Goldener Oktober

 

Leise öffnete sich am Morgen die Tür und Madleen lugte durch den Türschlitz. Gemeinsam mit Betül wollte sie sich nach Colettes Befinden erkundigen.

„Wenn sie noch schlafen, lass sie einfach.“ schlug Betül vor während sie ebenfalls einen Blick durch den Türschlitz erhaschte

Doch Madleen lies sich nicht beirren.

„Üblicherweise werde ich am Morgen mit einem Ruck aus den tiefsten Träumen gerissen. Endlich bin ich mal an der Reihe meine Füchsin in den Tag zu küssen. So eine Gelegenheit möchte ich mir nicht entgehen lassen.“

Es war in der Tat ungewöhnlich dass Elena so lange im Bett verweilte. Normalerweise verließ sie, nachdem sie mit einer Person den therapeutischen Beischlaf praktiziert hatte, relativ früh das Schlafgemach, um ihr genügend Zeit zu gewähren alles noch einmal in Ruhe zu verinnerlichen.

Doch in diesem Fall war es kein gewöhnlicher heilender Beischlaf. Von der gemeinsamen Traumreise konnten die beiden Besucher an der Tür nichts ahnen.

Laut gähnend streckte sich Elena und entblößte dabei ihre eleganten langen Beine.

„Na kommt schon rein ihr zwei Neugierigen. Ich habe euch längst bemerkt.“ begrüßte die Kanzlerin den unerwarteten Besuch.“Aber leise wenn ich bitten darf. Colette ist noch immer krank.“

Auf sanften Sohlen bewegten sich die beiden ins Zimmer.

„Ich bin ebenfalls wach! Zeit aufzustehen. Ja, wenn ich doch nur könnte!“ machte sich die Königin bemerkbar.

Vorsichtig ließ sich Betül an der Bettkante nieder, beugte sie sich zur ihrer Gefährtin und küsste diese ausgiebig. Dann nahm sie deren Kopf in die Hände und streichelte deren Wangen.

„Wie geht es dir meine Liebe? Ist es besser oder hast du noch immer Schmerzen?“ 

„Sie sind nach wie vor präsent. Aber es ist auszuhalten, wenn ich ruhig liege. Ich möchte so gerne auf, um etwas Sinnvolles zu beginnen. Vor allem nach den Erlebnissen der vergangenen Nacht.“

„Wau, das hört sich aber spannend an. Was gab es denn in der Nacht so außergewöhnliches?“ wollte Madleen wissen.

„Wir waren auf Reisen! Einen Abstecher ins Land der Träume. Wollen wir es ihnen sagen Elena oder sollten wir es für uns behalten?“

„Unsere Frauen müssen selbstverständlich davon erfahren. Allen anderen gegenüber sollten wir uns noch eine Weile in Schweigen hüllen.“ schlug Elena vor.

„ Eigentlich ging es bei eurem Tun um Colettes Gesundheit. Ihre Selbstheilungskräfte sollten reaktiviert werden. Was gab es denn sonst noch?“ entgegnete Betül mit sorgenvollem Mine.

„Wir haben unser Bewusstsein erstmals willentlich mit einander verschmolzen und gelangten auf den Flügeln der Träume in eine andere Realität. Keine Sorge Betül, Colette hat keinen Schaden dabei genommen.Ganz im Gegenteil.“

„Und was heißt das jetzt konkret? Hattet ihr eine gemeinsame Vision, oder wie muss ich das verstehen.“ erkundigte sich Madleen.

„Genau das! Auch wenn es unwahrscheinlich klingt und ihr unseren Erlebnissen vermutlich vorerst keinen rechten Glaubens schenken mögt. Es ist uns gelungen in die Vergangenheit zu reisen und dort unsere... hm ich weiß nicht einmal wie ich das bezeichnen soll. Was sind sie für uns? Aradia und Inanna, wir haben sie getroffen. Sie existieren tatsächlich, bzw. haben in der Vergangenheit existiert. Auch wenn die Historie sie verschweigt.“

„Unsere  Erlebnisse waren so gigantisch, dass es sich kaum in Worte fassen lässt. Es ist schwierig, darüber zu berichten. Unser Traum war so klar und wirklich dass er uns noch immer nicht ganz losgelassen hat. Wir waren Teil eines Geschehens, das sich vor Tausenden von Jahren ereignet haben kann.“ fügte Colette hinzu.

„Vor tausenden von Jahren? Dann wart ihr wohl in der Steinzeit?“ hakte Madleen ungläubig nach.

„Nicht ganz! Kupferzeit würde ich sagen. Das erste Metall, das verhüttet wurde. Die benutzten dort Waffen und Werkzeug allesamt aus Kupfer. Bronze war zu jenem Zeitpunkt noch nicht bekannt. Zumindest deutete nichts darauf hin. Es war jene Zeitepoche, in der sich die ersten Zivilisationen entwickelten, bzw. schon bestanden. Große Städte, aber noch kein zusammenhängendes Reich, vielmehr Stadtstaaten, die einander bekriegten.“ wagte Elena den Versuch einer Erklärung.

„So präzise habt ihr geträumt? Da bin ich platt! Und beide saht ihr das Gleiche? Das ist Wahnsinn, wenn es stimmt, möchte ich hinzufügen.“ Madleen konnte dem Gehörten noch immer nicht ganz  folgen.

„Aber bei Elena bin ich in der Zwischenzeit an so manches gewöhnt. Also wird es wohl der Wahrheit entsprechen.“

„Ich glaube dir, meine Königin! Du bist viel zu weise, um uns irgendeinen Schwindel vorzugaukeln.“ bekannte Betül.

„Jetzt ist erst mal Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Wir alle zusammen und die Kinder. Was haltet ihr davon? Hier, wir frühstücken hier gemeinsam mit unserer Königin.“ schlug Madleen vor.

„Gute Idee! Wir schaffen alles herbei!" Stimmte Betül zu.

„Colette und ich brauchen noch etwas Ruhe. Wir möchten unser Erlebnis gemeinsam auswerten und analysieren. Warum sollten wir das nicht hier im Bett machen? Lasst uns einfach noch ein wenig Zeit. Ich habe ohnehin Urlaub und wäre unter anderen Umständen gar nicht hier zugegen.“
Die müde Kanzlerin ließ sich zurück in die Kissen fallen und schmiegte sich eng an die wieder gewonnene Schwester.

Madleen griff nach Elenas Füßen und kitzelte ausgiebig deren Fußsohlen.

Die schnellte augenblicklich in die Höhe.

„Hey! Huuuuuuuuch!“

„Du sollst dich in deinem Urlaub erholen! Ich sehe es als meine Pflicht darüber zu wachen, dass du das niemals vergisst meine schlaue Füchsin!“ erinnerte Madleen.

„Schon in Ordnung! Mach dir kein Gedanken, Rehkitz!“

Tessa kam unbemerkt durch die Tür und lies sich an der Seite ihrer Mutter nieder.

„Hallo, guten Morgen mein Schatz!“ begrüßte Elena ihre Tochter.

„Ach ja, da draußen wartet noch eine junge, etwas quengelige Dame darauf vorgelassen zu werden.“ meinte Betül, entfernte sich kurz und erschien mit der kleinen Aischa im Arm. Dann bettet sie das Energiebündel in Colettes Arme.

„Da...da...da...da! gab die Kleine von sich, dabei wie wild mit den Armen rudernd.

„Einfach ein wunderbares Bild, das wir abgeben. Findet ihr nicht auch?“   Glaubte Madleen zu wissen.

Dass Geschnake setzte sich noch eine Weile fort. Solange bis Elena genug hatte und die anderen sanft aber bestimmt vor die Tür setzte.

„In Ordnung! Wir werden uns später wieder zusammensetzen und über alles sprechen. Jetzt aber werdet ihr verstehen dass ich mich mit meiner großen Schwester eine Weile allein austauschen möchte.“

„OK! Dann tauscht! Muss ja wirklich ein beeindruckendes Erlebnis gewesen sein. Warum nehmt ihr mich nicht einmal mit wenn ihr wieder in die Traumwelt abtaucht? Oder störe ich dort etwa? Komm Betül, kommt Kinder, wir wollen dem tiefschürfenden geistigen Dialog nicht im Wege stehen.

Meinte Madleen, danach erhoben sich alle und verließen das Schlafzimmer.

Ganz plötzlich fühlte sich Elena wie von einem Geistesblitz getroffen. Madleens Frage hatte eine eigenartige Emotion ausgelöst. Warum nimmst du mich nicht mit? Störe ich dabei?

Welche Rolle würde Madleen tatsächlich an diesem Ort spielen? Denn in jener Welt wo ihr Name Aradia lautete, wartete Leyla auf sie. Leyla und Madleen?

Erst jetzt wurde ihr bewusst, warum sie während des Traumes ständig das Gefühl hatte, dass ihre Frau auf irgendeine Art anwesend sei, wenn sie mit Leyla kommunizierte. Alles schien so vertraut. Eine Art beruhigende Selbstverständlichkeit.

Was konnte das bedeuten? In ihrem Bewusstsein keimte ein unglaublicher Verdacht. Waren Leyla und Madleen identisch? So wie sie und Aradia, oder Colette und Inanna. Da taten sich ganz neue Dimensionen auf. Noch aber behielt sie die Vermutung für sich, erwähnte sie nicht einmal Colette gegenüber.  

 

Colettes Gesundheitszustand stagnierte weiter. Es wurde nicht schlimmer aber auch nicht besser. Sie konnte inzwischen wieder aufstehen und eigenständig die Toilette aufsuchen, ein großer Fortschritt, doch fühlte sie sich im Anschluss jedes Mal so zerschlagen als habe sie einen Marathonlauf absolviert. Mutlos ließ sie sich in die Kissen sinken und gab sich ihren Depressionen hin.

Bei schlechtem Wetter hätte sie diesen Umstand noch akzeptiert. Doch da draußen entfaltete sich ein Goldener Oktober von ganzer Pracht. Ungewöhnlich milde Temperaturen und  strahlender Sonnenschein luden ins Freie ein. Der Laubwald an den unteren Rängen des Grauhaargebirges präsentierte sich in malerischer Farbenpracht. Kein noch so begabter Künstler wäre imstande eine solche Kulisse zu entwerfen.

Colette drängte es nach draußen, sie wurde immer launenhafter. Würde das Novemberwetter erst seine Schwermut über die Seelen der Menschen senken, war es vorbei. Zeit sich für die Einkehr des Winters zu rüsten. Nur noch ein paar Tage draußen verbringen dürfen, dabei den Wind auf Haut und Haaren spüren, dann wäre sie sie schon zufrieden .

„Wenn ich dich nicht hätte. Wie könnte ich dass alles überstehen. Ohne deine zärtlichen Berührungen wäre ich längst zu Staub zerfallen!“ Klagte Colette eines morgens während Betül im Begriff war deren Beine zu massieren. Teil der morgendlichen Gymnastik, die Elena verordnet hatte.

