Ohne Dich

 

Elena und Colette liefen aufeinander zu. Colettes Häscher waren ihr dicht auf den Fersen. Nur noch eine Frage der Zeit und sie würden sie einholen.  Mit jedem Schritt  schwanden ihre Kräfte. Sie war am Ende und konnte nicht mehr, kam einfach nicht mehr von der Stelle.

Elena lief ihr entgegen, aber auch sie schien wie gelähmt von einer unsichtbaren Kraft.

„Colette, halte durch! Gleich bin ich bei dir!“ schrie Elena aus voller Brust, doch ihre Stimme verhallte im Nirgendwo.

Auf allen Vieren kroch Colette nun voran, ihre Bewegungen schienen wie in Zeitlupe.

Endlich hatten beide einander gefunden, streckten die Hände entgegen. und berührten sich mit den Fingerspitzen.

Doch konnte Elena Colette nicht greifen.  Plötzlich riss die Erde zwischen ihnen auf, ein Spalt bildete sich in Windeseile und triftete beständig  auseinander.

Auf die Gefahr hin selber abzustürzen beugte sich Elena tief in den Spalt um Colette doch noch zu ergreifen.

Doch vergeblich. Deren Verfolger waren nun zur Stelle und zogen diese mit sich, während der Spalt in der Erde immer breiter wurde.

„Elena, hilf mir! Verlasse mich nicht! Bitte hilf mir!“ hörte sie Colette flehen.

„Halte durch! Ich komme zu dir! Ich verlasse dich nicht!“

Elena setzte zum Sprung an, verfehlte ihr Ziel und  stürzte in die Tiefe.

„Du hast nicht an mich geglaubt, Elena. Deshalb müssen wir jetzt beide sterben. Du konntest  mich nie ernst nehmen. Hättest du meine Fähigkeiten gesehen und anerkannt, wäre uns das erspart geblieben. Aber du wußtest es besser. Für dich war ich immer nur eins, eine Witzfigur! Eine Witzfigur! Eine Witzfigur!“

 

Schweißgebadet schreckte Elena nach oben, ihr Herz raste wie ein D-Zug und  die Lungenflügel brannten fürchterlich, so als sie sei tatsächlich um ihr Leben gelaufen.

Die Tränen rollten über ihre Wangen.

Mit den Händen stützte sie sich auf und zog die Beine fest an ihren Bauch.

Madleen wurde ebenfalls aus dem Schlaf gerissen und erkannte nach kurzer Sammlung, dass Elena wieder einen dieser grässlichen Alpträume hatte.

„Was ist mit dir, Liebste? Wieder schlecht geträumt?“ Sanft legte Madleen ihren Arm um die Geliebte und versuchte diese in Richtung Decke zu ziehen. Doch Elena wehrte sich energisch.

„Ich will jetzt nicht schlafen! Es geht um Colette! Sie ist in Gefahr! Ich muss zu ihr! Sie scheint hier ganz in der Nähe zu sein und braucht mich. Dringend! Ich muss etwas tun!“

„Elena, komm zu dir! Es war ein Traum! Ein schlimmer Traum, aber sonst nichts!“ versuchte Madleen beruhigend auf sie einzuwirken.

„Nein! Es war mehr als ein Traum! Eine Vision! Ich weiß, dass sie in Not ist und meine Hilfe braucht. Ich muss zu ihr, auf der Stelle!“

„Elena, hast du mal auf die Uhr gesehen? Da!“ Madleen wies mit dem Zeigefinger in Richtung Radiowecker. „Es ist 3 Uhr morgens!  Wen glaubst du zu dieser Stunde zu erreichen? Niemanden! Also leg dich wieder hin und warte, bis der Morgen graut, dann können wir weiter sehen!“

„Aber ich muss doch etwas tun!  Wie könnte ich jetzt auch nur ans Schlafen denken.“

„So lange war Colette verschwunden. Meinst du, da kommt es jetzt auf so ein paar Stunden an?

Ich möchte sie doch auch kennen lernen. Habe so viel Gutes über sie gehört. Aber im Moment können wir nichts weiter tun als warten!“ meinte Madleen und zog Elena zu sich auf die Matratze. Diese ließ es  geschehen, hatte wohl eingesehen, wie unsinnig ihr Vorhaben war.

„Ich spüre das es ihr sehr schlecht geht! Ich muss etwas unternehmen, gleich am Morgen, wenn der Tag die Nacht ins Reich der Schatten verbannt hat.“

„Selbstverständlich wirst du das und ich werde dir dabei helfen!“ bot die Geliebte an. Dann begann sie Elena an sich zu ziehen, dabei deren Nacken und Wangen streichelnd.

„Alles wird gut! Colette kommt nach Hause und dann sind wir wieder vereint! Ich muss sie finden! Verstehst du, ich muss sie einfach finden!“

„Du wirst sie finden! Ganz bestimmt wirst du sie wieder finden!“ Bestätigte Madleen.

Noch immer klopfte Elena Herz vor Aufregung, aber in den Armen der Liebsten fand sie bald die Ruhe wieder und fiel Kurz darauf in einen leichten Schlummer.

 

Als die Dämmerung über den Himmel sickerte, war Elena schon auf den Beinen. Madleen die Langschläferin folgte ihr bald in die Küche.

„Du bist schon auf! Hattest einfach keine Ruhe mehr, was?“ meinte die noch immer schlaftrunkene mit einem Gähnen in der Stimme.

Elena kauerte auf einem der hölzernen Küchenstühle, die Beine nach oben gezogen und starrte unaufhörlich aus dem Fenster, das die Sicht auf den Klosterpark freigab. Es schien, als erwarte sie Colette jeden Moment um die Ecke ein biegend.

„Ich koch uns erst mal einen Kaffee!“ bot Madleen an und begann noch immer vor sich hin gähnend im Küchenschrank zu hantieren.

Der Kaffeelöffel fiel ihr aus der Hand und landete krachend auf dem Fußboden.

Elena zuckte vor Schreck zusammen.

„Entschuldige!“ Sie bückte sich und hob das Teil auf.

„Sie ist hier in der Nähe! Sie muss einfach hier sein! Nie habe ich in der letzten Zeit ihre Präsenz deutlicher gespürt. Sie ist nicht in der Lage zu uns durch zu dringen, irgendetwas hindert sie daran, so als fürchte sie sich nach Hause zu kommen.So nur kann ich mir einen Reim auf diesen merkwürdigen Traum machen.“

„Mag sein! Aber wo willst du konkret suchen? In der Gegend? Schön und gut. Aber in welcher Richtung? Osten, Westen, Norden , Süden?“ wollte Madleen wissen.

„Wenn ich das nur wüsste!“

Elena erinnerte sich der Worte Anarchaphilias. „Du wirst sie spüren! Ich werde dir zur rechten Zeit ein Zeichen geben!“ So oder ähnlich hatte diese mysteriöse Erscheinung aus der Anderwelt oder was immer sie auch zu sein vorgab vor nicht all zu langer Zeit gesprochen. Hatte sie wirklich gesprochen? Oder war auch das am Ende nur ein Traumgesicht, wie Elena vermutete?

„Trink erst mal den Kaffee und beruhige dich!“ Madleen stellte ihrer Gefährtin die Tasse mit dem dampfenden Getränk auf den Küchentisch.

„Wir überlegen dann genau, wo wir suchen werden. Möglicherweise helfen uns ja auch ein paar von den anderen.“

„Das ist lieb von dir, aber ich werde mich allein auf den Weg machen!“ lehnte Elena ab, nachdem sie ihren kalten Hauch über die Tasse hatte wehen lassen.

„Aber warum denn?“

„Heute ist Karfreitag! Ein Feiertag! Ich möchte weitestgehend Ruhe auf dem Gelände der Abtei. Ein Tag der Besinnung und Einkehr. Du wirst Sorge tragen das sich alle daran halten. Ich muss mich  alleine auf die Suche begeben. Ich kann dir jetzt nicht erklären warum. Später! Später reden wir in Ruhe darüber!"

„Na gut, wenn du meinst! Bist du dir sicher, dass du allein zurechtkommst?“ erwiderte Madleen etwas enttäuscht.

„Ich muss Colette finden, ich habe es gelobt und ich brauche sie so dringend hier. Ich werde nicht ohne sie zurückkommen, es könnte durchaus längere Zeit in Anspruch nehmen. Deshalb solltest du hier vor Ort bleiben.

Ich bin verantwortlich dafür, dass sie damals geflohen ist, ich fühle mich schuldig. Colette ist eine von uns, sie gehört zu uns, die Abtei ist ihr Heim und ich werde sie nach Hause holen.“

„Du solltest dich nicht schuldig fühlen! Die anderen haben auch ihren Anteil, viel mehr als du und von dem Dreckskerl Neidhardt gar nicht erst zu reden.“ protestierte Madleen.

„Natürlich hast du Recht! Aber ich bin nun mal so etwas wie eine Leitfigur, auch wenn ich mich ständig dagegen auflehne. Ich trage die Verantwortung.“

Madleen sah ein, dass es sinnlos war, weiter zu widersprechen. Elena tat immer was sie für richtig erachtete.

„Ich geh dann schon mal vor. Wir frühstücken heute wieder alle gemeinsam im Refektorium.

Komm nach, wenn du soweit bist. Ich möchte alle beisammen haben.“ sprach Elena nach einer Weile des Schweigens, dann leerte sie ihren Tasse mit dem inzwischen lauwarmen Kaffee und wandte sich zum Gehen.

In der Tat wäre ihre Anwesenheit von Nöten, denn die Baustellen überall auf dem Gelände strebten nach Vollendung. Finanziell stand es im Moment gut um die Gemeinschaft, denn in der Zwischenzeit waren weiter Angehörige der einstigen Privooberschicht dem Beispiel Cassandras gefolgt und hatten ihr Vermögen in die Kommune eingebracht, schon um zu vermeiden das es Neidhardt und seinem Regime in die Hände fiel. Damit konnten die angestrebten Baumaßnahmen ohne Furcht vor einer eventuellen Verschuldung in Angriff genommen werden

Größtes Projekt war im Moment zweifelsohne der bisher weitgehend ungenutzte Dachboden des Konventsgebäudes, ca 80 m lang, 10 m breit und etwa 6 m hoch mit spitz nach oben laufenden Giebeldach, zog der sich über das gesamte Konventsgebäude.

Elenas Traum war dessen Ausbau zu einem geräumigen Meditationsraum. Hier wollte sie einen Ort der Stille schaffen, weit abgelegen vom geschäftigen Treiben, das schon in Kürze wieder das Gelände bestimmen würde. Zu erreichen war der Raum nur von einer hölzernen Wendeltreppe vom darunter liegenden Stockwerk, dort wo sich die um gestalteten Wohneinheiten befanden.

Die Decke sollte mit Holzpaneelen abgeschlagen werden und in regelmäßigen Abständen mussten große lichtdurchflutete Dachfenster eingesetzt werden. Ferner sollten Bad und Toilette eingerichtet werden und eine kleine Küche, um sicher zu stellen hier auch über mehrere Tage ungestört meditieren und forschen zu können. Die neu zu belebende Schwesternschaft sollte sich hier vor allem in der kalten und dunklen Jahreszeit zu mehrtägigen Klausuren versammeln. Alle anwesenden Töchter würden dann auch gemeinsam in dem großen Raum übernachten. Damit sollte der Gemeinschaftsgeist weiter gestärkt werden.

Bautätigkeiten gab es aber auch im darunter liegenden Stockwerk um weitere abgeschlossene Wohneinheiten fertigzustellen, sowie in einzelnen Nebengelassen.

Ferner mussten auch Parkanlage und Gärten neu bewirtschaftet werden.

Noch war die Gemeinschaft auf dem riesigen Gelände recht überschaubar, verloren sich die Bewohner in den wuchtigen Hallen, die den Kreuzgang umschlossen. Es kam immer wieder vor, dass sich einige verliefen, obgleich sie schon so lange hier beheimatet waren. In nicht all zu ferner Zeit sollte sich das Gelände mit vielen Menschen bevölkern.

 

„Hört mal alle her!“ rief Elena in die Runde, die sich gerade in Refektorium zum gemeinsamen Frühstück eingefunden hatte, das gleichzeitig als Arbeitsbesprechung diente.

Das Klappern von Geschirr wollte nicht sogleich verstummen, so dass sich Elena mit ihrem Glöckchen lauthals Gehör verschaffen musste.

„Versucht doch für einen kurzen Moment das Geblubber einzustellen!“ fuhr sie fort und jeder im Raum konnte an ihrem Tonfall erkennen, das sie ungehalten war. Ein Zustand, der nicht häufig vorkam, wenn aber doch, dann mit Energie.

Endlich verstummten die letzten störenden Geräusche und eine wohltuende Stille legte sich wie eine flauschige Decke über das Refektorium.

„Ich werde eine Zeitlang weg sein. Wie lange vermag ich nicht zu sagen, noch im Laufe des Vormittag breche ich auf um nach Colette zu suchen!“

„Colette?  Weißt du denn genau, wo sie sich aufhält?“ wollte Ronald wissen.

