Rehkitz und Füchsin

 

Der Morgen war noch ein schwacher Schimmer im Osten, als sich Elena und Madleen zum Aufbruch rüsteten. Ihnen war bewusst, dass ein früher Aufbruch die besten Aussichten auf ein gutes Weiterkommen in sich barg. So schien es durchaus im Rahmen des Möglichen noch heute ihr Ziel zu erreichen.

Beide verharrten während der Fahrt weitgehend in Schweigen. Elena zog es vor, nicht weiter in Madleens Vergangenheit zu forschen und nach einem belanglosen Small Talk war ihr im Moment ganz und gar nicht.

Seit Madleen an ihrer Seite lebte, bemerkte sie, wie sich diese hin und wieder in sich selbst zurückzog und niemand in ihre Kammer des Schweigens vordringen ließ. Heute schien wieder so ein Tag . Möglicherweise hing es damit zusammen, dass sie sich Kilometer um Kilometer Madleens Heimat näherten.

Wie würde ihre Familie auf die plötzliche Rückkehr der Tochter reagieren. Die prominente Begleiterin an ihrer Seite würde weitere Fragen auf werfen.

Ihre schwärmerische Verehrung für Elena war seit ihrer Jugend bekannt, wurde, wenn auch freundlich, stets belächelt und als Spinnerei abgetan.

Und nun? Das Objekt ihrer Begierde befand sich in ihrer Begleitung. Sie hatte es geschafft und war zu Elena durchgedrungen, lebte an ihrer Seite. `Die werden Augen machen! Nein, die werden aus allen Wolken fallen!` durchfuhr es Madleen. Die Anerkennung konnte ihr niemand verweigern.

Der Zustand der Straßen verschlechterte sich zusehends, Schlagloch reihte sich an Schlagloch.

Die Felder zur Rechten und Linken waren übersät mit tiefen, von Geschossen aufgebrochenen Kratern. Ausgebrannte Wracks von Panzern und Militär-LKW steigerten die gespenstische Atmosphäre. Der einst reichlich vorhandene Baumbestand in dieser Gegend war zu einem Haufen verkohlter Stümpfe dezimiert.

Hier schienen noch vor wenigen Tagen heftige Gefechte getobt zu haben. Menschen waren nicht zu sehen. Auf zerstückelte Leichen und Blutlachen konnten sie herzlich gern verzichten.

„So schlimm habe ich mir nicht das vorgestellt. Das ist ja entsetzlich!“ durchbrach Elena mit einem Male das Schweigen. „Aber noch viel schlimmer ist die Tatsache, dass uns ständig suggeriert wird, die Kämpfe seien längst beendet. Es bedarf keiner besonderen militärischen Kenntnisse, um festzustellen, dass hier erst vor kurzer Zeit gekämpft wurde. Wie kann eine Regierung nur so offensichtlich lügen.“

„Regierungen lügen alle! Das hast du doch sicher auch schon begriffen.

So geht das hier Tag um Tag, Jahr um Jahr. Aber ich mache mir aus einem ganz anderen Grund Gedanken. Wenn hier noch vor kurzem geschossen wurde, besteht die Möglichkeit, dass die Truppen nicht weit sind und wir womöglich mittendrin stecken.“ gab ihr die Freundin zu verstehen, steuerte dabei das Wohnmobil geschickt über die unebene Fahrbahn. Trotzdem war es unmöglich, jedem Schlagloch auszuweichen.

Als Folge dessen wurden sie des Öfteren ordentlich durchgeschüttelt. Ein trauriges Lächeln huschte über Madleens Gesicht, als plötzlich wie aus dem Nichts eine Straßensperre vor ihnen aufragte. Erschrocken gelang es ihr gerade noch rechtzeitig ihr Fahrzeug zum stehen zu bringen.

Nun tauchten auch Bewaffnete auf. Elena nahm mit Erleichterung zur Kenntnis, dass es sich um Regierungstruppen handelte.

Ohne zu zögern ließ Madleen die Fensterscheibe runter.

„Guten Tag! Darf ich bitte ihre Papiere sehen?“, forderte einer der Soldaten auf. „Des weiteren würde ich gern den Grund für ihre Anwesenheit mitten im Kampfgebiet erfahren.“

Widerspruchslos gehorchte Madleen. „Wir sind auf dem Weg nach Heimdahl. Meine ganze Familie lebt dort. Wir kommen aus Manrovia. Wir haben den langen Weg gemacht, um diese zu besuchen.“

„Ich fürchte, daraus wird nichts. Zumindest heute auf keinen Fall. Die ganze Gegend wimmelt von versprengten Rebelleneinheiten. Ich habe strikte Anweisungen, niemand passieren zu lassen.“ lautete die ungeschminkte Antwort.

„Wirklich? Aber wir sind schon so lange unterwegs. Einen Großteil der Strecke haben wir hinter uns. Wir müssen weiter. Es ist doch gar nicht mehr weit.“ beharrte Madleen unmissverständlich darauf, ihre Fahrt fort zu setzen.

„Das käme einem Selbstmord gleich. Unmöglich, das kann ich auf gar keinem Fall zulassen. Tut mir leid.“

Der Posten schien nicht mit sich reden zu lassen. In der Zwischenzeit hatte Elena unbemerkt die Kabine verlassen und sich von der anderen Seite an die Männer herangepirscht.

„Ich denke, Sie können ohne weiteres mal eine Ausnahme machen. Wir werden gut auf uns achten.“

„Du… du bist Elena! Was…was führt dich in diese Gegend?“ Sichtlich erschrocken nahm der Posten Kenntnis von der Berühmtheit an seiner Seite.

„Ja, ich bin es! Das haben Sie schnell zur Kenntnis genommen. Mit meiner Begleiterin befinde ich mich auf einer sehr wichtigen Mission der Regierung. Ich soll mir hier vor Ort ein objektives Bild von allem machen, um im Anschluss dem großen Vorsitzenden Cornelius Bericht zu erstatten.“ beteuerte Elena.

„Sie können uns doch sicher helfen? Allein werden wir das bestimmt nicht schaffen.“

„Ja, ja, aber… so einfach ist das nicht. Ich meine…äh, das kann  ich nicht allein entscheiden.

Es… es ist ja nur, wenn ihnen etwas zustößt.“ stammelte der Posten äußerst verlegen.

„Aber ich denke, das können wir relativ schnell entscheiden.“ schaltete sich ein anderer Uniformierter ein, der sich plötzlich von der Seite näherte. „Unseren Stützpunkt haben wir etwa 2km von hier entfernt. Wenn Sie wollen, können Sie uns dorthin begleiten. Es muss ein Stabsoffizier entscheiden, dann können wir weitersehen.“

„Ein ausgesprochen vernünftiger Vorschlag,“ lobte Elena an erkennend. „Wir werden ihn dankend annehmen.“

„Können wir mit dem Auto dorthin fahren oder sollten wir besser zu Fuß gehen?“, wollte Madleen wissen und lehnte sich weit aus dem Fenster. „Ich kann dieses Gefährt unmöglich über einen kleinen zerfurchten Waldweg steuern. Hier stehen lassen will ich es aber auch nicht.“

„Kein Problem!“, erwiderte der freundliche Posten. „Sie fahren einfach noch 100m weiter nach vorn. Dort gelangen Sie an eine Kreuzung. Sie biegen links ab. Ach, wissen Sie, ich fahre einfach mit dem Jeep voraus, das geht schneller. Du, Jan, bleibst mit den anderen hier!“

„Natürlich, zu Befehl!“ antwortete der Posten, offensichtlich froh, über die Tatsache der Verantwortung enthoben zu sein.

„Ich danke ihnen allen! Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen und somit natürlich auch der Regierung. Ich werde Sie nach meiner Rückkehr alle lobend erwähnen.“ versicherte Elena, während sie sich schnell auf den Beifahrersitz schwang.

Ein Anflug von  Heiterkeit auf ihrem Gesicht verdeutlichte, dass es ihr außerordentliche Schwierigkeiten bereitete, ihre Rolle weiter zu spielen.

Als Madleen den Wagen gestartet hatte und sich in Richtung Militärcamp in  Bewegung setzte, kicherte Elena doch noch aus sich heraus.

„Also Elena, wirklich! Auf was für Ideen du immer kommst. Meinst du nicht, die erkundigen sich danach, ob das auch den Tatsachen entspricht.“

„Mach dir darüber keine Sorgen.“ entgegnete Elena, der es immer noch schwer fiel, ihre Heiterkeit zu unterdrücken. „Die sind erst mal so verdutzt, dass sie gar nicht weiter drüber nachdenken. Habe ich dir zu viel versprochen? Siehst du, da wo ich auftauche, ändern sich die Menschen in Handumdrehen.“

„Tja, da beginne ich die Menschen in meiner Heimat langsam zu verstehen. Da gibt es nicht wenige, die dich für so ne Art Göttin halten.“

„Ach Unsinn, Schwärmerei !“ wiegelte Elena ab. „Ich bin ein Mensch wie jeder andere. Nur eben etwas berühmter. Warum soll ich diesen Bekanntheitsgrad nicht ausnutzen, wenn es darauf ankommt.“

Unterdessen hatten sie den Militärstützpunkt erreicht, notdürftig auf einer kleinen Lichtung inmitten des Waldes errichtete Bauwagen. Elena zählte etwa zwei Dutzend Soldaten. Vermutlich eine Art Vorhut.

Madleen stoppte den Wagen in angemessener Entfernung. Beide Frauen blieben solange im Fahrzeug , bis der Posten  in Begleitung eines Offiziers erschien.

Ein großer stattlicher Mann um die 40. Er hatte breite muskulöse Schultern und war so groß, dass er ständig den Kopf einzog, als fürchte er, dass er jeden Moment irgend wo dagegen stoßen konnte. Sein Gesicht wirkte hart und kalt wie Stein. Als er jedoch die Frauen erblickte, wich die Steifheit aus seinem Gesicht und machte einem Lächeln Platz.

„Guten Tag!  Ich bin Hauptmann Bertram. Es ist mir eine Freude, dich zu begrüßen, Elena. Und deine Begleiterin natürlich auch. Wenn ich mit allem gerechnet hätte. Aber der Besuch ist schon äußerst überraschend.“

Ohne große Worte erwiderten beide den Gruß.

„Aber kommt doch, begleitet mich in meine bescheidene Unterkunft,“ fuhr er fort.

Die beiden Frauen folgten.

Die spartanische Einrichtung der Kabine, offensichtlich handelte es sich um einen Büroraum, bestand aus einem großen wuchtigen Schreibtisch und einem Holzstuhl den man eher als Küchenmobiliar identifizieren würde.. Des weiteren befand sich noch ein Spint mit Akten und schmucklose Stühle im Raum. Eine Leuchtstoffröhre tauchte den Raum in ein grelles unpersönliches Licht.

„Aber bitte, nehmt doch Platz! Verzeih, dass ich euch nichts Komfortableres an zu bieten habe. Aber meine Leute und ich können sich glücklich schätzen, wenigstens ein Dach über dem Kopf zu haben.“ bot der Hauptmann an, während er sich geräuschvoll auf den alten Stuhl niederließ.

Mit liebevoller Konzentration zündete er sich eine Zigarette an und inhalierte genießerisch den Rauch.

„Pardon, es stört dich doch nicht etwa, wenn ich rauche?“ Beide schüttelten  wortlos den Kopf.