„Wenn ich so nachdenke! Inanna hatte ganz ähnliche Leiden. Schmerzen im Rücken und in den Beinen, etc. Damals vor so unendlich langer Zeit. Die Menschen in jener Zeitepoche waren Krankheiten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Es gab nichts was sich mit dem heutigen Standard moderner medizinischer Betreuung vergleichen ließe. Obgleich sich die Schwestern damals als Heilkundige auszeichneten, sie erwarben sich dieses Wissen und waren den Menschen ihrer Zeit weit voraus. Inanna hatte zudem in Kasuba eine liebevolle Gefährtin, so wie ich sie in dir gefunden habe.“

„Inanna lässt dich nicht los! Ihr beide seid eins. Ich glaube es, meine Königin. So etwas kann man sich nicht ausdenken, auch wenn man sich noch so gut auf die Kunst des Dichtens versteht.“ Entgegnete Betül.

„Tut gut dass zu hören. Aber trotzdem, so wie Inanna damals über die Tatsache litt, nicht mehr reiten, nicht mehr kämpfen können, leide auch ich über das untätig sein.

Ich möchte raus, möchte dabei sein und den Schwestern zur Seite stehen. Ein kleiner Spaziergang schon würde genügen um die Depressionen im Zaum zu halten. Hilfst du mir später beim aufstehen?“

„Ich helfe dir bei allem was dir gut tut. Aber ich fürchte, dass wir uns dabei übernehmen. Noch immer bist du krank. Es ist einfach noch nicht an der Zeit.“ War Betül gezwungen ihre Geliebte zu entmutigen.

„Du hast Recht!  Die Gesundheit lässt sich nicht erzwingen, so wie es Inanna vor 5000 Jahren auch nicht vermochte. Ich möchte zu meiner Tochter, ich will unser kleines Glück in den Händen halten.“

„“Gleich wenn wir mit den gymnastischen Übungen fertig sind, bringe ich sie dir. Das trifft sich gut, da ich ohnehin noch etwas zu erledigen habe.“ Versprach Betül.

Kim oder Denise sind ständig in Rufweiter für den Fall das du etwas brauchen solltest.“

„Wie es wohl draußen im Lande aussieht? Die Kampagne, die ganze Entwicklung. Kommt Elena zurecht? Gönnt sie sich die Auszeiten, deren sie so dringend bedarf? Ich hab sie nun schon zwei Tage nicht zu Gesicht bekommen.“

„Elena macht ihre Sache gut. Perfekt wie immer. Mach dir keine Gedanken. Alles läuft zur Zufriedenheit. So fertig! Zudecken! Ich hole derweil Aischa!“ Betüls Worte entfachten weiter die Hoffnung in Colettes Seele.

Nach kurzer Abwesenheit erschien sie wieder und reichte der Königin das kleine lebhafte Bündel. 

„Guten Morgen, meine Prinzessin. Ach ist sie nicht wundervoll?“Colette stubbste mit dem Zeigefinger das Näschen, worauf sich Aischas Gesicht wieder zu diesem zauberhaften kleinen Lächeln wandelte.

Ein Klopfen an der Tür kündigte einen Besucher an. Chantal betrat wenig später das Zimmer, gekommen, um sich nach Colettes Befinden zu erkundigen.

„Guten Morgen, Colette! Nein, guten Morgen ihr zwei muss es heißen!“ Chantal beugte sich über Colette, verabreichte ihr den Schwesternkuss um sich dann der kleinen Aischa zu zuwenden.

„Da wird einem gleich warm ums Herz, wenn man euch beide so sieht. Was für ein Anblick!“

Begeisterte sich Chantal nachdem sie auf der Bettkante Platz genommen hatte.

„Nicht mehr lange und du wirst diese Freuden mit mir teilen, in ein paar Monaten ist es soweit .Sieht man schon etwas? Macht sich die Kleine schon bemerkbar?“

„Bisher noch nicht! Viel ist noch nicht zu sehen. Aber das kommt in absehbarer Zeit. Die Kleine? Es kann doch auch ein Junge werden.“

„Natürlich! Dann würdest du die lang anhaltende Tradition durchbrechen, wonach die Schwestern hier in Anarchonopolis bisher nur Mädchen zur Welt brachten.“ Erinnerte sich die Königin.

„Was macht die Politik? Wie weit seid ihr mit der Kampagne. Glaubst du, dass sich meine Krankheit und die damit verbundene Abstinenz in der Öffentlichkeit negativ auf deren Verlauf auswirken könnte?“

„Ganz im Gegenteil! Den Menschen geht es sehr nahe, wenn sie von deinen Beschwerden hören. Sie fühlen mit dir. Deine Sympathiewerte steigern sich weiter. Mit Ausnahme der Rechtspopulisten üben sich alle in Zurückhaltung und Sachlichkeit, wenn es um deine Krankheit geht.“ Klärte Chantal auf.

„Und was haben die Rechten gegen mich vorzubringen?“

„Möchtest du dass wirklich wissen, Colette? Ich meine, das ist nicht sehr schmeichelhaft was die so in Umlauf bringen.“

„Etwas anderes erwarte ich von denen nicht.“

„Also gut! Die vertreten wie nicht anders zu erwarten ihre alte abgedroschene sozialdarwinistische These. Eine kranke Königin taugt nicht an der Spitze unseres Landes. Wir benötigen nach deren Meinung einen jungen, kräftigen, gesunden und superintelligenten Menschen um die Geschicke Akratasiens zu leiten, bzw, Melancholaniens, denn den Begriff Akratasien lehnen sie nach wie vor entschieden ab. Sie versuchen dich bei jeder Gelegenheit zu verunglimpfen und der Lächerlichkeit preis zu geben. Die Tatsache dass du eine Kundra bist, schlachten sie natürlich auf besonders schäbige Art und Weise aus.“ Schilderte Chantal auf anschauliche Art die Situation.

„ Das Vokabular des Grauen Ordens. Wenn wir Pech haben ist der gerade in Begriff innerhalb dieser Bewegung seine Auferstehung zu feiern. Das ist traurig und es ist überaus bedenklich.“

„Lass dich von diesen Argumenten nicht verunsichern. Es ist nach wie vor eine Minderheit. Die vertreten gerade mal zehn bis fünfzehn Prozent der Meinungen. Das ist nicht schön. Aber wir müssen lernen damit zu leben.“ Versuchte Chantal zu beschwichtigen.

„Lasst sie niemals aus den Augen! Die werden eine Möglichkeit finden ihre Position innerhalb der Bevölkerung zu steigern. Ich schärfe es euch nochmals ein. Lasst die kleinen Leute nicht im Stich, die bildungsfernen, die abgehängten, die ewigen Verlierer, die sich auch in der Akratie nur schwerlich integrieren lassen. Geht auf sie zu. Sucht das Gespräch, beteiligt sie an allem. Schließt niemanden aus. Vor allen zeigt keine Überheblichkeit, nur weil ihr zufällig ein paar Semester studiert habt.“

Colette steigerte sich in Rage und versuchte sich dabei aufzurichten, was ihr zunächst auch gelang, dabei noch immer die kleine Tochter im Arm haltend. 

Doch dann lies sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück in die Kissen fallen.

Schon war Betül zur Stelle.

" Etwas nicht in Ordnung, meine Königin?“

„Entschuldige! Ich wollte Colette nicht aufregen. Wir wollen nicht weiter darüber reden! Da kommt mir plötzlich eine phantastische Idee. Hast du etwas dagegen wenn ich Colette mit samt Aischa fotografiere? Jetzt, so wie sie sind?“ Erwiderte Chantal, froh über den Umstand, das Thema wechseln zu können.  

„Warum fragst du mich? Es ist allein an Colette das zu entscheiden!“

In der Zwischenzeit waren auch noch Kim und Denise im Zimmer erschienen.

„Womöglich klingt es pietätlos was ich jetzt sage. Aber ich möchte dieses Foto veröffentlichen. Die Menschen sollen sehen wie unsere Königin leidet. Dabei aber ihre Würde

bewahrt. Ferner ihre Rolle als Väterin meisterhaft erfüllt und sich tagtäglich in das Geschehen  unseres Landes einbringt. Das wird seine Wirkung nicht verfehlen und ihren Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen.“

Betretenes Schweigen erfüllte den Raum. Natürlich war dieser Vorschlag pietätlos. Er erinnerte fatal an das rücksichtslose Vorgehen der Boulevardmedien im vorrevolutionären Melancholanien oder in vielen anderen Ländern der Welt. Es handelte sich dabei eindeutig um Populismus und die alte Frage rückte wieder in den Blickpunkt. Ob man den Populismus mit populistischen Methoden begegnen dürfe.*

Alle warteten gespannt auf Colettes Meinung und gingen davon aus, dass sie diesen Vorschlag vehement zurückwies. Das war ein Irrtum.

„Ich bin damit einverstanden. Auch wenn mir nicht ganz wohl bei dem Gedanken ist. Vor allem meiner Tochter wegen. Es tut mir weh ihr noch vollständig unschuldiges Leben in eine solch heikle Angelegenheit zu verwickeln. Ich wollte sie eigentlich, so lange wie nur irgend möglich, aus allem raus halten. Wenn es aber einer guten Sache dient, soll es mir recht sein. Betül, dir als Aischas Mutter kommt das letzte Wort zu.“

„Ich stehe in allen Belangen hinter meiner Königin! Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“

Betül half im Anschluss, unterstützt von Kim und Denis, Colette in Positur zu rücken. Noch mal das etwas zerzauste Haar kämmen und schon war es soweit.

Dann machte Chantal das Foto.

Es war getan. Das Bild ging um die Welt. Ein Bild, dass Geschichte machte. Nicht nur in Akratasien. Die kranke Königin und ihre kleine Tochter. Kaum jenmand den es bei dessen Anblick, nicht zu Tränen rührte

Die Wirkung auf die Kampagne lies nicht lange auf sich warten. Colettes Beliebtheitsskala verzeichnete nochmals einen gewaltigen Schub nach oben. Die Rechtspopulisten waren  ausmanövriert. Zunächst!

 

Endlich kam der Tag, an dem Colette eine deutliche Besserung verspürte. Ende Oktober, noch eine Woche bis zur Abstimmung. Die Königin war mit Hilfe ihres Stockes inzwischen imstande kleine Spaziergänge zu unternehmen, selbstverständlich mit Begleitperson. Die Bewegung und vor allem die frische saubere Luft taten ihr unendlich gut.

Während sie in Begleitung von Kim und Denise im Klosterpark vor dem Konventsgebäude auf und ab ging, näherte sich ihnen plötzlich Lukas mit einem eigenartigen Gefährt und brachte es direkt vor ihnen zum Stehen.