„Das nicht, aber ich spüre, dass sie ganz in der Nähe ist. Ich bin im Moment außerstande, euch zu erläutern, wie ich das vermag. Darüber werden wir uns später einmal ausführlich unterhalten. Hebt euch eure Fragen also für einen späteren Zeitpunkt auf.“

„Ist schon ne Weile her seit unserem letzten Zusammentreffen, damals bei diesem unsäglichen Konzert mit Alexandra.“ beim Aussprechen des Namens seiner Frau senkte Ronald betrübt den Kopf.

„Wenn Colette wieder bei uns ist, hole ich Alexandra. Ich habe es dir versprochen, Ronald, und ich werde mein Versprechen halten.“ meinte Elena.

„Das ist wundervoll, Elena. Ich bin so froh, dass Colette endlich wieder kommt. Ich kann gar nicht beschreiben, wie toll ich das finde.“ begeisterte sich Kim.

„Langsam, noch ist sie nicht hier. Ich werde sie erst suchen müssen. Es könnte länger dauern.

Ihr werdet in der Zeit meiner Abwesenheit dem Folge leisten, was Madleen euch sagt. So werden wir das im Übrigen ab diesem Zeitpunkt immer halten. Eine von uns wird stets vor Ort präsent sein. Wenn ich nicht hier bin, haltet euch künftig an Madleen.“

Die Tür öffnete sich und Lukas entledigte sich im Türrahmen geräuschvoll seiner dreckverschmierten Arbeitsschuhe, um nicht den Parkettfußboden zu versauen. Danach schlurfte er zu seinem Platz.

Dabei war es schon ein Novum, dass er die Schuhe überhaupt von den Füßen zog. Oft trampelte er mit den Dreckschuhen darauf los und verteilte dabei sehr zu Luisas Leidwesen die Klumpen feinsäuberlich im ganzen Raum. Luisa, die seit kurzem als Hauswirtschafterin fungierte, achtete penibel auf Sauberkeit. Zoff war hier häufig vorprogrammiert.

„Morgen alle zusammen! Hab ich was verpasst?“

„Wie immer zu spät, Lukas! Lass es dir später von den andern erklären, denn das geht auch dich an.

„Setzt dich endlich hin, Mensch, es geht hier gerade um Colette: Stell dir vor, Elena wird sie nach Hause holen.“ klärte Kim auf.

„Echt? Prima, Elena.“ Lukas klatschte in die Hände. Elena blickte nur missbilligend zu ihm herüber.

„Schuldigung!“

„Kann ich jetzt weiter machen? Also, ich werde nicht ohne Colette zurückkommen, es könnte also dauern, womöglich kehre ich erst morgen zurück. Alles ist offen. Eine ganz besondere Bitte richte ich an euch. Wenn ich mit ihr erscheine, zu welchem Zeitpunkt auch immer, dann stürmt nicht gleich auf sie ein, löchert sie nicht mit unnützen Fragen. Colette war lange weg. Wir wissen nicht, wie es ihr derzeit geht. Nehmt sie herzlich auf, wie man eine Schwester aufnimmt. Aber laßt sie zunächst weitgehend in Ruhe. Sie muss ankommen. Die meisten von uns haben sich an ihr schuldig gemacht.“

„Wem sagst du das, Elena. Ich traue mich kaum, ihr in die Augen zu blicken, so schuldig fühle ich mich. Es tut mir alles so unendlich leid.“ jammerte Gabriela.

„Mir brauchst du das nicht zu sagen Gabriela. Sag es ihr, wenn sie wieder bei uns ist. Die Kraft wirst du aufbringen müssen. Da geht kein Weg dran vorbei.“ bestimmte Elena und ihre Gestik verriet, dass sie in dieser Angelegenheit keinen Widerspruch duldete.

„Sollte nicht doch wenigstens einer mit kommen? Ich meine nicht mich. Es könnte doch auch jemand anders sein.“ schlug Madleen vor.

„Nein, das ist allein mein Job. Ich trage die Verantwortung dafür, dass sie damals gegangen ist und ich werde sie zurück bringen. Ihr alle tragt Sorge dafür, dass sie sich wohl fühlt und es ihr an nichts fehlt.“

„Heute ist Feiertag, es wird nicht gearbeitet. Nehmt euch die Zeit in euch zu gehen und auf das Osterfest vorzubereiten. Elena und ich haben uns überlegt es in diesem Jahr auf ganz besondere Weise zu begehen.“ sprach Madleen quasi das Schlusswort.

„Gut gesprochen! Wir gehen in uns“ flaxte Lukas.

„Ach, sei doch endlich still, Lukas, musst du uns denn schon so früh am Morgen  mit deinen Gags nerven.“ beschwerte sich Kim.

Elena verließ schnurstracks das Refektorium und eilte durch die langen, hohen Gänge am Kreuzgang entlang bis sie schließlich die wuchtige Pforte erreichte.

Sie war in diesem Moment noch unschlüssig, ob sie ihre Mamasaki starten oder lieber ein Auto aus dem Fuhrpark holen sollte.

 

Letztendlich entschied sie sich für ihren zackigen Feuerstuhl.

Die Mamasaki schien wie geschaffen für ihr Vorhaben. Nein, ein schwarzes Ross hatte sie nicht zur Verfügung, um damit wie eine Kriegerin in die Schlacht zu reiten, mit dem Ziel, Colette aus dem Burgverlies zu befreien, dann auf ihren Sattel zu heben um mit ihr in die Freiheit zu galoppieren. Eine Freiheit, die nie mehr enden sollte.

Statt auf den Sattel eines edlen Rosses würde sie Colette auf den Sozius platzieren. Mit ihr gemeinsam in den erwachenden Frühling brausen und sich den Wind um die Nasen wehen lassen.

Ende April, die Sonne heizte zum ersten Male ordentlich auf, eigentlich schon fast zu warm für die hautenge Lederkluft. Doch Elena glaubte, darin noch mehr Eindruck zu machen, immerhin könnte es ein, dass sie Colette aus widrigen Umständen zu befreien hatte Die kupferrote Lockenmähne lugte weit unter dem Integralhelm hervor. Die Kampfamazone einer modernen Zeit. Starten, dann ging es mit lautem Dröhnen auf und davon.

Nach etwa vier Kilometern stoppte sie plötzlich ihre Fahrt. Wohin eigentlich führte ihr Weg? Sie hatte nicht die geringste Ahnung.

Frustriert setzte sie den Helm ab und ein plötzlicher Windstoß wirbelte die Haare nach allen Richtungen so dass es ihr Mühe bereitete diese zu bändigen.

„Wo find ich dich Schwester? Wo hältst du dich verborgen, armes geschundenes Herz? Gib ein Zeichen und ich werde dich finden.“ sprach sie mehr zu sich selbst.

„Zunächst immer geradeaus!“ hörte sie eine Stimme. Woher kam die? Aus der Ferne oder aus ihrem Inneren, sie vermochte es nicht zu sagen. Egal. Sie tat einfach wie ihr geraten.

So verlief die Fahrt eine kurze Weile, sie durchquerte dabei den Wald oberhalb der Abtei, immer höher immer steiler bis sie sich auf der weiten Hochebene wiederfand.

„Nach links!“ Scharf schnitt Elena die Kurve, gerade noch rechtzeitig, um ein Haar hätte sie diese Abfahrt versäumt. Nun ging es wieder steil bergab.

„Hm, nach Lauterstein also!“ dachte Elena. Das kleine Kaff lag in einem Tal um geben von den wuchtigen Bergen des Grauhaargebirges. Plötzlich fand sie sich an der Kreuzung wieder. Drei Feldwege boten eine Variante.

„Ach ja, und nun? Schöner Lotse bist du, unbekannte Stimme!“

„Nach rechts!“

Elena bog ein.

„Nein, ich meinte nach links!“

Vor sich hin fluchend wendete Elena die Maschine und machte kehrt. Im Schritttempo näherte sie sich dem Ort, schnell hatte sie ihn durchquert, mehr als 500 Seelen lebten hier nicht. Es war früher Nachmittag, kein Mensch zu sehen. Immerhin war heute ein Feiertag, so verwunderte das nicht weiter.

Das Ortsschild hatte sie bereits hinter sich gelassen, als ihr die Stimme signalisierte, einen Feldweg zu ihrer Rechten einzubiegen.

„Aber dann kommen wir ja wieder zurück! Ach, da ist doch … .“

Elena unterbrach ihr Schimpfen, als sie in etwa 100 Metern eine winzige Bauwagensiedlung entdeckte, ganz am Randes des Dorfes, von der gegenüberliegenden Seite nicht ersichtlich.

Man musste sein Fahrzeug schon um das Dorf herumlenken um fündig zu werden.

Schön, aber was um alles in der Welt hatte das mit Colette zu tun?

Als sich Elena langsam den Wagen näherte, erkannte sie, dass es sich um Wohnwagen eines winzigen Wanderzirkus handelte. Solche Art, wie sie in der letzten Zeit wieder des Öfteren unterwegs waren. Die fanden sogar schnell ihr Publikum, vor allem in ländlichen Gebieten, seit das Fernsehen auf ganze 3 TV-Sender zusammengeschrumpft war. Kein Vergleich zu dem Überangebot früherer vorrevolutionärer Tage. Zudem strotze das Fernsehprogramm nur so vor Propagandasendungen. Da war es doch allemal besser, in einen Zirkus zu gehen, so klein und unscheinbar der auf den ersten Blick auch wirken möchte.

Elena stoppte und stieg ab, setzte den Helm ab und band ihn an den Rückgriff.

Vorsichtig näherte sie sich einem der Wagen. In ihrem Herzen verspürte sie ein eigenartiges Grummeln. Sie öffnete die Tür des ersten Wagens, schloss sie aber sogleich wieder, niemand zu sehen.

Dann bewegte sie sich auf den zweiten zu.     

Sie blickte auf ihre Handflächen, da hatte sich der Schweiß gesammelt. Am ganzen Körper begann sie nun zu zittern, zögernd betätigte sie die Türklinke und sah sich um. Eine wilde Unordnung bot sich ihr dar. Alles lag durcheinander, zudem schlug ihr ein miefiger Geruch entgegen.

Ihr Blick fiel auf die zusammengekauerte Gestalt dort auf der Liege. Der Stich im Herzen ließ nicht den geringsten Zweifel zu, es war Colette.

Sofort schossen Elena die Tränen in die Augen.

Langsam und ganz leise ließ sie sich auf der schmalen Bettkante nieder, streckte ihre Hand aus und strich Colette zärtlich durch deren graues Haar, immer wieder, bis das linke Ohr unter den Locken zum Vorschein kam.

Noch Schlaftrunken drehte Colette den Kopf zur Seite und blickte in Elena tränenbewegte Augen. Auf deren Mund bildete sich dieses bezaubernde unnachahmliche Lächeln, dass sie so lange vermisst hatte.

Zweifel bohrte sich in Colettes Bewusstsein, erlag sie etwa einer Halluzination?

„Colette, erkennst du mich nicht? Ich bin es, die Elena!“ flüsterte diese mit sanfter Stimme, die sich wie Balsam auf Colettes gepeinigter Seele niederließ.

„Elena! Du bist es wirklich! Was tust du hier?“

„Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu bringen! Komm!“

Elena breitete die Arme aus, Colette richtete sich auf und tat es ihr gleich. Nie gab es wohl eine rührendere Umarmung. Elena strich mit den Handflächen Colettes Rücken. Sie rieben einander ihre Nasen und Elenas Lippen fanden jene von Colette, mit der rechten Handfläche fuhr Elena über Colettes Wange, die wandte sich erschrocken ab.

„Berühr mich nicht dort! Hab mich heute noch nicht rasiert.“

Kein Zweifel, Colette verwahrloste,  nie im Leben wäre es ihr früher in den Sinn gekommen mit Bartstoppeln durch die Gegend zu laufen. Dann begann Colette zu weinen. Elena nahm deren Kopf in beide Hände und drehte ihn zu sich. Dann verabreichte sie Colette einen langen Kuss.

„Komm mit mir, meine Schöne. Ich bringe dich hier fort. Zuhause werde ich dich baden und salben, rasieren und frisieren und dich in weiche Daunen gehüllt liebkosen, bis du in meinen Armen einschläfst. In Samt und Seide sollst du gehen."

„Elena, ich kann nicht mit dir gehen. Nie werde ich in die Abtei zurückkehren. Ich habe euch verraten. Habe dem Teufel meine Seele verkauft. Ich war Neidhardts Musikantin. Unsere Ideen habe ich in den Schmutz getreten. Tiefer kann ein Mensch nicht sinken.“

„Doch, du kannst und du wirst mit mir gehen. Ich werde diesen Ort nicht ohne dich verlassen und wenn es eine Woche dauert, dich zu überreden.“

„Ich kann nicht, so sehr ich auch vor Sehnsucht vergehe. Aber ich habe einfach nicht die Kraft. Ich bin in der Abtei von soviel Schönheit umgeben, Schönheiten, die mich durch ihre Anwesenheit an die Wand drücken. Seht euch doch nur im Spiegel an. Alle Schwestern, so verschieden ihr auch seid, eines verbindet euch, ihr seid wunderschön. Weibliche Sinnlichkeit voller Anmut und Würde. Seht mich dagegen an, eine Vogelscheuche, die sich ins Paradies verirrt hat. Wie ich dir zum Abschied damals schrieb. Ich war es immer und ich werde beständig bleiben, eine Witzfigur.“

„Colette, sieh mich an!“ Erneut drückte Elena ihre Handflächen auf Colettes Wangen und drehte deren Kopf so, das sie ihr in die Augen blicken konnte.