„Also das ist ja wirklich ein Ding. Hat sich die Regierung nun endlich entschlossen, sich vor Ort ein Bild von den Ausmaßen  zu machen. Hat ja lange genug gedauert. Und nun schicken sie uns Elena. Etwas Besseres hätte uns kaum widerfahren können“

„Oh ja, natürlich! Ich bin mit einer Vollmacht des Präsidenten Cornelius hier. Er hat mich persönlich beauftragt und nur ihm soll ich Bericht erstatten.“ gab Elena schlagfertig zur Antwort.

„Schlau, Schlau!“ dachte Madleen. Sollte doch jemand auf die Idee kommen und Elenas Aussage in Zweifel ziehen, so bräuchte er sich nur an Cornelius zu wenden. Der würde alles bestätigen, was von Elena kam. Er mochte sie noch immer und sicher wäre er von Elenas Initiative erfreut.

„Also von allerhöchster Stelle autorisiert. Toll, einfach toll! “ begeisterte sich der Hauptmann weiter.

„Ich möchte mich so gründlich wie nur irgend möglich informieren. Es ist von daher sicher verständlich, dass wir so nahe wie möglich vordringen müssen. Mein Bericht soll möglichst  präzise sein. Wir rechneten damit, heute schon bedeutend weiter voran zu kommen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit müssen wir unser Ziel erreichen.“ erläuterte Elena so selbstsicher, als habe sie jedes einzelne Wort auswendig gelernt.

„Selbstverständlich erhältst du von unserer Seite alle nur erdenkliche Unterstützung. Allerdings muss ich auch auf die Gefahren hinweisen. Noch bis vor 2 Tagen wurde in dieser Gegend hart gekämpft. Im Grunde müssen wir damit rechnen, dass es jeden Moment wieder losgeht. Hier sind wir noch relativ sicher, aber 10 km  weiter westlich sieht das schon anders aus. Wenn ich mich recht entsinne, wollt ihr gerade dorthin.“

Madleen wurde kreidebleich. Böse Vorahnungen bemächtigten sich ihrer.

„Was ich nicht ganz verstehen kann, ist: Warum hat man euch allein reisen lassen, ganz ohne Eskorte? Ich kann im Moment auch nicht einen einzigen Mann entbehren.“

„Wir reisen ganz bewusst allein.“ hakte Elena sofort nach. „Eine Militäreskorte wäre doch eine ideale Zielscheibe.  Hingegen wecken zwei Frauen allein keinen all zu großen Verdacht.

Zumal meiner Gefährtin  aus dieser Gegend stammt. Des Weiteren sind doch ohnehin ständig Flüchtlinge unterwegs.“

„Richtig, aber die ziehen in die entgegengesetzte Richtung. Außerdem ist Elena keine Unbekannte. In der Hand der Rebellen, das wäre wirklich ein ausgesprochenes Faustpfand.“ gab der Hauptmann zu bedenken.

Elena bemerkte, dass sie ein anderes Thema an schneiden mussten.

„Sag doch, ist es nicht verwunderlich, dass der Blaue Orden auch fast drei Jahre nach seiner Vernichtung noch so wirksam operieren kann und imstande ist, eine ganze Gegend im Schach zu halten?“

Verlegen blickte der Hauptmann zu Boden, so als hätte gerade jemand in ein Wespennest gestochen.

„Tja, ich komme wohl nicht umhin, euch mit der traurigen Wahrheit zu konfrontieren. Komisch, dass ihr noch nicht im Bilde seit, wenn  ihr von der Regierung kommt. Aber egal. Der Blaue Orden hat mit den Auseinandersetzungen nichts zu tun. Die Verantwortlichen in der Zentrale haben diese Finte in die Welt gesetzt, um von den eigentlichen Problemen abzulenken. Es sind Teile der regulären Armee, die sich im Aufstand befinden.“

„Soll das etwa heißen, das ganze Gerede von konterrevolutionären Aktionen ist frei erfunden. Der Blaue Orden hat demnach niemals an den Kampfhandlungen teilgenommen?“, empörte sich Madleen.

„So in etwa könnte man es sehen. Das kommt natürlich darauf an, was man unter einer Konterrevolution versteht. Die Rebellen behaupten, sie würden die wahren Ideale der Revolution verteidigen. Die Regierung ist, wie nicht anders zu erwarten, ganz anderer Meinung. Für sie sind die Rebellen Verbrecher, Terrorristen, oder eben Konterrevolutionäre.“

„Jetzt leuchtet mir auch diese Geheimniskrämerei ein. Würde es sich um Aktionen des Ordens handeln, könnte man diese Tatsache ohne weiteres der Öffentlichkeit zugänglich machen. Es ist ja kaum damit zu rechnen, dass die Bevölkerung der Aufstandsgebiete Angehörigen dieser tief verhassten Organisation Beistand gewährt, während die Rebellen sicherlich einige Sympathiewerte für sich verbuchen können.“ stellte Elena fest.

„Das ist ja unglaublich! Das heißt hier oben herrscht Bürgerkrieg zwischen Teilen der Regierungsarmee und wir bekommen davon nicht das Geringste mit. Das ist wirklich kaum zu glauben.“ Madleen hatte ihre Entrüstung noch immer nicht verwunden. 

„Die Desinformationsstrategie der Regierung greift auf allen Ebenen. Offiziell heißt es, man wolle die Menschen nicht unnötig verunsichern. Es ist unter Androhung strenger Strafen untersagt, die wirklichen Umstände offen zu legen.“ antwortete der Hauptmann und lehnte sich in seinem Sessel zurück.

Madleen hielt es auf ihrem Stuhl nicht mehr aus, sprang auf und lief wie ein aufgescheuchtes Huhn im Raum herum. „Ich verstehe das alles nicht. Ich komme aus der Gegend, dort wollen wir auch wieder hin. Ich habe selbst des öfteren Kämpfe aus nächster Nähe mit erlebt. Mir ist nie etwas dergleichen aufgefallen.“

Elena griff nach der Hand ihrer Freundin und drückte diese an sich.

„Wissen Sie, ihre Familie kommt, wie ich schon erwähnte, aus Heimdahl. Es wäre für uns schon von außerordentlicher Wichtigkeit, in Erfahrung zu bringen, wie es derzeit dort steht.“

„Ich werden sehen, was ich tun kann. Wir werden es in Erfahrung bringen. Ich kann schon jetzt versichern, dass zumindest im Augenblick keine Regierungstruppen dort operieren. Was die Rebellen im Schilde führen, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis.“ versuchte Hauptmann Bertram die beiden zu beruhigen.

„Sie würden uns sehr helfen, wenn es Ihnen gelänge, uns durch zu lotsen. Es bedeutet wirklich viel, möglichst schnell dorthin zu gelangen.“ unterstrich Elena noch einmal mit Nachdruck und ließ ihren Charme spielen, so dass sich auch der ansonsten gestrenge Hauptmann dessen nicht zu entziehen vermochte.

Im Verlaufe des Gespräches erfuhren die beiden noch weitere wichtige Details über die Auseinandersetzung.  Sie befanden sich auf einem Pulverfass, das jederzeit zu explodieren drohte. Elena stellte mit Zufriedenheit fest, wie wichtig ihre Reise hinsichtlich dieser Tatsache war. Sie würde nach ihrer Rückkehr diese Ungeheuerlichkeiten umgehend publik machen.

Der Hauptmann ließ den Soldaten rufen, der die beiden Frauen hierher geleitet hatte. Es wurde vereinbart, bis zum morgigen Tag abzuwarten. Am Morgen sollte der Versuch unternommen werden beide sicher in Richtung Heimdahl zu führen.

Die Nacht würden die beiden im Lager verbringen, das verlieh ihnen ein Gefühl der Sicherheit, obgleich bei einem Angriff wohl keiner der Soldaten wirksamen Schutz hätte leisten können.

Elena beschloss, einen kleinen Gang in die Natur zu machen. Madleen protestierte zwar auf das heftigste, weil sie um deren Sicherheit fürchtete und auch Hauptmann Bertram war alles andere als begeistert ob dieses Ansinnens, doch Elena bedurfte der Einsamkeit. Sich einfach nur mal eine Stunde zurückziehen, die Natur auskosten, danach war ihr im Moment.

Sie versprach, in Sichtweise des Lagers zu bleiben. Gerade in der letzten Zeit empfand sie immer deutlicher den Drang in die Natur. Sie wollte sich hin und wieder zurückziehen und sich der Meditation widmen.

Schon nach wenigen Schritten fand sie tatsächlich ein schönes Fleckchen.

 

 

Vereinzelt zogen Nebelschwaden durch den Wald. Der vorabendliche Himmel war von einer geheimnisvollen stolzen Schönheit. Die schlanken Tannen und Fichten streckten in stummem Flehen die Äste aus, als versuchten sie, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ein einsamer Bussard zog majestätisch seine Runden am Himmel.

Immer deutlicher verdichtete sich in Elena das Bewusstsein, dass dieses geschundene Land dringend ihrer Hilfe bedurfte. Unendlich traurig stimmte sie das soeben Gehörte.

Sie würde das tun, was sie eigentlich zu vermeiden suchte, sich wieder in die Politik einmischen.

Noch hatte sie keine Vorstellung davon auf welche Weise.

Nur eines wusste sie genau, nie und nimmer würde sie sich von der Staatsmacht korrumpieren lassen.  Ihre Einmischung würde auf eine ganz andere Art geschehen.  Als einsame Mahnerin in der Wüste. Jene Aufgabe die ihr bereits vor der Revolution zukam. Eine Funktion, die ihrer angemessen schien. Sie würde Missstände anprangern, den Finger in die Wunden legen, ohne auf die Folgen zu achten. Offene Wunden gab es mehr als genug im ganzen Land.

Doch um das zu bewerkstelligen bedurfte es einer gewaltigen Energie, einer fast außermenschlichen Kraft. Woher konnte sie sich diese beschaffen?

Seit Madleen in ihr Leben getreten und ihr Herz entflammt hatte, kam sie wieder voll in Fahrt . Die finstere Melancholie war einem gesunden Optimismus gewichen. Sie fühlte sich stark und glücklich. Auch wenn sie dem Anschein nach deren Herz noch nicht erobern konnte.

In letzter Zeit entsann sie sich erneut  Kovacs` Worte. Dieser hatte immer von einer überdimensionalen Kraft gesprochen, die sich ihrer bemächtigen und sich voll in ihr manifestieren sollte. Langezeit tat sie das als naive Schwärmerei eines hoffnungslosen Romantikers ab, doch langsam schien der Berg des Zweifels genommen und das Siegel war gebrochen, das sie trennte von einer verloren geglaubten Kraft.

Elena hatte sich auf dem Boden niedergelassen, lange saß sie, ganz in sich versunken, bemerkte kaum, dass die Sonne sich darauf vorbereitete, am Horizont zu versickern. Erst das Gezwitscher einer Amsel, ganz in ihrer Nähe, holte sie in die Wirklichkeit zurück.

Sie rekelte sich, atmete tief durch, dann erhob sie sich. Erfüllt von tiefem Frieden kehrte sie ins Camp zurück.

Auf halber Strecke kam ihr der freundliche Wachposten vom Nachmittag entgegen. Dieser hatte offensichtlich ein Auge auf sie geworfen und schien daher sichtlich besorgt um ihre Sicherheit.