„Was ist das denn für ein Ding?“ Erkundigte sich Kim sichtlich erstaunt

„Das ist eine Rikscha! Darf ich in meiner Eigenschaft als Vertreter des Männerzentrums der Königin von Akratasien  dieses Geschenk überreichen.  Die Männer habe sich erlaubt dieses Gefährt zusammen zu basteln. Für unsere Königin. Damit sie, die früher so gerne mit dem Fahrrad fuhr, auch in Zukunft nicht auf diesen Genuss verzichten braucht.“

Vor Freude völlig überrumpelt betrachte Colette wortlos das Gefährt und fuhr sanft mit der Handfläche über das edle goldglänzende Metall.

„Ich bin sprachlos, Lukas! Es...es ist wunderschön! Danke! Ich nehme euer Geschenk dankend und voll Freude entgegen. Ich werde die Fahrten damit genießen, wann immer ich auch Platz darauf nehme. Richte allen Männern meine aufrichtigen Dank aus.“

„Eine kleine Probefahrt gefällig? Stehe als Chauffeur jederzeit zu Diensten!“ Bot sich Lukas an.

„Nun, da sage ich nicht nein! Es wird mir eine Freude sein, nach so langer Zeit des untätigen herum Liegens.“ erwiderte Colette und bestieg umgehend die bequeme mit weinrotem Plüsch bezogene Sitzbank. Lukas schwang sich auf den Sattel. Kim machte Anstalten ebenfalls aufzusteigen.

„Du nicht Kim. Hol dein Fahrrad, schwing deinen gesunden athletischen Körper darauf, dann kannst du uns begleiten. Du auch Denise wenn du magst. Na wie wär`s?“

Die beiden taten in Windeseile wie ihnen geheißen. Dann radelten sie los, durch den Klosterpark, durch die Gärten, die Felder bis zur Eremo hinauf. Colette besuchte kurz ihre Eremitage, verweilte einige Minuten in andächtiger Stille, Dann ging es weiter, quer durch ganz Anarchonopolis. Regelmäßig betätigte Lukas die Fahrradklingel um die Bewohner aufmerksam zu machen.

Colette legte den Kopf nach hinten, streckte beide Arme seitlich weg und genoss die Fahrt in vollen Zügen. Die Sitzbank war extra weit nach hinten gezogen und eine breite Plattform gestattete dass Colette die Beine soweit wie möglich nach vorne strecken konnte.

Schließlich erreichten sie wieder das Konventsgebäude. Dort wurden sie schon von einer Menschenansammlung begrüßt.

Betül reichte die kleine Aischa und Colette bette sie sicher in ihrem Schoss. Tessa bestieg von der anderen Seite die Sitzbank. Einige weitere hatten in der Zwischenzeit ihre Fahrräder organisiert,mit der Absicht, sich dem Tross anzuschließen. Dazu gehörten Inga, Sonja, Kristin, Eve, Kyra und Madleen.

Elena befand sich wie üblich zu dieser Tageszeit mit den anderen Kabinettsmitgliedern in der Regierungszentrale.

Der Fahrradtross setzte sich in Bewegung und es ging schließlich vor die Tore der alten Abtei, hinaus zu den kleinen Vororten von Manrovia. Dort wurden sie von den Menschen die zufällig ihren Weg kreuzten mit Begeisterung empfangen. Die Freude darüber, dass sich die designierte Königin wieder in der Öffentlichkeit zeigte, war ehrlich und nicht gespielt. Der goldene Herbst entfaltete sich mit ganzer Kraft und es wurde ein schöner Sonnentag.

Elena erfuhr am Abend von der spontanen Ausfahrt und war von der Aktion begeistert. Wenn sich auf diese Weise auch nicht ganz Akratasien erreichen ließ, so doch wenigstens die unmittelbare Umgebung von Anarchonopolis.

Auch sie selbst wollte sich daran beteiligen und koordinierte entsprechend ihren Terminkalender.

Die verbleibenden Tage bis zum Referendum wollte man auf diese Weise nutzen um mit möglichst vielen Menschen ins Gespräch zu kommen. Zu sehr hatten sie die Probleme vernachlässigt und es wurde Zeit gegen zu steuern. Chantal sorgte natürlich dafür, dass in den Medien ausführlich darüber berichtete wurde und die offene Diskussion am Laufen blieb. 

Die Aktion wurde alles in allem ein  großer Erfolg.

 Elena schwang sich in den Sattel und radelte nun ebenfalls in ständiger Begleitung der Königin.

Auch Betül wollte verständlicherweise in der Nähe ihrer Frau sein und fuhr stets an deren linker Seite. Die Kinder Aischa und Tessa waren entweder auf der Sitzbank dabei, oder  wurden,wenn es zu weit und kompliziert war, anderweitig betreut.

 

Colette warf sich zu diesem Anlass in ihre alte Anarchistenkluft. Vollständig in schwarz gehüllt. Die fast bis zu den Knien reichenden Schnürlederstiefel, schwarze Baumwollleggins, darüber der schwarze ,knielange Rock, schwarze, abgewetzte Lederjacke und natürlich ihre schon zur Legende gewordenen Baskenmütze mit zahlreichen  Ansteckern. Es versteht sich von selbst dass sie eine Gehhilfe benötigte, wenn sie die Rikscha verließ, so stützte sie sich auf einen schwarzen verstellbaren Gehstock.

Noch fiel ihr das Laufen schwer und sie verspürte immer wieder leichte Schmerzen vor allem in den Beinen und der Lendengegend, aber es hielt sich in Grenzen. Auf die zahlreichen Helfer und Helferinnen konnte sie sich jederzeit verlassen, Lukas erwies sich als perfekter Chauffeur und kaum dass sich Akratasiens Königin anschickte von der Rikscha zu steigen waren Kim, Denise, Eve oder Kristin zur Stelle um sie zu führen und einen sicheren Halt zu gewährleisten.  

Die Bewohner der kleinen Dörfer und Vororte der Hauptstadt erwarteten den Tross meist schon ungeduldig und voller Spannung. Die Gespräche verliefen in freundlicher und sachlicher Atmosphäre. Colette ließ es sich nicht nehmen auch einzelne Familien in ihren Wohnhäusern aufzusuchen um dort zu verweilen.

Elena war bei der ganzen Aktion stets an ihrer Seite. Das Band zwischen den beiden Schwestern verfestigte sich von Tag zu Tag.

Wie auf Bestellung hielt auch das Wetter. Der Oktober verabschiedete sich mit milden Temperaturen und einer rotgoldenen Sonne am Horizont.

 

Am letzten Tag vor dem Referendum erfüllte sich Colette einen ganz besonderen Wunsch, noch einmal die Siedlung am Stausee besuchen, dort wo alles begann, damals vor so langer Zeit. Waren Jahrzehnte vergangen, gar Jahrhunderte? Manchmal kam es ihr so vor und Elena erging es da kaum anders. Nein, ganze 6 Jahre war das her. Viel war seither geschehen, sehr viel, positives wie negatives. Eine Zeitenwende.

Die Siedlung war im Originalzustand erhalten. Dafür hatten zunächst die Neidhardt- Administration und die Radikal-Revolutionäre Partei gesorgt, die dass Gelände einfach in Besitz nahmen um dort eine Kovacs-Gedenkstätte einzurichten. Sie vereinnahmten den Dichter als großen Theoretiker

und Wegbegleiter ihrer Revolution. Das war natürlich gelogen. Kovacs würde sich im Grabe herumdrehen. Aber auf diese Weise blieb die Siedlung erhalten und gleichsam für die Nachwelt konserviert. Nach Elenas Machtübernahme wurde dieser Status beibehalten. Bis auf einige kleine Änderungen und Flurbereinigungen blieb die Laubenkolonie auch unter den neuen Verhältnissen als Museumsdorf bestehen.

Zurück zu den Ursprüngen, zurück zur Unschuld. Damals konnte keiner ahnen welche Lawine diese paar unscheinbaren Bungalows in Bewegung setzen würden.

Colette wollte Einkehr halten, sich in Besinnung üben, dem großen Dichter ganz nahe sein und ihn um Verzeihung bitten, denn immer kam sie sich öfters wie eine Verräterin an seinen Idealen vor.

Als sie aus der Rikscha stieg und sich dem Bungalow näherte, den sie kurze Weile gemeinsam mit dem Dichter bewohnt hatte, wurde sie von eigenartigen Gefühlen heimgesucht. Hier wollte sie ganz für sich alleine sein und sich den Erinnerungen überlassen. Die anderen respektierten diesen Wunsch und blieben auf Distanz.

Sie öffnete die Tür und befand sich im Inneren wieder. Jedes Detail war originalgetreu rekonstruiert. Jedes Möbelstück exakt an seiner Stelle. Selbst die alten ausgelatschten Filzpantoffel standen dort wo sie der Dichter stets abzustellen pflegte.

Nachdem sie kurz den knappen Raum durchschritten hatte, ließ sich Colette auf dem alten Schaukelstuhl nieder, wie damals ganz langsam und prüfend ob der auch ihrem Gewicht standhielt, denn das alte Holz diente zahlreichen Würmern als Nahrung.

„Ja, hier bin ich wieder. Jeder findet irgendwann zum Ausgangsort zurück. Morgen ist  Referendum, Kovacs. Die wollen mich zur Königin machen, stell dir vor. Dass hattest du mit Sicherheit nicht im Sinn, alter Anarcho. Aber wenigstens ist Akratasien Wirklichkeit geworden. Es ist uns tatsächlich gelungen, deinen Traum in die Realität umzusetzen und das ist doch schon mal was. Aber die Akratie mit einer Königin an der Spitze, mit einer Kanzlerin, einem Kabinett und allem was dazu gehört? Die Schwesternschaft ist inzwischen fast wie ein Orden strukturiert und findet in zahlreichen Ländern der Erde Nachahmerinnen. Von überall kommen Menschen um bei uns zu leben, uns ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, damit der akratasische Traum niemals mehr vergehe. Sie wollen in unserer Nähe sein, Elena und ich werden wie Idole verehrt. Wir sind zu lebendigen Ikonen geworden. Kann dass alles noch in deinem Sinne sein? Ich fühle mich unwohl bei all dem was ich tue, aber trotzdem füge ich mich, weil ich mir bewusst bin, dass es kaum Alternativen gibt. Vergib mir, wenn ich mich ab Morgen wieder Königin nennen darf. Eigentlich bin ich es schon lange. Damals, als sie mich zum ersten Mal zur Königin ausriefen war alles noch ein Spiel. Eine Trotzreaktion auf Neidhardts Abschottungstaktik. Kaum mehr als eine symbolische Geste. Aber Morgen?

Was wird morgen sein? Ich weiß es nicht! Ich weiß es wirklich nicht! Drücke mir die Daumen auf dass alles gut verlaufen möge und wir unserer Gemeinwesen vor den neuen Anfechtungen in Sicherheit bringen! Spreche mir Mut zu, ganz gleich wo auch immer du bist. Du warst dir von Anfang an bewusst, dass ich Inanna bin und Elena Aradia. Zumindest ahntest du etwas. Es kann gar nicht anders ein.