„Niemals warst du eine Witzfigur. Wenn du in die Abtei zurückkehrst, wirst du erst recht keine mehr sein. Du gehörst zu uns, bist eine von uns. Du bist nicht mehr oder weniger Frau als alle anderen, dein männlicher Körper ist dabei vollkommen ohne Belang. Es ist die Seele, die zählt. Der Körper ist vergänglich, er wird eines Tages sterben und vergehen, zu Staub zerfallen. Die Seele ist unsterblich, sie bleibt auf ewig. Und auf ewig wirst du Frau sein.“

Du kannst uns alle noch viel lehren … .“

Elenas Beschwichtigungsversuch wurde jäh durch das Knarren der Tür unterbrochen. Dort erschien ein Typ, der ihr als ausgesprochen unangenehm erschien, ein behaarter Rohling, in dessen teigigem Gesicht ein Augenpaar schwamm, so, als ob es gar nicht dazugehörte.

Die Schnapsfahne, die er vor sich her trug, würde man wohl noch in 30 Metern Entfernung riechen können.  

„Hey Colette, Scheißkundra, was hängst du hier noch rum. An die Arbeit. Die Stallwagen sind auszumisten, an schließend sind die Scheißhäuser dran. Wenn du damit nicht gleich beginnst, trete ich dir in den Arsch, also auf und … ungggrrrlll

Weitere Beschimpfungen kamen nicht über seine Lippen, weil Elena ihm auf äußerst schmerzhaft Weise die Gurgel zusammendrückte.

„Halt die Schnauze, du Kraftprotz oder ich quetsch dir die Gurgel zusammen auf das du nie wieder einen Laut über deine Lippen bringst. Außerdem trete ich dir in die Eier, dass du die Engel im Himmel singen hörst.“

Darauf hin stieß ihn Elena einfach vor die Tür.

„Was war das denn für einer? Wie redet der  mit dir? Mit was für Leuten lebst du hier zusammen? So darf der nicht mit dir um springen!“ empörte sich Elena.

„Ach der, der tut noch ganz was anderes, wenn er schlecht drauf ist. Es kommt auch vor, das er mich schlägt.“

„Er tut waaaas?“

Mit einem Satz sprang Elena aus dem Wagen und rannte auf den völlig Überraschten zu.

„He, bleib stehen du Wichser!“

Wie eine Furie stürzte sich Elena auf ihn und versetze diesem eine Tracht Prügel, wie er sie wohl noch nie im Leben hatte einstecken müssen.

Piff, Paff, Bumm, Klatsch! hörte Colette im Inneren des Wagens und als sie einen Blick durch das verdreckte Fenster warf, konnte sie nur noch sehen, wie der Kerl am Boden kniete, dann auf die Seite rollte und sich  mit schmerzverzerrtem Gesicht den Unterbauch hielt. Ob er nun tatsächlich Engelsstimmen hörte, konnte niemand in Erfahrung bringen.

Elena staunte nicht schlecht über die obszönen Kraftausdrücke, derer sie sich gerade bedient hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals solch einen Wutausbruch verspürt zu haben.

Kaum hatte sie zugeschlagen, reute es sie schon wieder. Musste sie, die geübte Karatemeisterin, wirklich so derb hinlangen?  Der Typ war sicher auch nur einer dieser armen Teufel, den das Schicksal an die Flasche gebracht hatte.

Doch andererseits hatte niemand das Recht auf diese Weise mit ihrer Colette umzugehen.

„Dem hast du`s aber gegeben! Armes Schwein!“

„Nun sag nur, dass du ihn auch noch bedauerst! Nein so was! Ich konnte einfach nicht mehr an mich halten. Es ist einfach über mich gekommen!“

Schwungvoll ließ sich Elena wieder auf der Liege nieder. Sie beschloss dem soeben Geschehenen keine weitere Beachtung zu schenken und einfach so zu tun, als habe der Vorfall niemals stattgefunden.

„Also, wo waren wir stehen geblieben. Der Blödmann hat mich total durcheinander gebracht.“

„Du warst dabei mir einzureden, dass ich eine Schönheit sei. Glaubst du nicht, dass du mich durch diese Aussage verhöhnst, sicher unbewusst. Wenn ich aber in den Spiegel blicke, kann ich nichts entdecken, was auch nur annähernd mit Schönheit in Verbindung zu bringen ist,“ glaubte Colette zu wissen.

Dies brachte Elena in Erklärungsnot. Colette war sicher keine Vogelscheuche, aber eine besondere Schönheit ebenfalls nicht. Aus diesem Grund glaubte Elena, das Gespräch in eine andere Richtung lenken zu müssen.

„Colette, Schönheit ist ein relativer Begriff. Jemand blickt auf etwas und entdeckt darin Schönheit, ein anderer kann das nicht nachvollziehen. Es kommt nicht auf die Äußerlichkeiten an. Es ist unser Tun, was uns unsterblich macht.“

„Und was habe ich getan, was mich in deinen Augen so wertvoll macht?“

„Colette, ich bitte dich! Das fragst du?“ Elena kuschelte sich eng an die Schwester, legte ihren rechten Arm um deren Schulter, mit ihrer linken Hand ergriff sie Colettes Hände, begann diese zu streicheln, sanft berührten ihre Lippen Colettes Wage. Im Anschluss sprach Elena die bedeutenden Worte in Colettes Ohr.

„Was du getan hast, ist kaum mit Gold aufzuwiegen. Es klingt wie eine Litanei, was ich dir zu sagen habe, aber es entspricht einfach den Tatsachen dass OHNE DICH so vieles in eine völlig andere Richtung geführt hätte!“

„Es wäre sicher auch ohne mich gegangen. Dann hätte eben ein anderer die Initiative ergriffen!“ versuchte Colette ihre Rolle herunterzuspielen.

„Nein! Ganz und gar nicht! Du warst zur Stelle, als die Not am größten war. Pass auf!

Ohne dich hätte die kleine Tessa nicht nur ohne Vater aufwachsen müssen, sondern auch ohne Mutter, als Waise. Denn! Ohne dich wäre ich geistig umnachtet in einem Sanatorium gelandet. Es war deine Liebe, die mir das Leben wieder schenkte.

Ohne dich hätten Leanders Eltern erneut ihr Zuhause verloren und auch Pater Liborius hätte sich auf seine alten Tage noch eine neue Bleibe suchen müssen, nachdem er über 40 Jahre die Abtei sein Heim nennen konnte. Auch Klaus und Gabriela und all die andern wären gezwungen neu anzufangen. Ohne dich wäre Lukas niemals auf unser Gelände gekommen, du warst es, die ihn auf der Straße aufgelesen hat, ihn und noch viele andere, die eine Heimat finden durften.

Ohne dich wäre ich meiner große neue Liebe nie begegnet. Denn ohne dich hätte ich Madleen niemals kennen lernen dürfen, sie nicht und auch nicht deren große Familie und alles was dazu gehört. Verstehst du, was ich damit meine? Und das ist nur der Anfang! Nur der Anfang!

Ohne dich, Colette, wäre Melancholanien nach nicht einmal ganz zwei Jahren erneut in einen blutigen Bürgerkrieg geraten!“

„Wie kommst du denn darauf? Ich hab doch gar nichts dazu beigetragen!“ wand Colette voller Erstaunen ein.

„Verstehst du den Zusammenhang nicht ? Durch deine Initiative konnte die Abtei für uns erhalten werden. Auf diese Weise entwickelte sie sich zu diesem sonderbaren Phänomen eines exterritorialen Gebildes. Ronald hatte die Möglichkeit auf diesem Gebiet Zuflucht zu finden, er und eine Reihe seiner ehemaligen Anhänger.

Was glaubst du wohl hätte er ohne diesen Ausweg getan?“

„Ja, was, was hätte er denn getan, statt dessen? Klär mich auf!“ unterbrach Colette.

„Gekämpft, Colette! Einfach weitergekämpft, bis zum bitteren Ende und dabei sein Leben verloren. Er und noch viele, viele andere. Was sollte er auch tun. Ihm war schnell bewusst, dass dieser sinnlose bewaffnete Aufstand gegen Neidhardt und dessen Regime völlig aussichtslos war. Diese kleine Schar gegen eine gewaltige Übermacht. Er wollte nicht in Gefangenschaft gehen, also tat er, was Soldaten immer tun, wenn sie einen ehrenvollen Abgang suchen.

Du verstehst mich nicht?“

„Ich verstehe nur Bahnhof!“

„Colette, das Kausalprinzip! Ursache und Wirkung! Du warst die Ursache, du hast in der schweren Zeit des Umbruches und der Neuorientierung die Initiative ergriffen und die Abtei vor dem Verfall bewahrt, hast die Saat neu ausgelegt, damit sie keimen und austreiben konnte, um heute wieder in reicher Frucht zu stehen. Ronald hatte die Möglichkeit, Frieden zu schließen und sich auf das Territorium der Abtei zu begeben, er und Ansgar von der Gegenseite."

Langsam schien es Colette zu dämmern. Es entsprach den Tatsachen, was Elena da über ihre Lippen brachte. Es war einfach zu gigantisch, was sie da zu hören bekam.

„Auch die viel andern guten Projekte hätten nie entstehen können, wäre die Kommune damals auseinandergefallen. Keine Sozialstation, kein Waisenhaus, kein Krankenhaus. Ja, du hörst richtig, diese Dinge sind im Begriff zu wachsen. All das konnten wir schaffen, dank deiner Initiative von damals. Und das Beste ganz zum Schluss, Ohne dich könnten wir auch die Schwesternschaft nicht wieder ins Leben rufen. Ja, deine Gefährtinnen warten auf dich und hoffen, dass du deinen Platz wider bei uns einnimmst, ein Platz ganz weit vorne.“

Elena umarmte Colette und zog sie ganz fest an sich.

„Wir beide werden dem alten Bund neues Leben einhauchen, wir zwei werden die Schwesternschaft leiten. Glaubst du, ich würde dich hier zurücklassen und seelenruhig zu sehen, wie du Toiletten reinigst und Ställe ausmistest? Du, die du zu etwas viel Größerem berufen bist?“

„Das klingt zu schön, um wahr zu sein! Aber ich kann es nicht; Elena! Ich war des Teufels Musikantin, hast du das vergessen? Ich habe alles verraten, an das wir einmal glaubten und mich Neidhardt ausgeliefert, für seine Interessen die Propagandatrommel geschlagen. Ich werde diese Schuld niemals sühnen können!“ Resignierend senkte Colette den Kopf und begann zu weinen.

„Schuld? Welche Schuld? Niemand wird dir deswegen einen Vorwurf machen. Du warst mittellos, obdachlos. Du suchtest eine Möglichkeit, zu überleben und fandest diese. Du handeltest in Not. Es gibt keine Schuld. Erinnere dich Kovacs Lehre. Wer ist der wirkliche Dieb? Jener, der ein Brot stiehlt um seinen Hunger zu stillen, weil er eine andere Art der Brotbeschaffung nicht findet? Oder trägt nicht vielmehr jener die Schuld, dessen Handlungsweise, dessen Politik dazu führte, dass Menschen in Not geraten, dass sie Brot stehlen müssen, um nicht zu verhungern?

Deine Notlage begründete dein Handeln. Andere tragen die Schuld. Neidhardt natürlich. Auf schamlose Weise hat er deine Not für seine Propagandazwecke ausgenutzt. Mehr noch als Neidhardt tragen aber wir, deine Schwestern, Schuld in uns.

Neidhardt ist ein Diktator, ein Tyrann, es ist sein Geschäft, Menschen gegeneinander auszuspielen, nur so ist es im auf Dauer möglich, seine Macht zu sichern. Von ihm ist nichts anderes zu erwarten, keiner wird davon ausgehen, dass der Machtbesessene über Nacht zum Menschenfreund mutiert. Wir aber sind deine Schwestern, sind ein Bund, geschaffen um Gutes zu wirken. Und um Gutes nach draußen zu tragen, müssen wir erst einmal bei uns den Grundstein legen. In Liebe und Solidarität wollten einander tragen, haben wir einmal geschworen.

Wenn eine Schwester in Nöten ist, wenn sie Kummer hat, sich einsam oder ausgegrenzt fühlt sind wir in der Pflicht an ihrer Seite zu stehen. Wenn eine leidet, leiden alle anderen mit. Wir haben es nicht getan, haben dich allein gelassen,  somit tragen wir die Schuld für dein späteres Tun.

Ich sage es jetzt! Verzeih mir! Zwei Worte, die so vieles bewirken können. Die anderen werden es dir später sagen, dann wenn wir zuhause sind.“

Elena griff in ihre Tasche, holte ein Tuch heraus und begann Colettes Tränen zu trocknen.

„Nie mehr sollst du um unsertwegen Tränen vergießen müssen. Komm, lass uns nach Hause fahren!“ Elena erhob sich und streckte Colette beide Hände entgegen.

Nach kurzem Zögern griff diese danach und Elena zog sie nach oben.