„Oh, Elena, da bist du  ja! Ich machte mir Sorgen, nachdem ich erfuhr, dass du alleine ausgegangen bist.“

„Kein Grund zur Sorge. Ich habe mir nur ein Stilles Plätzchen zum meditieren gesucht. Dabei ist mir das Zeitgefühl abhanden gekommen. So ergeht es mir oft, wenn mich der grüne Mantel der Natur umhüllt.“ versicherte Elena, dabei schenkte sie dem Krieger ein bezauberndes Lächeln, dem sich keiner entziehen konnte.

„Da bin ich  beruhigt. Hm, was ich noch sagen wollte. Wenn du Lust hast, du und deine Begleiterin, dann kommt doch heute Abend ein wenig in unsere Runde. Wir werden ein Lagerfeuer entfachen, das hilft gegen die Kälte, die hier oben noch immer sehr hartnäckig ist.“ lud der Soldat ein.

„Madleen, sie heißt Madleen.“

„Wie bitte?“

„Meine Begleiterin! Ihr Name ist Madleen!“, ließ Elena ihren Begleiter wissen.

„Ach so, ja, natürlich, Entschuldigung,“ erwiderte der verlegen. „Mein Name ist übrigens Michael.“

„Sehr schön, Michael!  Aber ein offenes Feuer, mitten in der Nacht? Ist das nicht gefahrvoll. Man wird das Lager meilenweit erkennen können. Ich meine, die Rebellen könnten doch so auf uns aufmerksam werden?“ stellte Elena mit Verwunderung fest. Währenddessen sie das Lager erreichten.

„Da besteht kein Grund zur Sorge. Wir sind  nicht die einzigen in der Nähe. Es gibt noch Dutzende solcher Lager. Der Feind hat sich zurückgezogen. Die Gegend ist erkundet. Auf diese Weise können wir euch morgen problemlos an euer Ziel lotsen.“

„Da kann ja nichts mehr schief gehen. Und was heute Abend an geht, selbstverständlich sind wir zugegen.“

„Ihr macht uns damit eine große Freude . Vielen Dank! Viele dieser Männer liegen schon seit Wochen hier oben. Da macht sich schnell Hoffnungslosigkeit bemerkbar. Eure Anwesenheit hat vielen wieder Mut und Selbstvertrauen geschenkt.“

„Gern geschehen!“

Michael verabschiedete sich. Elena schritt auf das Wohnmobil zu und bemerkte, wie dort Madleen laut gestikulierend sprach. Aber mit wem? Sie wartete an der Tür.

„Jaja, die Verbindung war Monate lang unterbrochen. Ich habe es immer wieder versucht. Kaum zu glauben dass ich endlich Kontakt bekam.  Wie? Ja, natürlich komme ich, allerdings erst morgen. … Nein, ich bin nicht allein! Ich bringe jemand mit. Eine Überraschung. Wie? Na, wenn ich dir verrate um wen es sich handelt,  ist es ja keine Überraschung mehr. Nur soviel, die Person wird euch bestimmt gefallen.“

Elena belauschte das Gespräch, das sich als Telefonat herausstellte an der Tür mit einem amüsierten Lächeln. Das würde in der Tat eine Überraschung.

„Nein, ich weiß nicht, wann wir genau vor Ort sind. Wenn wir da sind, sind wir da, einverstanden? Ach Mutter… nein ich verrate nicht, wer mich begleitet. Du wirst es früh genug erfahren. Die Verbindung wird schlechter. Also dann, bis morgen! Grüß alle schön! Tschüss!“

Nach einem kurzen Augenblick trat Elena ein, tat dabei so, als habe sie von dem Telefonat nichts mitbekommen.

„Ach, da bist du ja. Habe mir schon Sorgen gemacht. Stell dir vor, es hat geklappt. Ich habe endlich eine Leitung nach Hause bekommen. Alle sind wohlauf und erwarten unsere Ankunft. Es ist besser, so wird das kein Überfall. Die werden Augen machen, wenn ich mit dir auf dem Hof aufkreuze.“  berichtete Madleen und ihre tiefblauen Augen leuchteten vor Freude.

„Das ist toll! Du hast ihnen also nicht mitgeteilt, dass ich dich begleite?“, spielte Elena die Naive.

„Nein, natürlich nicht! Soll doch ne Überraschung werden. Ich kann es kaum erwarten, ihre Augen zu sehen. Das wird ein Spaß, sag ich dir.“

„Das glaub dir gern! Übrigens hat uns der Wachsoldat für heute Abend eingeladen. Wir können uns ihnen am Feuer zu gesellen. Ist doch sicher ne gute Idee, oder?“

,"Bei mir war er auch schon. Ja, meinetwegen, bin zwar jetzt schon k.o. aber wird sicher ganz lustig."

 

Die Entscheidung, dem gemütlichen Abend am Feuer beizuwohnen, sollte sich als richtig erweisen. Beide fühlten sich in der Runde wohl und angenommen.

Das Feuer loderte in den Himmel und erleuchtete die Dunkelheit. Von vorn spendete es reichlich Wärme, während Elena im Rücken die Kälte spürte. Madleen holte die Thermodecken und hüllte sich und Elena ein. Beiden tat der Körperkontakt gut.

Die Soldaten stimmten Lieder an und es wurde auch getrunken. Jemand warf mehr Holz auf das Feuer und Elenas Blick folgte den sprühenden Funken, die in die Luft stiegen, bis sie sich im kalten Sternenlicht am Himmel verloren.

Ihr war nicht nach einer leichten Konversation zumute, doch versuchte sie an den Gesprächen teilzuhaben.

Hauptmann Bertram erschien und ließ sich auf einer Bank zu ihrer Linken nieder.

Nach anfänglichem Zögern, begann er schließlich den Gesprächsfaden aufzunehmen.

„Ähm, was ich noch sagen wollte, Elena! Ich kannte deinen verstorbenen Mann. Nicht sehr gut. Nein, das nicht gerade. Aber wir hatten mehrere Male miteinander zu tun, unmittelbar bevor der Sturm losbrach. Ich gehörte zu einer Einheit, die sich schon kurz nach Ausbruch der Revolution auf die Seite der Aufständischen schlug. Ja, ähm, was ich damit sagen wollte. Er war ein großer, bedeutender Mensch. Ich bin dankbar, ihm begegnet zu sein.“

Erstaunt und erfreut ließ Elena ihren Erinnerungen freien Lauf.

„Das war er, wahrhaftig! Aber Moment mal. Da müssten wir uns doch auch begegnet sein?

Gerade die Wochen unmittelbar vor und nach der Revolution wich ich kaum von seiner Seite.

An dich kann ich mich gar nicht erinnern, im Augenblick. Nun gut. Ich bin in jenen Tagen außerordentlich vielen Menschen begegnet. Mein Gedächtnis kann unmöglich jedes einzelne Gesicht speichern.“

Irgendwie war es ihr peinlich, aber Elena konnte sich wirklich nicht an den Mann erinnern.

Diesem schien das aber ausnehmend wichtig zu sein.

„Ich erinnere mich noch sehr gut an dich. Wir standen sogar mehrere Male dicht beieinander,“ enthüllte er weiter.

„Auf der großen Wahlversammlung vor dem Parlamentsgebäude in Manrovia. Die ganz große mit einer Million Teilnehmern. Da habt ihr beide gesprochen. Natürlich erinnerst du dich nicht an mich. Meine Aufgabe bestand darin, die Absperrung zu überwachen. Was du damals ansprachst, ließ mich nicht ungerührt, eure Worte hallten noch recht lange in meinem Bewusstsein wieder.“

„Ah, ja, die große Versammlung, mein Wahlkampfabschluss, ich erinnere mich. Turbulente Zeiten damals. Zeiten voller Hoffnung und Erwartungen. Damals schien alles so einfach. Ein bisschen Protest hier, ein wenig demonstrieren da. Nur genügend Aufsehen erregen, dann nehmen die Dinge ihren Lauf. Vieles hat sich nicht erfüllt. Und nun sitzen wir hier zusammen.“ antwortete Elena.

„Jetzt sitzen wir hier. Ich habe dich wirklich bewundert damals. Von dir ging eine Kraft aus, ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Ich spürte sofort, damit nimmt etwas vollkommen Neues seinen Anfang.“ schwärmte Hauptmann Bertram während er sich eine Dose Bier öffnete.

„Nun, es wäre besser, es gebe keinen Grund hier zu sitzen. Wäre Frieden im Land bräuchten wir das gar nicht. Stattdessen schießen Brüder auf Brüder. Kampfgefährten, dereinst gemeinsam voller Zukunftshoffnung, heute Todfeinde. Ist das nicht entsetzlich?“

„Ja, das ist eine Schande. Nie habe ich damit gerechnet, dass es einmal soweit kommt.“ bedauerte der Hauptmann. In der Zwischenzeit war auch Michael am Feuer erschienen und nahm ihnen gegenüber Platz. Sein Blick hing wie gefesselt an Elena. Ihr Verdacht vom Nachmittag fand somit neue Nahrung. Da hatte sich also wieder jemand in sie verliebt.

Mit verhaltenem Schweigen erwiderte Elena seinen Blick. Sie spürte Madleens angenehm warmen Körper neben sich und begann ihrem Gegenüber die traurige Wahrheit zu signalisieren. Mein Herz ist vergeben. Im Moment ist mir meine Gefährtin wichtiger. Schade! Später vielleicht….

Sie lauschte kaum mit einem halben Ohr den Worten des Hauptmannes, spürte, wie sich die versprengten Teile ihrer Seele wieder zusammenfügten.

„Naja, was solls! Lassen wir die Vergangenheit ruhen. Was nützt es, sich ständig Gedanken  zu machen, was alles hätte sein können. Es ist einfach so, wie es ist. Da kann man nichts machen. Wir sind ohnehin viel zu kleine Lichter, als dass wir etwas ausrichten könnten.“ Frustriert setzte er die Dose Bier an die Lippen und leerte sie in einem Zug.

Offensichtlich hatte er Elenas zeitweilige geistige Abwesenheit vernommen.

„In diesem Punkt kann ich leider nicht folgen. Ich denke, es gibt doch Mittel und Wege sich einzubringen.“ widersprach Elena.

„Ach ja, und was sollten wir deiner Meinung nach tun?“

„Ganz einfach aufhören zu kämpfen! Sich mit dem Gegner verständigen. Dürfte nicht all zu schwer sein, immerhin sprecht ihr die gleiche Sprache.“

Elenas simple Einstellung warf ihn fast von der Bank.

„Wie? Aufhören einfach so. Haha, ein guter Witz. Wir können doch nicht einfach sagen, Schluss, aus, wir kämpfen nicht mehr. Stell dir doch vor, alle würden das machen, dann gebe es…

„Dann gäbe es im Handumdrehen keine Kriege mehr! Ganz einfach. Meine Hoffnung besteht darin, dass es eines Tages tatsächlich alle so machen. Das überlege dir mal, Hauptmann.“

„Das ist wirklich originell, Elena! Das muss ich mir merken. Vielleicht werden solche Gedanken einmal Allgemeingut. Wer weiß.“ Noch schien die Antwort den Hauptmann außerordentlich zu belustigen. Doch in seinem Inneren arbeitete es gewaltig.

In der Zwischenzeit hatte auch Madleen bemerkt, auf welche Weise Michael Elena anhimmelte. Sie schlang ihren Arm um deren Taille und drückte sie an sich. Leider kommst du zu spät. Nicht mehr lange und sie gehört zu mir. Kein Bedarf für einen Dritten, übermittelte sie ihrem Gegenüber durch das lodernde Feuer.