Warum hast du nie etwas erwähnt? Etwas konkretes, nicht immer nur deine Rätsel? Dann hätten wir uns viel besser vorbereiten können und womöglich wäre uns einiges erspart geblieben. Aber sei`s drum! Geschehen ist geschehen!“

Colette lehnte sich zurück, schloss die Augen und begann langsam und gleichmäßig auf und ab zu wippen.

 

Die anderen sahen sich derweil auf dem Gelände um und schwelgten ihrerseits in Erinnerungen. Aus allen Bungalows drangen Stimmen die sowohl Wiedersehensfreude als auch Wehmut erkennen ließen.

„Da laust mich doch der Affe! Hier ist wirklich alles so, wie wir es verließen,“ staunte Kyra als sie samt Folko ihre alte Behausung betrat. „Erinnerst du dich an unsere erste gemeinsame Nacht? Vorher hatte ich dir ordentlich die Bude voll gekotzt. Die Flasche Wein und das übermäßige Kiffen hatten mich damals umgehauen.“

„Und ob! Doch selten habe ich eine Schweinerei lieber entsorgt als an jenem Abend. Denn unsere erste Nacht war für mich Entschädigung mehr als genug.“ Erinnerte sich Folko.

„Es war an diesem Abend sehr heiß, wenn ich mich recht entsinne. Ich hatte geschlafen, irgendwann erwachte ich mit einem Brummschädel. Es war tiefe Nacht. Ich musste einfach zu dir kommen.“ Grub Kyra weiter in ihren Erinnerungen.

„Und du kamst zur rechten Zeit. Ich schlief nicht in der betreffenden Nacht, warf mich von einer auf die anderes Seite in froher Erwartung auf deinen möglichen Besuch, hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, als du schließlich deinen kessen Punkerkopf durch den Türschlitz schobst.“

„Als ich in deinen Armen lag, verstummte der Hammer in meinem Kopf wie durch ein Wunder. Das tat gut! Das tat einfach nur unendlich gut. Dabei mochte ich dich zu diesem Zeitpunkt doch noch gar nicht. Oder etwa doch?“ Wunderte sich Kyra weiter.

„Wärst du auch dann zu mir gekommen, wenn du geahnt hättest wer oder was ich zu jenem Zeitpunkt noch war?“ Wollte Folko wissen.

„Schwer zu sagen! Hmm….lass mich überlegen! Wahrscheinlich nicht! Aber ich glaube darüber brauchen wir uns nicht den Kopf zerbrechen. Das ich einmal von dir schwanger werde, hätte ich aber  nie und nimmer für möglich gehalten.“ Antwortete Kyra und strich über ihren Bauch, dem man das darin entstehende Leben noch nicht ansehen konnte.

„Ich war ein smarter Dandy in jenen Tagen. Viele Frauen standen mir zur Verfügung, alle von erlesener Schönheit und Grazie, doch als sich meine Kratzbürste Kyra in mein Leben stahl, waren die mir auf einmal piepegal.“ Gestand Folko.

Dann griff er nach ihr und gemeinsam ließen sie sich auf das frisch geglättete Bettlaken fallen.

 

Währenddessen hatten sich es Ronald und Alexandra zwei Bungalows weiter gemütlich gemacht. Im Gegensatz zu Folko und Kyra wohnten die beiden von Anfang an zusammen. 

„Darf ich bitten Comtesse Alexandra. Würden sie mir die Ehre erweisen von nun an meine bescheidenen Gemächer mit mir zu teilen?“ Sprach Ronald während er die Tür öffnete und Alexandra die Schwelle überschritt.

„Richtig! Genauso war es damals. Auf diese Weise hast du mich eingeladen bei dir einzuziehen. Ich tat es, ohne groß zu überlegen. Nun, eine wegweisende Entscheidung würde ich sagen.“ Erwiderte die Angesprochene sich dabei im Zimmer umblickend.

„Ich wusste eine Zeitlang gar nicht wie mir geschah. Träumte oder wachte ich? Ich, der kleine Kfz-Mechaniker, der es zum Parteifunktionär gebracht hatte, gemeinsam mit Alexandra, berühmte Schauspielerin, Glamourgirl und Globetrotterin in einem Bungalow zusammen.“ Reiste Ronald noch einmal in die Vergangenheit.

„Ich muss dir ein Geständnis machen, Liebster! Aber nicht böse sein!“

„Hm, hört sich aber sehr mysteriös an. Tu dir keinen Zwang an.“

„Ich war mir eine Zeitlang gar nicht sicher, ob ich dieses Leben  wirklich mit dir teilen könnte. Ständig im Grübeln. Bleiben oder gehen. Mehrmals packte ich meine sieben Sachen und war drauf und dran, mein altes bequemes Leben wieder aufzunehmen. Du hast mir die Entscheidung leicht gemacht. Ich blieb deinetwegen. Von all dem politischen und philosophischen war ich zu dieser Zeit noch weit entfernt.“

„Aber das weiß ich doch! Meinst du ich hätte nicht mit bekommen wie du damals mit dir gerungen hast? Ich wollte dir bestehen und dich in deiner Entscheidung unterstützen hier zu bleiben, lies es aber, weil ich schließlich zu der Ansicht gelangte, dass nur du allein die Wahl zu treffen hast.“ Versuchte Ronald die Frau zu beruhigen.

„Und es war eine richtige Wahl. Könnten wir die Zeit zurückdrehen. Ich würde ebenso handeln wie in jenen Tagen.“

 

Elena und Madleen spazierten zunächst eng umschlungen auf dem Deich entlang, dabei den Blick auf das sanft hin und her wogende Wasser des Staussees werfend, bevor sie sich wieder in die Siedlung begaben.

Madleen bemerkte, dass es ihrer Frau offensichtlich schwer zu fallen schien, ihren alten Bungalow zu betreten, lies ihre Vermutung aber nicht erkennen.

Eine gewisse Zeit lies Elena verstreichen bevor sie die Türklinke betätigte, zaghaft betrat sie das Innere der Laube, dabei fest Madleens Hand drückend. Schließlich zog sie die Hand zurück und fuhr damit zu ihrem Mund, dabei tief ein und ausatmend.

„Dir ist nicht gut Elena! Es fällt dir schwer hier zu sein?“

„Ja und nein!“ Elena lies sich auf einen alten Küchenstuhl nieder, dabei noch immer nach Luft ringend.

„Das also ist der Bungalow den ich mit Leander bewohnte.“

„Mein Gott ist das primitiv. Du kamst gerade aus deiner Glitzerwelt und dann in eine größere Gartenlaube. War das für dich nicht ein Kulturschock?“

Wollte Madleen wissen.

„Mit Sicherheit! Aber das wurde mir erst im Nachhinein bewusst. Damals empfand ich es komischerweise gar nicht so bedrückend. Ich lebte in jenen Tag wie in einer Art Trance. Alles war neu, ich war gespannt auf das was mich erwartete. Es war, wie soll ich sagen, eine Art von Brennofen, der mich für die Tücken des neuen Lebens vorbereitete.“

Madleen sah sich um, dabei immer ein Auge auf Elena gerichtet.

" Dagegen ist unsere Agrarkommune oben im Norden ein stattliches Anwesen. Meine Familie lebte stets bescheiden und genügsam, aber das hier? Wie kann ein Mensch so etwas über einen längeren Zeitraum aushalten? Und ihr habt tatsächlich sogar einen Winter hier verbracht?“

Kaltes Erstaunen schien Madleen ins Gesicht geschrieben.

„Ja, einen harten noch dazu. Aber er war wichtig und entscheidend, er hat mich zu dem gemacht was du jetzt vor dir sitzen siehst.“ Entgegnete Elena.

„Und dafür liebe ich dich!“ Madleen schlang von hinten ihre Arme um die noch immer sitzende Elena und drückte sie ganz fest an sich.

„Danke dafür dass es dich gibt! Es geht wieder. Ich muss mit den Erinnerungen kämpfen, weißt du. Leander scheint hier überall präsent. Muss ich mich schuldig fühlen?“

„Für was?“

„Dafür dass ich dich lieben darf!“

„Nie und nimmer! Du hast Leander nicht betrogen! Weder damals noch heute!“

Versuchte Madleen zu beruhigen.

„Unendlich viel Zeit verging bis wir zum Paar wurden und er endlich zu mir kam. Andere waren zu diesem Zeitpunkt längst zusammen. Ronald und Alexandra, Folko und Kyra und alle die mit uns beisammen waren. Ich wartete voller Sehnsucht auf sein Eintreffen. Als es nuns endlich gelungen war, taumelten wir von einer Krise zur anderen. Nur so wenig Zeit war uns vergönnt. Die anderen sind noch immer vereintg, mir hingegen blieben von ihm nur Erinnerungen und meine kleine Tessa.“

Madleen lies sanft ihre Handflächen über Elenas Wangen gleiten.

„Es ist wie es ist. Wir können  nicht eingreifen,in die Vergangenheit. Und du warst wirklich in all den Jahren die seither verstrichen sind, nicht wieder hier?“

„Nein! Die Ereignisse überschlugen sich. Der Umzug in die Abtei, gleich darauf der Wahlkampf, mein Sieg, der Putsch des Grauen Ordens, Revolution, Neidhardt, meine geistige Abwesenheit, danach Wiederaufbau und und und. Mir blieb gar nicht die Zeit. Und schlussendlich traute ich mich auch nicht her. Es tat alles so entsetzlich weh. Eigenartig, das wir es ausgerechnet Neidhardt verdanken, dass es die Siedlung überhaupt noch gibt.“

„Bereust du deine Entscheidung heute hierher gekommen zu sein? Wärst du besser zu hause geblieben?“

„Auf keinen Fall! Es war vollkommen richtig mit zu kommen! Colette hatte wie immer den richtigen Riecher. Mir ist jetzt bedeutend leichter ums Herz.“

 

Kim betätigte sich derweil als sachkundige Fremdenführerin. Voller Stolz präsentierte sie ihren Freundinnen und Freunden ihr zeitweiliges Zuhause. Eve, Denise, Kristin und Cassandra, auch Betül hatte sich der Gruppe angeschlossen und schließlich noch Lukas. All jene also, die damals noch nicht dabei waren. Kim genoss ihren Status als alte Häsin zu Recht. Gründungsmitglied, ja das war sie und es zeichnete sie aus. Von Anfang an dabei.

Die Freude darüber war ihr zu gönnen, sie die ewig Ausgestoßene. Vom alkoholkranken prügelnden Vater schon als Kind aus dem Haus getrieben, fortan auf sich gestellt und ein Leben in verschiedenen Jugendgangs führend, hatte sie entweder auf der Straße oder in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche gelebt. Eine richtige Schule die ihr Wissen vermittelte, lernte sie erst in der Kommune kennen. Hier hatte sie sich zu einer Persönlichkeit entwickelt, von den andern geachtet und geschätzt. Nun durfte sie gar am Tisch einer Königin sitzen.

„In diesem Bungalow wohnte ich zunächst mit Miriam und Kyra. Dann zog Kyra zu Folko. Nach kurzer Zeit waren wir wieder zu dritt, Colette war hinzu gestoßen. Aber auch dass war nicht von Dauer. Die ging wenig später zu Kovacs und lebte mit ihm in dessen Häuschen.

