fand sie doch über geheime Kanäle ihren Draht zu den Menschen.

Endzeitstimmung. Kaum noch einer gab einen Pfifferling auf die Zukunft Melancholaniens.

Akratasien hieß das Land der Träume. Innerlich hatte ein Großteil des Volkes längst mit allem abgeschlossen und sah sich im Geiste schon als Bürger jenes gelobten Landes.

Auch in der Partei kam es immer deutlicher zu offener Opposition gegen den selbstherrlichen und abgehobenen Führungsstil der Funktionäre an der Spitze. Neidhardt wurde zum Hassobjekt schlechthin. Jede negative Erscheinung im Lande lastet man ihm direkt an. Die Witze über seine Person nahmen von Monat zu Monat an Zynismus und Schärfe zu.

Selbst Cornelius, zu dem die Massen bisher in Respekt aufschauten, hatte erheblich an Ansehen eingebüßt.

Elenas Verehrung steigerte sich hingegen auf dramatische Weise. Sie schien die Erlöserin schlechthin und wurde verehrt wie eine Heilige. Ihr traute man zu, für jedes noch so große Problem eine Lösung zu finden. Auch Colette, Madleen und all die anderen erfreuten sich einer nie zuvor geahnten Popularität.

Parteiführung und Regierung schienen gespalten in der Frage wie mit all dem umzugehen sei, ein Zustand der einer Lähmung gleich kam.

Eine Zeit der Hoffnung auf Veränderungen, eine Zeit innerlicher Aufbrüche die nur nach einem Ventil suchten um sich auch nach außen zu artikulieren.

Aber auch eine gefährliche Zeit. Krisensituationen sind immer auch geeigneter Nährboden für Fanatismus und reaktionäre Gesinnung.

Es gab nicht nur gemäßigte Reformer, die Neidhardt drängten doch endlich das Gespräch mit Elenas Akratasien zu suchen, nein es war auch die Stunde der Falken. Dogmatiker, die Neidhardt eine zu verweichlichte Haltung vorwarfen.

Eine besonders gefährliche Gruppe scharte sich um den erst kürzlich in sein Amt berufenen Innenminister Schleimer. Gleichsam wie ein Geheimbund agierten sie aus der Dunkelheit und schmiedeten ihre finsteren Pläne.  Nichts drang davon nach außen. Alles sollte so unauffällig wie nur eben möglich von Statten gehen. Es kam darauf an, den Schein um jeden Preis zu waren.

In der Öffentlichkeit präsentierte sich das Zentralkomitee als Hort der Eintracht und der Verständigung. Selbst Neidhardt und Cornelius schienen keine Ahnung von all dem was in den hinteren Winkeln ausgeheckt wurde.

Eines der größten Probleme hieß Elena, sie musste von der Bildfläche verschwinden. Zu tief schien das ganze Projekt an ihre Person gebunden. Ohne die charismatische Leitfigur könnte die gesamte Kommune innerhalb kurzer Zeit in sich zusammenbrechen, dass zumindest hofften die Dunkelmänner.

Doch wie sollte man ihrer habhaft werden? Etwa auf das Gelände der Abtei vordringen? Undenkbar! Aber auch die Möglichkeit Elena auf einer ihrer Reisen zu entführen, erwies sich  auf Grund des großen Rummels um ihre Person als undurchführbar. Elena schien ähnlich unnahbar wie Neidhardt.

Lange tappten die Verschwörer im Dunkel, bis der Nachrichtendienst mit einer verblüffenden Entdeckung aufwartete. Diese stützte sich auf den Bericht eines Grenzsoldaten, der in der Wildnis des Grauhaargebirges seinen Dienst tat und ganz zufällig beobachtet hatte, wie sich Elena unbemerkt auf altmelancholanischen Staatsgebiet bewegt haben sollte. Nicht einmal, nein mindest ein dutzend Mal wollte der Posten sie dort angetroffen haben.

Das konnte nur bedeuten dass sie es regelmäßig tat. Es bedurfte nur einer Portion Geduld, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab.

 

Die rosa Färbung am östlichen Horizont kündigte den baldigen Aufgang der Sonne an. Früh war Elena an diesem Tag aufgebrochen um ihren Streifzug in die Natur zu unternehmen.

Kalt war es, die Daunensteppjacke schützte vor dem leichten Frost der noch in der Luft lag und sich vor allem auf dem Boden niedergelassen hatte und somit ein unbeschwertes Wandern ohne Matsch an den Schuhen ermöglichte.

Eine der schönsten Jahreszeiten Wieder einmal Vorfrühling. Zeit der Erwartung. In diesem Jahr kam er früh. Schon Ende Februar verwöhnte die Sonne mit für diese Zeit ungewöhnlicher Wärme. Lag das an dem Klimawandel der überall auf der Welt diskutiert wurde?

Bei dem Gedanken daran legte sich Wehmut auf ihr Herz. Sie vermisste den kalten Winter nicht, freute sich auf Wärme und das Erwachen der Natur. Aber alles hatte seine Bestimmung.

Die Vegetation in der hiesigen Region benötigte den Winter um im Ruhezustand neue Kräfte zu sammeln. Der schöne urwüchsige Wald der sich Elena präsentierte würde sich sehr zu seinen Ungunsten verändern, gäbe es von nun an keine Winter mehr ,die für den nötigen Ausgleich sorgten.

Elena wandte ihren Blick nach Osten, betrachtete die Sonne, die sich wie eine siegreiche Herrscherin über den Horizont erhob und die Mysterien der Nacht aus der Welt verbannte.

Ein Schwall positiver Energie durchdrang ihren Körper und legte sich wie Balsam auf ihre Seele.

Sie öffnete ihre Sinne bis sie den ganzen vor ihr liegenden Wald umschlossen und sie spürte wie das Leben darin zu einem Teil ihrer selbst wurde.

So pflegte sie ihre Meditationsübungen zu beginnen. Wie schön diese endlich wieder im Freien zu vollziehen. All den Unrat, der sich in der langen dunklen Winterzeit  wie Geröll auf ihrer Seele abgelagert hatte, gedachte sie nun wieder loszulassen.

Elena war es im zurückliegenden Jahr gelungen immer tiefer in die Mysterien der Natur einzutauchen und sich deren Kräfte nutzbar zu machen. Der Winter unterbrach eine Zeit lang diesen Drang und lud ein, die gewonnenen Erkenntnisse emotional zu verarbeiten. Das hatte Elena ausgiebig getan. Nun fieberte sie dem entgegen was ich ihr in diesem Jahr wohl offenbaren würde.

Inzwischen war sie mit dem Gelände so vertraut, dass auch den entlegensten Winkeln keine Geheimnisse mehr zu entlocken waren. Die Tatsache dass sie sich dabei oft weit außerhalb der Grenzbefestigung aufhielt, beunruhigte sie nicht. Sie hatte gelernt sich dem entsprechend zu verhalten. Furcht kannte sie nicht. Sie bewegte sich mit einer Souveränität, die einer Göttin gleich zu kommen schien. Was sollte ihr auch passieren? Wer würde es wagen Hand an sie zu legen? Sie vertraute der unsichtbaren Macht die dem Anschein nach schon ihr ganzes Leben schützend über ihr wachte, sie davor bewahrte in den Abgrund zu gleiten. Sie unterhielt sich sogar mit den Wachposten, wenn sie denen auf ihren Touren begegnete.

Die erschienen ihr inzwischen fast so vertraut wie die eigenen Leute in Anarchonopolis. Sie hatte den Eindruck sich auf deren Verschwiegenheit verlassen zu können, denn nicht wenige von ihnen schielten heimlich auf die andere Seite und verspürten den Wunsch sich bei passender Gelegenheit nach drüben abzusetzen.

Man konnte geneigt sein zu vermuten, dass Elena sogar eine Art von Sicherheit verspürte, wenn sie bei ihren Meditationen von einer Patrouille beobachtet wurde.

Alles schien zusammen zu gehören und bildete eine Einheit, alles entsprang einer Vorsehung, Zufälle gab es nicht.

So war es auch an diesem Tag. Schon unmittelbar nachdem Elena die Demarkationslinie überschritten hatte bemerkte sie die Anwesenheit von Menschen die sich in einer sicheren Distanz verschanzt hatten. Es war so wie immer und sie maß all dem keine weitere Bedeutung bei. Sie begann mit ihren Meditationen. Ein wenig aus der Übung aufgrund der Tatsache dass sie im Winter nur drinnen meditieren konnte, was auf eine andere Art praktiziert wurde als im Freien.

Tief ließ sie die frische, reine Luft in ihre Lungen gleiten, um ihren Körper mit all jenen Energien anzureichern die in der Natur im Überfluss vorhanden.

Dabei fühlte sie sich auch heute etwas benommen. Elena musste erst wieder den geeigneten Zugang finden und das bedurfte einer gewissen Zeit des Anlaufens.

Sie versuchte sich zu konzentrieren doch es gelang ihr nicht recht, so dass sie es immer wieder von vorne beginnen musste. Die Augen hielt sie dabei für gewöhnlich verschlossen. Zweige knackten und sie konnte leises Wispern vernehmen. Jetzt hätte sie hellhörig werden müssen, doch sie tat es nicht. Noch ehe sie sich versah spürte sie den schmerzhaften Stoß an ihrem Kopf, dann verschwamm es vor ihren Augen und sie tauchte ein in ein gespenstisches Dunkel. Ein Dunkel dass keinen Anfang und kein Ende zu besitzen schien. Sie glaubte sich in einem Schwebezustand zwischen gestern und morgen. Eine Trance? Nein, diesmal war es anders, denn sie vernahm ein starkes Hämmern in ihrem Kopf. Beständig hörte sie eine Klingel läuten. Sie betete darum dass jemand den Telefonhörer abnahm, bis sie erkannte, dass das Klingeln aus ihrem eigenen Kopf her drang.

Sie versuchte sich zu bewegen, doch irgendetwas schien sie daran zu hindern. Nach einer Zeit spürte sie Schmerzen an den Handgelenken.

Es rumpelte beständig unter ihr, sie hatte den Eindruck als würde sie fortwährend leicht nach oben geworfen, um an schließend wieder zu landen.

Eine ganze Weile befand sie sich in diesem Zustand, bis es ihr gelang die Augen zu öffnen.

Erst ganz schemenhaft offenbarte sich ihre Umwelt, sie musste durch einen dichten Schleier blicken, kniff mehrere Male die Augen zusammen und spürte noch immer diesen Schmerz . Sie versuchte den Kopf leicht zu heben und sich mit den Handflächen abzustützen dabei bemerkte sie dass sie an Händen und Füßen gefesselt war. Nun gelang es ihr endlich die Umgebung näher in Augenschein zu nehmen.

Elena lag auf der Ladefläche eines LKW der sich in rasanter Fahrt fortbewegte, das erklärte auch das Rumpeln, dass tief in ihren Dämmerzustand eingedrungen war.