„Ist dir noch kalt, Elena?“ Demonstrativ wandte sie sich ihrer Angebeteten zu.

„Nein, schön angenehm, die Decke und du, was kann ich mir noch wünschen?“

Das ging runter wie Honig. Habe ich dich endlich soweit, meine schlaue Füchsin, fragte sich Madleen in Gedanken. Irgendwann musste Elena doch bemerken, wie sehr sie sich nach ihr verzehrte.  Heute Nacht? Würde sie heute nach unter ihre Decke kommen? War sie schon soweit?

Eng schmiegten sich die beiden zusammen. Michael hingegen spürte, dass er fehl am Platz war, schwang sich von seinen Platz und verließ stehenden Fußes den Kreis.

Bei Hauptmann Bertram hatte Elena ganz offensichtlich eine Lawine losgetreten.

„Also noch mal von vorn, Elena. Du bist der Meinung, ich könnte mit diesem kleinen versprengten Häufchen Geschichte schreiben. Ich gehe einfach so auf den Gegner zu, lasse die Waffe fallen, sage Guten Tag und umarme ihn anschließend.“

„Zum Beispiel! Was würdest du dir dabei vergeben?

Besiegen könnt ihr die Rebellen nicht, deren Stärke hat in der Zwischenzeit gewaltige Ausmaße angenommen. Es bleibt kein Alleingang. Euer Mut wird Schule machen. Bald werden auch andere Einheiten eurem Beispiel folgen. Es gibt ein altes Sprichwort: „Wenn du deinen Feind nicht bezwingen kannst, dann umarme ihn!“ Du wirst am Ende ganz ohne Blutvergießen doch noch einen grandiosen Sieg errungen haben.“   

„Ich könnte mir vorstellen, dass Neidhardt und das Zentralkomitee nicht gerade begeistert von diesem Ansinnen sind. Die setzen nach wie vor auf eine militärische Offensive. Da liegt der Hase im Pfeffer.“

In der Zwischenzeit hatte Hauptmann Bertram schon gehörig dem Alkohol zugesprochen. Was sich fördernd auf seine Redseligkeit auswirkte.

Die beiden Frauen hörten geduldig und ein wenig amüsiert zu.

Als die Gespräche zusehends in den Austausch von Belanglosigkeiten mündeten und die letzten Holzscheite niedergebrannt waren, zogen sie sich in ihr Wohnmobil zurück.

Es musste damit gerechnet werden, dass der folgende Tag viel Anstrengung zu im Gepäck hatte, daher benötigten sie noch eine Portion Schlaf.

Flugs huschte Madleen unter ihre Thermodecke und mummelt sich ein.

Mit einem Hauch von Wehmut blickte Elena auf ihre müde Gefährtin. Also wird das Eis auch heute nicht gebrochen. Dabei keimte am Lagerfeuer in ihr die Hoffnung dass der ersehnte Augenblick nun gekommen sei. In Anbetracht der Tatsache, dass Madleen die ganze Wegstrecke allein am Steuer saß, entschuldigte so manches. Sie musste in der Tat todmüde sein. Kein geeigneter Umstand für eine Liebesnacht.

„Schlaf gut und Angenehme Träume.“ wünschte Elena, während sie sich im Dunkeln ihrer Kleider entledigte. Ein undefinierbares Brummen wehte als Antwort zu ihr herüber.

Also weiter warten. Weiter hoffen auf das von ihr ersehnte Wunder. Ach, könnte mich Madleen doch auch nur so lieben, wie ich sie.

 

 

Es war sehr früh, kaum, dass ein fahles Licht am Horizont die Ankunft des neuen Tages verriet, als beide Frauen von einem, für ein militärisches Camp typischen, Lärm geweckt wurden.

Auch sie hielten es für angemessen, ihr Tagwerk früh zu beginnen.

Nach einem ausgiebigen Frühstück, das sie mit Hauptmann Bertram einnahmen, brachen sie auf.

Der Tag war grau und bedeckt. Eine blutige Sonne brannte mit geisterhafter Blässe durch den Tau und Nebel, der wie dicke Wolle über dem Land hing.

Nicht gerade ein ideales Reisewetter, doch andererseits, so bedeutete Michael ihnen, dass sie auf diese Weise noch sicherer an den feindlichen Linien entlang schlüpfen konnten, die schon bald bedrohlich nahe ihre Wegstrecke säumten.

Michael erwies sich als ausgesprochen fähiger Lotse.

Vor allem dann, als die noch relativ befestigte Straße in einen dünnen holprigen Feldweg überging. Nur unter Aufbietung aller Kräfte gelang es Madleen, das Wohnmobil auf seinen vier Rädern zu halten. Eine schier endlose Wegstrecke musste auf diese Weise bezwungen werden. Auf ihrer Stirn leuchteten Angstschweißtropfen wie Perlen in der Sonne.

„Wenn du nicht mehr kannst, werde ich fahren, verstanden?“ sorgte sich Elena.

„Ich sehe ohnehin nicht ein, warum du darauf bestehst, die gesamte Wegstrecke allein am Steuer zu sitzen. Das muss nicht sein! Wir hatten vereinbart, dass wir einander abwechseln.“

„Ach Unsinn! Ich schaffe das schon. Es ist ohnehin nicht mehr weit. Sieh mal da vorn, eine Lichtung . Ich hoffe danach auf die mir vertraute Gegend zu stoßen“ wehrte Madleen energisch ab.

Selbst unter großer Anstrengung konnte Elena nichts dergleichen erkennen. Es war ihr nicht möglich, diese Sturheit nachvollziehen.

Für Madleen gab es hingegen einen durchaus plausiblen Grund. Bald schon würde sie sich auf heimatlichem Boden befinden. Lange, sehr lange hatte sie einem solchen Augenblick entgegengefiebert. 

Der erlösende Moment schien gekommen. Das Dickicht verschwand und die Autos befanden sich auf einer Ebene. Elena stieß einen Lufthauch der Erleichterung aus. Madleen war geschafft, ließ sich jedoch nicht das Geringste anmerken.

Michael hatte den Jeep gestoppt, war ausgestiegen und bedeutete den beiden, es ihm gleich zu tun. Die beiden Frauen verließen das Fahrzeug.

„Nun, ab hier muss ich sie allein lassen. Ab jetzt müssen sie sehen, wie sie ihren Weg selbständig finden. Sie fahren einfach den Hang hinunter bis zu der Straße, die sich dort unten bis zum Horizont schlängelt. Auf der bewegen sie sich einfach in westliche Richtung.“ erläuterte Michael, sichtlich betrübt über den Umstand, nun von Elenas Seite weichen zu müssen. Würde sie ihm jemals wieder über den Weg laufen?

Elena schien in seiner Seele zu lesen , doch bevor sie etwas sagen konnte, kam ihr Madleen zuvor.

„Kein Problem, ich kenne den Weg! Das ist heimatlicher Boden!“

Danach umarmte Elena den völlig Verdutzten und küßte ihn auf die Wange, schließlich flüsterte sie ihm ins Ohr. „Nicht traurig sein! Ich kann mir denken, was du empfindest. Ich fühle ähnliches. Ich wünsche dir alles Glück auf Erden.  Mein Herz ist schon vergeben." 

Michael war außerstande zu sprechen. Wie auf Befehl verabschiedete sich auch Madleen auf ihre Weise.

„Äh ja äh….ich …ich wünsche gute Reise und ein ebenso gutes Gelingen der Mission.“ stammelte Michael, bevor er sich in seinen Jeep warf und mit einem kurzen Huper seine Fahrt antrat.

„Komische Art, sich zu verabschieden. Was ist denn auf einmal in den gefahren?“, wunderte sich Madleen, während sie dem Fahrzeug nachsah.

„Hast du wieder deine Zaubermagie wirken lassen?“

„Ich habe ihm lediglich auf eine sehr zartfühlende Art meinen Dank zum Ausdruck gebracht.

Ich konnte in den letzten Jahren einige Erfahrung in solchen Angelegenheiten sammeln. Habe den Überblick darüber verloren, wie viele sich in der Zwischenzeit  unglücklich in mich verliebt haben. Alle müssen auf ähnliche Art und Weise getröstet werden.“

`Wem sagst du das, eine davon steht neben dir, verzehrt sich in Sehnsucht und du scheinst nicht das Geringste zu bemerken,` dachte Madleen, froh über die Tatsache, einen Nebenbuhler los zu sein.

Auf der Rückfahrt ins Lager durchdrang Michaels Herz tiefe Freude. Er durfte sich noch einmal verlieben, ausgerechnet in den Menschen, dem bald die ganze Nation zu Füßen lag.

Dass er Elena wohl nie wieder begegnen würde, war ihm bewusst. Was er jedoch nicht ahnen konnte, war die Tatsache, dass er sein Leben schon in wenigen Tagen in einer der letzten Kampfhandlungen dieses sinnlosen Bürgerkrieges verlieren sollte.

 

Der Wald wurde lichter und lichter, bis er sich ganz in der Weite verlor.

Sie hatten den Rand der nördlichen Hügellandschaft erreicht. Vor ihnen tat sich bald eine neue Landschaft auf, zunächst noch sanft und gewellt, dann übergehend in eine weite Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckte. Eine Heidelandschaft von besonderem Liebreiz. Immer wieder kamen sie durch kleine Dörfer und Siedlungen, verstreut im weiten  Feld.

Offensichtlich als war dieser Landstrich in den zurückliegenden Wochen von Kampfhandlungen verschont geblieben. Trotzdem präsentierte sich die Landschaft weitgehend menschenleer. Die Bewohner schienen dem Frieden nicht zu trauen und hatten es vorgezogen, zu fliehen.

Glasklare Seen, größere und kleinere, deren Weite sich mit dem Horizont vermischten, säumten ihren Weg. Gut erkennbar, da die Wachstumsperiode  erst langsam eingesetzte.

Die Sonne hatte ihren Höchststand bereits überschritten, als Elena den Wunsch nach einer Rast bekundete, dem ihre Chauffeurin ohne zögern nachkam. In der Nähe eines der kleinen Seen bot sich eine Parkmöglichkeit.

„Macht es dir viel aus, hier eine Zeitlang zu verweilen? Ich muss einfach wieder in die Stille und hier ist es einfach schön.“ erkundete Elena.

„Kein Problem! Wenn du möchtest. Ich werde mich derweil ein wenig aufs Ohr hauen. Bin etwas müde.“ erwiderte Madleen.

„Aber nur, wenn es dir wirklich nichts ausmacht. Ist es denn noch weit?“

„Nein, keineswegs! Ich denke, ne knappe Stunde. Auf jeden Fall werden wir noch vor Einbruch der Dunkelheit vor Ort sein.“

Ohne weitere Worte zu verlieren schickte sich Elena an, die Gegend zu erkunden. Sie bewegte sich durch die wohltuende Stille, die über der weiten, scheinbar äußerst selten von Menschenhand berührten Einöde brütete.

Schließlich schimmerte der dunkelgrüne kleine See im Sonnenlicht. Über ihr kreiste schon wieder ein Bussard, war es der gleiche vom Vortag? Unsinn! Das konnte nicht sein. Es war eigenartig.

Irgendwie seltsam, dachte Elena. Immer dann wenn sie sich in die Stille der Natur zurückzog, wurde sie von einem Vogel begleitet. Aufgefallen war ihr das schon vor einiger Zeit, doch erst jetzt wurde sie sich der Tatsache richtig bewusst. Konnte das noch Zufall sein?