Ein ständiges Kommen und gehen. Sehr eng ,wie ihr euch vorstellen könnt. Jeder Meter wurde genutzt. Als wir in die Abtei umzogen erschien uns das wie ein Paradies . Ach ja, gute alte Miriam, ich muss mich beherrschen, damit mir nicht gleich die Tränen kommen.“

„Du hast Miriam geliebt, nicht war?“ Wollte Eve wissen.

„Ja, sehr sogar. Dabei war sie doppelt so alt wie ich selbst. Aber sie schenkte mir eine Geborgenheit wie ich sie nie zuvor erleben durfte.“

„Und Colette? Du warst doch auch mit ihr zusammen für kurze Zeit. Oder hattest du alle beide? Eine Dreierbeziehung?“ Bohrte Eve weiter.

„Sei doch nicht so neugierig Eve. Wenn Kim nicht darüber sprechen will ist das vollkommen in Ordnung.“ Entgegnete Denise.

„Schon gut! Ich habe den Schmerz überwunden der mich so lange gefangen hielt.“

„Ich gäbe sonst etwas dafür in jenen Tagen schon dabei gewesen zu sein. Aber es war unmöglich. Und wahrscheinlich ist es sogar besser, dass Colette erst in mein Leben trat als hier schon Entscheidendes geschehen war.“ Gab Betül zu verstehen.

„So ein Pioniergeist, ich glaube wenn ich mich anstrenge, kann ich ihn noch spüren. Es muss phantastisch gewesen sein, so etwas aufzubauen. Erst jetzt geht mir so richtig auf was ihr damals zustande gebracht habt.“ Begeisterte sich Lukas.

„Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich richtig angenommen. Ein zuhause, eine Heimat, eine richtige Familie, so etwas kannte ich vorher nicht. Diese ganzen politischen und geistigen Überlegungen, waren mir sehr fern. Ich begann erst spät mich damit zu beschäftigen. Kovacs war stets gut zu mir, niemals behandelte er mich von oben herab, eben als Ungebildete, wenn ihr wisst was ich damit meine.“ bekannte Kim weiter.

„Oh, das kenne ich nur zu gut. Ich kam später in die Kommune, als sie schon in die Abtei umgezogen war. Auch für mich wurde Bildung erst dort zum Thema. Zum Glück sind die alten ungerechten Zeiten vorüber.“ Meinte Kristin.

„Auch ich kenne das aus meiner alten Heimat. Leider aber ist es dort damit noch lange nicht vorbei.“ Bedauerte Eve.

 

Währenddessen saß Colette noch immer auf dem alten wurmstichigen Schaukelstuhl und blickte gedankenversunken zur Decke. Die langsame, gleichmäßig wippende Bewegung begann auf sie zu wirken. Sie wurde deutlich schläfriger. Würde es ihr gelingen auf diese Weise den Kontakt zu dem großen Dichter herzustellen? Das war nicht auszuschließen. Elena war ihm vor Zeiten mehrere Male im Traum begegnet. Sicher, nicht willentlich und zudem in einer extremen Lebenssituation.

Doch auf den Versuch kam es an.

Wäre er bereit  ihr mit einem Rat zu dienen? Schwer zu sagen. Tote sollte man nicht um gute Ratschläge bitten, hatte er selbst zu seinen Lebzeiten immer wieder betont. War ihr Ansinnen vermessen? Sie wollte doch nur seine Meinung hören, nicht mehr und nicht weniger.

Egal, sollte es ihr nicht gelingen, dann eben nicht.

Lamngsam begannen die Außengeräusche zu versickern bis sie schließlich ganz verstummten. Es schien, als sei sie plötzlich von einem undurchdringlichen Nebel umgeben.

Ihre Erlebnisse waren weitaus weniger theatralisch als bei ihrem gemeinsamen Trip mit Elena. Sie fühlte sich schwebend, dann war ihr als würde sie in einen schmalen Tunnel gezogen. Der Sog zog sie immer weiter in eine unheimliche Tiefe, weit, viel zu weit als dass sie hier auf den Dichter hätte treffen können. Sie überwand nicht Jahre sondern Jahrtausende und befand sich schließlich wieder in der bronzezeitlichem Siedlung wieder.

 

„Ihr wollt mich zu eurer Königin machen? Warum? Was könnte ich euch in dieser Position bieten, dass ich nicht schon jetzt zu geben vermag? Nein! Schlagt euch das aus dem Kopf! Da mache ich nicht mit!“ Beharrte Inanna auf ihrem Standpunkt.

„Aber wir haben sehr lange beraten und uns schließlich entschieden. Wir möchten dir diese Ehre anbieten. Wir sind einfach der Meinung, dass du sie dir verdient hast.“ Meinte Ajana, die junge Schönheit mit den langen schwarzen Haaren und den kristallblauen Augen.

„Wenn du jetzt ablehnst, enttäuscht du uns zutiefst.“

„Was ist denn schon dabei? Eine kleine Ehre und sonst nichts. Es ist nun mal wie es ist. Überall leben jetzt Fürsten und Könige, warum also sollten wir keine haben. „ Pflichtete ihr Daraya bei. Die verwegene Amazone hatte ihr aschblondes Haar an beiden Seiten abrasiert, nur ein schmaler Streifen  zog sich von der Stirn über den Kopf bis weit über die Schultern.

Die Haartrachten waren so unterschiedlich wie die Frauen selbst, die sie trugen.

Lange, offen getragene Mähnen oder kunstvoll geflochtene Zöpfe, konnte man hier ebenso bewundern wie halbrasiert Schädel. Einige trennten sich ganz und von ihren Haupthaaren und präsentierten ihre Glatzen.

Es war ein kunterbunter Haufen freier und zu allem entschlossener Frauen die sich hier um ihre beiden Anführerinnen scharten.

„Wir wollen dich auf unseren Händen tragen. Du hast es verdient! In meinem Herzen bist du schon lange meine Königin!“ Stürmte nun Manto nach vorn. Sie war eines der Nesthäkchen der Gemeinschaft, kaum der Pubertät entwachsen und ihre Regelblutung bekam sie erst seit kurzer Zeit. Ihr Haar trug sie wie einen Bubikopf. Bisher hatte Inanna sie noch nicht in den Kampf ziehen lassen, da sie sich um deren Sicherheit sorgte. Manto war unsterblich in Inanna verliebt, die wusste natürlich davon und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Das weiß ich Manto. Auch in meinen Herzen nimmst du schon lange einen ganz besondern Platz ein. Ob ich eine Königin bin oder nicht ist dabei ohne Belang.“ Erwiderte Inanna und bedeutete dem jungen Mädchen zu ihr zu kommen, sanft schlang die ungekrönte Königin ihren starken Arm um die junge Verehrerin, die sich darauf hin voller Herzklopfen an ihr Idol schmiegte.

„Inanna ist euch für diesen Vertrauensbeweis sehr dankbar. Es ist ihr bewusst, dass er von Herzen kommt. Ihr wollt sie auf besondere Art ehren. Aber ihr müsst ihre Einwände verstehen. Es ist nun einmal unser Grundsatz dass keine höher als die anderen stehen sollte.“ Schaltete sich Aradia ein, so als glaube sie plötzlich für die ältere Schwester sprechen zu müssen.

„Warum erhebst du das Wort für deine Schwester Aradia? Glaubst du, dass sie nicht mehr imstande ist selbst zu antworten.“ Lautete Ajanas provozierende Frage.

Aradia wollte gerade zu einer Antwort ansetzen als ihr die große Schwester zuvor kam.

„Meine Schwester spricht weise, sie hat meine Beweggründe immer respektiert. Spricht sie, so spreche ich und umgekehrt.“

„Nun gut, wenn es an dem ist, dann könnte doch auch Aradia an deiner Statt unsere Königin werden. Sie hat allemal das Zeug dazu, ist genauso imstande uns zu führen wie du Inanna. Wenn es unter Schwestern bleibt ist das in Ordnung.“ Schlug Daraya vor.

„Wie kannst du so einen Vorschlag unterbreiten und davon ausgehen das ich ihn akzeptiere. Glaubst du, ich würde eine Stellung beanspruchen die mich über meine ältere Schwester erhebt?

Dann hast du uns gründlich missverstanden. Alles was ich kann, alles was ich bin, bin ich allein durch Inanna. Sie hat mich das Kämpfen gelehrt, sie hat mich aber auch das Lieben gelehrt. Ich werde ihr folgen, wohin sie uns auch führen mag.“ Entrüstete sich Aradia.

Ein bedrückendes Schweigen senkte sich über die Versammlung, die auf den Dachterassen der Siedlung abgehalten wurde.

„Nicht du würdest beschenkt Inanna, sondern wir.“ Meldete sich nun Ayse zu Wort, die groß gewachsene schlanke Frau trug ihr kastanienbraunes Haar zu einem dick Zopf geflochten, ihr Gesichtsausdruck strahlte trotz ihrer Jugend Weisheit und Würde aus.

„Die Sklavenfänger haben unser Leben zerstört. Wir haben alles verloren, was uns lieb und teuer war, unsere Familien, unsere Sippen, unsere Heimat, ja auch unsere Götter. Nichts ist uns geblieben. Wir waren entwurzelt, bis du uns wieder mit neuer Zuversicht erfülltest. Ohne dich säßen wir noch immer in Latos Verlies, jeglicher Hoffnung beraubt. Du und deine Schwester, ihr gabt uns unsere Würde zurück. Ihr habt uns aus dem Sklavenhaus geführt. Ihr seid alles was wir haben. Was können freie Frauen ausrichten in einer Welt, die nur noch von mächtigen Männern bestimmt wird? Ohne euch hätten uns die Sklavenjäger längst wieder eingefangen und verkauft. Ihr gabt uns eine neue Heimat, deshalb folgen wir euch, wenn es sein muss bis in den Tod.“

Diese Rede saß, sie brachte Inanna in Verlegenheit. Wie könnte sie darauf eingehen, ohne Ayse zu verletzen?

„Deine Worte überwältigen mich Ayse, was könnte ich erwidern? Das Schicksal hat uns alle zusammen geführt. Unter anderen Umständen wären wir uns wohl nie begegnet. Uns vereinte der Gedanke an Flucht und ein Leben in Freiheit. Das ist alles. Wir kommen aus den verschiedensten Regionen. Wir haben alles hinter uns gelassen und konnten an diesem Ort etwas Neues beginnen von dem bis zu diesem Zeitpunkt keine von uns mit Sicherheit sagen kann, ob es von Dauer ist. Wir sind eine Streitmacht wie sie die Welt noch nie gesehen hat. Wir werden weiter kämpfen, was könnten wir auch sonst tun? Unsere Aufgabe besteht darin so viele Menschen wie nur möglich aus der Sklaverei zu befreien.“

„Als Einzelkämpferinnen sind wir dem Untergang geweiht, nur gemeinsam werden wir weiter stark und mächtig sein. Einen Finger kann man brachen, aber fünf Finger sind eine Faust**“

Stimmte ihr Aradia zu, ballte dabei die Faust ihrer rechten Hand und erhob sie in die Höhe. Sie presste dabei so fest, dass ihre stahlharten Muskeln hüpften. Wehe dem Sklavenhalter der diese Faust zu spüren bekam.