„Ich komme mit! Auch wenn ich noch immer starke Bedenken habe. Wie werden sie mich empfangen, die anderen?“ meinte Colette noch immer niedergeschlagen.

„Wie eine Königin, Colette! Wie eine Königin, die nach langem Exil in ihr Reich zurückkehren darf!“

„Dann lass uns aufbrechen, bevor es dunkel wird und die Nachtraben fliegen!“ erwiderte Colette und dieser kleine Scherz sollte den Eispanzer endgültig zum Bersten bringen.

Elena fiel Colette um den Hals.

„Genau! Bevor die Nachtraben kommen! So liebe ich dich! Das ist meine gute alte Colette!“

Schnell waren die wenigen Habseligkeiten, die Colette noch ihr Eigen nennen konnte, in einem alten olivgrünen Leinenrucksack verstaut.

Nur weg hier, weg von diesem schlimmen Ort der Demütigung und Unterwerfung.

Sie ließen den Wagen und die bösen Erinnerung hinter sich und bewegten sich auf die Mamasaki zu, die beide willkommen hieß.

„Ich hab noch nie bei dir auf dem Motorrad gesessen. Komisch, dass ich gerade jetzt, in einer solchen Situation, damit beginne.“ sprach Colette und strich mit der Handfläche über den glatt polierten schwarzen Lack.

„Nun, dann wird es höchste Zeit, damit anzufangen. Ich hoffe, ihr freundet euch schnell an, denn ich könnte mir vorstellen, dass wir in Zukunft des Öfteren gemeinsam ausfahren. Also dann aufgesessen.“

Etwas ungeschickt ließ sich Colette auf dem Sozius nieder. Zaghaft umfasste sie Elenas Taille.

Diese packte Colettes Hände und zog sie noch enger an sich.

„Gut festhalten, Colette! Ich möchte meine kostbare Fracht nicht noch unterwegs verlieren.“

Wie ein Blitz eilten sie davon. Nun ging es steil bergauf. Über die Hochebene, dann wieder hinab. Schon nach einer Viertelstunde konnten sie die Turmspitzen der Basilika erblicken.

Als sie sich auf der Höhe des Sandsteinmassives befanden, stoppte Elena.

„Warum halten wir hier? Es ist doch gar nicht mehr weit bis zur Abtei?“ wollte Colette wissen.

„Nur mal kurz innehalten und den Kräften, die mich leiten, meinen Dank aussprechen.“ antwortete Elena, während sie ihren Körper vom Sitz schwang.

Sie trat zu Colette, legte ihren Arm um dessen Schulter.

„Sieh es dir gut an, unser Zuhause. Ein Zuhause wird erst dann zum richtigen Heim, wenn man es mit andern lieben Menschen teilen kann. Ach übrigens, ich habe ganz vergessen, dir zu sagen, dass  Chantal zurückgekehrt ist. Vor etwa einer Woche stand sie plötzlich vor der Tür, einfach so. Das war eine große Freude für uns. Die wurde einfach nur von schrecklichem Heimweh geplagt. Dabei hatte sie eine gute Stellung als Moderatorin in Monetanien. Alles hat sie aufgegeben nur um wieder bei uns zu leben. Ist das nicht großartig?“

" Da bin ich ja nicht die einzige verlorenen Tochter, die zurückgefunden hat.“ erwiderte Colette.

„Das bist du auf keinen Fall, auch Alexandra und Kyra werden zurückkehren, davon bin ich überzeugt. Aber sag mal, wie ist es dir denn ergangen die ganze Zeit? Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen. Warst du die ganze Zeit bei diesen Leuten dort unten?“ Elena wies mit dem Zeigefinger in die Richtung aus der sie gerade gekommen.

„Komm, lass uns dort drüben am Felsen Platz nehmen! Ein wunderbarer Platz um zu reden.“

Sie ließen sich auf einem flach auf dem Boden liegenden Felsblock nieder.

„Oder möchtest du nicht darüber reden?“ fuhr Elena fort.

„Doch, doch, ist schon in Ordnung. Also, wo soll ich beginnen? Als ich damals mit meiner Karriere am Ende war, versuchte ich mich so recht und schlecht durchzuschlagen. Dann wurde es besser.Ich ging nach Deutschland, zunächst nach Berlin. Dort stieß ich auf ganz interessante Leute. Hast du schon mal von den Sufis gehört?“ begann Colette ihren Bericht.

„Sufis? Das sind muslimische Mystiker, die einen ganz liebenswerten toleranten Islam predigen und leben. Meinst du die?“

„Ja, genau die.  Die unterhielten in Berlin ein Zentrum.

Ich fühlte mich auf Anhieb wohl und heimisch. So ein Gefühl, wie ich es nur aus der Zeit in der Abtei kannte. Die nahmen mich vorbehaltlos auf und behandelten mich, wie soll ich sagen, wie eine der ihren. Mit Hochachtung und Respekt, ja mit Liebe. Und was ihre Lehren betrifft, stell dir vor, die sind den unseren so ähnlich.“

„Das ist wunderbar! Aber warum bist du denn dort weg?“

"Der Islam ist weltweit im Wandel. Der Fundamentalismus auf dem Vormarsch. Auch an den Sufis geht dieser Kelch nicht vorbei.Irgend wann bekam der Orden ein neues Oberhaupt, dessen Einstellung konservativ und reaktionär. Bald schwand die tolerante und liberale Atmosphäre, das bekamen vor allem die Frauen zu spüren die hier bisher fast gleichberechtigt lebten. Von den Kundras gar nicht erst zu reden. Wieder verlor ich eine Heimat und zog von dannen. Die Odyssee ging weiter. Ich probierte mich in vielen Dingen. Lebte in verschiedenen Gemeinschaften Dann zog es mich aus unerklärlichen Gründen in die Heimat zurück.

Wieder in Melancholanien, abgebrannt und mittellos, schloss ich mich diesem  Wanderzirkus an.

Die meisten dort behandelten mich ganz gut, andere nicht, wie du dich selbst überzeugen konntest.“

"Leicht hattest du es nicht, mit Chantals Situation kaum vergleichbar. Aber nun wird alles gut. Erst mal wieder nach Hause kommen. Aber diese Sufis? Du hast mich neugierig gemacht. Erzähl mir mehr darüber.“ forderte Elena.

„Oh, wo soll ich beginnen? Ihre Lehre ist so umfangreich, so voller Leben, das kann man nicht in eine paar Stichpunkten abhandeln!“ gab Colette zu bedenken.

„Wir haben Zeit, Colette, viel Zeit. Niemand drängt uns zu etwas!“ beharrte Elena weiter auf ihrer Forderung.

„Alles in ihrer Lehre dreht sich um unser Ego und die Art und Weise, wie wir es überwinden können. Dieses Ego, so sagen sie, spiele eine Rolle in unserem psychischen Verteidigungssystem, als Schutz vor den Egos anderer, was dazu führen kann, das wir andere beherrschen wollen. Dieses Ego ist eine Hinterlassenschaft aus unserer urzeitlichen Entwicklung. Zu jenen Zeiten war es wichtig um zu überleben. Um uns weiterzuentwickeln, müssen wir uns heute auf eine völlig andere Ebene des Bewusstseins begeben, müssen die höhere Ebene unseres Wesens entdecken.

So wie es zu einer Zeit von überall den Ruf gab, das Eigeninteresse zu wahren, ist jetzt der Zeitpunkt für die Botschaft gekommen, die die Menschen anruft, einander zu verstehen und Rücksicht aufeinander zu nehmen. Das Glück und der Frieden jedes Einzelnen hängen vom Glück und Frieden aller ab.

Um die Grenzen des persönlichen Ichs zu überschreiten, müssen wir uns um andere kümmern, um die menschliche Familie, um den Planeten. Indem wir uns dem Dienst weihen, nähren wir die kosmische Weite unseres Wesens. Klingt das nicht wundervoll?“ begeisterte sich Colette.

„Phantastisch und total vertraut. Ich höre in dieser Botschaft  Kovacs`Lehre wieder. Du hast recht, die Übereinstimmung ist verblüffend.“ pflichtete ihr Elena bei.

„Erzähl weiter, ich lausche voller Erwartung!“

„Die Lehre der Sufi ist, wenn man so will, die Urwahrheit hinter allen Wahrheiten. So lehren sie zum Beispiel die Einheit aller Religionen. Alles nahm irgendwann einmal seinen Anfang, zerfiel dann über die Jahrhunderte, Jahrtausende, bekämpfte und bekriegte einander, mit den uns bekannten verheerenden Auswirkungen. Nun aber haben wir einen Zeitpunkt erreicht, da alles wieder einem großen Ganzen  entgegen strebt.

Wenn man einen Ozean betrachtet, kann man nur ein Teil davon sehen, der ins Sichtfeld gelangt. Genauso verhält es sich mit der Wahrheit.

Alle Arten des Glaubens, der Religionen, der Philosophien sind Teile des einen großen Ozeans der Wahrheit. Je mehr man das erkennt, desto einfacher ist es , die wirkliche Beziehung zwischen all den Glaubensrichtungen und Philosophien zu sehen. Desto weiter wird der Blick auf den einen großen Ozean.“

„Diese Lehre hat uns viel zu sagen. Ich kann mir vorstellen, dass du dich dort wohl fühltest. Schade, dass du fliehen musstest. Da führt ein Weg direkt in unsere Gemeinschaft.“

Elena wies mit dem Finge in Richtung Abtei, deren spitze Türme hinter den nun fast vollständig begrünten Bäumen hervorlugten.

„Sie sagen weiter: Ein Sufi zu sein, bedeutet in einem Zustand von Vertrauen, Sicherheit, liebendem Mitschwingen und nicht-individuellen Bewusstseins zu leben, sich umfangen zu fühlen in einer liebevollen Umarmung, welche ewig, endlos und endgültig ist. Unendliche Gnade. Ewiges Mitgefühl. Das sind keine Theorien oder Wunschgedanken, es sind Wesenserfahrungen, unbestreitbar wahr, weil man in der Umarmung einer göttlichen Liebe ruht.“ gab Colette weiter zu verstehen.

„Elena, ich würde mir so wünschen, die alle einmal wiederzusehen. Auch dir werden sie gefallen. Du solltest sie einmal einladen!“

„Sehr gern, Colette! Deine Freunde sind auch meine Freunde. “

„Ich werde versuchen, mehr in Erfahrung zu bringen, mal meine Verbindungen spielen zu lassen. Dann verspreche ich dir, sie zu uns einzuladen. Ich freue mich auf den Gedankenaustausch. Ich denke, wir könnten viel von einander lernen.“ meinte Elena.

„Schade, dass Kovacs das nicht mehr erleben darf. Ich denke, er hätte sich ausgezeichnet mit denen verstanden!“ sprach Colette und senkte dabei betrübt ihren Kopf.

„Ich weiß, wie sehr du ihn vermisst. Das tue ich auch. Alle, die ihn so sehr gemocht haben, vermissen ihn.“ Zärtlich legte Elena ihre Hand auf Colettes Arm.

Nach einer Weile setzten sie schließlich ihre Fahrt fort.

 

So nah und doch so fern. Colette hätte zu Fuß sicherlich das Dreifache an Zeit benötigt, um in die Abtei zurückzukehren, aber ohne Elenas Werben niemals die Überwindung vollbracht.

Der Nachmittag ging gerade in den frühen Abend über, als Elena die Mamasaki durch die Eingangspforte steuerte und zum Stehen brachte.

Plötzlich spürte Colette Angst in ihr aufsteigen. Sie zögerte, ab zusteigen.

„Willkommen zuhause, Colette! Was ist? Magst du nicht heruntersteigen?“

Daraufhin ließ Colette ihre Beine auf den Boden gleiten.

„Eigenartig, so ein Gefühl, wieder den heimatlichen Boden unter den Füßen zu spüren.“

"Das glaube ich! Komm ganz langsam wieder an. In etwa einer Stunde gibt es Essen. Wir speisen seit kurzem wieder gemeinsam am Abend im Refektorium. Schlafen tust du für etwa ein bis zwei Nächte in einem der Gästezimmer im unteren Stockwerk. Aber keine Angst, deine alte Wohnung im Obergeschoss wartet schon auf dich. Die wird gerade etwas verschönert, weiß du. Es soll eine Überraschung werden. Wir haben sie dir immer freigehalten, niemals wäre einer auf den Gedanken gekommen sie anderweitig zu nutzen Wir alle waren darauf eingestellt, dass du eines Tages wieder heimkehrst.“

Colettes Augen füllten sich mit Tränen, als sie diese Worte aus Elenas Mund vernahm.

Elena griff nach Colettes Hand und sie schritten wie ein Liebespaar durch den Park auf den Klosterkomplex zu. Unruhig blickte sich Colette nach allen Seiten um, so, als glaube sie, in Gefahr zu sein.

Einige hatten sich vor der Basilika postiert. Eine Art von stillem Empfangskomitee.

„Seht mal, wen ich mitgebracht habe! Da staunt ihr, was?“ rief Elena, als sie sich näherten.

Alle erinnerten sich Elenas Mahnung, Colette nicht mit Worten zu bestürmen und hielten sich daran, alle außer einer.

Kim stürmte auf die beiden zu und fiel Colette um den Hals.