Am Ufer des Sees standen ein paar alte Weiden, die Äste dem kühlen Wind überlassend, der sie darin einhüllte.

Auch wenn der Frühling seine Kraft noch nicht voll ausschütten konnte, trug jeder Windstoß den süßen betörenden Atem der Natur durch die Lüfte.

Auf der Wasseroberfläche kräuselten sich kleine Wellen und ein sanftes Rauschen bahnte sich den Weg zu Elenas Ohren.

Sie fand ein geeignetes Plätzchen um sich für eine Weile niederzulassen.

Der Wind war noch frisch, doch besaß die Sonne schon genügend Kraft, dort, wo sie intensiv ihre Strahlen herabgleiten ließ, den Boden zu erwärmen. Des weiteren bot Elenas dicke Jeans einen weiteren sicheren Schutz vor der Kälte.

Hier konnte sie eine Weile meditieren. Madleen bedurfte dringend des Schlafes. Die Fahrt hatte sie sehr mitgenommen.

Elena atmete tief ein, ihr Blick fing noch einmal alle Eindrücke der umliegenden Landschaft ein. Dann begann sie ihr Bewusstsein mit der Unendlichkeit zu verschmelzen.

Sie fühlte sich von einer wunderbaren Macht in den wärmenden schützenden Händen gehalten. Das Leben schien sich in einem neuen Licht zu präsentieren. Sie glaubte sich am Anfang eines Weges, der sie zurück zum Ursprung allen Seins führte.

In jener Natur konnte sie Mensch sein, authentisch, einfach und echt.

Sie wurde sich dessen bewusst, wie unsinnig es doch war, sich hinter Mauern zu verkriechen und in verstaubten Büchern Antworten auf drängende Lebensfragen zu erwarten. Hier dagegen schien jeder Grashalm, jedes grüne Blatt ein Schriftzeichen am rechten Platz zu sein und jeder Windstoß die Stimme eines Lehrers der Weisheit und Wahrheit.

Ihr Herz wurde leicht, ihr Verstand glasklar. In der Einfachheit lag der Schlüssel zum Glück aller Menschen. Zurück zu den Anfängen. Auf überflüssigen Luxus  freiwillig verzichten, dafür aber eine Ursprünglichkeit geschenkt bekommen, die ein nie geahntes Glück in sich barg. All das, was sie bereits vor der Revolution geplante hatte und das so ein abruptes Endes hatte erfahren müssen.

Deshalb wurde sie von  Furcht erfüllt. Sie war eine Persönlichkeit. Ein Wort von ihr genügte und es öffneten sich Türen, die gewöhnlichen Sterblichen Zeit ihres Lebens verschlossen blieben.

Die Menschen folgten ihr bereitwillig, ohne Zweifel. Doch würde es ihr auch gelingen, alle zum Glück zu geleiten, ihr, der es bisher nicht einmal gelang, in ihrem eigenen Herzen die Reste von Trauer und Schmerz zu vertreiben?

Noch immer befand sie sich an einer Schwelle, die es zunächst zu überwinden galt.

Doch wer konnte ihr dabei helfen?

Sie entließ diese Frage in die unendliche Weite des Universums. Da glaubte sie plötzlich, eine Stimme zu vernehmen.

„Du bist nahe dran. Du musst deinen Weg fortsetzen. Lass dich nicht in die Irre führen. Stück für Stück werden dir die Lektionen erteilt. Selbst ein scharfer überragender Intellekt wie der deine könnte die geballte Energie, die sich dir entgegenstreckt, nicht auf einmal ertragen. Schaden könnest du an deiner Seele nehmen. Deshalb, sei geduldig. Langsam, ganz langsam entschlüsselt sich das Mysterium.

Wer dir über die Schwelle hilft? Das müsste dir doch in der Zwischenzeit einleuchten.

Lass dich überraschen, liebste Tochter. Schon morgen wirst du es wissen. In dieser Nacht wird sich dir ein Geschenk an bieten. Zögere nicht, es an zunehmen. Sonst begehst du Gefahr es für immer zu verspielen. Greife zu! Hast du verstanden? Greife zu Elena!“

Das Kreischen des Bussards über ihr rief sie ins Bewusstsein zurück. Kaum zu glauben, aber der Vogel drehte noch immer seine Kreise über ihren Kopf. Es schien, als sein er von einer unbekannten Macht gesandt, sie zu behüten.

Noch etwas benommen von der Trance erhob sich Elena, streckte sich und ließ die Luft in ihre Lunge gleiten. Dann begab sie sich zum Wohnmobil zurück.

Madleen, die ihr Mittagsschläfchen genossen hatte, war gerade im Begriff, sich auf die Suche zu begeben. Sie kannte in der Zwischenzeit Elenas Neigung zur Naturmystik und die damit verbundene Angewohnheit, jegliches Zeitgefühl aus den Augen zu verlieren.

„Was ist denn mit dir, Elena? Geht es dir nicht gut? Du siehst so blass aus?“ sorgte sich die Freundin.

„Wie? ….Was? Ach wo! Einfach nur zu lange meditiert. Das kennst du ja inzwischen. Ich…ich bin einfach etwas müde!“

In der Tat schien Elena ob des soeben Erlebten immer noch ein wenig verwirrt. Sie nahm schnurstracks auf dem Beifahrersitz Platz.

„Soll ich nicht lieber fahren?“, neckte Elena.

„Elena, bitte! Es ist nicht mehr weit. Die letzten Kilometer werde ich auch noch schaffen. Lehn dich zurück, entspann dich und ruhe noch ein wenig aus. Bald wirst du dich einem Trubel ausgesetzt sehen, dann ist es erst mal vorbei mit Ruhe und Beschaulichkeit.“

Trotz gegenteiliger Beteuerung legten sie noch eine relativ weite Strecke zurück.

Elena döste vor sich hin.

Endlich erstreckten sich vor Madleen die vertrauten heimatlichen Gefilde bei deren Anblick sich ihr Herz weitete.

Am Horizont erhob sich ein kleiner Höhenzug aus der weiten Ebene, eine Laune der Natur von ganz besonderem Reiz. Ansonsten reihten sich Ackerland und Weiden dicht aneinander. Die kleinen Weiher, die sie passierten, glichen sich wie ein Ei dem anderen.

Die Sonne hatte sich hinter dicken Wolken verborgen und Regen lag in der Luft.

Hat erst mal der Frühling die Macht übernommen, kann ich Elena meine Heimat als eine duftendes Blütenmeer präsentieren, freute sich Madleen, als sie den Wagen am Höhenzug vorbeisteuerte.

Sie bemühte sich, ruhig und kühl zu bleiben, obwohl ihr Herz hämmerte und ihre Hände schweißnass am Lenkrad klebten. An einer Kreuzung stoppte sie den Wagen. Sie musste noch einen kleinen von Kirschbäumen gesäumten Weg nehmen. Dann nach etwa zwei Kilometern würden sie den heimatlichen Hof erreichen.

Elena atmete ruhig und gleichmäßig, war offensichtlich tief eingeschlafen.

Madleen stellte den Motor ab und blickte eine Weile auf den vor ihr liegenden Feldweg.

Kein Mensch sehen. Dünn besiedelt war die Gegend hier schon immer. Der Bürgerkrieg hatte sie noch weiter entvölkert.

Sanft fuhr sie mit dem Handrücken über die Wangen der schlafenden Elena.

„Aufwachen Elena, wir sind gleich da!“, flüsterte sie in deren Ohr.

Erschrocken richtete sich Elena auf. „Wie, was? Wer ist gleich da?“

„Wir sind gleich da! Ich wollte nur verhindern, dass du schlafend von meiner Familie vorgefunden wirst!“

„Das war richtig! Danke! Puuh… ich war ja ganz schön weggetreten.“ bemerkte Elena, während sie sich reckte und streckte.

„Also dann! Auf zum letzten Gefecht!“ Madleen ließ den Motor an und setzte den Wagen in  Bewegung. Der schotterige Belag des Feldweges ließ nur Schrittgeschwindigkeit zu.

Kurze grüne Flechten umgaben die Getreidefelder jetzt im anbrechenden Frühling. Im Sommer würde der Wind durch hohe Weizen und Roggenfelder wehen. Sie näherten sich nun einem kleinen Wäldchen, dessen blattlose Bäume die Sicht auf einige Gebäude freigaben.

Am Ziel angelangt, lenkte Madleen das Wohnmobil in einen von grauen Natursteinhäusern umgebenen Innenhof. Holpriges Kopfsteinpflaster ließ es in der Kabine dröhnen.

Einzig der Anblick eines Traktors, der vor einem der Häuser parkte, erinnerte Elena daran, dass sie sich im 21 Jahrhundert befanden. Hier schien die Zeit still zu stehen. Offensichtlich hatte der Rückbau der Gesellschaft schon lange begonnen.

 

 

 

Hinter den Fenstern ließen sich neugierige Gesichter blicken. Madleen stoppte und stieg aus. Nach einer Weile betrat auch Elena das feuchtkalte Kopfsteinpflaster.

Ein Stimmengewirr wehte ihnen aus verschiedenen Richtungen entgegen.

Eine Schar Kinder wagte sich als erstes vor. Madleen war ihnen keine Unbekannte.  Als sie ihrer ansichtig wurden löste sich die Spannung. Bald erschienen auch Erwachsene auf dem Hof, um das vertraute Gesicht willkommen zu heißen.

Doch wer war diese wunderschöne sinnliche Erscheinung an ihrer Seite, deren kupferrote Lockenmähne in der Sonne glänzte?

Schnell reifte die Erkenntnis. Auch in diesem von der Welt abgeschnittenen Winkel Melancholaniens war Elena ein Begriff.

Zumal ihr Konterfei noch am Morgen die Titelseite der Tageszeitung zierte.

Als Sonderbeauftragte der Regierung wurde sie dort gepriesen, eigens in die Gegend gesandt, um Erkundungen über die dortige Situation einzuholen. Elena wusste zu diesem Zeitpunkt selber noch nichts von dieser zweifelhaften Ehre.

Etwas verlegen betrachtete sie aus einer gewissen Distanz das herzliche Begrüßungsritual auf dem Hof. Wie schön es doch sein muss, nach langer Abwesenheit auf so eine herzliche Art willkommen geheißen zu werden. Zum ersten Male wurde sich Elena der Tatsache bewusst wie wichtig eine intakte Familie im Leben war. Wohl dem, der so etwas sein eigen nennen konnte. 

Durch einen der Torbögen schritt ein Mann, dessen Alter Elena etwa auf Anfang 60 schätzte, gemächlichen Schrittes auf die Menschenansammlung zu. Er war von hohem Wuchs. Seine scharfen Augen strahlten Wärme aus, der dicke graue Vollbart verstärkte den Eindruck von Reife und Männlichkeit. Er hatte einen deutlichen Bauchansatz.

Unmissverständlich gab er sich als Madleens Vater zu erkennen.

Diese befreite sich sogleich aus dem Kreis der Brüder und Schwägerinnen, eilte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals.

„Papa, ich freue mich so, dich wieder zu sehen.“

Ihre Stimme riss ihn scheinbar aus seinen Tagträumen.