„Inanna wird uns weiter führen und ich werde sie dabei unterstützen. Aber wir wollen dabei Gleiche unter Gleichen sein. Erinnert euch an den Schwur den wir uns gaben, damals als wir gerade die Freiheit erlangten. Alles was wir haben, wollen wir wie Schwestern teilen und keine sollte jemals mehr für sich in Anspruch nehmen.“

„Wir erinnern uns alle daran Aradia. Keine von uns wird diesen Tag je vergessen. Gerade weil wir euch beiden unser volles Vertrauen geschenkt haben, solltet ihr die Ehre die wir euch zu erweisen gedenken nicht zurückweisen.“ Erwiderte Ayse.

„Aber in dem Schwur den wir uns gaben heißt es auch, dass wir niemals sein wollen, wie die anderen. All jene Fürsten und Könige. Sie häufen Reichtümer an aus den Raubzügen die sie unternahmen und dabei das Blut Unschuldiger vergossen. Sie bauen riesige Städte mit Palästen und Tempeln, errichtet mit dem Blut und dem Schweiß tausender von Sklaven, die nie wieder die Freiheit zu sehen bekommen. So soll es bei uns nicht sein. Diese Siedlung hier, erbaut vor unerdenklich langer Zeit, von Menschen deren Leben im Dunkel der Geschichte begraben liegt. Wir kennen ihre Beweggründe nicht, aber wir spüren die Kraft die noch heute von ihnen aus zu gehen scheint. Alle Häuser sind gleich groß und bieten genügend Wohnraum. Es gibt hier weder einen Palast noch einen Tempel. Wir verehren unsere Göttin, jene die keinen Namen hat und seit uralter Zeit lebt und nie vergeht, auf unsere Weise. Keine sollte ihr näher sein als eine andere.  Sie bedarf keiner blutigen Opferrituale wie die Götter der Fürsten. Mit der bedingungslosen Liebe innerhalb unserer Gemeinschaft erfüllen wir ihr wichtigstes Gebot.“

„Was ist das für eine Göttin? Warum offenbart sie sich uns nicht? Warum greift sie nicht ein und lehrt den Fürsten das Fürchten und befreit auf einen Schlag alle Menschen die unter deren Knechtschaft zu leiden haben?“ Wollte Daraya wissen.

„Sie tut es! Durch dich, durch mich, durch Inanna, alle die hier versammelt sind und all jene die im Laufe der Zeit noch zu uns stoßen werden. Wir sind ihr Werkzeug, sie bedient sich unserer Arme und Hände um ihr Werk zu erfüllen. Sie lässt den Menschen die freie Wahl. Entweder Gutes zu tun, oder der Macht des Bösen zu verfallen!“ versuchte Aradia aufzuklären.

„Sie ist es vor der wir unsere Knie beugen, einzig und allein sie. Wir benötigen keine Herrscher auf Erden, die den Blick versperren und uns daran hindern, zu ihr aufzublicken. Wie ich schon sagte, es soll bei uns nicht so sein wie bei den anderen. Die haben sich mächtige Kriegsgötter geschaffen, solche die das Morden, das Plündern, Brandschatzen und Vergewaltigen segnen. Unsere Göttin ist eine Göttin des Friedens. “ Pflichtet ihr Inanna bei.

„Aber auch wir kämpfen. Wir sind ständig damit beschäftigt in die Schlacht zu ziehen und dabei gehen wir nicht gerade zimperlich mit unseren Gegnern um. Wir nehmen deren Blutvergießen billigend in Kauf. Ich sehe hier keinen großen Unterschied:“ Wunderte sich Ajana.

„Der Unterschied liegt darin, dass uns der Kampf aufgezwungen wurde. Wir mussten unsere Freiheit erkämpfen und jetzt, da wir sie haben, müssen wir sie verteidigen, damit sie uns nicht wieder genommen wird. Ferner haben wir uns dazu verpflichtet allen die in Bedrängnis leben bei zu stehen und ihnen ebenfalls den Weg in die Freiheit zu bahnen. Ihnen eine Heimat zu bieten und ein sicheres Leben. Dafür steht unser Kampf. Wir tun es nicht aus Beutegier oder weil uns der Blutrausch mit sich zieht.“ Klärte Aradia auf.

„Sobald die letzte Schlacht geschlagen, Waffen aus der Hand. Lasst uns ziehen um die befreite Erde ein geschwisterliches Band. Friedlich soll nur noch die Sichel rauschen in dem Erntefeld und die Herden auf die Weide getrieben werden. Vergesst niemals dieses Ziel.“ Lies Inanna erkennen.

„Eine wunderbare Welt, Inanna. Auch ich stelle sie mir vor.  Dort bedarf es keiner Könige mehr. Doch wir leben nicht in einer solchen idealen Welt. Und bis wir sie haben werden wir noch viele Schlachten schlagen müssen. Deshalb brauchen wir eine Anführerin, die sich der bedingungslosen Gefolgschaft ihrer Gefährtinnen sicher sein kann.

Aus diesem Grund solltest du einfach unsere Königin sein.“ Meinte Ayse.

Inanna hatte dem nichts mehr entgegen zusetzen. Ihr war bewusst das Ayse die Wahrheit sprach. Es ging nicht ohne straffe Führung, ohne eine fest gefügte Struktur um den Ansturm der Gegner szu trotzen. Weigerte sie sich weiter, setzte sie alles aufs Spiel. Sie hatte keine Wahl und musste sich geschlagen geben.

„Also gut! Ihr habt mich überzeugt! Ich nehme an!“

Tosender Jubel brandete ihr von allen Seiten entgegen. Inanna streckte beide Arme in die Höhe um sich Gehör zu verschaffen.

„Ich akzeptier! Aber es gibt Bedingungen!“

„Dann lass sie uns hören, Königin!“ Rief ihr Daraya entgegen.

„Ich werde gleichberechtigt mit meiner Schwester an der Spitze stehen. Aradia ist mir in allem gleichgestellt, vor allem was den Kampf betrifft. Ihre Entscheidung ist so gut wie die meine. Unser Königinnentum ist von begrenzter Dauer und währt nur für die Zeit des Kampfes. Ferner beanspruchen wir keine Privilegien. Wir teilen, was wir haben, so wie es bisher war, soll es bleiben. Ihr dürft, nein, ihr müsst uns auch kritisieren, wenn ihr der Ansicht seit, meine Schwester oder ich hätten eine Fehlentscheidung getroffen. Unter diesen Umständen bin ich bereit euren Auftrag anzunehmen.“

Erneut setzte frenetischer Jubel ein.

„Hoch lebe Inanna unsere Königin! Hoch lebe Aradia unsere Königin!“

Inanna reckte erneut die Arme nach oben.

„ Ich danke euch für euren Vertrauensbeweis. Ich werde alles in meinen Kräften stehende tun, um diesen nicht zu enttäuschen. Aber bedenkt, auch ich bin nur ein Mensch mit Fehlern und Schwächen. Seht in mir niemals ein gottgleiches oder auch nur gottähnliches Wesen, so wie es die Fürsten in den großen Städten tun. Ich bin nur ein kleines Werkzeug in den Händen unserer allgegenwärtigen Erdgöttin und jederzeit ersetzbar."

„Ich kann mich meiner Schwester nur anschließen. Im Grunde bedarf es gar keiner weiten Worte. Wir sind alle Schwestern. Der heilige Schwur, den wir leisteten nachdem uns die Flucht gelang, bindet uns ein Leben lang aneinander. Niemand kann uns trennen. Niemals werden wir je wieder in die Sklaverei zurückkehren, eher sterben wir. Auch das haben wir uns geschworen. Last uns weiter kämpfen und noch vielen unglücklichen Menschen eine neue Heimat in der Freiheit bauen.“

 

Schließlich wurde zur Feier des Tages ein großes Fest gefeiert. Vor den Toren der egalitären Stadt entfachten die Amazonen ein großes Feuer. Das Lagerfeuer, wie immer Zeichen und Symbol der Gleichheit, gleichsam eine Tafelrunde.

Es wurde reichlich gegessen und der Wein floss nicht zu knapp. Leben und Leben lassen, so die Devise der Schwestern. Wer für die Freiheit kämpft und dabei ständig sein Leben aufs Spiel setzt, darf auch hin und wieder ausgelassen feiern

Einige besonders begabte tanzten am Feuer. Es wurden Trommeln geschlagen und Hörner ertönten

Auch die Liebe kam nicht zu kurz. Viele Amazonen

fanden sich später zu Paaren oder auch zu mehreren zusammen um sich ausgiebig den Sinnenfreuden hinzugeben.

Den meisten war ohnehin bewusst dass sie allem Anschein nach nur mit einem kurzen Leben zu rechnen hatten. Irgendwann würden die meisten von einem Schwerthieb niedergestreckt oder von einem Speer durchbohrt. Ein aufgeschobenes Leben kam nicht in Frage.

Inanna wirkte eher nachdenklich, es schien, als könne bei ihr keine rechte Freudestimmung aufkommen.

„Bereust du deine Entscheidung, Schwestern?“ Wollte Aradia wissen.

„Ich glaube, ich hatte keine Wahl, deshalb stellt sich diese Frage nicht. Es war richtig. Wir brauchen eine straffe Führung und wir beide sind bestens geübt darin. Es wäre nicht gut das zu ändern. Wir dürfen dem Feind keine Schwachstelle bieten.“

„Fühlst du dich jetzt als Königin?“

„Du bist es ebenso. Fühlst du dich denn wie eine?“

Lautete Inannas Gegenfrage.

„Schwer zu sagen. Ich fühle so wie immer. Ich kann keinen Unterschied feststellen zu heute morgen, da ich noch keine war. Ich glaube nicht, dass dieser Umstand viel verändert hat.“

Antwortete Aradia.

„Ja, bei mir ist es ähnlich.“

Bevor sie den Dialog weiterführen konnten rutschten die um sie sitzenden Schwestern näher und verhinderten das.

Manto quälte sich durch die Reihen bis sie ihr Objekt der Verehrung erreicht hatte. Inanna öffnete die Arme um die jüngere in Empfang zu nehmen.

„Ich habe mir über eure Worte die ganze Zeit den Kopf zerbrochen.“ Meinte das Nesthäkchen.

„So? Ich hoffe ,dass du davon kein Kopfweh bekommen hast.“ Neckte sie Aradia und graulte deren Haaransatz.