Nach und nach sickerte die Erkenntnis in ihr Bewusstsein. Eine Entführung. Diesmal hatten sich ihr Wachposten genähert die keine friedlichen Absichten hegten. Ihre Vertrautheit oder nennen wir es lieber Leichtsinn, nun war er ihr zum Verhängnis geworden.

Irgendwann musste es geschehen. Es gab kein zurück, Elena saß in der Falle.

Sie lies den Kopf zu Boden sinken, versuchte sich auf die Seite zu rollen, um eine etwas bequemere Lage einzunehmen, dass ihr aber nur schwerlich gelang.

Was in aller Welt ging hier vor. Wer steckte hinter diesem Überfall? Sollte sie sich am Ende sosehr in Neidhardt getäuscht haben? Hatte dieser seine Strategie geändert?

Die ständige Erschütterung lies Elena andauernd in einen schlafähnlichen Zustand fallen.

Erst als der Wagen hielt wurde sie wieder richtig wach.

Zwei vermummte Personen drangen auf die Lagefläche und näherten sich ihr. Instinktiv nahm Elena eine Abwehrstellung ein.

„Wer seid ihr und was wollt ihr von mir? Auf wessen Befehl handelt ihr?“

Doch mehr konnte Elena nicht von sich geben, denn einer drückte ihr äußerst unsanft den Mund zusammen. Der andere streifte den Ärmel ihres Pullovers nach oben und verabreichte ihr eine Spritze. Elena bemerkte gerade noch den stechenden Schmerz bevor sie wieder ins Reich der Träume tauchte.

Auf diese Weise bekam sie auch nicht mit, wie man sie vom LKW herunter hob um sie in ein Gebäude zu verbringen. Elena konnte auf diese Weise nie in Erfahrung bringen, wo man sie eingekerkert hatte und würde sich in späterer Zeit nur auf die Berichte anderer stützen können.

 

Nacht, immerwährende Nacht. Es wurde nie richtig hell.

Schlief sie oder wachte sie? Elena vermochte den Unterschied nicht zu erkunden. Eines ging ins andere über ohne dass sie sich dessen bewusst wurde.

Wie lange war sie nun schon hier. Das Zeitgefühl drohte ihr vollständig zu entgleiten. Waren Stunden vergangen, oder Tage, oder waren es am Ende sogar Wochen? Die Frage lies sich nicht beantworten. In der ganzen Zeit hatte sie auch noch keinen einzigen Menschen zu Gesicht bekommen.

Lange Zeit verbrachte sie im gefesselten Zustand, einfach so auf dem Boden kauernd. Ihr ganzer Körper schmerzte. Endlich, als sie wieder einmal aus einem Schlummer erwachte, bemerkte sie, dass ihr jemand die Fesseln abgenommen hatte. Es tat gut sich wenigstens einigermaßen bewegen zu können, wenn nur nicht diese Dunkelheit wäre.

Elena versuchte sich zu erheben, doch sie kam nicht auf die Beine, schwankend krachte sie wieder zu Boden.

Welches Mittel hatte man ihr verabreicht? Es musste schon etwas besonders Starkes sein, das sie auf eine so rabiate Art bewegungsunfähig machte. Ihre Bewacher wollten wohl hundert Prozent auf Nummer sicher gehen. Elenas Ruf als unschlagbare Kämpferin war geradezu legendär.

Bisher! Nun hatte sie einen schweren Dämpfer bekommen.

Elena ärgerte sich vor allem über sich selbst! Wie konnte ausgerechnet ihr so etwas geschehen? Sie, die Perfekte, die mit allen Geistesgaben gesegnete, die in allem siegreiche Amazone, nun lag sie hier, hilflos wie ein kleines Kind und harrte einem ungewissen Schicksal.

Doch die weitaus wichtigere Frage lautete nach wie vor: Wer hatte ihre Gefangennahme in Auftrag gegeben? Natürlich Neidhardt! Klar! Nein, klar schien dass ganz und gar nicht.

Das passte nicht zu ihm.

Neidhardt war ihr Gegner, unversöhnlich standen sie einander gegenüber und schenkten sich dabei nichts. Wie Hund und Katze, dabei stets den direkten Umgang miteinander vermeidend.

Seit dem Ende der Revolution, seid Leanders Tod waren sie sich nicht mehr persönlich begegnet und hatten kein Wort mit einander gewechselt. Eines aber konnte man dem stahlgrauen Revolutionär nicht nachsagen, nämlich dass er sich unlauterer Mittel bediente. Er zog es vor mit offenem Visier zu kämpfen. Ein alles in allem ehrbarer Gegner. Hatten ihm die desolaten Zustände die nun schon seit langen das Leben in Melancholanien bestimmten am Ende dazu bewogen seine Haltung zu ändern? Trieb ihn die Verzweiflung immer tiefer in die Fänge des Wahnsinns?

Nein! Es passte nicht zusammen. Elena stand vor einem Rätsel. Wer aber sollte sonst ein Interesse an ihrer Eliminierung haben?

Und Cornelius? Was war mit ihm? Hatte der Kenntnis von dieser Aktion? Konnte oder wollte er seine Hände nicht mehr schützend über ihr ausbreiten?

Fragen über Fragen  die dazu beitrugen, die ohnehin schon bedrückende Situation noch zu verschärfen.

 

Nachdem Elena auch am dritten Tag nicht wieder aufgetaucht war, spürte Madleen das etwas nicht mit rechten Dingen zuging.

Sicher, sie war daran gewöhnt, dass sich ihre Liebste häufiger Mal für längere Zeit in die Büsche schlug. Elena und die Natur gehörten einfach zusammen.

Doch dann hielt sich diese zumeist in der Waldhütte auf, gab zudem in regelmäßigen Abständen ein Lebenszeichen von sich. Diesmal aber wartete die Gefährtin vergeblich.

Schließlich begab sie sich in die gemütliche Walderemitage, doch fand sie diese leer. Nichts deutet darauf hin, dass ich Elena hier überhaupt aufgehalten hatte.

Tiefe Resignation bemächtige sich ihrer. Sie betrat das geräumige Wohnzimmer wo ihr ein empfindliche Kühle entgegenschlug und das obwohl draußen ein angenehmer Tag mit zweistelligen Temperaturen im positiven Bereich aufwartete.

Der Ofen war in den letzten Tagen nicht beheizt worden, das erklärte schnell die ausgekühlte Stube.

Madleen zog einen Stuhl unter dem Wohnzimmertisch hervor und setzte sich darauf, die Hände dabei auf die Tischplatte gestützt.

Der schmerzende Stich in ihrer Herzgegend signalisierte ihr, dass es Elena nicht gut ging, dass sie sich womöglich in großer Gefahr befand.

Madleen war in Fragen der Telepathie nicht annähernd so geschult wie Elena oder Colette, doch ihr Empfinden schloss diesmal einen Irrtum aus. Da hatte sich etwas Schlimmes zugetragen. Elena war verschwunden. War sie verletzt und konnte sich nicht helfen? Wurde sie das Opfer eines Verbrechens? Letzteres schien sich geradezu aufzudrängen.

Wie oft hatte sie ihre Angebetete davor gewarnt die Grenze für längere Ausflüge zu überschreiten. Doch versicherte die stets aufs Neue dass keine Gefahr bestünde und sie sich unnötig Sorgen mache. Niemand würde wagen ihr ein Leid zuzufügen. Niemand? Nun war sie offensichtlich eines Besseren belehrt wurden.

Dunkle Gedanken tauchten auf und tanzten bedrohlich wie Gespenster vor Madleens inneren Augen.

Die Angst legte sich wie verbrannte Asche auf ihr Herz. Wenn ihre Geliebte nun niemals wiederkehrte? Sie versuchte sich mit aller Kraft dagegen aufzubäumen, doch es gelang ihr nicht.

Wie in aller Welt sollte sie ohne Elena leben? Sie war sich der Tatsache bewusst , dass sie derart auf ihre Partnerin fixiert war, das sie die Leere niemals überwinden würde können. Ein Leben ohne Elena war für sie  ausgeschlossen.

In ihren Augen glänzten die Tränen der Verzweiflung und ergossen sich schließlich wie ein Sturzbach in die Tiefe. Tiefes Mitleid erregendes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, sie

konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen, überlies sich einfach ihrem tiefen Leid, was konnte sie auch anders tun?

Vor ihr tat sich ein Grauen erregender Abgrund auf. Sollte sie sich in dessen Rachen stürzen?

Sie war nahe dran sich völlig aufzugeben, doch dann besann sie sich eines Anderen.

Total entkräftet trat sie den Heimweg an.

Völlig aufgelöst, zitternd am ganzen Körper und frierend traf sie in der Abtei ein.

Sie stahl sich auf das Gelände, schämte sich bei dem Gedanken in diesem Zustand, mit ihren verquollenen Augen von den anderen angetroffen zu werden.

Wo sollte sie sich hinwenden in ihrem Schmerz. Es gab nur eine Adresse und die hieß Colette.

Als Colette ihr entgegenkam war es unschwer zu erkennen, auch deren Gemüt wurde von tiefer Niedergeschlagenheit gepeinigt.

Wortlos fielen sie einander in die Arme. Gemeinsam versanken sie in einen Ozean von Kummer.

„Du machst dir Gedanken wegen Elena, stimmt`s?“ deutete Madleen die Stimmung der Großen Schwester exakt.

„Du auch? Ja, ich mache mir große Sorgen. Da ist etwas geschehen. Elena befindet sich in Gefahr, ich sehe es ganz deutlich vor mir. Wenn ich doch nur wüsste um was genau es sich dabei handelt.“

„Ich habe es gespürt, schon am Tag ihres Wegganges. Sie hat sich nicht bei mir gemeldet Das ist so ganz und gar nicht ihre Art. Ich kann mir nur vorstellen, dass man sie auf der anderen Seite des Zaunes eingefangen hat. Ach was habe ich alles versucht um sie zur Vorsicht zu ermahnen. Aber sie war sich ihrer Sache jedes Mal so sicher.“ Klagte Madleen weiter.

„Wir müssen unbedingt etwas tun! Ich habe mir lange den Kopf zerbrochen.“ Entgegnete Colette.

„Sicher, aber was?“

„Es gibt nur einen Weg, wir müssen Elenas Verschwinden öffentlich machen!“

„Öffentlich? Wie meinst du das?“ Madleen verstand nicht recht worauf Colette hinaus wollte.

„Wir müssen über die Medien gehen, Presse, Funk, Fernsehen und die Menschen diesseits und jenseits der Grenze in Kenntnis setzen.“ Schlug Colette vor.

„Und was könnte das bewirken?“

„Ganz einfach! Es wird zu einem Aufschrei der Empörung führen. Hier in Akratasien ohnehin, aber mir kommt es vor allem auf die Menschen im melancholanischen Restgebiet an.

Bei der ohnehin schon aufgeheizten Stimmung könnte so das Fass zu überlaufen gebracht werden.“

„Bist du dir da sicher? was aber wenn es das Gegenteil bewirkt? Wenn die Behörden sich davon nicht beeindruckt zeigen. Wir könnten Elena dadurch einer noch größeren Gefahr aussetzen.“ Gab Madleen zu bedenken.