„Colette, liebste Colette! Ach, bin ich froh, dich wieder zu haben. Lässt mich einfach allein. Ich hab dich doch so lieb. Ich hab doch niemals aufgehört, dich lieb zu haben. Huuuh huuh huuuuhhh….!“ schluchzte Kim überlaut und durchtränkte mit ihren Tränen Colettes Sweatshirt.

Chantal trat hervor und zog Kim zu sich heran, um diese in die Arme zu nehmen.

„Ist ja gut, Kim. Die Colette ist wieder da. Wir alle freuen uns. Jetzt wird alles wieder gut.“

„Huuhh huuuuh, huuuuuuuhhhh!“ Kim konnte sich noch immer nicht beruhigen.

„Wir sehen uns später, beim Essen. Colette möchte erst mal in Ruhe ankommen.“ meinte Elena, dann schritten sie durch die Eingangstür zum Konventsgebäude und schon fanden sie sich im Kreuzgang wieder. Der große lange Flur übte noch immer eine magische Anziehungskraft aus. Wuchtige Säulen und Spitzbögen. Andächtiges Schweigen. Colette schloss die Augen, um alles auf sich wirken zu lassen.

 

Sie schritt weiter voran, bog nach links und dann wieder nach rechts, umrundete den Kreuzhof. Am Eingang zum Kapitelsaal erwartete sie Madleen.

Wie angewurzelt blieb Colette in etwa zwei Metern Entfernung stehen.

Sie erkannte sogleich, dass es sich bei jenem Engelgleichen Wesen nur um Madleen handeln konnte. Diese feinen Gesichtszüge, das pechschwarze lange Haar und diese bezaubernden blauen Augen, die gesunde bräunliche Hautfarbe. Elena hatte nicht übertrieben, ihre Gefährtin war wunderschön. Ein Mensch, den man auf Anhieb lieben musste. Eigentlich wollte Colette sie hassen, das zumindest hatte sie befürchtet, denn Madleen verkörperte einfach alles, wonach sie sich selbst im tiefsten Inneren sehnte. Wie konnte ein Mensch nur mit so einer sinnlichen Ausstrahlung gesegnet sein und diesem astreinen Körper und dazu noch an der Seite einer ebenso schönen Powerfrau wie Elena leben dürfen? War das Leben gerecht? Mitnichten.

Colette war der lebendige Beweis dafür.  

Sekunden des Schweigens kamen ihnen wie Stunden vor. Endlich ging Madleen auf Colette zu, nahm deren Hände in ihre und wagte sie mit leiser melodischer Stimme anzusprechen.

„Du bist Colette? Ich freue mich, dich endlich kennen zu lernen. So viel Gutes habe ich über dich gehört, ich konnte es gar nicht erwarten, dir gegenüberzustehen. Was soll ich sagen?

Herzlich willkommen! Obgleich ich mir bewusst bin, das es mir gar nicht zusteht, denn du solltest mich willkommen heißen. Ich bin erst wenige Monate hier, sozusagen eine Art Nesthäkchen. Du hingegen hast so viel für diese Gemeinschaft getan, so dass es mir anmaßend erscheint, dich zu begrüßen. Du hast die weitaus älteren Rechte an allem, was uns hier umgibt. Elena möchte, dass ich ihre Vertreterin bin, wenn sie abwesend ist. Aber ich kann es nicht. Du solltest den Platz einnehmen, weil er dir zusteht.“

In diesem Augenblick wusste Colette, dass sie Madleen niemals würde hassen können, ganz im Gegenteil, sofort fühlte sie sich zu ihr hingezogen. Mit diesen Worten schien jeglicher Bann gebrochen.

„Madleen? Ich freue mich auch, dich kennen zu lernen. Ich danke dir für deine Worte, die haben mir sehr gut getan. Aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich hege keinerlei Neid oder Missgunst dir gegenüber. Als ich deiner ansichtig wurde, war mir augenblicklich bewusst, dass ich dich mögen werde, solange ich lebe. Du gehörst an Elenas Seite, ihr seid ein wundervolles Paar. Ich wünsche euch alles Glück auf Erden.“

„Das wünsche ich dir auch!“

Es folgte eine innige Umarmung. Sie hielten einfach nur einander und ihre Augen vergossen dabei so manche Träne.

„Ich brauche jetzt ein wenig Ruhe! Ich muss mich für ne Weile zurückziehen!“ meinte Colette.

„Natürlich! Mach es dir bequem! Wir sehen uns beim Essen!“ Die junge Frau küßte Colette auf die Wangen.

Gestärkt und befreit setzte Colette ihren Weg fort, bewegte sich schließlich die große Treppe hinauf, dann den langen Flur entlang, bis sie schließlich das Zimmer erreichte, das man ihr für einen Übergang zur Verfügung gestellt hatte. Im Grunde war es ihr egal, wo sie heute Nacht schlief, die Hauptsache, wieder zu Hause zu sein.

War es noch ihr Zuhause? Es schien, als habe sich kaum etwas verändert in der Zeit ihrer Abwesenheit. Die baulichen Veränderungen würde sie in den folgenden Tagen in Augenschein nehmen.

 

Herzliche Begrüßung, als sich die Gemeinschaft zum Abendessen im Refektorium einfand. Colette wurde auf ihren alten Platz geleitet. Wie versprochen hielten sich alle dezent zurück und bestürmten Colette nicht mit einer Flut von Fragen. Sie selbst sollte entscheiden, wann und wie viel sie über sich und ihren jüngsten Lebensabschnitt preiszugeben gedachte. 

Colette schwieg zumeist. Es lag aber auch daran, dass sie sich nicht sonderlich wohl fühlte. Sie war sehr müde, ihr war schwindelig und sie hatte Schmerzen.

Am Anschluss an das Essen ließ Elena ihr ein Bad ein. In das Wasser mischte sie herrlich duftende und heilende Kräuter. Massierte Colettes schmerzenden Nacken.

Todmüde wickelte sich Colette schließlich in die Decke auf ihrem Zimmer. Sie war zuhause, dieses Bewusstsein schenkte ihr Kraft und Linderung. Wieder daheim sein, wissen, wo man hingehörte. Doch in die Freude mischte sich schon wieder die Angst vor der befürchteten Ausgrenzung. Sie fühlte sich allein und einsam, trotz der Gemeinschaft, die sie umgab. In dem anderen Zimmer fanden sich in jenem Augenblick die Paare und verwöhnten einander mit Zärtlichkeiten und Liebkosungen, die sie sich nicht einmal vorzustellen wagte.

Das machte sie traurig und sie ließ den Tränen freien Lauf. Sie gehörte hierher, andererseits auch wieder nicht, wie es ihr schien, sie, das hässliche Entchen, das in den Folgetagen mit größter Wahrscheinlichkeit mit einer Welle von Mitleid umspült werden sollte. Sie wollte kein Mitleid, sie sehnte sich nach Achtung und Anerkennung. Sie wollte dazugehören. Doch die Frauen, von denen sie hier umgeben war, unterschieden sich so eklatant von ihr. So verschieden sie auch waren, eines einte sie. Sie waren je auf ihre Art Schönheiten von erlesener Art. Keiner von ihnen konnte sie selbst auch nur annähernd das Wasser reichen.

Sie war die älteste und ihr Männerkörper stellte eine unüberwindliche Barriere dar. Was sie auch tat, sie blieb die Außenseiterin.

 

Ein Stockwerk über ihr kuschelte sich Madleen in Elenas Arme in Erwartung des gewohnten Liebesaktes. Doch waren beide heute nicht so recht bei der Sache, denn im Geiste befanden sie sich bei Colette.

Die Begegnung hatte beide zutiefst aufgewühlt.

„Was geht vor in deinem hübschen Kopf, Liebste? Irgendwas bedrückt dich doch? Oder sollte ich mich da so täuschen?“ wollte Elena wissen, der sofort auffiel, dass sich Madleen mitten im Grübeln befand.

„Meinst du, dass es recht ist, wenn wir uns heute auf diese Weise lieben, Elena? Während Colette unter uns so dringend einer zärtlichen Hand bedarf?“

„Hm, ich merke, dass sich unsere Gedanken wieder einmal kreuzen. Mir geht es ebenso, auch ich mache mir Gedanken, schon eine ganze Weile, seit ich sie wieder fand, um genau zu sein.“ gestand Elena, während sie zärtlich Madleens Wangen streichelte.

„Mir erging es so, als sie da plötzlich vor mir stand, unten im Kreuzgang. Ich fühlte mich schlecht, weil ich auf einmal feststellen musste, dass ich sie womöglich von ihrem angestammten Platz vertrieben habe. Ich sagte es ihr und war sehr froh darüber.“ gab Madleen zu verstehen.

„Das war goldrichtig, mein Schatz! Wir dürfen sie jetzt in dieser schweren Situation auf keinen Fall kränken, müssen ihr statt dessen zeigen, wie wichtig sie für uns ist. Wir sollten ihr ein Geschenk machen!“ schlug Elena vor.

„Ja, und an was hast du da so gedacht?“

„Sag mal, welchen Eindruck macht sie auf dich? Magst du sie denn?“

„Hm!“ Madleen ließ sich noch tiefer in Elenas Arme sinken.

„Wenn du so direkt fragst. Sehr gern! Ja, es war auf Anhieb da, dieses Gefühl. Sie tat mir zunächst leid. Mein Gott, wenn ich überlege, was die alles durchmachen musste. Sicher, ich war auch nicht immer auf Rosen gebettet und hatte so manches einzustecken, wenn ich nur an den Dreckskerl Rolf denke. Aber gegen ihre Sorgen und Nöte? Da kommen mir meine ganz schön nichtig vor. Aber schon wenig später wich dieses Mitleid einer tiefen Ehrfurcht, als es mir in den Sinn kam, was sie alles geleistet, für unsere Gemeinschaft meine ich. Für jeden Einzelnen.“

„Wir dürfen sie nicht so mit ein paar Willkommensgrüßen abspeisen. Colette hat weitaus mehr verdient. Sie befindet sich in einer schwereren Krise. Man braucht kein Atomwissenschaftler zu sein, um festzustellen welcher Kummer auf ihrer Seele lastet.“ pflichtete ihr Elena bei.

„Sie hat etwas an sich, das mich gleich fesselte, etwas Faszinierendes. Ja, ich mag sie sehr gern. Das alles bewegt mich seit unserer ersten Begegnung.“

Sanft fuhr Elenas Handfläche über die Brüste ihrer Geliebten, dann über deren Bauch bis zu ihren Schenkeln. Die stöhnte leicht auf vor Erregung.

„Hör mal! Mir kommt da gerade eine großartige Idee. Ich möchte gerne deine Meinung darüber wissen. Lass uns einfach ein Experiment wagen?“

„Ein Experiment? Was meinst du damit?“ sprach Madleen voller Erstaunen.

„Ob es funktioniert weiß ich nicht und es liegt auch ein großes Risiko darin. Du musst mir nur sagen, ob du dich damit anfreunden kannst. Du brauchst dich nicht sofort entscheiden. Lass dir Bedenkzeit. Aber es wäre nicht schlecht, wenn ich bis zum morgigen Abend deine Antwort wüsste. Wenn du ablehnst, kein Problem, kann ich hundertpro akzeptieren, dann müssen wir uns eben was anderes einfallen lassen. Solltest du zustimmen, kann es unter Umständen zu Veränderungen kommen, kann, muss nicht!“

„Dann müsste ich aber zunächst wissen, worum es geht, Elena, eröffne mir deinen Plan!“ verlangte Madleen aus verständlichen Gründen.

„Also gut! Pass auf!“

Elena weihte ihre Geliebte nun in ein Vorhaben von großer Tragweite ein.

 

Den folgenden Tag verbrachte Colette weitgehend mit sich allein, dankbar für die Ruhe und Stille, die sie hier auf dem Abteigelände und darüber hinaus in der Weite der Natur  ungestört genießen durfte.

Sie bekam einen wunderschönen Frühlingstag mit angenehm warmen Temperaturen und Sonnenschein geschenkt.

Ende April, die Apfelblüte stand unmittelbar bevor, nur noch wenige Tage und die Plantagen am Rande des Geländes würden in einem Meer von Blüten erstrahlen, die Bäume sich für kurze Zeit in einen schneeweißen Mantel hüllen. Die Luft wäre dann wieder erfüllt von dem Summen der Bienen, die ihre unbewusste Bestäubungsaktion vollführten. Zeit des Erwachens.

Zeit, den Gefühlen wieder neue Nahrung zu gewähren.

Lang war Colette im Bett geblieben, auch wenn sie wie fast immer zeitig aus dem Schlaf erwachte.

Sie zog die Wanderschuhe über, griff sich einen Nordic-Walking-Stab und einen Großteil des Tages verbrachte sie damit, weite Spaziergänge in die Natur zu unternehmen. Tief eintauchen in den Frieden, der sie umgab und zu liebkosen schien. Alles erkunden, ihre alte Heimat neu entdecken.

Die Sehnsucht stillen, die in ihrem Inneren verborgen schlummerte und nach außen drängte.

Häufig musste sie Pausen einlegen und sich setzen.  Es ging bergauf, aber das Gebirge war von so bizarrer Schönheit.Zum Glück luden zahlreiche Stümpfe von geschlagenen Bäumen zum Verweilen ein.