„Ich meine es ernst Aradia! Inanna, du sagtest, wir sollten, wenn wir den Sieg errungen, die Waffen niederlegen und ein friedliches Leben beginnen.“

„Ja richtig! So lauteten meine Worte.“

„Also, ich kann mir das nicht  vorstellen. Ihr alle seid Kämpferinnen und das mit Haut und Haaren. Was…. Was tut ihr dann? Ich meine…was tut eine Amazone in Friedenszeiten? Das kann doch nur schrecklich langweilig werden?“ Lautete Mantos Frage. Eine Aussage die nicht einer gewissen Logik entbehrte.

„Eine gute Frage, Manto und eine richtige. Ich sehe, du denkst mit. Ja, was machen wir, wenn es keine Schlachten mehr zu schlagen gibt? Nun, zu tun gibt es mehr als genug. Dann können wir uns den Tätigkeiten widmen, die wir aufgrund des permanenten Kriegszustandes vernachlässigen mussten. Aufbauarbeiten vor allem. Unsere Siedlungen müssen ausgebaut und erweitert werden. Die Felder müssen bestellt und das Vieh gehütet werden. Wir brauchen viele Handwerkerinnen mit speziellen Fähigkeiten, und, und, und. Ja und die ganze gewöhnliche Hausarbeit nicht zu vergessen. Langeweile gibt es sicher nicht, mein kleiner Spatz, auch wenn wir uns zunächst stark umgewöhnen müssen.“

„Also was mich betrifft ist es einfach! Mein größter Wunsch ist euch wohl bekannt. Ein Stück Land mit ein paar Ziegen drauf. Ziegenmilch ist gut und gesund. Ja und Schafe natürlich. Die Wolle die wir im Frühjahr scheren, können wir gut gebrauchen. Im Winter wird sie gesponnen, verwoben und zurecht geschnitten um Stoffe daraus zu fertigen. Eine Hirtin möchte ich sein. Am liebsten würde ich auf der Stelle damit beginnen.“ bekannte Aradia.

„Also ich weiß nicht. Ich kann mir Aradia als Hirtin gar nicht vorstellen. Du bist Kriegerin, Kämpferin, Anführerin. Das ist dein Leben, dafür bist du geschaffen. Deine starken Muskeln, mit denen du den Soldaten der Fürsten das Fürchten lehrtest. Die.. die kannst du doch gar nicht mehr gebrauchen.“ Glaubte Manto zu wissen, was bei den Umsitzenden für heitere Stimmung sorgte.

„Oh, sagt das nicht! Es gibt eine ganze Menge an Arbeiten, bei deren Ausführung die Muskeln ins Spiel kommen. Hirtin sein kann mitunter sehr anstrengend sein.“ Erwiderte Aradia.

„Möchtest du denn ganz alleine Schafe und Ziegen hüten?“

„Natürlich nicht! Gemeinsam mit der Gefährtin die ich mir erwählen werde:“

„Ach? Wirklich? Und gibt es eine bestimmte? Hast du deine Auswahl schon getroffen?“ Mischte sich nun Ajana ein.“ Allen war bewusst was sie damit sagen wollte, wie sehr Ajanas Herz brannte und wie gerne sie nachts mit Aradia das Lager teilen würde.

Die Angebetete senkte nur das Haupt, nach einer Weile meinte sie nur kurz und knapp.

„Zur gegebenen Zeit werde ich meine Auswahl treffen.“

Es galt den Frieden zu bewahren und keine Zwistigkeiten unter den Schwestern aufkommen zu lassen, denn nicht nur Ajana hoffte die Auserwählte zu sein. Ebenso ging es einigen dutzend anderer.

„Dann lass dir nicht all zu viel Zeit damit. Das Leben einer Tochter der Freiheit währt nicht lange.“ Sprach Ajana, erhob sich und schritt durch die Reihen.

Aradia machte Anstalten ihr zu folgen, doch Inanna hinderte sie daran.

„Hab…hab ich etwas Falsches gesagt?“ Manto schien sich Vorwürfe zu machen.

„Nein, nein, ist schon in Ordnung!“ versuchte Aradia deren Befürchtungen zu entkräften und stubbste dem Nesthäkchen andeutungsweise Faust auf die Schulter.

„Und? Wer würde gern mit mir die Schafe hüten?“ Wollte Inanna wissen.

„Oh ja, gern. Und wenn es Schweine wären, es wäre mir gleich, wenn ich nur in deiner Nähe sein dürfte.“ Begeisterte sich Manto bei dem Gedanken.

Das Fest setzte sich fort und zog sich bis zum Morgengrauen. Ein großer Tag neigte sich zum Ende. Ein Tag voller wegweisender Entscheidungen.

Aradia löste sich nach einer Weile aus der Runde und begab sich eilenden Schrittes in Richtung Siedlung, in der Hoffnung Ajana dort anzutreffen. Doch die lies sich nicht finden.

Alles konnte sich Aradia verzeihen. Eines aber nicht, eine der Schwestern zu verletzen. Sie wollte es wieder gut machen, doch Ajana blieb verschwunden.

 

Mit einem kräftigen Schwung glitt Colette vom Schaukelstuhl und landete, tief und laut stöhnend, auf dem Boden.

Sie bedurfte einige Zeit der Sammlung um zu begreifen wo sie sich befand. Noch immer in Kovacs alter Laube. Sie unternahm den Versuch sich aufzurichten, lies aber schnell von diesem Vorhaben ab. Nur ja nicht wieder verrenken.

Hilfe! Sie benötigte wieder einmal Hilfe.

„Betül! Beeeeetüüüüüüüül!“

Die Angerufene reagierte auf der Stelle. Zum Glück befand sie sich in der Nähe.

„Hörst du? Das ist Colette! Sie braucht Hilfe! Komm mit Denise!“ Sprach sie und machte sich umgehend auf den Weg. Denis folgte. Sie fanden die Königin auf dem Boden liegend.

„Oh Gott, meine Königin! Was ist geschehen? Bist wieder du gestürzt?“

Betül platzierte sich auf dem Boden und begann Colette ganz langsam aufzurichten.

„Hilf mir Denise! Langsam, Stück für Stück. Keine ruckartigen Bewegungen!“

„Ihr seid da, ja, ja…ja. Auf euch ist immer Verlass. Besonders auf dich meine Wunderschöne.“ Colette verabreichte Betül einen dicken Kuss.

„Aber sag doch. Was ist geschehen. Warum hast du gerufen und ich finde dich wieder auf dem Boden?“ Wollte Betül wissen.

„Äh …ja.. äh.. ich war, ähm ich meine… ich war gerade im Begriff…. Nein, ich war weggetreten. Ich äah, ich war unterwegs. Verstehst du? Ich war….

„Ich verstehe sehr gut. Eine Vision! Du warst im Traumland wenn ich mich nicht irre. Also gut, nun ist es bei dir ebenso weit. Du bekommst die Visionen schon am helllichten Tag, ebenso wie Elena.“ 

„Visionen? Welche Visionen?“ erkundigte sich Denise.

„Ahh, Denise! Deine Haartracht erinnert stark an meine Traumbilder. Viele der Amazonen sehen dir ähnlich. Wenn die Farben ihrer Haare auch bei weitem nicht so kunstfertig erscheinen wie die deinen.“ Colette erfasst Denise Hand und drückte sie.

„Amazonen? Du hast Amazonen gesehen?“ Wunderte sich diese. Denise war noch nicht eingeweiht.

„Oh es war wunderbar! Ihr hättet sie sehen sollen. Diese Kämpferinnen, diese Stärke, diese kraftvolle Ausstrahlung, diese Würde. Ich sage euch, ein Erlebnis ohne gleichen. Die waren dabei eine Königin zu proklamieren. Inanna weigerte sich zunächst, doch gab sie dem Drängen schließlich nach. Sie machte zur Bedingung, dass ihr Aradia in allem gleichgestellt sei und noch einiges mehr. Der Beginn einer neuen Ära. So soll es auch bei uns sein. Ich habe die Botschaft verstanden. Ich sehe klar, dort wo vor Stunden noch dichter Nebel waberte. Wir stehen in einer Jahrtausende währenden Tradition. Es liegt an uns sie wieder auf zu nehmen. Das war es, was du uns sagen wolltest, Kovacs, alter Kämpfer. Jetzt, ja jetzt erst sind wir dafür bereit . Früher waren uns die Augen verschlossen. Man kann einer Entwicklung niemals vorgreifen.

„Würde mir vielleicht mal jemand sagen, worum es hier geht?“ Denise schien noch immer Bahnhof zu verstehen.

„Später Denise! Später! Auch du wirst es erfahren. Heute Abend? Wir setzen uns gemütlich in einer Runde zusammen. Colette und Elena könnten berichten? Wenn Elena die nötige Zeit mitbringt, versteht sich. Wir können auch liegen und dabei kuscheln, wenn ihr mögt.“

Schlug Betül spontan vor.   

„Ich muss versuchen alleine aufzustehen!“ Entfuhr es Colette, sie schien auf einmal innerlich gefasst.

„Seid einfach nur da um notfalls einzugreifen. Ich darf mich nicht gehen lassen. Ich muss Stärke zeigen. Ich bin Colette, Colette von Akratasien. Unser Land braucht eine einsatzfähige Königin. Eine Königin, bereit sich den Problemen zu stellen und damit fertig zu werden.“

Mit einem Satz zog sie sich an der Tischplatte empor und befand sich schließlich auf wackligen Beinen aufrecht stehend. Die linke Hand auf der Tischplatte, die rechte auf den Gehstock gestützt den sie mit sich führte.

„Es hat funktioniert! Es geht! Ich kann es schaffen! Helft mir! Wenn ich euch an meiner Seite weis, wird die Macht mich nie verlassen!“

Dann schritt Colette langsam zur Tür und öffnete sie. Eine sanfte laue Brise stieg ihr in die Nase. Dann tat sie einen Schritt ins Freie. Die beiden anderen folgten ihr wortlos.

 

    

Am letzten Oktobertag, dem 31. fand das lange vorbereitete Referendum darüber statt, ob sich Colette in Zukunft ganz offiziell Königin von Akratasien nennen durfte. Eine Funktion, die ihr bis ans  Lebensende zugesichert wurde. Die Abstimmung galt zunächst nur ihrer Person. Ob sie ihr Amt vererben durfte, stand nicht zur Debatte. Diese Frage würde die Zeit klären. Bei jeder Gelegenheit wurde darauf hingewiesen, dass es sich um eine aus der Not geborene Entscheidung handelte, die jederzeit revidiert werden konnte.

Beim 31.Oktober handelte es sich um ein geschichtsträchtiges Datum. Die alte Religion feierte in der Nacht zum 1. November das Samhainfest, gleichsam ein Fest der offenen Tür. Einer Tür zur Anderswelt, zur Welt der Verstorbenen, die in dieser Nacht leicht zu passieren sei, um mit den  aus dem Leben geschiedenen Angehörigen  zu kommunizieren. Die katholische Kirche gedachte nicht umsonst am 1. und 2. Tag des Novembers ihrer Verstorbenen.