„Ich glaube nicht dass Regierung oder Zentralkomitee dahinter stecken. Das passt nicht zu Neidhardt und Cornelius würde es schon gar nicht zulassen. Ich werde Neidhardt aufsuchen und zur Rede stellen. Aber ich gehe davon aus, dass der genauso im Dunkel tappt wie wir selbst.“ Erwiderte Colette.

„Aber wer könnte dann verantwortlich sein? Ich verstehe nicht!“

„Neidhardt scheint seine Leute schon lange nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Cliquen haben sich gebildet, die ihr eigens Süppchen kochen. Hardliner deren Neidhardt nicht konsequent genug auftritt, zum Beispiel. Ich habe so etwas schon lange läuten hören.“ Colettes Antwort verwirrte Madleen noch weiter.

„Aber was sollte dann eine Meldung über Elenas Verschwinden in den Medien bewirken, wenn die Regierung nicht selbst dahinter steckt?“

„Die unzufriedene Bevölkerung könnte Druck auf Neidhardt auslösen, so dass dieser ein schreitet und seine Leute zur Ordnung ruft. Von alleine wird er sicher nichts dergleichen unternehmen. Wenn er auch nicht selbst dahinter steckt, einen Grund Elena zu helfen hat er wahrlich nicht.“ Gab Colette zu verstehen.

„Ja, wenn du meinst, dann sollten wir es tun. Wir müssen die Schwesternschaft verständigen um einen Rat einzuberufen.“ Schlug Madleen vor.

„Aber so schnell wie irgend möglich. Wir dürfen uns nicht verzetteln. Eine langatmige Diskussion können wir uns nicht leisten. Hier kommt es auf jede Minute an, wenn wir Elena retten wollen.“ Stimmte ihr Colette zu.

Noch am Abend wurde der Rat ein berufen, die Schwestern trafen sich im großen Meditationsaal unter dem Dach des Konventsgebäudes, aber auch einige Männer hatten sich eingefunden. Es ging um Elena, jeder war willkommen, der mit sachdienlichen Vorschlägen aufwarten konnte.

 

Langsam, ganz langsam kam Elena wieder zu Bewusstsein. Sie konnte die Gestalten vor sich nur schemenhaft wahr nehmen, wieder war da dieser graue, nur schwer zu durchdringende  Schleier vor den Augen, der ihr die Sicht zu nehmen schien. Es schmerzte wieder an den Handgelenken und es zog in den Armen. Jetzt bemerkte Elena dass sie angekettet war. Die Ketten kamen von der Decke und die Schellen waren Kopfüber befestigt, so dass ihre Arme nach oben ausgestreckt waren. Mit den Füßen konnte sie sich nur schwerlich vom Boden abstützen, was die Schmerzen nur noch verschlimmerte.

Es gelang ihr, wenn auch unter Schwierigkeiten, ihre inneren Kräfte zu  mobilisieren, auf diese Weise war sie imstande jene Tortur auszuhalten.

Was würde jetzt mit ihr geschehen?

 Sie hörte die Stimmen, es schienen sich etwa drei Männer im Raum aufzuhalten. Ihr kam es so vor als habe sie eine davon schon einmal gehört, konnte aber unmöglich sagen in welchem Zusammenhang. Dunkel war es. Plötzlich schaltet jemand ein ausgesprochen grelles Licht ein, dass Elena direkt ins Gesicht leuchtete. Automatisch kniff sie die Augen zusammen, denn es brannte verständlicher weise.

„Hallo Elena! Ich hoffe du hattest angenehme Träume, seit du bei uns bist!“ Sprach einer und jetzt dämmerte es Elena woher sie ihn zu kennen schien.

„Du bist das also Rolf! Ja, wer könnte sonst dahinter stecken!“ Erwiderte Elena mit angestrengter Stimme.

„So sieht man sich wieder! Ich habe es dir versprochen, du erinnerst dich womöglich. Damals als wir uns auf dem Gehöft von Madleens Familie aufhielten. Nun ich pflege gewöhnlich meine Versprechen einzuhalten. Oder hast du geglaubt ich hätte es vergessen?“ Antwortet Rolf höhnisch.

„Ich muss zugeben dass ich überrascht bin. Ich hatte dich in der Tat längst aus meinen Gedanken verbannt. Das pflege ich für gewöhnlich mit besonders unangenehmen Personen zu tun.“

„Ein großer Fehler, würde ich sagen.“

„In diesem Fall muss ich dir leider zustimmen!“

„Schön dass wir uns auf Anhieb einig sind. Das erspart uns unnötige Umwege. Ich bin ein Mensch der stets zielgerichtet voran schreitet. Und ich habe mir einiges mit dir vorgenommen. Du wirst mir Wiedergutmachung leisten. Wie? Das kannst du entscheiden.“

„Oh wie großzügig von dir? Darf ich raten was du begehrst?“ versuchte Elena der Sache Ironie zu verleihen.

„Du wirst mich bedienen, mich und meine Kameraden und zwar so wie wir uns das vorstellen.“

„Hm, das könnte dir so passen!“

„Ja, es passt ausgezeichnet!“

Mir einem Ruck riss Rolf Elenas Bluse entzwei so dass diese seitlich in Fetzen herunterhing und den Blick auf ihre vollen, sinnlichen Brüste freigab.

„Ich konnte mir denken, dass du darauf aus bist!“

„Du bist eine Schnelldenkerin, Elena, wie immer. Dann wollen wir uns nicht mit der Vorrede auf halten und gleich zur Sache kommen. Bist du bereit?“

„Einen Teufel werde ich tun!“

Nun riss Rolf ihr die Leggin, die sie an den Beinen trug herunter, während sich die anderen beiden hinter ihr postierten.

Elena setzte zum Tritt an und traf Rolf mit voller Wucht mit der Ferse in der Magengrube, so dass er mit einem Schrei zu Boden ging.

„Da hast du meine Antwort, ich hoffe sie schmeckt dir!“

Elena war sich der Tatsache bewußt was nun geschehen würde, sie hatte sich schon innerlich darauf eingerichtet. Mit der sanften Tour war es erst einmal vorbei. Aber das war ihr gleich.

Nach einer Weile gelang es Rolf sich wieder aufzurichten, mit schmerzverzerrtem Gesicht taumelte er auf Elena zu, während die anderen beiden nach wie vor recht teilnahmslos dem Treiben beiwohnten. 

„Da hast du meine Antwort du Schlampe!“

Mit dem Handrücken traf Rolf Elena ins Gesicht, so dass deren Nase zu bluten begann. Dann ein zweites ein drittes und ein viertes Mal.

„Ich will es erst mal genug sein lassen, ich will dir deine Visage nicht zerschlagen, denn immerhin sollst du mir noch gefallen heute.“

„Oh, wie gnädig von dir!“ Elena fiel das reden schwer, ihr Lippen begann zu schwellen.

Nun rissen sie Elena zu dritt die restlichen Kleider vom Leibe. Es leuchtet ein was sich nun anbahnte. Wie würden sie Elena wohl vergewaltigen? Sie hoffte dass sie es im liegen taten, denn zu diesem Zweck müssten sie ihr die Ketten lösen. Elena besaß trotz der Schmerzen noch immer genügend Kraft sich in ausreichendem Maße zu verteidigen. Doch nichts der gleichen geschah. Sie vergingen sich an ihr in der hängenden Haltung.

Wahre Helden. In einer fairen Auseinandersetzung wären sie der in mehreren Kampftechniken geschulten hoffnungslos unterlegen. Selbst wenn sie sich zu dritt auf sie stürzten konnte Elena sich verteidigen. Aber so? Die ganze Nacht musste Elena auf diese Weise verbringen, immer wieder drangen sie in ihren Körper. Sie schaltet ihr Bewusstsein auf einen Tiefpunkt, zum Glück beherrschte sie jene Technik, so dass sie eine Art Schutzschild bilden konnte. Trotzdem war es furchtbar, schmerzhaft und entwürdigend. Jede andere Frau wäre unter diesen Umständen zusammengebrochen. Aber Elena war Elena und sie durchschritt auch diese schwere Prüfung mit Würde.

Am frühen Morgen schleiften sie die bewusstlose Elena zurück in ihr Verließ. Erst einmal Pause, doch sie war sich der Tatsache bewusst dass es nicht das Ende war. Sie würden wieder kommen, immer wieder, bis sie ihren Stolz und ihre Ehre gebrochen hatten.

Zusammengekauert auf dem Boden tastete Elena ihren Körper ab, aber außer Prellungen und Hautabschürfungen hatte sie wohl keine ernsthafteren Verletzungen davon getragen. Noch nicht! Was würde wohl am Folgetag geschehen?

Sie unternahm den Versuch sich durch eine Meditationsübung Linderung zu verschaffen, doch es wollte nicht so recht gelingen. Endlich fiel sie in einen Schlummer.

Waren es Halluzinationen oder echte Visionen die sich da vor ihren Augen abspielten, sie konnte keinen Unterschied feststellen.

Anarchaphilia erschien da plötzlich aus dem Dunkel und setzte sich zu ihr, sanft bette sie Elenas Kopf in ihrem Schoß und begann diesen zu liebkosen.

„Sei standhaft Tochter! Sie können dich nicht brechen, ich werde das nicht zulassen. Eine Prüfung, wieder mal eine, ich kann sie dir nicht ersparen. Aber du wirst sie bestehen, so wie du alle bisherigen bestanden hast. Hart und erbarmungslos präsentiert sich der Initiationsweg.

Am Ende wirst du gestärkt daraus hervorgehen. Sie heißen dich Amazone und das bist du wahrhaftig, eine Amazonenkönigin auch wenn den Titel du selbst von dir gewiesen hast.

Nun liegst du im Schmutze, wahrlich, kein schöner Ort. Doch du musst ihn kennen lernen.

Nur wer im Dunkel gelebt hat weiß das Licht zu schätzen. Nur wer Gefangenschaft erduldet,  kann die in ausreichendem Maße ermessen was Freiheit bedeutet. Nur wer ganz unten liegt, ist in der Lage den Aufstieg zu bejubeln. Du standest stets ganz oben und hattest alles was dein Herz begehrte.

Du bist jetzt auf einem Tiefpunkt gestrandet, befindest dich dort wo du nach Leanders Tod schon einmal warst. Auch wenn es hart klingt, zwischendurch musst du in bestimmten Abständen einen Abstieg aushalten, denn nur auf diese Weise kannst du dich wieder emporarbeiten, dein falsches Ego ein Stück weit hinter dich lassen und dabei neue Erkenntnisse sammeln. Erkenne den Sinn in all dem was du jetzt ertragen musst. Mehr kann ich dir in diesem Moment nicht an Trost spenden. Denke daran, ich bin immer bei dir, auch in den fürchterlichsten Augenblicken. Niemals wirst du je ganz verlassen sein.“

Sanft fuhr Anarchaphilia mit der Handfläche über Elenas Wangen, diese schien die Berührung tatsächliche zu empfinden und es kam ihr vor als löse diese eine Linderung aus.