Es waren nicht nur die Bandscheiben, die sie peinigten.

Schon seit Tagen wurde Colette von Schmerzattacken in den Brüsten geplagt, die immer wieder in Intervallen auftraten. Dazu diese Mattigkeit, Müdigkeit, auch Schwindel und Gleichgewichtsstörungen, seit kurzem auch Hitzeschauer.

Was ging da in ihr vor? Schlummerte da eine Krankheit in ihr. Wartete gar der Tod auf sie?

Sie vermochte es nicht zu deuten. Aber endlich, nach so langer Zeit, durfte sie sich fallen lassen,sollte sie tatsächlich ernsthaft erkranken. In diesem Fall erwartete sie fachmännische Behandlung und liebevolle Pflege, dessen konnte sie sicher sein.

War es wirklich schon Zeit, der Welt für immer Lebewohl zu sagen?

Sollte das so sein, wäre sie gefasst. Es würde ihr nicht schwer fallen, sich von einem Leben zu verabschieden dass ihr so ein Übermaß an Leid und Verdruss bereitet hatte.

Seit sie imstande war zu denken, fühlte sie sich fehl am Platz, wurde  herumgeschubst, ging und stand nicht richtig. Was sie auch tat, es war verkehrt, was sie auch sagte, es wurde missverstanden. Kein Mensch hatte sie je richtig ernst genommen. Sie war einfach nur der Clown vom Dienst. Colette hatte genug davon. Noch einmal einen Sommer erleben, noch einmal die Bäume blühen, grünen und reifen sehen. Dann wäre sie bereit, ihre letzte große Reise anzutreten, ihren Platz zu finden irgendwo dort oben am Firmament zwischen Sirius und Wassermann. Dann könnte sie auf die Erde blicken und voller Genugtuung feststellen, es ist vollbracht. Geschafft! Falsches Leben, du kannst mich mal. Hier oben in der anderen Welt zählt allein der Geist.

 

Es war schon später Nachmittag, als Colette in die Abtei zurückkehrte.

Sie beachtete das geschäftige Treiben nicht weiter und zog sich bis zum bis zum dunkel werden auf ihr Zimmer zurück.

Der Abend zu Colettes Wiederkehr begann mit einem festlichen Essen im Refektorium.

Es gab Colettes Leibgericht. Mit Schweingehacktem gefüllte gebratene Gemüsepaprika, dazu gekochter Reis. Als Nachtisch servierte man Fruchtquark mit Orangegeschmack.

Ein guter lieblicher Burgunder wurde dazu gereicht. Eine ausgelassene, aber durchaus auch andächtige Stimmung. Colette war zweifelsohne der Mittelpunkt des Geschehens, hielt sich aber weitgehend zurück, überließ es anderen, vor allem natürlich Elena, das Wort zu ergreifen.

Aber auch die hielt keine langen Referate.

„Ihr Lieben von nah und fern. Ich begrüße euch herzlich zu diesem ganz besonderen Abend.

Wir haben einen Schatz wieder gefunden, der solange verloren geglaubt, so lange fern der Heimat sein Dasein fristen musste. Liebste Colette, wir alle freuen uns von Herzen, dich wieder bei uns zu haben. Du hast uns so gefehlt. So manche Träne wurde vergossen, aufgrund dieses Umstandes ... Nun bist du wieder hier und wir sind glücklich wie seit langem schon nicht mehr. Allen von uns war bewusst, ohne Colette ist die Abtei nicht einmal die Hälfte Wert. Nun können wir getrost nach vorne, in die Zukunft schauen. Mit dir in unserer Mitte werden wir einen neuen Anfang wagen. Die Töchter der Freiheit werden wieder erstehen, im alten Glanz, gereift und geläutert durch die Erfahrungen der Zeit. Wir werden neue Wege beschreiten, uns dabei aber auf die alten Werte besinnen, die uns damals prägten. Natürlich möchte ich auch Chantal herzlich begrüßen, die wenige Tage vor Colette wieder eintraf. Sie gab ihren lukrativen Job auf, nur um hier bei ihren Schwestern zu sein, weil auch sie, durch Heimweh geplagt, nur eines wollte, nach Hause.

Es ist unser aller Zuhause, wohl dem, der in solchen Zeiten so etwas sein Eigen nennen darf.

Lasst uns das Glas erheben auf die heimgekehrten Schwestern und auch auf die, die noch immer in der Ferne weilen, auf das auch sie die Kraft zur Heimkehr finden.“

Die Sektgläser klirrten und es ging im Anschluss zum Festschmaus.

Es wurde erzählt, dabei auch gescherzt und gelacht. Colette fühlte sich müde und abgespannt, kein Wunder, wenn man keine Nacht mehr richtig schläft.

Später ging es dann in den Kapitelsaal, dort wurde Musik aufgelegt und getanzt. Madleen ließ es sich nicht nehmen, ihren eigens einstudierten Tanz zu Ehren der beiden verlorenen Töchter darzubieten, ganz besonders widmete sie ihn Colette. Wie eine Primaballerina schwang sie ihre Glieder durch die Lüfte, sich dabei immer wieder vor Colette verneigend.

Der Abend wurde lang und Colette immer müder. Vergeblich wartete sie bis fast zum Schluss auf das angekündigte Geschenk Dem Anschein nach hatte die es wohl vergessen. Nicht weiter tragisch. Was sollen sie mir auch schenken? Ich habe mein Zuhause wieder, ist das nicht Geschenk genug? Dachte Colette während sie sich langsam erhob und zum Ausgang schritt, unbemerkt von allen, wie es schien. Sie, die Hauptperson, entging wieder mal der Beachtung.

Noch eine kurze Weile zog sie sich ins Oratorium zurück, der Kapelle, deren Eingang sich vis à vis der Basilika gegenüber befand und den die Mönche früher für ihre Stundengebete nutzten. Stille, wohltuende Stille senkte sich auf sie nieder. Colette ruhte ganz in sich, ließ alles noch einmal Revue passieren. In Gedanken verweilte sie bei den Sufis und rezitierte deren Gesänge. Wo befanden die sich jetzt? Ging es ihnen gut? Freundliche Aufnahme hatte sie dort gefunden. Nur hier in der Abtei und dort bei den Sufis fühlte sie sich jemals richtig zu Hause.

Müdigkeit überkam sie, und sie beschloss, zu Bett zu gehen. Wieder allein, wieder ohne die so ersehnte Zärtlichkeit. Darauf würde sie wohl bis ans Ende ihrer Tage  verzichten müssen. Piep, piep, piep, wir haben dich ja so lieb! Aber Colette, wo denkst du hin?

Wir streichen dir mal über den Kopf, geben dir einen Wangenkuss und das wars. Kann eine wie du denn mehr verlangen? Des Nachts ist die sinnlich-erotische Elite wieder unter sich, da ist kein Platz für eine Vogelscheuche. Tränen stiegen ihr in die Augen. Von weit unten konnte sie noch die Musik vernehmen, als sie die Tür zu ihrem Zimmer hinter sich schloss.

Irgendjemand hatte umgeräumt, aber warum? Einen Teil des Raumes füllten zusammengelegte dicke Federkernmatratzen. Für eine Person viel zu groß. War das ein Scherz? Sollte Colette die Leere nur noch umso deutlicher spüren? Nicht sehr originell.

Colette ließ sich auf ihr Lager nieder. Nun würde wieder eine der endlos unruhigen Nächte für sie beginnen.

Nachdem sie so eine Weile lag, spürte sie plötzlich, wie sich die Tür ganz bedächtig öffnete und  Elenas Rotschopf im Schlitz erschien.

„Colette, schläfst du schon?“ hörte sie Elenas sinnliche Stimme flüstern.

„Nein, komm nur rein, Elena, ich kann doch nicht gut schlafen! Das weißt du doch!“

„Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da. Du hast sicher gedacht, wir haben dein Geschenk vergessen? Nein, haben wir nicht. Es ist einfach nur zu persönlich, als dass wir das in der Öffentlichkeit darbieten könnten. Schließ einfach mal für einen Moment die Augen.“

Da plötzlich betrat auch noch Madleen den Raum.

Colette tat, wie ihr geheißen.

Als sie die Augen wieder öffnen durfte, hatten sich beide komplett entkleidet und boten ihre Venuskörper dar. Was für ein Anblick. Doch was sollte das, wollten sie Colette zum Narren halten?

„Rutsch ganz in die Mitte Colette!“ meinte Madleen.

Beide betteten sich an Colettes Seiten, Elena zur Rechten, Madleen zur Linken.

„Wie gefällt dir unser Geschenk?“ wollte Elena wissen.

„Geschenk? Welches Geschenk?“ wunderte sich Colette über diese Frage.

„Wir sind dein Geschenk, Colette! Wir schenken uns dir!“ Elena beugte sich über Colette und nahm deren Kopf in beide Hände, ihre Lockenmähne fiel auf Colettes Oberkörper und schien ihn ganz zu bedecken.Auch Madleen begann Colette zu streicheln.

„Wir haben gestern bis in die tiefe Nacht gesprochen und einen Entschluss gefasst. Wir nehmen dich in unsere Beziehung auf. Von diesem Augenblick an hast du Anspruch auf unsere Zärtlichkeit und Liebe, bis zum Ende deiner Tage, wann immer du uns brauchst, sind wir für dich da, um dich zu streicheln, in den Arm zu nehmen, dich zu küssen und zu liebkosen. Was immer du auch möchtest. Oder auch nur zum Reden, zum Wandern, zum Motorradfahren oder was auch immer.“ Nach jedem Angebot verabreichte ihr Elena einen sanften Kuss, streichelte dabei unaufhörlich deren Wangen.

„Wir wussten kein würdigeres Geschenk für dich!“ schaltete sich nun Madleen ein.

„Du hast soviel für uns alle getan. Wie du dich um Elena gekümmert hast, als sie krank war. Niemals hätte ich sie kennen lernen dürfen, wenn du dich nicht ihrer angenommen hättest. Deshalb bin ich jetzt bereit, sie mit dir zu teilen, wenn du magst. Du hast einfach ältere Rechte an ihr. Und ich möchte auch deine Geliebte sein, wenn du mich denn willst.“

„Ein Mensch, der einem Diktator die Stirn bot, so wie du es tatst, der sein Leben aufs Spiel setzte um unserer Kommune zu retten, den speist man nicht mit ein paar schönen Reden und einem feuchten Händedruck ab. Jemanden wie dich sollte man auf Händen tragen und in weiche Daunen betten. Wir sind dazu bereit!“

Elena setzte sich aufrecht auf Colette, streckte dann ihren sinnlich-athletischen Körper ganz über Colette aus. Ihre vollen Brüste preßte sie auf Colettes platten Oberkörper und badete diese in einer Flut von Küssen, während Madleen Colettes Kopf sanft in ihrem Schoss bettete und immerfort streichelte. Die war so erregt, dass sie zeitweise drohte, die Besinnung zu verlieren. Ihr gesamter Körper knisterte vor elektrischer Spannung.

„Möge die Kraft, die mir gegeben ist, auf deinen Körper übergehen, sie schenke dir Gesundheit an Leib und Seele, möge sie dich stark machen und dich voller Schönheit und Anmut erscheinen lassen.“ sagte Elena, während sie sich aufrichtete.

Eine weitere Person erschien im Zimmer und zog sich unbemerkt die Kleider vom Leibe. Elena trat nach hinten weg und Gabriela ließ sich an der Kante nieder, auch sie nun vollständig nackt und mit Tränen in den Augen.

„Ich bitte dich um Verzeihung, allerliebste Colette, für all das Böse und Gemeine, das ich damals zu dir sagte. Es tut mir so unendlich leid und ich möchte es wiedergutmachen. Auch ich schenke mich dir, wenn du mich willst und  mich deiner würdig erachtetest, nach all dem, was ich dir angetan habe. Auch ich werde immer für dich da sein und bin bereit, dich reich zu beschenken.“

Während Gabriela sprach, fuhr sie zärtlich mit den Handflächen über Colettes Brust, den Bauch hinab bis zu den Schenkeln. Dann legte sie weinend ihren Kopf auf Colettes rechte Schulter.

Währenddessen hatte Chantal den Raum betreten und sich etwas abseits ihrer gesamten Kleider entledigt. Sie trat zur Linken an Colettes Liegestatt.

„Colette, wir fanden damals kaum einen näheren Kontakt zueinander. Zwischen uns lief es irgendwie oberflächlich. Das soll sich ändern. Ich möchte dich richtig kennen lernen. Auch ich biete mich dir als Geschenk und werde für dich da sein, wann immer du mich brauchst. Ich werde dich verwöhnen mit allem, was dein Herz begehrt. Lass mich wissen, wann du mich brauchst und ich bin zur Stelle.“

Sanft fuhren Chantals Hände über die Innenseiten von Colettes Schenkeln, die Waden hinab bis zu den Füßen. Mit sinnlicher Geste lutschte Chantal an Colettes Zehen.

Die Tür wurde etwas heftig aufgestoßen und Kim stürzte schon halb ausgezogen in das Zimmer.

„Bin ich zu spät?“

„Psst! Kim, komm einfach her und setzt dich!“ forderte Madleen mit leiser Stimme.