„Mein kleines Mädchen, du machst ja Sachen. Aber egal, Hauptsache du bist wieder hier. Wie um alles in der Welt hast  du  es durch die Frontlinie geschafft?“

„Das ist eine lange Geschichte. Erzähle ich euch, wenn wir alle bei sammmen sind. Ohne Elenas Hilfe wäre ich aber kaum soweit gekommen.“

Madleen gab sich damit selbst das Stichwort. Die Wiedersehensfreude hatte die Emotionen so weit freigesetzt, dass sie ihr kostbares Mitbringsel glatt vergessen hätte.

„Papa, darf ich dir meine Begleiterin vorstellen! Kommt mal alle her!“ rief sie den Anderen zu, begab sich zu Elena und hakte sich bei ihr unter.

„Nun, eigentlich brauche ich sie euch gar nicht vorzustellen. Denn wer kennt Elena nicht! Ihr könnt mir glauben, sie ist es tatsächlich.“

„Das kann ich nur bestätigen. Und ich freue mich sehr, eure Bekanntschaft zu machen.“ begrüßte Elena ihre Gastgeber.

Ein junger Mann trat ihr entgegen, feingliedrig, hoch gewachsen, mit meerblauen Augen und mittellangem schwarzen Haar.

„Hallo, ich bin Robert, Madleens ältester Bruder. Die Überraschung ist gelungen. Hat sie es doch wirklich geschafft, dich hierher zu bringen. Ach ja, das ist Evelyn, meine Frau.“

Ihr trat eine etwas schüchtern wirkende junge Frau entgegen, sie war schlank und von geschmeidiger Gestalt, ihr aschblondes Haar war am Hinterkopf zu einem Schwanz zusammengebunden. Ihre Augen waren grau wie ein See im Winter.

„Hallo, guten Tag. Ich freue mich, sie kennen zu lernen. Ich bin ja so aufgeregt. Nie hätte ich es für möglich erachtet, ihnen einmal in Wirklichkeit zu begegnen.“

„Auch ich bin froh, alle kennen zu lernen. Ach ja, Elena duzt man normalerweise, wie auch Elena jeden duzt. Aber das ist euch sicher bekannt.“ entgegnete die Angesprochene in echter Herzlichkeit.

Auch die anderen machten sich bekannt. Die Herzenswärme, die Elena erleben durfte, überstieg alle ihre Erwartungen. Auch Madleens jüngster Bruder Björn stellte sich mit samt seiner erst kürzlich angetrauten Frau Valeria vor. Deren Anblick versetzte Elena in Erstaunen.

 

Björn war noch jung, nicht viel älter als 20 Jahre, ihn zierte ein Gesicht mit dem er leichtes Spiel bei Frauen haben musste, glatte Haut, feine scharf geschnittene Züge die noch jungenhaft wirkten, aber schon etwas von der Entschlossenheit eines Mannes besaßen.

Bei seinem Anblick spürte Elena ein scharfes Stechen in der Herzgegend, denn er erinnerte sie an Leander. Auch hier stand ein Junge, fest entschlossen, etwas aus dem Leben zu machen, voller Tatendrang, Schwung und Elan.

„Dann lass mich auch mal Guten Tag sagen. Wie immer, euer alter Vater kann zu sehen, wo er bleibt.“

Er schob seinen massigen Körper durch die kleine Menschenansammlung und baute sich vor Elena auf.

„Also gut. Hm, nun ja, ich bin Thorwald. Madleens Vater, wie du unschwer in Erfahrung bringen konntest. Herzlich Willkommen auf unserem bescheidenen Gehöft.“

Er zog Elena mit seinen groben Pranken zu sich und drückte sie fest an sich.

„Schön, dich kennen zu lernen,“ gab Elena kurz und knapp zur Antwort, noch immer von der Magie des Augenblickes überwältigt.

„Aber Papa, du erdrückst sie ja,“ scholt Madleen ihren Vater. „Du kannst gern einmal etwas vorsichtig sein. Immer noch ganz der Alte. Übrigens da fällt mir ein, wo ist Mutti überhaupt? Warum ist sie nicht mit heraus gekommen? Oder ist sie gar nicht da?“

„Mutter ist noch drinnen! Du weißt doch wie sie reagiert, immer dann, wenn du jemand mitbringst. Dann verfällt sie ins Grübeln. Lass ihr Zeit, sie wird euch später gebührend in Empfang nehmen.“

„Aber trotzdem sollten wir hier draußen keine Wurzeln schlagen. Kommt alle mit! Wir gehen in den Schafstall, da werden wir es uns erst mal gemütlich machen.“ bestimmte Thorwald und alle folgten. „keine Sorge, ich führe dich nicht in einen wirklichen Stall voller blökender Schafe. Das war früher mal ein Stall. Später haben wir den Raum in einen großen Saal umgebaut. Da trifft sich zum Beispiel die Versammlung der Landkooperative zu Besprechungen usw.“

Die Kinder, Elena hatte inzwischen sechs davon gezählt, bildeten laut krakeelend die Vorhut.

Sie betraten einen rustikale aber ausgenommen geschmackvolle gestaltete Bauernstube.

Wieder fühlte sich Elena in die Vergangenheit zurück versetzt.

Der Raum hatte eine hohe Decke und an einer Seite einen gewaltigen Kamin, der von zwei gewölbten Nischen flankiert wurde. Eine Seite wurde von einem französischen Fenster eingenommen, das auf einen langen Garten mit hohen Mauern hinausging. Wuchtige, geschmackvoll gestrichene Balkenkonstruktionen stützten die Decke.

Ein Kreis von schweren, mit Schaffellen bedeckten Holzbänken gruppierte sich rund um den Kamin.

Es war kalt, auch wenn Elena sich nichts anmerken ließ.

„Ach Robert, mach doch ein wenig Feuer im Kamin, damit wir es hier ein wenig wohnlicher haben,“ wies Thorwald seinen Ältesten an. Dieser gehorchte widerspruchslos.

„Keine Sorge, der Kamin heizt gut. In ein paar Minuten werden wir es hier schon recht mollig haben,“ meinte er weiter, nun zu Elena gewandt.

„ Sollten wir nicht  lieber nachsehen, wo Annett so lange bleibt. Sie könnte sich nun wirklich sehen lassen. Ist doch unhöflich, unserem Gast gegenüber.“ beschwerte sich Evelyn.

„Ach, lass doch. Mutti wird schon noch kommen. Wir sollten nicht drängeln, wenn sie nicht will.“ entgegnete Madleen.

Elena machte sich  ihre Gedanken.  Was für ein Drache würde ihr bald gegenüber stehen. Ein echter Bauerntrampel etwa? Gut, damit musste sie rechnen. Waren Konflikte zu erwarten? Würde sich wiederholen, was sie bei ihrer ersten Begegnung mit Leanders Eltern erleben musste?

Madleens Vater Thorwald machte einen guten Eindruck. Ein Landwirt von echten Schrot und Korn. Er wirkte freundlich und gutmütig. Hochgeistige philosophische Gespräche würde sie mit ihm nicht führen können. Wozu auch. Diese Menschen hier lebten in ihrer eigenen Welt, allem Anschein nach nicht der schlechtesten. Eine erste Hürde schien genommen.

Doch wie war die noch abwesende Mutter aufgelegt? Diese Frage bewegte Elena unentwegt. Die Gespräche um sie verloren sich im Nirgendwo.

„Keine Sorge, ich bin schon da. So unhöflich bin ich nun auch wieder nicht, Evelyn,“ ertönte plötzlich eine Stimme aus einer unbeleuchteten Ecke.

Anscheinend hatte niemand bemerkt das Madleens Mutter in der Zwischenzeit den Raum durch einen Hintereingang betreten hatte.

Es herrschte gespanntes Schweigen, während Annett in ihrer Pose verharrte, dann breitete sich auf ihren edlen Zügen ein sanftes Lächeln aus.

Wie elektrisiert wirkte Elena, als sie in das Gesicht blickte. Hier stand Madleen vor ihr, nur ca. 25 Jahre älter. Sie war eine kleine aber würdevolle Frau mit einem runden Gesicht, das von schwarzgrau melierten Locken gerahmt wurde. Ihre durchdringenden tiefblauen Augen blickten unter einer goldumrandeten Brille hervor.

Die Ähnlichkeit mit der Tochter war gravierend. Doch wie sah es ihn ihrer Seele aus?

" Da bist du ja endlich. Wir haben dich schon vermisst. Wie du siehst bin ich wieder da.“ gab Madleen zu verstehen, während sie vor ihr Aufstellung nahm.

Es schien mächtig zu knistern zwischen Mutter und Tochter.  Bleischwer senkte sich die Spannung  über dem ganzen Raum.

Was würde sich im nächsten Augenblick ereignen?

Zunächst erhielt Madleen eine Ohrfeige. So dass alle Anwesenden zusammenzuckten.

Doch dann breitete Annett die Arme aus und riss ihre Tochter an sich, umarmte und liebkoste sie. In dieser Stellung verharrten sie eine ganze Weile, während weiterhin ehrfürchtiges Schweigen den Schafstall ausfüllte.

„Ja, da bist du wieder. Verschwindet einfach auf Teufel komm raus. Ohne auch nur einen kleinen Hinweis zu hinterlassen.“

„Jetzt bin ich  wieder hier. Das heißt, für eine bestimmte Zeit. Ich habe dir eine Überraschung versprochen und bringe sie dir hier. Ich lebe und arbeite jetzt bei Elena. Obgleich du es mir nie zutrautest, ich habe es tatsächlich geschafft.“ gab Madleen der Überraschten zu verstehen.

Annett betrachtete Elena mit Wohlwollen.

„Und diese Überraschung ist dir in der Tat gelungen. Du siehst mich sprachlos.“

„Das will wirklich etwas heißen. So etwas geschieht höchst selten bei einem Menschen, der ständig das letzte Wort haben muss.“ schaltete sich Thorwald ein.

Robert hatte inzwischen den Kamin angeheizt und die lodernden Flammen sorgten für wohlige Wärme im Gemäuer.

Elena erhob sich, um Annett zu begrüßen, diese blickte ihr verlegen in die Augen.

„Dann herzlich willkommen, Elena. Ich darf doch Du sagen. Nein, ich soll sogar, wenn ich recht informiert bin. Es stimmt. Madleen sagt die Wahrheit. Ich hatte es ihr wirklich nicht zugetraut. Ich habe, nein wir haben sie immer  wieder ausgelacht.  Nun steht Elena leibhaftig vor mir.“

„Und ich freue mich dich kennen zu lernen. Ihr seht euch so ähnlich. Da verschlägt es einem die Sprache. Ich danke euch allen, dass ich euer Gast sein darf.“ bedankte sich Elena.

Thorwald erhob seinen massigen Körper und wippte verlegen von einem Bein auf das andere.

„Ja also, hm, nun ja. Als Familienoberhaupt erwartet ihr sicherlich eine kleine Ansprache von mir. Naja, ich meine , ich wollte sagen…. Ähm also noch mal. Elena, ich denke, ich spreche sicher im Namen aller, wenn ich meine…also naja ich meine….“ stotterte Thorwald.

„Lass es gut sein, Papa. Du und deine Reden!"

Setz dich einfach wieder hin und lass mich reden. Ich denke, ich bin ein wenig geübter in solchen Dingen.“ unterbrach Annett ihren Mann, der Zustimmung aller anderen Anwesenden sicher.

„Na gut! Wenn du meinst, ist vielleicht das Beste so!“ gestand Thorwald und nahm wie ein braver Junge Platz. Offensichtlich hatte er keinerlei Problem damit, seiner Frau in dieser Angelegenheit den Vortritt zu lassen.