Und da gab es auch noch jenes bedeutende Ereignis das vor einigen Jahrhunderten für viel Furore sorgte. Ein gewisser Mönch namens Martin Luther schlug seine berühmten 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg, im fernen Deutschland, jene Thesen, die die Welt radikal verändern sollten.

Es war kein Zufall dass die Schwestern und das Kabinett ausgerechnet dieses Datum bestimmt hatten, denn die Veränderungen, die von diesem Referendum ihren Ausgang nehmen könnten, wären mit Sicherheit nicht weniger bahnbrechend als jene, die durch die Reformation im ausgehenden Mittelalter eingeleitet wurden.

Anarchie und Monarchie zusammen denken? Ein bisher unvorstellbares Unterfangen. Nun sollte es sich in der Realität bewähren.

So wie 500 Jahre zuvor das Unmögliche möglich wurde, konnte auch hier etwas völlig Neues seinen Ausgang nehmen.

 

Am Abend stand das Abstimmungsergebnis definitiv fest. 76,2 % votierten für die Einführung der Anarchistischen Monarchie. Das war überwältigend. Eine Zweidrittelmehrheit hatte sich Colette zum Ziel gesetzt. Alles was darunter blieb deutete sie als persönlichen  Misserfolg. Nun hatte sie sogar die Dreiviertelmehrheit übersprungen. Ein grenzenloser Vertrauensbeweis. Ein Votum für die Wiedereinsetzung einer Natürlichen Autorität.

Woher die Gegenstimmen kamen ließ sich nur spekulieren. Aber alle konnten es sich denken.

Aus den Reihen jener, die eine dauerhafte Antihaltung kennzeichnete. Dies traf sowohl für die nur auf Zerstörung ausgerichteten Rechtspopulisten und Rechtsextremen zu, als auch auf die unverbesserlichen ,vermeintlich anarchistisch ausgerichteten, Antiautoritären.

So gegensätzlich diese Strömungen auch waren, sie verband eine grenzenlose Antipathie gegen die derzeitigen Autoritäten. Die Rechten weil sie einen autoritären Führerstaat mit straffen Hierarchien anstrebten, in dem nur sie allein den Ton angaben, die Macht mit niemanden teilen wollten und jede Opposition zu zerschlagen gedachten.

Die linken Antiautoritären weil sie jeglicher Hierarchie ablehnend gegenüber standen, somit auch der Natürlichen.

Damit verkannten sie jedoch, dass eine Gesellschaft ohne Autorität nur von wenigen Gebildeten verstanden und akzeptiert würde. Die einfach gestrickten Menschen aber Halt und Sicherheit in einer wie auch immer gearteten Autorität suchten und brauchten. Die Folge wäre ein undurchdringliches Chaos das am Ende nur wieder negativen autoritären Denkrichtungen in die Hände spielte.

Die Anarchistische Monarchie diente als Bollwerk gegen jede Form künstlich geschaffener Hierarchien, denen einziges Bestreben darin bestand, Menschen zu beherrschen, zu bevormunden, zu unterdrücken, auszubeuten. Ferner um die Gesellschaft zu spalten, die Interessen unterschiedlicher sozialer Gruppen gegeneinander auszuspielen um besser kontrollieren zu können.

Colette war die personifizierte natürliche Autorität. Die einst verachtete Kundra hatte von frühster Kindheit an Demütigung, Ablehnung, Ausgrenzung und Nichtbeachtung erduldet. Verhöhnt und bespuckt, getreten und geschlagen, war sie einer permanenten psychischen Folter ausgesetzt. Ihr ganzes Leben stellte eine einzige Abwehr gegen Willkür und jedes Unrecht dar. Ihr Leben, das war stetiger, immer währender Kampf. Bis zu dem Zeitpunkt als sie sich der Schwesternschaft anschloss und selbst dort musste sie lange um ihre Stellung kämpfen und die Schwestern benötigten erhebliche Zeit um ihren tatsächlichen Wert zu erkennen.

Der lange, endlos scheinende Weg des Leides hatte Colettes Kräfte verzehrt und sie krank gemacht.

Das Königinnentum stand ihr zu. Eigentlich brauchte man darübder nicht zu diskutieren oder abzustimmen. Das sie sich am Ende doch diesem Referendum stellte, erhob sie nun vollends über jeden Zweifel.

Mit Colette konnte sich jeder und jede identifizieren. Vor allem die Verlierer und Abgehängten der Gesellschaft. Gerade ihre Schwäche, ihre Leiden, ihre Anfechtungen machten sie authentisch.

Colette blieb was sie immer war, die liebenswerte Helferin und Trösterin von nebenan, jeder und jede konnte sich ihr anvertrauen ohne dabei das Gesicht zu verlieren.

Ein Dialog auf Augenhöhe stets garantiert.

Keine abgehobene Herrin, ausgestattet mit zahlreichen Privilegien und Sonderrechten. Die paar Kleinigkeiten, die sie zu genießen gedachte, gönnte man ihr von Herzen. Sie blieb trotzdem Gleiche unter Gleichen.

Längst hatte sie Vorbildcharakter angenommen, nicht nur bei den Schwestern, die schon lange mit ihr lebten oder auch den Männern der Kommune. Vor allem Demut und Bescheidenheit, Zurückhaltung und würdevolles Auftreten ließ sich in ihrer Nähe hervorragend einüben.

Die Anträge auf ein Mitleben und Mitwirken in Anarchonopolis steigerten sich von Woche zu Woche. Sie kamen aus der ganzen Welt. Vor allem junge gebildete Frauen strebten hierher, aber auch junge Männer und schließlich wuchs die Zahl des queeren Personenkreises, den die Königin im Besonderen anzusprechen gedachte. Denise stellte so etwas wie eine Vorhut dar, bald würden ihr viele weitere queergender, freegender, androgyne, transgendere Menschen folgen um sich in Akratasien niederzulassen. Weit standen die Tor offen und hießen vor allem Menschen willkommen die aufgrund ihrer geschlechtlichen Orientierung oder Identität in ihren Heimatländern ausgegrenzt, diskriminiert oder gar verfolgt wurden.

Alle verband nur der eine Wunsch. Möglichst nahe bei Elena und Colette zu sein.

Zwei Idole,zu greifen nahe.

Was aber würde die einheimische alteingesessene Bevölkerung zu all dem sagen? Landmenschen vor allem, die mehrheitlich konservativ, traditionell und bodenständig dachten. Konnten die sich mit den  vielen Neuankömmlingen arrangieren? Menschen, die sich durch eine unkonventionelle Lebens-und –Denkweise auszeichneten, nicht selten durch ein extravagantes Outfit und Auftreten. Liesen sich hier gutnachbarschaftliche Beziehungen herstellen oder wartete am Ende ein handfester Konflikt?

 

Eine knappe Woche später fand Colettes Amtseinführung statt. Keine Krönung, oder irgend etwas, dass an hochherrschaftliches Gebaren erinnerte. Schlicht und einfach, ohne übermäßigen Pomp, so hatten es sich alle gewünscht.

Zu diesem Zweck trat das Parlament zusammen, das alte, vor etlichen Jahren zustande gekommene, da es ein neu gewähltes immer noch nicht gab. Dazu zahlreiche Vertreter der autonomen Initiativen, Syndikate und Kommunen. Es wurde darauf geachtet alle politischen Strömungen zu berücksichtigen, folglich waren auch die Rechtspopulisten geladen. Eine große Versammlung, die einen Querschnitt der Bevölkerung repräsentierte.

Elena proklamierte in einer kurzen Rede die neue Königin des vereinten Akratasien. Danach legte Colette den Eid auf die Verfassung ab. Noch immer eine Notverfassung, da über eine neu zu entwerfende noch nicht angestimmt werden konnte.

Schließlich hielt die Königin ihre Antrittsrede. Ebenfalls kurz, präzise und stimmig. Sie wiederholte im Prinzip jene Punkte, die sie schon in vielen früheren Reden angesprochen hatte. Ihr Hauptanliegen galt der Frage wie sie es wohl vermochte, Menschen zusammen zu bringen. Die Spaltung der Gesellschaft überwinden, so ihre Devise für die Zukunft.

Die erste anarchistische Monarchie der Welt wurde  Wirklichkeit. Wieder einmal Geschichte geschrieben. Wieder einmal hatten Menschen der Zeit ihren Stempel aufgedrückt.

Das große Volksfest, dass aus diesem Anlass statt finden sollte, verschob man auf den Frühling. Der düstere Trauermonat November eignete sich ohnehin nicht sonderlich für einen Neubeginn, ganz gleich welcher Art.

Doch einige Initiativen der Hauptstadt Manrovia hatten sich etwas Besonderes ausgedacht um Colette eine Freude zu bereiten. Sie war die Königin der Kleinen, der Schwachen und Nichtbeachteten. Sie war auch die Königin der Kinder. Die strömten nach Einbruch der Dunkelheit in einem riesigen Zug in Richtung Anarchonopolis, tausende leuchtend-bunter Lampions mit sich führend. Die Lichterkette wand sich einem feurigem Lindwurm gleich die Anhöhe hinauf und kam schließlich vor den Toren der Abtei zum Stehen. Die große Pforte öffnete sich und einem Teil gelang es  auf das Gelände vorzudringen. Vor der Basilika hatten sich Vertreter des Kabinetts und der Schwesternschaft eingefunden um die Kleinen zu begrüßen.

Die Königin in der ersten Reihe mit  Aischa auf dem Arm, die dem ganzen Geschehen mit großen Augen folgte, sich aber natürlich noch keinen Reim darauf machen konnte.

Betül ganz nahe hinter Colette, die Hände um deren Bauch geschlungen, um sie aufzufangen, wenn sie zu stürzen drohte. Doch hielt sich Colette wacker auf den Beinen.

Elena zur Rechten der Königin, der Platz der ihr zukam und den sie für immer einzunehmen gedachte.

Es erschallen Hochrufe! „Lang lebe Colette, Lang lebe die Königin! Lang lebe Elena!“

Einige der älteren Kinder hatten Lieder einstudiert und boten ihre Kunst der Königin und ihrem Gefolge dar.

Schließlich kamen einige durch die Reihen und legten Geschenke nieder. Blumen, Teddybären, aber auch selbst Gebasteltes um auf ihre Weise der Königin ihre guten Wünsche zu vermitteln.

Ein gesegneter Anfang ! Ein gutes Omen?

Die Zeit würde die Antwort darauf liefern.

 

 

                                                       -------------------

 

 

* Eine derzeit in den Reihen der radikalen Linken diskutierte Frage, mit welcher Strategie man dem ausufernden Rechtspopulismus begegnen soll. Einen eigenen Linkspopulismus kreieren um die einfach gestrickten, sich abgehängt fühlenden Menschen zurückzugewinnen?    Langsam scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass die Welt nicht nur aus Akademikern und Studenten besteht und das die „Kleinem im Geist“, die Bildungsfernen und Proleten ohne Identitäten, Ideale und eine gesunde Autorität nicht auskommen werden.

    

     **  Originalzitat von Ernst Thälmann