Hastig streifte Kim die letzten Kleider vom Leib und hüpfte wie eine Gazelle auf die Liege, umschlang Colette besitzergreifend.

„Colette, liebste Colette. Ich hab dich doch so lieb. Ich hab dich niemals vergessen. Vermisst habe ich dich, geheult habe ich tagelang um dich, als du fort warst. Das mit Lukas tut unserer Beziehung doch keinen Abbruch. Wir wollten dich doch nicht verletzen. Ich will dich glücklich machen und bin für dich da, wann immer du mich brauchst. Lass mich wieder dein kleiner Schatz sein, der dich verwöhnen möchte, wann immer du es magst. Huuuhhh,huuuhh,huuuhhhhh.!“ Kims Tränen hinterließen eine breite Pfütze auf Colettes Bauch.

Cassandra betrat den Raum und begann sich auszukleiden. Alle Augen richtet sich auf diesen Körper, der dereinst zu zweifelhafter Berühmtheit war gelangt. Die üppigen Rundungen versetzten alle in großes Staunen.

Madleen machte Platz, so dass sich Cassandra am Kopfende niederlassen konnte.

„Wir kennen uns noch gar nicht, Colette! Ich bin Cassandra, Elenas Busenfreundin aus alten Tagen.“ Bei dem Wort Busen blickten alle wie gebannt auf Cassandras Traumrundungen.

„Viel Gutes habe ich von dir gehört und ich möchte von dir lernen. Ich glaube, eine bessere Lehrerin gibt es nicht. Auf meinen Händen möchte ich dich dafür tragen und dich verwöhnen mit meinem ganzen Körper vom Kopf bis zu den Zehen. Lass mich rufen, wenn du mich brachst, ich werde für dich bereit sein.“ Die laszive Stimme ließ es an allen Ecken knistern.

Waren das alle? Nein, es kam noch jemand, von dem man es gar nicht erwartet hatte. Valeria, Madleens Schwägerin betrat den Raum. Die schüchterne Unschuld vom Lande. Nur sehr zaghaft ließ sie die Hüllen fallen, wirkte dabei wie ein Teenager vor dem ersten Liebesakt. Die geflochtenen blonden Zöpfe, die ihr seitlich über die Schultern fielen, verstärkten diesen Eindruck noch. Ganz langsam nahm sie Platz, es schien, als fürchte sie sich. Zögernd ergriff sie Colettes Arm und begann diesen zu streicheln.

„Ich … ich schließe mich noch an. Ich … ich habe bis zum Schluss überlegt, ob ich dabei sein möchte. Ich will und ich bin froh, hier unter euch zu sein. Colette, ich möchte für dich sorgen, wenn du mich brauchst. Ich möchte dir meine Liebe schenken. Verzeih, wenn ich mich dabei ein wenig dumm anstelle, aber ich bin gerade erst dabei, mich frei zu schwimmen, was die freie Liebe betrifft. Vielleicht kannst du mir dabei ja auch behilflich sein.“

Alle nickten ihr zu und freuten sich über die siebte Tochter.

Madleen beugte sich noch einmal über Colette und streichelte zärtlich deren Wangen.

„Viele herzliche Grüße soll ich dir bestellen von Kyra und Alexandra, sie können nicht bei uns sein in dieser Nacht. Aber sie haben uns mitgeteilt, dass sie voll hinter allem stehen und uns aus der Ferne umarmen. Auch sie bieten dir ihre Hilfe und Liebe an und sobald sie wieder unter uns weilen, werden sie nachholen, was sie in dieser Nacht versäumt.“

„Ich danke euch allen! Ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Ihr alle seid so wunderschön und ich kann es gar nicht glauben, euer aller Liebe zu schmecken. Mir fehlen die Worte.“ Tränen kullerten aus Colettes Augen. Cassandra war zur Stelle und leckte die mit ihrer Zunge auf.

Dann begannen sie zu siebt Colette in einer Welle der Zärtlichkeit zu schaukeln. Streichelten, küssten, leckten, massierten.

Chantal entfernte sich zwischendurch kurz, um den CD-Player zu bedienen. Zauberhafte Klänge umhüllten sie und verstärkten das Mysterium. Ennio Morricones Nella Fanatasia, welche Musik könnte wohl besser geeignet sein, um auszudrücken, was hier gerade vor sich ging.

Colette geriet derart in Ekstase, das sie glaubte, eine außerkörperliche Wahrnehmung zu erleben. Sie fühlte sich auf Engelshänden getragen. Schwebte über einer grünen Wiese voll mit duftenden Blumen. Sah dabei ihr ganzes Leben wie in einem Film vorüber ziehen. War sie jetzt tot? Nein, sie lebte, befand sich in einem Stadium des Übergangs. Die alte Colette, die Außenseiterin, die Verliererin und Verachtete verlor heute Nacht ihr Leben. Doch welches Wesen würde statt ihrer gleich die Welt betreten? Colette sah sich im Traum geradewegs in den Himmel schreiten. Sie war nicht sie selbst, da schritt eine wunderschöne Frau mittleren Alters, voller Würde und Grazie. Barfuss und nur mit einem weißen Leinenkleid am Leib. Wallendes schwarzgrau meliertes Haar umwehte dabei ihr sinnliches Gesicht.

„Komm zu mir, Tochter! Heute Nacht erst wirst du wirklich geboren. Komm in meine Arme, lass dich liebkosen. Hol dir deinen Segen für das neue Leben, das nun vor dir liegt. Nutze sie gut, die Chance, welche sich dir bieten. Streife ab die Hülle, die dich so sehr quält und zieh an die Rüstung, die dich stark und mächtig machen wird. Heute Nacht habe ich dein Gefängnis geöffnet und dich frei gemacht. Gehe nun in die Welt und tue es gleich. Befrei all jene, die noch mühselig und beladen sind.“

Die ungebändigte Kraft weiblicher Energie bündelte sich und floss durch 14 Frauenhände direkt in Colettes Körper., Es kam ihr so vor, als spüre sie sogar die abwesenden Alexandra und Kyra die ihr aus der Ferne ihre Zärtlichkeit schenkten.

Sie formten und kneteten und erschufen jetzt ein neues Wesen.

Zwischendurch blickte Elena durch Zufall an die gegenüberliegende Wand und erkannte die Gestalt, die da, von allen anderen unbemerkt, am Boden kauerte. Anachaphilia ließ es sich nicht nehmen, dem poetischen Akt beizuwohnen. Sie lächelte Elena zu, hob die Hand und streckte den Daumen weit nach oben um damit zu signalisieren , dass sie mit dem was hier geschah sehr zufrieden war.

Als Elena wenige Augenblicke später wieder in diese Richtung schaute, war sie verschwunden.

Colette war sosehr in Trance, dass sie nicht bemerkte, wie sie von den 7 Schwestern von der Matratze gehoben und nach draußen getragen wurde. Sie bewegten sich in einer Prozession durch das Abteigebäude, die Treppe hinunter, den Kreuzgang entlang. Dann schritten sie ins Freie. Der volle Mond thronte als silberne Scheibe am Himmel und leuchtete ihnen den Weg. Noch immer war es angenehm warm, so dass keine zu frieren brauchte. Es war die Osternacht. Eine heilige Nacht voller Mysterien. Die Anhänger der alten Religion feierten die Frühlingsgöttin Ostara, die den Winter vertrieben und die Natur aus ihrem Schlaf erweckte zu neuem Leben und neuer Blüte. Die Christen feierten den auferstanden Christus, der den Tod besiegt. Und die Sufis feierten beide zugleich und ein neues Zeitalter des Friedens und der Glückseligkeit.

Auch die Männer waren in dieser Nacht nicht unbeteiligt. Am Rande des wuchtigen Gebäudekomplexes entfachten sie ein großes Osterfeuer. Die Flammen loderten in den Himmel und erhellten die Dunkelheit, schienen sich mit dem klaren Mond zu vereinen.

Da näherte sich die Prozession. Sieben wunderschöne Frauen, die eine kostbare Fracht auf ihren Schultern trugen und dabei keine Miene verzogen, es hatte den Anschein, als seien auch sie in einer Art von Trance. Immerhin brachte Colette über achtzig Kilogramm auf die Waage. Keiner der Männer hätte beim Anblick der splitternackten Frauenkörper einen obszönen Witz gerissen. Stattdessen ehrfürchtiges Schweigen und Staunen.

Dreimal umrundeten die Frauen mit Colette das Feuer das ihre Leiber wärmte.

Dann entfernten sie sich wieder und begaben sich in die schützenden Mauern der Abtei.

Ronald, Ansgar, Lukas, Klaus und die anderen Männer blieben zurück. Auch der alte Pater Liborius hatte dem erhabenen Akt beigewohnt. Er trat zu den anderen und meinte:

„Ich möchte nicht auf meine alten Tage noch von meinem Glauben abfallen, aber es könnte durchaus sein, dass wir soeben der Geburt einer neuen Göttin beiwohnen durften.“

Drinnen betteten die Frauen ihre Colette in die Schlafstatt und eine nach der andern wünschte ihr mit einem Kuss gute Nacht. Dann entfernten sie sich, hüllten sich in ihre Kleidung und gesellten sich den Männern am Osterfeuer zu.

Colette blieb zurück und fiel in einen für sie ungewöhnlich erholsamen Schlaf.

 

Als sie am Morgen plötzlich erwachte und nach oben schreckte, bemerkte sie schon den ersten deutlichen Unterschied. Draußen schickte sich die Sonne an, ihre Kraft zu entfalten und kitzelte ihr Gesicht. Der Blick auf den Radiowecker signalisierte ihr, dass es bereits 10 Uhr war. So spät? Üblicherweise erwachte Colette gegen 3 Uhr in der Nacht, wälzte sich dann unruhig hin und her bevor sie sich zumeist gegen 6.30 Uhr müde und zerschlagen aus dem Bette hob. Heute fühlte sie sich ausgeschlafen und frisch, sie konnte sich nicht erinnern, zuletzt so gut geschlafen zu haben. Auch die morgendlichen Beschwerden waren wie vom Erdboden verschluckt. Keine Rückenschmerzen, keine verstopfte Nase oder verklebte Augenlider.  In der Erwartung der lästigen Bartstoppeln betastete sie wie jeden Morgen ihre Gesicht. Doch da war nichts. Alles glatt wie ein Babypopo. Das konnte nicht sein, denn sie hatte sich gestern in aller Frühe zuletzt gründlich rasiert und am gestrigen Abend hatte sie's vergessen. Dann blickte sie auf ihre Hände, auf die Arme und traute ihren Augen kaum. Wunderbare geschmeidige weiche Haut, leicht gebräunt und nicht so fleckig wie sonst üblich. Doch dieser Schreck war nichts gegen den, der sie ereilte, als sie ihre Brüste betrachtete. Sie musste träumen, denn das, was sie da zu sehen bekam, schien ein fleischgewordener Traum. Wohl geformte volle Frauenbrüste. Zaghaft ertastet sie diese. Echt, alles echt. Weiche Wonne. Zwei zartrosa Brustwarzen. Sie ließ ihre Handflächen darüber gleiten, die Nippel härteten sich wie auf Befehl ... Welche Wohltat, sie spielte mit diesen prachtvollen Früchten, wie ein Kind mit seinem Lieblingsspielzeug.

Sie stieg aus dem Bett und bewegte sich zu dem großen Spiegel dort an der Wand gegenüber und sie blickte in das Gesicht einer fremden wunderschönen Frau. Wer war dieses Wesen dort? Sie betastete das Gesicht. Die etwas zu dicke Nase war einem eleganten schmalen leicht nach vorn gekrümmten Riechorgan gewichen. Ein sinnlicher Mund lud zum Küssen ein, süße Grübchen in den Mundwinkeln und strahlend weiße Zähne. Fein geschwungene Backenknochen und grüne strahlende Augen. Sie fuhr mit den Händen durch ihr dunkelgraues Lockenhaar, das ihr geschmeidig in langen Wellen über die Schulter fiel, nicht mehr dieser zerzauste Wischmobb, den sie üblicherweise jeden Morgen zu bändigen hatte. Adamsapfel noch sichtbar, aber bei weitem nicht mehr so wuchtig wie sonst. Der Spiegel präsentierte ihren ganzen Körper. Zwischen den Beinen hatte sich nichts geändert. Hier erinnerte noch etwas an einen Mann. Die Hüften schmal wie bei einem Mann, doch der Po apfelförmig wie der einer Frau. Kräftige Muskeln, aber geschmeidige weiche weibliche Haut, wo sie sich auch betastete. Auch Hände und Füße waren für eine Frau etwas zu groß geraten, wirkten aber elegant gepflegt, wie die einer Frau. Was ihr dort entgegenblickte war das perfekte Androgyn.

Nichts und niemand schien ihr ebenbürtig.

Wieder und wieder tastete sie ihr Gesicht ab, nein, kein Bart, nicht einmal der Bartschatten war zu sehen, feine geschmeidige Frauenhaut. Sie konnte es einfach nicht glauben. Nie mehr rasieren, nie mehr epilieren?