„Also noch mal. Elena, sei uns herzlich willkommen. Wir freuen uns alle sehr. Bleibt einfach solange ihr mögt,“ setzte Annett die Begrüßung problemlos fort.

„Sagt, ward ihr lange unterwegs? Ihr müsst doch sicher müde und hungrig sein?“

„Zwei Tage, Mutti! Es ging alles gut. Elena hat uns bequem durchgelotst. Ohne ihre Hilfe wäre ich kaum durch die Linien gekommen. Sicher sind wir müde und hungrig, aber ich denke, das wird sich alles finden.“ antwortete Madleen, noch ehe es Elena tun konnte. Die hatte in der Zwischenzeit wieder Platz genommen und sich an Madleens Seite niedergelassen.

Es gab natürlich eine Menge zu berichten auf beiden Seiten. Der Abend verlief in einer heiteren ausgelassenen Atmosphäre. Vor allem Madleen erzählte von ihrer abenteuerlichen Reise, ihrem Zusammentreffen mit Elena und dem Leben seither.

Im Zentrum des Interesses stand jedoch Elena. Besonders die noch immer anwesenden Kinder wichen nicht von deren Seite. Vor allem ihr leuchtendes Haar hatte es ihnen angetan.

Der kleine Sven, Sohn von Robert und Evelyn erwies sich als der mutigste in der Runde.

„Oh, sind die echt?“ wollte er bei der intensiven Betrachtung der Haarpracht wissen.

„Natürlich sind die echt!“ bestätigte Elena.

„Darf…darf ich mal dranfassen?“

„Gern, wenn du magst…Autsch! Das war ein wenig zu fest.“

Elena platzierte den gewieften Fünfjährigen auf ihrem Schoß. Dieser strahlte überglücklich.

Welcher Junge seines Alters hatte genoss schon das Privileg, auf dem Schoß einer Göttin Platz zu nehmen.

Doch das konnten die anderen vier nicht auf sich beruhen lassen. Jeder wollte auf den Platz dieser Märchenfee. Dass die klapprige Bank dem einseitigen Übergewicht nicht lange standhalten konnte, versteht sich fast von selbst.

Die Bank kippte mit der Lehne nach hinten und Elena nebst Kindern landete auf dem Boden.

„Oh, das kann doch nicht war sein. Sven, Oliver, Christin, Nadja, seid ihr denn verrückt geworden? Was soll denn die Tante von euch denken? Jetzt ist es genug. Ab ins Bett, alle und zwar auf der Stelle!“ entrüstete sich Evelyn.

Die Standpauke löste ein Gejammer und Geschluchze von besonderer Tragweite aus.

„Ruhe jetzt. Es wird nicht gejammert. Ihr seid selber schuld. Ich will nichts mehr hören! Ab ins Bett, sonst setzt es was.“

Auch Madleen war zur Stelle.

„Elena, hast du dir wehgetan?“, meinte sie besorgt, als sie ihrer Freundin auf die Beine half.

„Ach wo! Nicht der Rede wert. Das war nur so komisch.“ kicherte Elena und nahm wieder Platz.

Nachdem die Quälgeister entschwunden waren, wurde ein Abendessen zubereitet, das allen mundete. Dabei wurden die Gespräche nun etwas tiefgründiger fortgesetzt

Dabei konnte es Annett nicht lassen, ihre Tochter immer wieder zu necken und mit der nicht sonderlich rosigen Vergangenheit zu konfrontieren.

„Nie hätte ich es für möglich gehalten meine Tochter einmal im Glück schwelgen zu sehen. Wenn ich noch daran zurückdenke, wie sie mit diesem Taugenichts Rolf hier auftauchte. Einen guten Menschen wollte sie aus ihm machen. Naja, das ist ihr gelungen, das ist ihr wahrlich gelungen. Und was für ein guter Mensch aus ihm geworden ist.“

„Mutti, bitte! Musst du denn mit diesen alten Geschichten aufwarten? Es ist vorbei und wir sollten es dabei belassen,“ entsetzte sich Madleen, sichtlich unangenehm von den Erinnerungen berührt.

„Aber lass mich doch ausreden,“ unterbrach ihre Mutter. „Du weißt doch noch gar nicht was ich damit ausdrücken möchte. Ich will damit andeuten, dass wir mit deiner jetzigen Wahl mehr als zufrieden sein können. Mit  solchen Gäste kannst du uns jederzeit beglücken.

Ach, Elena, einen Rat möchte ich dir noch auf den Weg geben. Pass gut auf sie auf. Mit ihrem Charme und ihrem einnehmenden Wesen wickelt sie dich um den Finger, noch bevor du eine Ahnung davon hast.“

„Mutter, bitte! Was soll das?“

„Oh, das braucht sie gar nicht mehr.“ warf Elena ein.  Denn das hat sie längst getan und ich kann versichern, es war ein phantastisches Gefühl, von ihr eingewickelt zu werden.“

Sie zwinkerte Madleen zu, die griff hinter die Banklehne nach deren Hand und drückte sie.

Elena wurde dabei kalt und heiß zugleich.

Die Stunden vergingen, nach dem Essen ging es erst recht gemütlich weiter.

Elenas Furcht vor dieser Begegnung erwies sich als unbegründet. Die freundliche Aufnahme, die ihr zuteil wurde, übertraf  alle ihre Erwartungen. Sie fühlte sich rundum geborgen und getragen.

 

Der Mond war schon lange aufgegangen und segelte nun auf einer wohltuenden Brise, sein silbriges Licht über das Land ausgießend.

Die ersten begannen sich zurückzuziehen.

Annett blies zum allgemeinen Aufbruch.

„Ich gehe doch sicher recht in der Annahme, dass ihr todmüde seid. Nicht wahr? Wir machen für heute Schluss. Ich hoffe, ihr beehrt uns noch ein paar Tage mit eurer Anwesenheit, so dass wir noch genügend Zeit zum Reden haben.“

„Ach ja, wo gedenkst du uns denn eigentlich unterzubringen?“ wollte Madleen wissen.

„Na, in deinem Zimmer unterm Dach. Dort findest du alles vor, wie du es verlassen hast.

Oder denkst du, wir hätten das anderweitig vermietet.“ gab Annett erstaunt zur Antwort.

„Naja, hätte ja sein können.“

„Also weißt du. Hör dir das an, Papa. Gut, egal. Kommt mit. Ich bringe Euch rauf. Ach so. Die Heizung funktioniert nicht. Es wird sicher kalt sein. Da wir nicht wussten, ob und wann du wieder mal bei uns erscheinst, haben wir die außer Betrieb gesetzt. Björn wird sich gleich morgen früh darum kümmern. Heute muss es eben ohne gehen. Ich weiß nicht, ob die Dachkammer für zwei Personen zu klein ist.“

„Ich kann ja zur Not im Wohnmobil übernachten. Das haben wir die letzten Nächte auch getan. Gar kein schlechter Platz,“ schlug Elena vor.

„Na, das fehlte gerade noch. Selbstverständlich kommst du mit zu mir.“ empörte sich Madleen. Das Zimmer bietet genug Platz. Mutti wollte uns nur wieder necken.“

In der Zwischenzeit hatten Robert und Evelyn den Kamin gelöscht und mit Hilfe der anderen den kleinen Saal wieder hergerichtet. Elena folgte Madleen und Annett auf den Innenhof.

Kalte und klare Luft erwartete sie, möglicherweise würde es in der Nacht noch einmal frieren.

Damit musste Ende März noch gerechnet werden. Der einsame Ruf einer Eule war zu hören, sonst legte sich eine wohltuende Stille über den Hof.

Sie betraten das gegenüberliegende aus robustem Naturstein gemauerte Gebäude. Eine große rustikale Holztreppe führt nach oben. Am Ziel angelangt öffnete Annett eine Tür zu einer Mansardenwohnung und betätigte den Lichtschalter. Kaltes Neonlicht füllte den vollständig mit Paneelen abgeschlagenen Raum. Die teilweise schrägen Deckenwände würden bei größeren Leuten wohl häufig Beulen am Kopf verursachen. Instinktiv zog Elena beim Betreten ihren Kopf ein. Selbst gezimmerte Bücherregale umgaben das Zimmer. Annett hatte Recht. Es war in der Tat sehr kalt. Elena, übermüdet von der langen Fahrt und dem sich an schließenden langen Abend, rieb sich die Hände.

„So, nun lasse ich euch allein. Ihr werdet gut ohne mich zurecht kommen. Ach ja, Elena. Bad und Toilette findest du gleich nebenan. Das Plumpsklo am anderen Ende des Hofes, was du vielleicht erwartet hast, existiert schon lange nicht mehr.“ klärte Annett auf. „So, und nun wünsche ich euch angenehme Träume.“

Endlich waren sie mit sich und ihren Erwartungen allein.

„Ach, erst mal angenehmes Licht.“ sprach Madleen, indem sie den Schalter einer Bodenstehlampe betätigte. Im Anschluss daran löschte sie die Deckenbeleuchtung. „Puah, ich hasse dieses kalte unpersönliche Licht. Setz dich, Elena, mach es dir bequem, du bist jetzt hier ebenfalls zu Hause.“

Die Freundin tat wie ihr geheißen.

„Das heißt natürlich, soweit es möglich ist, sich bei einer solchen Kälte gemütlich zu machen.“ Madleen kramte in den Taschen herum, um ihre Sachen zu ordnen.

„Aber ich denke, wir werden uns ohnehin gleich aufs Ohr hauen. Ich bin total geschafft. Dir ergeht es sicher nicht viel anders.“

„Das kann man wohl sagen.“ bestätigte Elena. Obgleich du  die ganze lange Wegstrecke allein bewältigt hast. Das hättest du nicht tun brauchen.“

„Ach, nicht der Rede wert,ich wollte dich einfach in mein kleines Königreich geleiten. Das war schon alles und das ist mir auch gelungen. Ich geh als erste ins Bad. Dauert nicht lange. Ich hoffe, wir haben wenigstens warmes Wasser.“ meinte Madleen und verschwand durch die Tür.

Elena blickte sich um. Hier also war ihr Engel zuhause. Klein, aber gemütlich. Sie fühlte sich trotz der Kälte wohl. Auch sie würde dieses Zimmer nun für eine Weile bewohnen.

Ihr Blick fiel auf die reichlich mit Thermodecken belagerte Liege an der Wand. Sie war recht breit. Eine andere Schlafgelegenheit entdeckte sie nicht im Zimmer. Sie würde mit ihrer Angebeteten in einem Bett schlafen, zum ersten Mal. In ihr begannen Gefühle aufzuwallen.

Madleen erschien im Zimmer.

„Komm, ich zeig dir, wie du zum Bad findest!“

Elena folgte.

Nach einer Katzenwäsche betrat sie die Kammer von neuen. Ihr fröstelte bei dem Gedanken sich der Kleider zu entledigen, doch begann sie damit.

Madleen hatte sich bis auf das Unterhemd entkleidet, sie tat es ihr gleich.

„Komm Elena, rasch unter die Decke, wir kuscheln uns aneinander und wärmen uns gegenseitig,“ lud Madleen ein.

Elena war sich gewiss, eine Andeutung von Blinzeln in den Augen der anderen zu sehen.

Bei den letzten Worten rutschte ihr Herz in die Kniekehle. Plötzlich erinnerte sie sich der Worte vom Vormittag. Das Geschenk! Hier lag es vor ihr.