Eine ganze Weile harrte sie so in dieser Stellung, wie viel Zeit dabei verging konnte Elena nicht ergründen. Die Zeit hatte hier drinnen ohnehin jegliche Bedeutung eingebüßt. Irgendwann war die Vertraute verschwunden und Elena empfand tiefe Verlassenheit und Leere. Doch andererseits hallten Anarchaphilias Worte in ihrem Bewusstsein wieder und entfalteten die Kraft derer sie in diesem Augenblick so dringend bedurfte.

 

Am gleichen Abend hatte Chantal die schwere Aufgabe übernommen über Rundfunk und Fernsehen sowohl den Bewohnern der Akratasischen Föderation (so nannte sich das Gemeinwesen seit kurzen) als auch des melancholanischen Staatsgebietes die traurige Mitteilung über Elenas Verschwinden zu vermitteln. An solchen Tagen hasste sie ihren Job. Pressesprecherin, Medienministerin, Chefredakteurin alles in einer Person und ohne weitgehende Privilegien. Fast so etwas wie Ehrenämter. Sie fühlte sich elend und endlos traurig, im Grunde überhaupt nicht imstande die entsetzliche Meldung zu verkünden. Aber eine musste es tun, es war ihr Metier.

Äußerlich gefasst, aber innerlich total aufgewühlt und mit den Tränen ringend begann sie ihre Ansprache.

„Liebe Landsleute diesseits und jenseits der Grenze. Ich habe die traurige Aufgabe euch eine ausgesprochen leidvolle Nachricht zu verkünden. Vier Tage ist es her da wir unsere Elena das letzte Mal zu Gesicht bekamen, seitdem ist sie spurlos verschwunden. Es gibt nicht die geringsten Anhaltspunkt. Elena ist ein vorbildlicher und gewissenhafter Mensch, es ist überhaupt nicht ihre Art einfach ohne Abschied fort zugehen. Aus diesem Grund müssen wir leider davon ausgehen, dass sie Opfer eines Verbrechens wurde. Uns liegt derzeit nicht der geringste Hinweis über ihren derzeitigen Verblieb vor. Ist sie am Leben oder tot? Wenn sie lebt, wie geht es ihr? Ist sie in großer Gefahr? Braucht sie Hilfe? All diese Fragen können wir im Augenblick nicht beantworten.

Wir, die Vertreterinnen der Schwesternschaft, sowie der Regierung der akratasischen Föderation sehen uns in der Pflicht die Bevölkerung zu informieren, verbunden mit der Bitte um die Mithilfe eines Jeden.

Auch das kleinste Detail kann helfen. Wer hat Elena in den zurückliegenden Tagen gesehen? Wer kann Hinweise über ihren Aufenthaltsort machen? Gibt oder gab es Bestrebungen bestimmter Kreise Elena aus dem Weg zu räumen? Für wen könnte sie eine Gefahr darstellen?“

Natürlich waren sich alle darüber im Klaren auf wen Chantal hier anspielte. Einem jeden leuchtete ein wer ein besonderes Interesse an Elenas Eliminierung haben konnte. Auf diese Weise erhofften sie sich eine rasche Welle der Empörung um  Druck auf Neidhardt auszulösen, der diesen wiederum zu baldigen Handeln zwingen könnte.

Im Grunde weitgehend Spekulationen, aber im Augenblick standen ihnen kaum bessere Möglichkeiten zur Verfügung.

„Helft uns! Lasst nicht zu dass Elena, die wir alle so lieben, ein Leid geschehe. Alles was wir sind und haben, alles was wir in der zurückliegenden Zeit schaffen konnten, verdanken wir ihr. Ohne ihr kein Akratasien, ohne ihr keine Hoffnung und Zuversicht auf eine liebevollere, friedfertigere und gerechtere Welt. Heraus aus euren Häusern, aus den Dörfern und Städten, sucht mit, tragt euren Unmut auf die Straßen und fordert Freiheit für Elena. Lasst nicht locker, bleibt hartnäckig bis wir sie wieder haben.“

 

Schluss! Endlich leuchtete das Lämpchen, das ein Ende der Sendung signalisierte. Erlösung!

Länger hätte Chantal nicht ausgehalten. Nun brach es aus ihr und die Tränen flossen wie ein Bach. Sie breitete die Arme auf dem Tisch, bette ihren Kopf darin und überließ sich ihrem tiefen Schmerz.

 

Mit Chantal schien das ganze Land zu weinen. Zu beider Seiten der Grenze legte sich die bleischwere Erkenntnis wie klirrender Frost auf die Gemüter und erzeugte tiefe Resignation und Fassungslosigkeit. Damit hatte wohl keiner gerechnet. Elena in Gefahr? Die starke, die unbesiegbar scheinende kampferprobte Amazone in arger Bedrängnis? Das konnte doch nicht sein. Es durfte nicht sein. Wie sehe das Leben ohne ihre Hoffnungsträgerin aus? Sie hatten sich derart an ihre Anwesenheit gewöhnt das ein Leben ohne Elena schlicht aus ausgeschlossen galt. Und trotzdem mussten sie sich der unausweichlichen Tatsache stellen.

Alles aus? Das Ende der Geschichte? In Zukunft nur noch Repression und Stagnation?

Die junge akratasische Föderation würde Elenas Tod nicht sehr lange überdauern und ihr in nur wenigen Wochen ins Grab folgen.

Nachdem der erste Schock verklungen hörte man auf den nur spärlich ausgeleuchtete Straßen beider Schwesterländer die ersten Unmutsbekundungen. Erst zaghaft, verhalten, dann immer deutlicher  und immer kraftvoller. Doch während im akratasischen Teil die Menschen frei und ungehindert ihrer Empörung Ausdruck verleihen konnten, rief die in Melachcholanien schon binnen weniger Minuten die Sicherheitskräfte auf den Plan. Doch waren die kaum imstande der Wut ausreichend Paroli zu bieten.

 

„Bist du nun zufrieden? Ist es dass was du schon immer wolltest? Jetzt steht der Aufstand vor der Tür und du hast ihn heraufbeschworen und es geschieht dir recht. Nie und nimmer hätte ich dir eine solche perverse Schmutztat zugetraut!“ Empörte sich Cornelius, dabei nach Luft ringend.

Mit einem Ruck hatte er die Tür zu Neidhardts Büro geöffnet und fand den völlig überraschten sprachlos vor. 

„Was in aller Welt willst du damit sagen? Ich verbiete mir diese Unterstellungen! Wie kannst du es wagen mich für Elenas Verschwinden verantwortlich zu machen?“ Polterte Neidhardt zurück nachdem er seine Fassung wieder gefunden.

„Ach nein! Was du nicht sagst! Du willst mir doch nicht  glauben machen, dass du mit Elenas verschwinden nichts zu tun hast?“ Wollte Cornelius, noch immer außer sich vor Wut, wissen.

„Ich habe nichts damit schaffen. Elena ist meine politische Gegnerin und ich bekämpfe ihre Ideen, nicht aber ihre Person. Niemals würde ich mich solcher unlauteren Methoden bedienen“

Stritt Neidhardt energisch die Vorwürfe ab.

„ Dann muss ich davon ausgehen, dass dir deine Autorität abhanden kommt. Du willst mir einreden dass irgendetwas in deinem Reich ohne dein Wissen geschieht? Das soll ich dir abkaufen? Das kann wohl nur ein Scherz sein.“ Widersprach Cornelius empört.

„Genug! Ich versichere dir dass ich mit Elenas Verschwinden nichts zu tun habe. Darauf gebe ich dir mein Ehrenwort!“ Neidhardt Tonfall klang jetzt bedeutend versöhnlicher. Doch das befriedigte den greisen Präsidenten in keiner Weise.

„Dein Ehrenwort! Ich konnte mich in der Vergangenheit ausreichend davon überzeugen wie wenig man darauf geben kann. Du bist ein Spieler der die Menschen wie Schachfiguren von einem Feld aufs anders setzt, so wie es dir im Augenblick für opportun erscheint.

Ich verfluche jeden Tag den Augenblick da ich dir vor Zeiten die Hand zum Bündnis reichte. Ich habe für meine damalige Naivität einen hohen Preis zahlen müssen. Mir geschieht recht. Elena hat mich vor dir  gewarnt, mehr als einmal. Ich habe ihre Warnung in den Wind geschlagen. Das habe ich nun davon. Jetzt willst du dich an ihr rächen.“ fuhr Cornelius in seinen Anschuldigungen weiter fort.

„Ich habe nichts damit zu tun!“ schrie Neidhardt und schlug mit der Faust auf die Tischplatte

des schweren Eichenholzschreibtisches.

„Worte kannst du derer viele machen! Doch damit punktest du bei mir nicht. Allein durch Taten lasse ich mich überzeugen.“ forderte Cornelius.

„Taten? Was für Taten? Was in aller Welt soll ich deiner Meinung nach tun?“ Neidhardt schien sich immer deutlicher in der Defensive.

„Indem dem du den Mädchen der Schwesternschaft deine Hilfe zukommen lässt. Du hast den Appell im Rundfunk gehört oder gesehen. Die sind verzweifelt und ich bin es auch. Schreite ein! Schaffe Ordnung in deinem Reich! Bring deine Leute auf Vordermann. Zeige, wer Herr im Hause ist. Das heißt, wenn du es überhaupt noch bist. Gut, einverstanden. Gehen wir mal davon aus, dass du  tatsächlich nichts mit Elenas Verschwinden zu tun hast.  Aber auch dann trägst du die Verantwortung. Du stehst an der Spitze, du verkörperst die Macht in unserem Land.“

„Ich? Ich bin lediglich der Generalsekretär der RRP. Ich habe kein Regierungsamt inne.

Darf ich dich darauf hinweisen, das Staatsoberhaupt in Melancholanien bist noch immer du.“

versuchte Neidhardt nun den Schwarzen Peter seinem Kontrahenten zu zuschieben.

„Darauf habe ich gewartet! Immer wenn dir eine Sache unangenehm erscheint und du dir daran die Finger zu verbrennen drohst, schiebst du die Verantwortung auf andere.

Natürlich bin ich Melancholaniens Staatsoberhaupt, aber meine Machtbefugnisse sind beschränkt. Ich bin nichts weiter als ein Grüßaugust für repräsentative Aufgaben.

Alle Macht geht von der Partei aus. Deren oberster Vertreter bist du. Ein gewiefter Schachzug von dir mich in der Funktion zu belassen und selber kein Staatsamt anzustreben, damit bist du vor der Öffentlichkeit immer fein heraus. Es bedarf keines offiziellen Amtes.

Die Macht hältst du auch ohne in deinen Händen.“

konterte Cornelius. Neidhardt hatte dem nichts entgegensetzen. Natürlich war ihm bewusst dass der Alte die Wahrheit sprach. Und die gesamte Bevölkerung war sich seiner tatsächliche Machtfülle nur all zu sehr bewusst.