Sie blickte zurück zu ihrem Nachtlager, daneben lag etwas unordentlich ihre Kleidung, dazwischen auch die inzwischen mit Schmutz und Schweiß angereicherten Brustprothesen, die würde sie nicht mehr benötigen, denn das, was sich ihr da entgegenstreckte, hatte es in sich. Das konnte es ohne weiteres mit all den anderen aufnehmen. Nie wieder Prothesen tragen müssen, erst nach und nach erschloss sich ihr die ganze Tragweite des merkwürdigen Ereignisses. Gerade jetzt, da der Sommer sich ankündigte. Wie oft hatte sie diese Schaumstoffhügel verflucht, wenn die schweißdurchdrängt ihre Brust darunter wund scheuerte. Von der Rasier-oder Epilierflechte im Gesicht gar nicht erst zu sprechen.

Auch beim Duschen konnte sie sich gar nicht satt sehen oder fühlen. Sie fürchtete jeden Moment, aufzuwachen. Aber nein, es war kein Traum, alles real. Was in aller Welt war mit ihr geschehen?

Colette begann sich anzukleiden, betrachtete kurz den BH, bevor sie ihn zur Seite warf, nie wieder würde sie einen gebrauchen. Jeder und Jede sollte ihre Brüste sehen. Und in der Tat, als sie in ihre Leggins geschlüpft war und das weite weiße T-Shirt anzog, darüber die abgewetzte Lederjacke und die ersten Schritte gelaufen war, wusste sie warum. Es schaukelte, waberte. Vor allem, als sie sich die Treppe hinunter bewegte, hoben und senkten sich die Brüste, wie reife Früchte bei jedem Schritt.

Nein, über jenes Wesen, das sich da voller Anmut und Sinnlichkeit die Treppe hinunter bewegte, würde keiner mehr lachen. Nie wieder Clown sein. Was sich hier bewegte, war sinnlich- androgyne Erotik in Reinkultur.

Der erste Mensch, der Colette nach ihrer Transitation zu sehen bekam, war ausgerechnet Lukas, der zufällig des Wegs kam.

„Ich … ich glaube es nicht. Bist du es, Colette? Ich bin sprachlos. Du … du siehst wunderschön aus. Ich wollte dich ohnehin sprechen, weil … weil …“ dem sonst so schlagfertige Lukas schien vor lauter Staunen die Spucke weg zu bleiben.

„Ich meine… ich wollte dir sagen, wegen gestern Nacht. Ich konnte da nicht mitmachen, bin eben nur ein Mann, hätte sicher nicht funktioniert. Aber… ich meine… ich wollte dir nur sagen, dass auch ich immer für dich da bin, wenn du mich brauchen solltest. Du hast mich damals hierher geholt und ich werde dir das nie vergessen.  Hab mich dann Hals über Kopf in Kim verknallt, aber das hatte doch nichts mit dir zu tun. Nie habe ich mich an der Seite eines Männerkörpers so wohl und so erregt gefühlt. Aber jetzt? Du hast dich verändert, trotzdem du noch immer die Gleiche bist. Wie ist das möglich?“

„Ich kann es nicht sagen, Lukas, ich weiß es nicht. Es ist einfach geschehen und ich akzeptiere es mit Freuden. Ich danke dir für dein Angebot. Ich denke, ich werde davon Gebrauch machen, wenn mir danach ist.“

Voller Anmut setzte Colette ihren Weg fort, der führte sie ins Refektorium, dort waren noch einige versammelt. Es war Sonntag, Ostersonntag, um genau zu sein, alle genossen ihre freie Zeit. Als Colette den Raum betrat, verstummte das Gemurmel augenblicklich. Madleen erhob sich von ihrem Platz und kam ihr entgegen.

„Colette?“

„Ja, ich bin es!“

„Eigenartig, erst jetzt bemerke ich, wie schön du doch bist. Warum ist mir das nicht schon gestern aufgefallen? War halt ein wenig Hektik die Tage. Komm, setz dich, darf ich dir dein Frühstück bereiten, meine Königin?“

„Danke, gerne, meine Prinzessin!“

Mit ihrem so eigenen schelmischen Lächeln tafelte Madleen auf und leistete ihrer neuen Freundin und Schwester Gesellschaft.

„Ist Elena nicht hier?“ wollte Colette wissen.

„Die ist schon recht früh zum Sandstein aufgebrochen, will dort meditieren, ist der Meinung, dass die geheimen Kräfte am heutigen Ostertag besonders wirksam seien. Kann ich recht schwer nachvollziehen. Ich stehe ganz am Anfang, muss mich erst mit solchen Dingen vertraut machen.“ gab Madleen zu verstehen.

„Darüber müssen wir uns einmal genauer austauschen, ich befasse mich auch schon seit geraumer Zeit mit der Mystik und all solchen Dingen. Sehr interessantes Feld, kann ich dir sagen.“

„Ich würde gern mehr darüber erfahren. Elena möchte alles mit mir teilen, aber es ist so schwierig manchmal. Aber wenn du mich unterstützt, dann kann es nur besser werden.“ glaubte Madleen zu wissen.

„Wenn du magst?“ Wann immer du Zeit dafür erübrigen kannst!“ bot Colette an und nippte dabei an ihrer Kaffeetasse.

„Für dich hab ich immer Zeit. Heute ohnehin. Wir haben so eine Art von Colette-Bereitschaftsplan entwickelt. Die erste Schicht heute ist mir zugefallen.“

„Einen was?“ 

„Du erinnerst dich doch noch an letzte Nacht?“ Zögernd hakte Madleen nach.

„Ja, natürlich! Ich war um geben von Sinnlichkeit und Erotik ohne gleichen, wie könnte ich das je vergessen.“

„Und wir haben dir ein Versprechen gegeben. Immer für dich da sein. Nun können wir nicht immer zu jeder Zeit, also wechseln wir uns ab. Eine ist immer für dich da. Sieben Tage hat die Woche und zu siebt waren wir, das heißt, jede bekommt einen Wochentag. Der Sonntag fiel mir zu, was mich besonders glücklich macht. Verfüge über mich, wie immer du willst, alles, was du dir wünschst, soll dir gewährt sein. Möchtest du reden? Spazierengehen? Kuscheln? Schmusen? Sag es einfach und ich bin zur Stelle.“ bot Madleen an.

„Hört sich sehr gut an! Gerne mache ich davon Gebrauch. Was genau? Ich sage mal von jedem etwas, jegliches zu seiner Zeit. Mit dir zusammen zu sein ist eine große Freude für mich. Ich blickte unserer Begegnung zunächst mit Unbehagen entgegen. Doch als ich dich dort in der Tür habe stehen sehen fiel auf einmal alles Misstrauen von mir ab. Ich glaube, ich habe mich ein wenig in dich verliebt.“ gestand Colette freimütig.

Madleen rutsche näher an die neue Schwester heran und umarmte diese.

„Oh, das ist wundervoll. Ich glaub, mir geht es ebenso. Das macht vieles so viel einfacher. Ich habe eine Frage an dich.“

" Immer raus damit!“ forderte Colette sie auf.

„Ich habe es dir bei unserer allerersten Begegnung bereits angedeutet. Elena möchte, dass ich ihre Vertreterin werde, wenn sie verhindert ist, z.B. auf Reisen oder so. Aber ich habe Angst davor, ich kann das nicht. Ich fühle mich als Neuling der Sache nicht recht gewachsen. Aber jetzt, da du wieder hier bist, hat sich das erledigt und da bin ich sehr erleichtert. Colette, nimm du den Platz wieder ein, der dir gebührt. Du solltest Elenas Vertreterin werden.“

„Elena hat dich erkoren! Warum willst du die Aufgabe nicht übernehmen? Ich denke, sie hat sich etwas dabei gedacht. Nein, kleines Rehkitz, du bist dafür geschaffen, du weißt es nur noch nicht. Ich habe meinen Teil getan, nun harren andere Aufgaben meiner. Aber ich kann dich unterstützen wenn du magst, dich beraten oder so. Komm zu mir und ich werde für dich immer ein offenes Ohr haben, so wie du jetzt für mich zur Stelle bist.“ lehnte Colette mit liebevoller Stimme, aber auf ihren Standpunkt beharrend ab.

„Ich weiß nicht! Meinst du, das könnte funktionieren?“ Madleen wollte sich noch nicht geschlagen geben.

„Natürlich funktioniert das! Du schaffst das, davon bin ich überzeugt!“

„Und… und es macht dir wirklich nichts aus? Ich meine, dass ich dich verdränge. Dass ich dir den Rang streitig mache!“

„Aber was redest du da. Du verdrängst mich nicht, du machst mir keinen Rang streitig.

Zugegeben, ich hatte Bedenken, als ich zurückkehrte, aber unsere erste Begegnung hat alles gelöst. Die Art, wie du mich begrüßt hast,brach das Eis des Mißtrauens. Ach, was rede ich, hat den See erst gar nicht frieren lassen. Du fandest die rechten Worte zur rechten Zeit.

Auch Elenas Tat hat dazu beigetragen. Sie ist zu mir gekommen, die hübsche Powerfrau zur verachteten Kundra, um mich nach Hause zu holen, sie sprach die Zauberworte. Verzeih mir! Es tut mir so leid, was vorgefallen. Der Bann war gebrochen und ich war frei dorthin zu gehen, wo ich hingehöre.“

„Oh Colette, es tut so gut, das zu hören. Da bin ich  erleichtert.“ Eng schmiegte sich Madleen an Colette, begann immerfort deren Bauch und Brust zu streicheln.

„Sieh mal, ich war lange fort. Ich muss mich langsam wieder einleben, das braucht seine Zeit. Wenn es soweit ist, werden wir uns zusammensetzen, Elena und ich und du natürlich und die anderen um zu überlegen, was ich  tun kann. Ich habe da schon meine Vorstellungen. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die ich machen könnte, auch neues Kreatives. Aber alles zu seiner Zeit. Und wenn ich dir helfen kann, dann tue ich das mit Freuden.“

Madleen  begann weiter zu schmusen. Es war alles gesagt, es bedurfte wohl keiner weiteren Worte mehr.

Plötzlich hielt sie inne und betrachtete Colettes Brüste, zart ganz zart glitt sie mit der Handfläche darüber, betastete diese von allen Seiten. Nur mit Mühe gelang es Colette, die Haltung zu bewahren und nicht vor Erregung aufzustöhnen.

„Aber du… du hast ja richtige Brüste? Oh, wie wundervoll sich das anfühlt. Aber wie kann das sein? Gestern Nacht warst du an dieser Stelle noch platt.“ staunte Madleen nicht schlecht.

„Ich weiß es nicht, sie waren auf einmal da. Auch eine ganze Reihe anderer Veränderungen konnte ich feststellen. Ich kann es nicht deuten, aber ich hege da eine Vermutung, wenn die auch abenteuerlich erscheint. Ihr habt mich geformt die letzte Nacht, habt mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin, eure Liebe, eure Zuneigung, eure Kräfte haben meinen Körper verändert. Was ich bin verdanke ich euch, nicht meiner eigenen Kraft. Die Seele war gefangen und wollte raus, doch konnte sie den Ausgang nicht finden. Man kann eine Gefängnistür nur von außen öffnen, man kann sie nie von innen aufmachen. Ein anderer muss sie für dich öffnen und dir somit die Freiheit bringen. Ich hatte gestern Nacht gleich 7 die mir diese Tür öffneten.

Du siehst, Grund zum Stolz habe ich nicht, aber sehr viel Grund zur Dankbarkeit. Ihr habt mir gegeben, nun ist es an mir, euch zu geben.“

„Ich habe von Herzen gegeben und ich werde es auch weiter tun, Colette. Sag mir einen Wunsch und ich werde ihn dir erfüllen.“

Ein tiefes Vertrauen wuchs zwischen den beiden und steigerte sich von Augenblick zu Augenblick.

„Nun, was dein freundliches Angebot des Kuschelns und Schmusens betrifft, da würde ich gern heute Abend darauf zurückkommen. Es ist bald Mittagszeit, danach möchte ich gern einen Spaziergang mit dir unternehmen. Wanderst du gern?“

„Ja, sehr gern sogar!“

Hervorragend, dann laufen wir eine weite Strecke und tauchen ein in die wohlige Wärme der Natur. Hast du Lust?“

„Absolut!"

 

Colette war frei. Sie hatte in der Tat gleich sieben Befreierinnen und ständig würden sich mehr dazu gesellen. Langsam begann der Schleier zu fallen und sie begriff. Colette gehörte allen, folglich gehörten alle Colette. Sie würde fortan in einem Schlaraffenland leben in einem Kreis  wunderschöner Frauen und auch Männern, ihr auf allen Ebenen zugetan. Konnte ein Mensch mehr erwarten?

Sich an einen einzigen Menschen zu binden, wäre für Colette gar nicht so erstrebenswert, zumindest nicht im Augenblick. Sich auf viele verlassen zu können brachte im Moment einen enormen Vorteil mit sich. Niemals würde sie tatsächlich allein sein, Einsamkeit ausgeschlossen. Sie konnte ihren Horizont erweitern. Das würde ihr helfen, ihre Fähigkeiten zu entfalten, die noch immer ungenutzt in ihrem Inneren schlummerten und nach außen strebten. Und von welch gigantischer Art diese Fähigkeiten waren, sollte sich im Lauf der Zeit erweisen.