Beide schwiegen sich eine ganze Weile an.

„Und was gedenkst du zu tun?“ Cornelius Frage durchschnitte die angespannte Stille.

„Keine Ahnung! Warum sollte ich überhaupt etwas tun? Sag mir doch bitteschön wie ich dazu komme?“ Bekräftigte Neidhardt weiterhin seine Absicht in jener Angelegenheit passiv zu bleiben.

„Du bist ein Egomane von der gemeinsten Sorte. Du hast die Möglichkeit ein zugreifen und verweigerst dich. Dabei kann jeder der auch nur über ein wenig Verstand verfügt sehen wie es wirklich um dich steht.“

„Wie soll es um mich stehen wenn die Frage erlaubt ist?“

„Tue doch nicht so scheinheilig! Du spielst dein Desinteresse gut. Mich aber kannst du nicht täuschen. Meinst du ich habe nicht längst durchschaut wie es in dir aussieht? Im Inneren leidest du ebenso wie alle anderen an Elenas Schicksal. Gib es doch endlich zu!“ Forderte Cornelius mit Nachdruck.

„Was soll ich zugeben?“

„Lass das dümmliche Versteckspiel und gestehe es. Das du sie liebst!“

„Ich? Elena lieben? Lächerlich! Absurd!“ Entrüstete sich Neidhardt. Cornelius hatte in ein Wespennest gestochen.

„Komm, lass es einfach! Versuche dich nicht herauszureden. Dass pfeifen die Spatzen von den Dächern. Ich weiß es schon seit ewigen Zeiten. Seit damals, als ihr einander zum ersten Mal begegnet seit. Kannst du dich erinnern? In der alten Fabrik, unserem recht unkomfortablen ersten Hauptquartier, als unsere Parteien das Bündnis schlossen. Schon damals bemerkte ich dein Interesse. Ich habe genau beobachtet wie du sie angesehen hast.  wie du sie mit deinen Blicken  geradezu ausgezogen hast. Aber ihr seit einander Gegensätze. Ihr konntet nie zueinander finden. Das Schicksal bestimmte es anders. Und nun bist du mehr denn je von ihr entfernt. Dabei sind es bis zur Alten Abtei nur ein paar Kilometer. Aber jeder Bettler der sich auf das dortige Gebiet begibt ist ihr näher als du es jemals sein wirst. Die Eifersucht hat deine Seele vergiftet. Deshalb versuchtest du Elena mit allen Mittel zu bekämpfen. Du ertrugst nicht einmal ihren Anblick, weil er dein Herz bluten ließ. Weshalb sonst diese unsinnigen Anordnungen. Etwa dass ihr Bild nicht in der Öffentlichkeit präsentiert werden darf, dass man ihre Stimme nicht hören darf und so weiter und so fort. Die Grenzbefestigung war das Tüpfelchen auf dem I. Man braucht kein Atomphysiker zu sein um fest zu stellen warum du das alles hast tun lassen.“ Sagte ihm Cornelius wahr.

„Eine ungeheuerliche Unterstellung! Wie kannst du es wagen! Du versuchst offensichtlich einen Hampelmann aus mir zu machen.“ Wehrte Neidhardt energisch ab.

„Das brauche ich nicht! Das hast du schon vor langer Zeit selbst getan!"

„Ich höre mir das nicht länger an!“

„Doch das wirst du! Weil es Zeit dafür  ist. Schon lange hätte man es dir ins Gesicht sagen sollen, damit du endlich zur Einsicht kommst. Nun ist das Maß voll. Ich kann nicht länger tatenlos zusehen. Und nun da Elena in Lebensgefahr schwebt will der Mann der sie liebt nicht einmal ein schreiten, lässt sie womöglich sterben. Das ist ekelhaft! Verstehst du? Ekelhaft!“

Mit einem Ruck erhob sich Neidhardt von seinem Sitz und fuhr wie eine Rakete in die Höhe, so dass der schwere Ledersessel laut krachend zu Boden stürzte.

„Unterstellungen! Böswillige Unterstellungen! Womöglich glaubst du am Ende noch ich würde sie beseitigen wollen, um mich von ihr zu befreien. Ich brauche Elena nicht zu fürchten, weil sie mir egal ist. Verstehst du? Scheißegal! Aber einverstanden. Ich werde ein greifen. Ich werde dir beweisen dass ich mit ihrem Verschwinden nichts am Hute habe. Ferner sollst du dich davon überzeugen können wie fest ich noch im Sattel sitze.“

Er griff nach dem Hörer seines Telefons und tippte eine Zahlenfolge in das Display.

„Komm schon! Komm schon! Komm schon! Brüllte er in die Muschel.

„Heute Abend Krisensitzung! Im großen Plenarsaal. Ich will sie alle zusammen haben. Das ZK, die Regierung und die Leiter der Sicherheitsorgane. Alle. Ohne Ausnahme und ein nein gibt es bei mir nicht, verstanden?

„Wie? Das interessiert mich nicht! Dann werden die Leute eben umgehend aus dem Urlaub zurückbeordert. Wenn es sein muss mit dem Hubschrauber eingeflogen. Wer fehlt hat mit weit reichenden Konsequenzen zu rechnen. Ich hoffe ich habe mich deutlich genug ausgedrückt.

Also, Befehl ausführen! Basta!“

Neidhardt knallte den Hörer auf die Gabel.

„Und? Bist du nun zufrieden?“

„Alle Achtung! Du findest mich sprachlos. Aber genau so habe ich es mir vorgestellt. Wir werden Elena helfen, mit allem was in unserer Macht steht. Wir haben sie beide gern.“

„Unsinn! Das hat damit nichts zu tun! Hier geht es lediglich darum, dass meine Autorität untergraben wurde und das kann ich auf keinen Fall durchgehen lassen. Wenn es sein muss werde ich jeden Stein in diesem Lande umdrehen lassen, bis wir sie gefunden haben. Wir sind dann in der Lage die Bevölkerung zu beruhigen und zufrieden zu stellen. Wenn sie erfahren das Elena wohl auf ist gibt es keinen Grunde mehr für Protestaktionen. Bis wir sie gefunden haben werde ich ein Auge zudrücken. Lasst die Leute auf die Straße gehen und sich Luft machen. Aber nur friedliche Aktionen werden geduldet. Wer gewalttätig auffällt muss auch weiter mit Strafen rechen.“

„Sieh es so wie du willst! Laufe meinetwegen weiter vor der Wahrheit davon. Das wichtigste ist dass Elena so bald als möglich gefunden wird. Ich hoffe ich kann mich auch tatsächlich auf dein Wort verlassen?“ Hakte Cornelius noch einmal nach.

„Ich pflege meine Versprechen stets zu halten. Selbst Elena gegenüber. Frag sie doch wenn du sie das nächste Mal triffst.“ Ein höhnisches Grinsen in Neidhardt Gesicht ließ dessen Schadenfreude erkennen. Denn nun hatte er Cornelius an der empfindlichsten Stellen erwischt. Dieser spürte beim Hören der Worte einen starken Stich in der Herzgegend.

Es war allgemein bekannt dass zwischen den beiden noch immer Funkstille herrschte. Seit der Schändung von Leanders Grab hatten sie den Kontakt abgebrochen und nie wieder aufgenommen.  

„Danke! Die Retourkutsche ist dir gelungen. Du verstehst es sehr gut auszuteilen!“ Beschwerte sich Cornelius.

„Man sollte nicht mit Steinen werfen, wenn man selbst im Glashaus sitzt. Ausgerechnet du willst mir Vorwürfe machen? Jeder sollte zunächst stets vor seiner Haustüre kehren.“

Cornelius verließ schweigend das Zimmer. Wo Neidhardt Recht hatte, hatte er Recht. Dem konnte er nichts hinzufügen. Im Grunde hatten sie sich beide nichts vorzuwerfen, wenn es um Elena ging.

Der Unterschied bestand lediglich darin, dass Cornelius offen zu seinen Gefühlen und auch seinem Versagen Elena gegenüber stand.

 

Wenige Stunden später trat das Zentralkomitee zusammen, bis auf wenige Ausnahmen war es vollzählig. Wie die begossenen Pudel mussten die Anwesenden ein Donnerwetter über sich ergehen lassen. Neidhardt schonte niemanden. Bei Zuwiderhandlung seiner Anweisungen drohte er mit drakonischen Strafen. Erst nach vollständiger Aufklärung, durfte sich die Versammlung auflösen. So lange würden man ausharren müssen.

Einer der wenigen der mit Abwesenheit glänzte war Innenminister Schleimer, ein Fehler, denn das lenkte sogleich den Verdacht auf ihn. Andererseits hätte ihn sein Erscheinen womöglich einer noch größeren Gefahr ausgesetzt. So hatte er es vorgezogen in sicherer Entfernung in Wartestellung zu verharren. Die Koffer waren gepackt, im Notfall konnte er sich schnell ins Ausland absetzen. Selbstverständlich nicht nach Akratasien, dort würde man ihn in vor Wut in Stücke reißen.

Schleimer war nie Revolutionär. Schon unter dem alten Regime hatte er verschiedene Regierungsfunktionen inne. In Ermangelung eigener Führungskräfte aus den Reihen der Partei war Neidhardt schon vor Zeiten dazu übergegangen parteilose Fachleute zu rekrutieren und in die Regierungsarbeit einzubeziehen. Die Stunde der Karrieristen und Opportunisten. Das Ende jeglicher revolutionärer Politik, wenn es denn je eine gegeben hatte. Viele der überzeugten Revolutionäre hatten Neidhardt frustriert den Rücken gekehrt. Selbst sein ehemaliger Stellvertreter Lars hatte es vor gezogen sich unter Elenas Schutz zu begeben. So war Neidhardt gezwungen das zu nehmen, was ich ihm anbot.

Schleimers Plan war simpel und perfide. Es war so wie vermutet. Elena die Lichtgestalt, sollte verschwinden. Ohne ihre charismatische Anführerin würden die Schwesternschaft, die Kommune, ja die gesamte akratasische Föderation binnen kurzer Zeit auseinander triften, denn eine Nachfolgerin im eigentlichen Sinne gab es nicht. Elena schien unersetzbar.

Chaos würde ausbrechen. Melancholanien hätte leichtes Spiel sich die abtrünnigen Gebiete wieder ein zuverleiben. Doch nicht nur Elena sollte beseitigt werden. Es musste damit gerechnet werden, dass die Unruhen nach Bekanntgabe der Todesnachricht eskalieren würden. Neidhardt war der Machtfaktor und trug somit die Verantwortung. Die Bevölkerung würde ihm die Schuld in die Schuhe schieben und er wäre nicht mehr zu halten. Eine Palastrevolte wäre die Folge. Das Machtvakuum nach Neidhardt Entmachtung, wollte Schleimer und seine Clique ausnutzen um sich selbst in die Führungsrolle zu putschen.

Doch wie bei fast allen Unternehmungen gab es auch in diesem Falle eine undichte Stelle. Einer von Schleimers Vertrauten bekam es mit der Angst zu tun und denunzierte seine Mitverschwörer. 

 

Währenddessen ging es draußen ordentlich zur Sache.

Zum ersten Mal seit den Tagen der Revolution gab es in Melancholanien wieder umfangreiche Demonstrationen, Massenkundgebungen mit allem was dazu gehörte

Eine Welle der Solidarität schwappte über das ganze Land. Viele waren bereit zu helfen, spontan bildeten sich vielerorts Initiativen.

 Neidhardt hielt Wort und lies die Bevölkerung gewähren,die Menschen dankten es ihm in dem es weitgehend friedlich blieb. Die gewaltsamen Ausschreitungen der ersten Tage waren so gut wie verklungen.

Auf dem Gebiet der Akratasischen Föderation gingen die Proteste ebenfalls weiter. Hier wurde es noch konkreter. Viele boten sich der Schwesternschaft an, alle wollten irgendetwas tun. Sogar Lars, Neidhardts einstiger Stellvertreter war bereit sich einzusetzen, indem er sich zum Austausch für Elena anbot. Die Grenze trennte nun erst recht nicht mehr, denn beide Seiten einte die Sorge um ihre Elena. Oftmals bewegten sich die Demonstrationszüge aufeinander zu und stoppten erst als sie die Grenzsperren erreicht hatten, auf Blick und Hörweite. Die Grenzposten hatten Befehl passiv zu bleiben, selbst dann nicht, als verschiedene Personen diesseits und jenseits des Zaunes bedrohlich nahe an die Sperren traten.

Hoffnung keimte auf. Würde sich am Ende alles noch zum Guten wenden?

 

 

Neidhardt hatte inzwischen die Verhaftung der Verschwörer und Elenas Befreiung angeordnet. Umgehend machte sich eine Spezialeinheit des Sicherheitsdienstes auf den Weg in das Landhaus des Innenministers, dort wo Elena gefangen gehalten wurde. Viele der Mitverschworenen gingen ins Netz, außer Schleimer, dem es gelungen war sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Doch das konnte man noch verschmerzen. Viel schlimmer wog die Tatsache, dass der Keller in dem Elena vermutet wurde leer vorgefunden wurde. Kamen sie zu spät? Hatten die Verschwörer ihr blutiges Werk etwa schon verrichtet?

Kaltes Entsetzen legte sich über das ganze Land. Und wieder drohte die Situation aus dem Ruder zu laufen. Konnte der machtbesessene Innenminister am Ende doch noch triumphieren?

Ein eigens ein berufener Krisenstab beriet Tag und Nacht. Und nun geschah das Unglaubliche.

Erstmals kam es dabei zu einem Kontakt beider Regierungen. Neidhardt hatte darum gebeten das Colette und Gabriela an den Sitzungen teil nahmen und sich vor Ort informieren konnten.

 

Auch Madleen hatte eine Einladung erhalten, doch die war aufgrund der deprimierenden Nachrichten zusammengebrochen und außerstande etwas zu tun. Die quälende Angst um die Geliebte drohte ihr den Verstand zu rauben. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Ihr Herz versank in den Tiefen der Verzweiflung. Jeweils zwei Schwestern harrten rund um die Uhr bei ihr aus um zu verhindern dass sie sich etwas antat.

 

Auf dem Bauch liegend, Hände und Füße nach oben auf dem Rücken gefesselt und geknebelt so verbrachte Elena die Fahrt auf der Rückbank eines Jeep, der sich in rasender Geschwindigkeit auf einem Feldweg befand. Insgesamt vier Leute waren mit Elena  noch rechtzeitig getürmt um der Verhaftung zu entgehen. Ihre Lage war äußerst prekär, dazu die Schmerzen im Unterleib, sowie die Benommenheit aufgrund der vielen Betäubungsmittel die man ihr verabreicht hatte. Ständig drohte sie zu kollabieren. Nur ihre noch immer präsenten Kräfte verhinderten das Schlimmste.

Minuten kamen ihr wie Stunden vor? Endlich kamen sie an, wo auch immer. Elena konnte nur eine totale Stille registrieren, so dass sie vermutete sich in einer abgelegenen Gegend zu befinden. Sie wurde aus dem Auto gezerrt, in eine Haus geschleift, eine Treppe hinunter und wieder landete sie in einem Kellerraum. Der Alptraum war noch immer nicht ausgeträumt.

 

Voller Sehnsucht erwarteten Alexandra und Inga Colettes Heimkehr. Die beiden wachten an diesem Abend bei Madleen, ließen sie keinen Augenblick aus den Augen. Kristin kümmerte sich wie so oft um die kleine Tessa, während Sonja  Ingas Kinder hütete.

Apathisch lag Maleen in Ingas Armen, der Tränenfluss wollte nicht versiegen.

„Wo bleibt Colette? Sie ist die einzige die noch helfen kann. Es geht schon auf Mitternacht. Was tagen die denn nur solange, es kommt doch eh nichts dabei heraus!“ Schimpfte Alexandra während sie hektisch im Wohnzimmer auf und ab lief.

„Sie wird schon kommen, immerhin hat sie versprochen nicht zulange fort zu bleiben, wahrscheinlich aufgehalten worden.“ Erwiderte Inga, streichelte dabei immerfort Madleens Wangen.

„Na wollen wir`hoffen. Wenn ich nur wüsste was wir tun könnten.“

„Ich fürchte wir können nichts anderes als warten.“ Entgegnete Inga.

„Die Warterei macht mich krank. Auch meine Nerven liegen blank. Colette wo bleibst du denn?“      

Alexandra rannte auf den Flur und blickte den langen nur spärlich mit Nachlichtern beleuchteten Gang des 3. Stockes des Konventsgebäudes hinunter. Doch niemand war zu sehen. Nervös schloss sie zunächst die Tür wieder von innen um sogleich wieder nach draußen zu hasten. Diesmal eilte sie den Gang entlang, an der Treppe blieb sie stehen als sie Colette durch die Pforte schreiten sah.

Auf halben Weg kam sie der entgegen.

„Endlich, ich habe schon gefürchtet ihr tagt die ganze Nacht hindurch. Komm schnell zu Madleen!“

„Ist es so schlimm?“

„Noch schlimmer! Seit die Nachricht über den leeren Keller im Haus des Innenministers durchgesickert ist, geht es steil bergab mit ihr. Sie weint unaufhörlich. Ich fürchte es droht ein Nervenzusammenbruch.“ Versuchte Alexandra etwas außer Atem zu erklären.

Schließlich waren sie an der Wohnzimmertür angelangt.

„Nur du kannst ihr noch helfen Colette!“

„Ich hoffe es!“

Colette schritt auf Madleen zu und schloss sie sogleich in ihre Arme.

„Kleine, komm her, komm zu Mama Colette!“

Madleen umarmte die Freundin und drückte sich ganz fest an deren Körper, dabei laut schluchzend. Sanft strich Colette ihr mit den Handflächen vom Kopf über die Schultern, den Rücken entlang.

„Alles wird gut, Kleine! Glaub mir alles wird gut!“ Versuchte Colette zu trösten.

„Gar nichts wird gut! Ich… ich hab sie verloren, wir haben Elena für immer verloren. Ich werde sie nie wieder sehen. Ich möchte nicht mehr leben ohne sie, ich kann nicht, ich will nicht, ich…“ Weitere Worte brachte Madleen nicht über ihre Lippen, schon nahte der nächste Weinkrampf.

„Vertraue Colette. Sie weiß immer was zu tun ist. Sie kann uns sicher einen Rat geben.“ Versuchte Inga ihrerseits Trost zu spenden.

„Ich will nicht ohne sie leben, ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht, neiiiin…“

Nun schien der endgültige Zusammenbruch kaum noch vermeidbar.

Da half wohl nur noch eine Schocktherapie. Unter Ingas und Alexandras entsetzten Augen verpasste Colette Madleen eine Ohrfeige, um sie gleich wieder in die Arme zu schließen.

Doch die Tat entfaltete offenbar sogleich ihre Wirkung. Madleen beruhigte sich.

Zärtlich nahm Colette das Gesicht der Schwester in beide Handflächen und sah ihr tief in die Augen.

„Madleen! Madleen hör mir zu! Elena ist nicht tot. Sie lebt! Sie lebt ganz bestimmt.“

„Woher willst du das wissen?“

„Ich weiß es! Ich spüre das sie lebt.“

„Wie denn?“

„Pass auf! Du erinnerst dich noch an die Zeit als ich außerhalb der Abtei lebte, im Land herumzog und mich nicht nach Hause traute?“

„Ja, aber was hat das denn mit der Situation von heute zu tun?“ Wollte die Verzweifelte wissen.

„Sehr viel! Wie du noch in Erinnerung hast, machte sich Elena damals mit ihrem Motorrad auf den Weg um  nach mir zu suchen. Einfach so aufs Geradewohl. Und sie fand mich. Was glaubst du wie ihr das gelang. Sie konnte doch gar nicht wissen das sich mich in dem Wanderzirkus befand.“ Fuhr Colette fort.

„Ich… ich weiß es nicht!“ Antwortete Madleen.

„Sie hat meine Anwesenheit gespürt. Verstehst du, sie hatte eine Ahnung wo ich mich befand und folgte ihrem Spürsinn. Und im Nachhinein wurde mir bewusst dass sich die ihre auch zu spüren vermag. So ist es heute. Elena lebt! Ich spüre es. Aber sie befindet sich in großer Gefahr. Sie braucht unsere Hilfe. Wir müssen schnellstens etwas unternehmen.

Wir, damit meine ich vor allem dich. Aber um dafür bereit zu sein, musste du wieder auf die Beine kommen, du musst stark sein, du brauchst einen kühlen Kopf um all deine Kräfte zu aktivieren.“

„Ich…. Ich, möchte dir so gerne glauben.“

„Es ist so! Ich kann es dir auch nicht erklären warum. Schon seit einiger Zeit weiß ich mich auf eine mentale Art und Weise mit Elena verbunden. Irgendetwas Tiefes verbindet uns, eine geheimnisvolle innere Kraft. Wir werden darüber später einmal sprechen, wenn alles überstanden ist. Jetzt ist es einfach nur wichtig dass du mir vertraust.“

„Ich verstehe von diesen Dingen nicht viel. Elena erzählt auch immer wieder davon. Ich kann das alles nur schwer nachvollziehen. Aber ich wünsche mir das du recht behältst.“

„Es ist so wie ich es sage Madleen. Wenn ich mich konzentriere kann ich Elenas Aufenthaltsort ausfindig machen, auch wenn es schwierig wird, denn ich habe erst vor wenigen Wochen damit begonnen mich darin zu schulen. Aber ich kann sie finden, ich kann dich zu Elena führen. Befreien wirst du sie! Du hast richtig verstanden, es ist dein Privileg, du bist ihre Partnerin, ihre Gefährtin, du bist ihre Frau. Eine Kämpferin hast du hier aus dir gemacht, eine echte Amazone. Alles was dich Elena gelehrt hat, nun kannst du es zur Anwendung bringen.“

Madleen hob den Kopf von Colettes Brust und sah zu den beiden anderen hinüber.

Dann ergriff sie Colettes Hände und drückte die ganz fest. Für einen kurzen Moment löste sich der Krampf in ihrer Brust und ein Gefühl von Erhabenheit und Größe bemächtigte sich ihrer.

„Aber was können wir denn tun? Hast du einen Anhaltspunkt, wo sich Elena aufhalten könnte?“ Wollte Alexandra wissen.

„Nicht ganz! Aber sie ist hier, es ist nicht weit. Ich muss mich richtig konzentrieren. Das ist aber alles andere als einfach. Ich bin total aufgewühlt, mir lastet Elenas Leid doch auch total auf der Seele. Aber darüber laßt uns Morgen in aller Frühe sprechen. Es ist spät. Wir alle sind müde. Ihr könnt euch gerne zurückziehen. Danke für eure Hilfe. Ich bin hier bei Madleen. Ich kümmere mich die ganze Nacht um sie.“ Gab Colette zu verstehen.

„Das ist doch selbstverständlich dass wir das tun. Wenn du meinst dann gehen wir. Aber wenn du doch Hilfe brauchst, du weißt wo du uns findest.“ Bot Inga an.

Dann verließen die beiden die Wohnung. Für Colette begann eine schwere Nacht der Verantwortung und Fürsorge.

 

Als Gabriela nach Hause in die Alte Försterei kam, jenes Nebengelass gegenüber des Konventsgebäudes, wo sie mit Kristin und Klaus wohnte, fand sie ihre Geliebte schlafend auf dem Sofa vor. Das Fernsehen lief noch, die Spätnachrichten des melancholanischen Rundfunks kannte an diesem Tag auch nur ein Thema und das hieß Elena.

Sanft weckte sie Kristin mit einem Kuss.

Dies reckte und streckte sich.

„Hallo Gabriela! Sorry! Ich bin eingeschlafen. Eigentlich wollte ich dich wachend in Empfang nehmen.“ Glaubte sie sich entschuldigen zu müssen.

„Ist doch in Ordnung! Jetzt bin ich ja da!“ Erwiderte Gabriela.

„Hat die Sitzung sooo lange gedauert? Ja, das ist wieder mal typisch Neidhardt. Kommt eh nix dabei raus. Was sollten die auch tun? Wenn es tatsächlich eine Verschwörung war kann man  das ZK nicht verantwortlich machen.“ Stellte Kristin fest.

„Puuh! Ich bin auch total fertig!“ Gabriela lies ich in den Sessel neben der Wohnzimmercouch fallen. " Ich konnte zum Schluss kaum noch sitzen. Mein Rücken tut schon ganz weh und der Nacken. Aber es war ganz interessant. Neidhardt hat sich durchaus korrekt verhalten, war uns beiden gegenüber total freundlich und zuvorkommend, hat uns jede erdenkliche Hilfe angeboten.  Wo sich Elena befindet weiß zur Stunde nicht einmal der Sicherheitsdienst, auch wenn die fieberhaft daran zu arbeiten scheinen. Wir tappen leider noch genauso im Dunkel wie vorher.“ Fuhr sie fort.

„Das ist alles so traurig. Ich zittere am ganzen Leibe wenn ich daran denke was Elena wohl zur Zeit durchmachen muss.“ Meinte Kristin mit Trauer in der Stimme.

„Ich darf auch nicht dran denken! Sag mal wo ist denn Klaus eigentlich?“ Wollte Gabriela wissen.

„Der ist schon am frühen Abend weg! Die haben doch wieder ein Treffen im Männerhaus. Er sagt sie wollen überlegen was sie tun könnten. Könnte sein dass er wieder mal die Nacht dort verbringt.“ Klärte Kristin auf.

„Das ist gut! Alle in der Abtei sind wohl am überlegen wie sie Elena helfen könnten, auch wenn nicht viel dabei raus kommt. Aber immerhin überlegen. Und Tessa, was ist mit ihr?“

„Ich habe sie schon vor einiger Zeit ins Bett gebracht. Sie war müde und schläft ganz friedlich in ihrem Bettchen.“ Antwortete Kristin.

„Glaubst du, dass sie irgendetwas mitbekommen hat von der ganzen Tragödie? Sicher, sie ist noch klein. Aber für ihr Alter ist sie schon sehr verständig und aufgeweckt.“ Sorgte sich Gabriela.

„Ich denke nicht! Ich tat alles wie du es angeordnet hast. Den Fernseher habe ich erst eingestellt als sie eingeschlafen ist. Radio habe ich keines laufen lassen. Nur den CD-Player mit  beruhigenden Liedern. Die meiste Zeit sind wir eh draußen gewesen, sind durch den Park getollt, das gute Wetter ausnutzen. Einmal, nur einmal hat sie nach ihrer Mutti gefragt. Ich habe ihr wie so oft die Standartantwort gegeben, eben das sie wieder mal auf Reisen ist und sie hat sich damit zufrieden gegeben.“

„Ach es tut so gut, dass du dich mit der Kleinen so gut verstehst. Ich habe Tessa schon früher des Öfteren gehütet, aber seit wir zusammen sind läuft alles viel besser. Sie ist in der letzten Zeit häufiger bei uns als bei ihren Müttern.“ Meinte Gabriela.

„Sind wir für Tessa auch so was wie Mütter, oder eher Tanten?“ Wollte Kristin wissen.

„Hm, schwer zu sagen. Alles würde ich sagen. Es ist unser Prinzip, die Kinder in unserer Gemeinschaft wachsen gleich mit viele Bezugspersonen auf, die haben einfach viele, viele Väter und Mütter, das stärkt sie für ihr späteres Leben, lässt sie viel früher reifen und lehrt sie Verantwortung zu übernehmen.“ Erklärte Gabriela während sie ihrer Gefährtin durch deren blondes Lockenhaar strich.

„Glaubst du das Tessa in mir auch so was wie eine Mutter sieht, oder bin ich dafür noch zu jung.“

„Zu jung bist du auf keine Fall. Mutter? Gut, kann schon sein. Nein ich denke eher du bist für sie so etwas wie eine große Schwester, eine Freundin. Ja, eigentlich bist du noch bedeutend  mehr für sie?“

„Wie meinst du dass?“

„Schwer zu sagen! Aber es könnte durchaus sein, das du für sie eines Tages, wenn sie mal erwachsen geworden ist, eine ähnliche Rolle spielst wie ich jetzt für dich.“ Glaubte Gabriela zu wissen. Sie konnte natürlich nicht ahnen wie prophetisch ihre Worte in diesem Augenblick waren.

„Echt? Traust du mir so eine Rolle zu?“

„Ich? Ich traue dir noch ganz andere Dinge zu. Du hast dich prächtig entwickelt seit du bei mir bist. Ich bin so stolz auf dich!“

Kristin richtet sich auf und blickte ihrer Geliebten in die Augen.

„Und ich bin so froh dass es dich gibt. Ich hätte nie gedacht dass wir mal so ein glückliches Paar werden. Wie Pech und Schwefel, so wie Elena und Madleen. Apropos, die arme Madleen, sie tut mir so leid. Wie es ihr wohl gehen wird?“ Seufzte Kristin.

„Sehr, sehr schlecht! Als ich Colette heute Nachmittag abholen ging, habe ich sie weinend angetroffen, war total mit den Nerven runter. Ich fürchte wir müssen mit dem Allerschlimmsten rechnen.“ Gab Gabriela resigniert zu verstehen.

„Was willst du damit sagen?“

„Wenn Elena tatsächlich etwas zugestoßen ist und sie nie wieder heimkehrt, werden wir, so fürchte ich auch Madleen verlieren. Die beiden sind doch total aufeinander abgestimmt. Elena und Madleen , das ist eine Institution. Ich bin außerstande mir die eine ohne die andere überhaupt nur vorzustellen. Wir können Madleen doch nicht dauerhaft beaufsichtigen. Sie wird ihrer Geliebten folgen. Sie kann ohne Elena nicht leben.“ Weissagte Gabriela.

„Aber da ist ja furchtbar. Und du meinst, wir können nichts für sie tun.“

„Nein, ich fürchte nicht. Aber daran wollen wir nicht denken. Las uns positiv in die Zukunft blicken, auch wenn es schwer fällt. Colette sagte mir, das noch Hoffnung bestehe.“ Versuchte Gabriela die lähmende Hoffnungslosigkeit zu durchbrechen.

„Colette? Aber woher will die das denn wissen?“

„Sie sagte mir dass sie Elena spüren könnte. Sie sei ganz sicher, dass sie noch am Leben ist, sich aber in großer Gefahr befinde. Für morgen früh hat sie uns alle zu einer Besprechung bestellt.

Da bin ich mal gespannt was sie uns zu sagen hat.“

„Sie kann Elena spüren? Demnach verfügt sie über die gleichen Kräfte wie sie?“ Mutmaßte Kristin.

„Also die beiden können sich auf fühlen, das kann ich sogar bestätigen. Ich habe das schon einige Male erlebt. Es scheint keine rationale Erklärung dafür zu geben. Ich hoffe dass es so ist. Dann besteht in der Tat noch Hoffnung und wir könnte Elena wieder finden.“ Erläuterte Gabriela mit Euphorie in der Stimme.

„Mir ist kalt! Nimm mich in deine Arme. Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter, wenn ich mir Gedanken mache. Es ist alles so unendlich traurig.“ Meinte Kristin und Gabriela legte ihren Arm um die Schulter der Gefährtin.

„Komm zu mir! Ach wie schön das wir so in Liebe verbunden sind. Eigentlich bin ich wieder mal ganz froh dass Klaus unterwegs ist, wie so oft in letzter Zeit, dann habe ich dich ganz für mich allein. Komm! Las uns schlafen gehen. Colette hat gleich für morgen Vormittag die Schwesternschaft zur Beratung bestellt, wird ein schwerer Tag, da müssen wir ausgeruht sein. Lud Gabriela ein.

Sie erhoben sich, sahen noch mal nach Tessa bevor sie sich zurückzogen, inzwischen war es nach Mitternacht.

 

Für Elena begann erneut eine Nacht des Warten und Bangens, des Leides und der Verlorenheit. Zu ihrem Glück stellte sie fest, das man ihr die Fesseln abgenommen hatte. Sie befand sich wieder auf dem Boden, nur mit großer Mühe gelang ihr es sich aufzurichten, als sie endlich aufrecht stand begann sie zu taumeln um gleich wieder in sich zusammen zu sacken. Noch immer konnte sie sich nicht erklären welches Betäubungsmittel eine solche Wirkung entfalten konnte? Außer dem Schwindel empfand sie extreme Übelkeit und musste sich übergeben Als ausgesprochen schlimm empfand sie wieder die Dunkelheit Aber wenigstens konnte sie einige Konturen im Zimmer deuten. Da befand sich ein altes Sofa. Auf dem Boden robbend erreichte sie es und zog sich mit letzter Kraft darauf. So brauchte sie nicht auf dem harten Boden zu liegen. Sie tastete ihren Körper ab, zum Glück schien sie nach wie vor keine ernsteren Verletzungen zu haben. Aber im Unterleib spürte sie starke Schmerzen. Sie versuchte wieder ihre Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Aber auch dafür war eine immense Anstrengung von Nöten, die weitere Kräfte verzehrten. Wie lange würde sie noch in der Lage sein auf diese Weise gegen zu steuern? Ihre Kehle brannte, sie fand auf dem Tisch neben dem Sofa eine Kanne mit Wasser, wenigstens ließen sie ihre Kerkermeister nicht verdursten. Gierig nahm sie einen kräftigen Zug und verschluckte sie dabei.

Verzweiflung! Das Gefühl am Ende zu sein! Seit Leanders Tod hatte sie sich nicht mehr so verlassen gefühlt.

Ein Stöhnen ohnmächtiger Wut entrang sich ihrer Brust.

Trauer, Kummer und Schmerz wüteten mit unverminderter Heftigkeit in ihren Gedanken und die Ungewissheit darüber, wie es weitergehen sollte hielt sie zunächst wach.

Was taten ihre Leute wohl jetzt? Die Schwestern, vor allem Madleen? Wurde die auch von der Verzweiflung gepeinigt? Das war stark an zunehmen.

Was geschah überhaupt da draußen? Von den Entwicklungen bekam sie nicht das Geringste mit, so abgeschirmt wie sie war. Nichts von den Unruhen in Melancholanien, nichts von Neidhardts Eingreifen und dem spektakulären Treffen mit Colette und Gabriela. Und natürlich konnte sie auch nichts von der Verschwörung wissen, die inzwischen längst aufgeflogen war. Das Haupt der Aktion, der kriminelle Innenminister eliminiert und auf der Flucht. Rolf war noch nicht in die Falle gegangen, er und seine Leute verfolgte ein eigenes Spiel. Rolf hatte mit Elena eine persönliche Rechnung offen und die gedachte er zu begleichen. Sein Auftraggeber und dessen Ambitionen hatten ihn ohnehin nicht interessiert. Bereitwillig hatte sich Rolf dem verräterischen Innenminister angeboten, als er von diesem angesprochen wurde. Was mit Elena geschah hatte dieser ihm überlassen. Wie, wann und auf welche Weise Rolf mit ihr abrechnete stand in seiner Macht

Elena rollte sich zusammen und drehte sich auf die Seite, so lies es sich noch am Besten aushalten. Zum Glück stellte sich dann doch der Schlaf ein, doch heilsam wirkte dieser keineswegs. Stattdessen wurde sie von Alpträumen heimgesucht. Oder waren es wieder diese Visionen?

Elena befand sich auf einem großen Platz, trist, öde und grau in grau, vor ihr erstreckte sich ein lange Allee verkrüppelter, blattloser Bäume, auf einigen hatte sich Raben niedergelassen die mit abscheulichen Stimmen in den Wind krächzten. Am Ende der Allee konnte sie zwei Männer erblicken, die sich beim genauen Hinsehen als Leander und Kovacs erwiesen. Freudig winkten die ihr herüber.

Elena versuchte zu ihnen zu gelangen, doch kam sie nur ganz langsam von der Stelle, ihre Schrittfolge, wie in Zeitlupe. Als sie endlich vor ihnen stand blickte sie in zwei kreideweiße Gesichter, die Augenpaare tief schwarz umrandet.

„Ihr seid beide tot!“ Hörte sie sich sagen, mit einer Furcht erregend verzerrten Stimme, dass sie davon aus dem Schlaf schreckte.

Was wollte ihr dieser Traum sagen? Etwa dass sie sich selbst bereit machen sollte für den Übergang? War es wirklich schon soweit? Angst, lähmende Angst breitete sich über ihr wie ein Leichentuch. Sandte der Tod seinen kalten Hauch schon ins diesseits? Nun konnte sie sich der Tränen nicht mehr erwehren und überlies sich ihrer Verzweiflung.

Doch nach kurzer Zeit erkannte sie in ihrem Inneren ein zartes Flimmern, eine leichte Brise der Hoffnung blies ihr einen sanften Atem ins Gesicht, der ihr Heilung verschaffte.

Sie erinnerte sich Anarchaphilias Worte. Die hatte etwas von einer Prüfung gesagt. Sie müsse sich von Zeit zu Zeit solcherlei Torturen unterwerfen um die Bodenhaftung nicht zu verlieren.

In der Tat, jetzt dämmerte es ihr. Sie lies ihr Leben Revue passieren und kam nicht umhin wieder einmal fest zu stellen wie sehr die Göttin oder was immer sie auch war, mit ihrer Aussage ins Schwarze traf.

Elenas Leben war in der Tat ein durchgehendes Erfolgserlebnis. Es war ihr vergönnt im Luxus zu schwelgen und sich jeden nur erdenklichen Wunsch zu erfüllen. Alles was sie anpackte gelang ihr auf Anhieb. Sie konnte wählen zwischen einer Fülle von Möglichkeiten und sich dem widmen was ihr Spaß machte.

Fortuna schien den gesamten Inhalt ihres Füllhornes über ihrem Haupte auszugießen.

Pech hatten immer nur die anderen. Sie selbst blieb von allem verschont. Leanders Tod war der erste tiefe Einschnitt. Aber im Gegensatz zu ihm durfte sie weiterleben, bekam eine neue Chance und verstand diese geschickt zu nutzen.

Der Hochmut geradezu vorprogrammiert. Doch traf das nicht vor allem auf ihr altes Leben zu, jene Zeit vor ihrem Wandel? Sie hatte sich doch inzwischen um 180° gewendet. Sie war eine andere, eine die mit ihrem alten Lebensstil und ihren elitären Ansichten von damals vollständig gebrochen hatte. Warum also erneute Prüfungen, warum so nahe am Abgrund? Ein zunächst unlösbares Rätsel türmte sich wie eine Barriere vor ihr auf und versperrte ihr die Sicht auf das rettende Ufer. Doch war sie intelligent genug um tiefer zu blicken und sie entdeckte die Lösung.

Auch in ihrem jetzigen Leben stand sie ganz oben auf der Bühne. So weit, dass sie es sich sogar leisten konnte Ehrungen zurückzuweisen, wie die Königinnenwürde die ihr die Schwestern angetragen. Sie bedurfte einer solchen nicht. Sie besaß genügend natürliche Autorität und war auf Funktionen, Ämter, Titel oder sonstige gehobenen Stellungen nicht angewiesen. Elena war Elena, der Name genügte um ihr alle Türen zu öffnen, die gewöhnlichen Sterblichen zeit ihres Lebens verschlossen blieben.

Bescheidenheit schützt vor Hochmut nicht. Davor hatte  Kovacs sie mehr als einmal gewarnt. Wahr gesprochen! Es könnte sogar sein das in der zur Schau gestellten Bescheidenheit und Askese, der größte Hochmut verborgen liegt. Auch in ihrem derzeitigen Leben drohte sie beständig ab zu heben.

Sogar jetzt in ihrer Not. Ihretwegen befand sich das ganze Land in Aufruhr. Die Menschen beiderseits der Grenze nahmen Anteil an ihrem Schicksal und waren bereit für ihre Befreiung zu kämpfen, womöglich selber Leib und Leben einzusetzen.

Warum taten die das?

Hatte sie sich dieses Vertrauens als würdig erwiesen? Verdiente sie eine solche Anteilnahme tatsächlich?

Überall auf der ganzen Welt gab es Elend, Leid und Ungerechtigkeiten aller Art. Vielen Menschen ging es schlecht, sei es durch Gefangenschaft, sei es durch Armut, durch schwere Krankheiten, Behinderungen oder Alter. Wohin sich auch der Blickrichtet, jene die am Boden liegen bleiben dort für gewöhnlich, nur ganz wenigen gelingt es sich aus dem Schmutze zu erheben. Die Menschen leben und sterben im Leid und niemand schert sich darum, weil es keinen interessiert und man um die Existenz der meisten nicht einmal weiß.

Elena hingegen war immer privilegiert und sie würde es bleiben bis zu ihrem letzten Atemzug.

In ihrem Unterbewusstsein ging sie immer davon aus dass ihre Existenz nie ernsthaft gefährdet sein konnte.

Niemals hatte sie sich wirklich Gedanken darüber gemacht. Erst jetzt in diesem Augenblick gingen ihr die Augen auf. Mochten die Menschen sie auch als Göttin verehren, sie war und  sie blieb immer nur Mensch. Diese Tatsache schien sie völlig aus ihrem Bewusstsein verbannt zu haben, daher resultierte nicht zuletzt ihr Leichtsinn und ihre Unvorsichtigkeit in Bezug auf ihre Grenzüberschreitung.

Sie konnte jederzeit sterben, in diesem Augenblick würde sie die Menschen die sich ihr an vertraut hatten, verwaist zurücklassen. Ihr ganzes Projekt stand und fiel mit ihrer Person. Der korrupte Innenminister glaubte sich diesen Umstand zu Nutze machen zu können, er hatte erkannt wie unersetzbar Elena für die gesamte Föderation war. Sicher, die Gefahr war durch dessen Neutralisierung zunächst gebannt, doch andere würden kommen und hätten womöglich mehr Erfolg.

So konnte es unmöglich weitergehen. Vieles wollte sie ändern, wenn … Ja, wenn es ihr vergönnt war, jenes Verlies lebendig zu verlassen.

 

Inga war zu ihrer Gefährtin Sonja und ihren beiden Kindern gegangen, sie bewohnten eine Wohnung die ein Stockwerk unter Elenas Mini-WG lag.

Alexandra fand derweil ihre Wohnung verlassen. Die Zwillinge blieben über Nacht bei Cassandra und Luisa und Ronald war natürlich auch im Männerhaus.

Da sie die Nacht nicht gern allein verbringen wollte, ging sie wieder ins Konventsgebäude

Zurück zu Colette und Madleen, die hatten sich schon zu Ruhe begeben. Leise betrat sie das Schlafzimmer, entkleidete sich und legte sich zu den beiden. Sie nahmen Madleen in ihre Mitte, streichelten und liebkosten ihre Schwester, die nach wie vor leise vor sich hin wimmerte. Ihre Wärme und Zärtlichkeit übertrugen sie auf die traurige Schwester und spendete ihr jenen Trost, dessen sie jetzt so dringend bedurfte. Sie konnte sich fallen lassen, in ihren tiefen Schmerz, ohne befürchten zu müssen am Ende auf den kalten harten Boden aufzuschlagen.

Füreinander einstehen, die leidende Schwester nicht im Stich lassen, so hatten sie es gelernt und trachteten danach immerfort in diesem Sinne zu verfahren.