Greif zu! Lass es dir nicht entgehen!

Elena schlüpfte unter die Decke und schloss die Gefährtin in die Arme.

Beide Körper begannen zu beben.

Jetzt oder nie!

„Madleen!“

„Ja!“

„Darf ich dich streicheln?“

„Ja gern!“

Elenas Hände glitten über Madleens Körper, unter ihr Hemd, fühlte weiche warme Haut.

Ihr Verlangen steigerte sich ins Unermessliche.

„Madleen!“

„Ja!“

„Darf ich dich küssen?“

„Ich bitte darum?“

Zärtlich berührten sich ihre Lippen. Zaghaft suchten und fanden sich ihre Zungen und tanzten miteinander.

Leidenschaftlich drängte sich Madleen an Elena, streifte ihre verbliebene Kleidung ab

Beim Anblick ihrer vollen runden Brüste geriet sie fast in Raserei.

„Warte, mein Liebes, ruhig, halt still. Ich bin gleich bei dir,“ flüsterte Madleen.

Elena bebte und zitterte vor Glück.

Madleen begann auf ihr zu spielen, wie auf einem kostbaren Instrument.

Behutsame Fingerspitzen streiften über Elena, reizten sie, liebkosten sie, während sie sich gegenseitig den Atem nahmen.

Schließlich entfernte Madleen die Decke. Sie waren so sehr ineinander vertieft, dass sie die sie um gebende Kälte nicht mehr spürten.

Als Madleen Elenas Traumkörper im Mondlicht leuchten sah, stockte ihr der Atem. Sie streckte sich ganz auf deren Körper aus und krallte sich in ihr Nackenhaar. Elena umarmte und drückte Madleen fest an sich.

Elenas Verlangen brach wie eine Flutwelle in ihr auf. Wohlige Schauer jagten durch ihren Körper und es gab nur noch Hingabe. Ihr Herz raste. Hände, überall Hände auf ihrem Körper. Ein Mund dessen Zunge mit ihren Brustwarzen spielte, leckte, saugte. Elena stöhnte, als ein Finger in sie eindrang. Sie griff nach Madleens Schoss und tat es ihr gleich. Beide schwebten dem Höhepunkt entgegen.

Madleen richtete sich auf. Elena griff nach deren Brüsten, die sich ihr wie Knospen vor dem Erblühen entgegen streckten.

Schließlich verebbte der Sturm der Gefühle und Madleen lag schnaufend in den Armen ihrer Geliebten. So lagen sie beieinander und lauschten den Liedern, die der Nachtwind leise zu ihnen heran wehte. Obwohl beider aufgrund der Anstrengung des Tages todmüde waren, wollte sich noch lange kein Schlaf einstellen. 

„Ich könnte dich fressen,“ sagte Elena.

„Ich weiß,“ antwortete Madleen mit einer schleppenden Betonung auf dem Wort weiß.

Immer wieder bemächtigte sich beider der Wunsch nach gegenseitiger Berührung, nach Umarmung, Liebkosung. Sie fielen in ihre Liebe wie in ein weiches Daunenkissen.

Alles, was sie umgab war bedeutungslos. Ginge die Welt in diesem Augenblick unter, es wäre ihnen gleich. Sie hatten einander gefunden ,endlich. Von diesem Augenblick an würde sich beider Leben grundlegend ändern. Sie waren sich selbst genug, es bedurfte nicht mehr.

 

Auch als das Morgengrauen die Schatten der Nacht verdrängt hatte, lagen sie noch beieinander. Aus Stunden wurden Minuten.

Madleens Kopf schmiegte sich an Elenas Brüste während diese deren Nacken kraulte.

„Madleen, Liebes! Ich glaube, irgendwann müssen wir heute auch mal auf stehen . Was meinst du? Deine Leute werden sich sicher schon Gedanken machen.“

„Hmmm…..will nicht aufstehen!“, knurrte Madleen wollüstig. „Is mir egal, was die andern denken. Die wissen doch eh Bescheid.“

„Ist schon komisch irgendwie,“ erwiderte Elena. „Da wohnen wir in der Abtei wochenlang unter einem Dach und nichts geschieht. Wir sind einen halben Tag bei dir und ertrinken förmlich in Liebe.“

„Hmmm…macht wahrscheinlich die Umgebung. Alles ungewohnt. Puuaah…..“

Elena streckte sich über den Körper der Geliebten und ertastete zärtlich deren Brüsten.

"Wie lange weißt du es schon?" Wollte Madleen wissen.

"Was denn?"

"Na dass du mich liebst?"

" Da brauch ich nicht lange zu überlegen.Seit jenem Augenblick als ich zum ersten Mal in deine blauen Augen sah." Gestand Elena.

"Du meinst Liebe auf den ersten Blick?"

"Genau das! Seitdem verzehrte ich mich Tag für Tag!"

„Und warum hast du`s nicht getan? Zu jener Zeit war ich ebenso bereit wie letzte Nacht.“

„Weil ich dich auf keinen Fall nötigen wollte. Du verstehst! Du kamst in mein Haus, total abgebrannt, am Ende deiner Kräfte, kränklich. Ich wollte die Situation keineswegs ausnutzen. Da zog ich es vor, lieber zu warten und den rechten Zeitpunkt auskundschaften. Das war mir die Sache wert. Auch wenn ich in Sehnsucht brannte und das viele Wochen lang. Hätte ich geahnt das es dir ebenso ergeht. Nein, was für eine Zeitverschwendung.“ bedauerte Elena.

„Ach Elena, ein paar Wochen. Was sind Wochen im Vergleich zu den Jahren, die ich in Wartestellung verharrte, um endlich dein Herz schlagen zu hören.“ meinte Madleen, während sie ihren Kopf fest an Elenas linke Brust preßte.

„Jahre? Wieso Jahre? Wir kennen uns noch nicht einmal fünf Monate?“

„ Nenne mir nur eine Person in ganz Melancholanien, die nichts  mit Elena  anzufangen weiß. Zu Hunderttausenden haben die Menschen an den Bildschirmen gehockt, nur um dein Konterfei zu betrachten. Mit Sicherheit hat sich bei dieser Gelegenheit auch ein beträchtlicher Teil in dich verliebt. Auch wir lebten nicht ganz hinter dem Mond, auch wir hatten Fernsehen.“ klärte Madleen auf, rutschte nach oben und schlang ihre Arme um die Angebetete. „Wir hatten nur ein Gerät, mehr war nicht drin, konnten wir uns nicht leisten, war schweineteuer damals. Nachts schlich ich mich heimlich aus dem Zimmer, mit einer Decke unterm Arm. Dann ging`s ab ins Fernsehzimmer.

Deine Spätkommentare gefielen mir besonders.“

„Meine Spätkommentare? Aber wie kamst du dazu? In denen war ich doch besonders bissig und verletzend. Wie hast du mich denn ausgehalten.“    

„Ganz einfach! Hab den Ton weggenommen, dann war es auszuhalten. Die Kameraeinstellung dagegen war phantastisch. Wau! Was für ein Profil. Und deine Garderobe, die betonte so herrlich deine Figur. Pah, so sinnlich, so verführerisch.“

Madleen kam total ins Schwelgen. „Ich war ja sooo verliebt in dich und das trotz deiner bösen Zunge.“

„So lange liebst du mich schon? Das ist unglaublich. Und du hast nie ein Sterbenswörtchen verlauten lassen. Du sagst es, derer gab es viele, die mich begehrten. Aber nur du bist zu mir vorgedrungen. Und weißt du warum? Nein? Weil du etwas ganz besonderes bist!“

Die beiden nackten Körper lagen dicht an dicht. Die Glut konnte jeden Moment wieder zu einer Stichflamme der Leidenschaft mutieren.

„Ach ja, geküsst habe ich dich auch, hunderte Male. Auf den Bildschirm. Aber da war nur Glas. Und in dieser Nacht gelangte ich zum Gipfel. Was für ein Gefühl. ich stand wie unter Strom.!

„Der Vulkan in deinem Herzen war deutlich spürbar, du hast geglüht vor Leidenschaft,“ schien sich Elena zu erinnern. „War es etwa so?“ Elena drückte ihre Lippen auf Madleens Mund, diese sog deren Zunge ein. So verweilten sie eine halbe Ewigkeit.

„Nicht loslassen, Elena.“ bedauerte sie, als sich Elena wieder entfernte. 

Danach reckte sie sich wieder und schnurrte dabei wie ein Kätzchen.

„Weißt du, woran mich dein Körper erinnert? Ich hab die ganze Zeit überlegt. An ein Rehkitz.

Schlank, geschmeidig und gelenkig wie ein Rehkitz. Besser kann ich es nicht beschreiben. Genau, fortan werde  ich dich Rehkitz nennen.“

„Gern, aber nur wenn du mir für dich auch einen Kosenamen gestattest.“ machte Madleen zur Bedingung.

„Nur zu! Und welchen erlauchten Namen hast du für mich auserkoren?“

„Das liegt auf der Hand, bei der kupferroten Lockenmähne.  Füchsin! Eine schlaue Füchsin noch dazu.“

„Toll! Rehkitz und Füchsin. Das hat schon Mystisches an sich.  Unseren heimischen Wald besitzen wir bereits, um dort unser Domizil zu bauen .“

„Ich bin dabei! Übrigens hast du einen mächtigen Eindruck auf meine Familien gemacht .

Die mögen dich, ich weiß es. Sogar meine Mutter und das will wirklich etwas heißen. Die ist ansonsten nicht gerade zimperlich, in ihrer forschen Art,“ stellte Madleen fest.

„Kunststück! Alle mögen Elena! Hast du eben selbst betont!“, versuchte die Angesprochene tiefzustapeln.

„Ist also nichts Besonderes, wenn ich freundlich aufgenommen und gleich im Mittelpunkt des Geschehens stehe.“

„Nein, ich glaube nicht dass es nur daran liegt. Zugegeben. So einen Gast hat hier noch keiner angeschleppt. Der Überraschungseffekt hat seine Wirkung voll entfaltet. Nein, die sind ehrlich zu sich selbst und auch zu anderen. Dass du ein Promi bist ist dabei Nebensache.“

Sie wusste, dass Madleen die Wahrheit sprach. Elena fühlte sich wohl in dieser Umgebung, sie war willkommen. Ganz im Gegenteil zum tristen Alltag in Leanders winziger Kammer. 

Ihr Promistatus brachte ihr nicht nur Glück. Damals  war er eher hinderlich. Madleen hatte sich einen bedeutend günstigeren Moment ausgesucht um in ihr Leben zu  treten.

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür, dann öffnete sich diese mit einem Ruck.

Instinktiv zog Elena die Decke nach oben.

Annett begrüßte beide auf die ihre Art.

„Guten Morgen, ihr beiden Turteltauben. Solltet ihr euch entschließen heute noch einmal von einander zu lassen könnt ihr gerne nach unten kommen. Frühstück ist schon lange fertig. Alle anderen sind längst ausgeflogen. Ach ja, Elena. Irgendwie hat sich herumgesprochen, dass du bei uns bist. Es ist damit zu rechnen, dass im Laufe des Tages eine Menge Volk hier auftauchen wird, um dich zu sehen. Da gibt`s sicher ne Menge Fragen."

„Ach Mutti, musst du denn immer zum ungünstigsten Zeitpunkt erscheinen? War wirklich nicht sehr diplomatisch von dir,“ fauchte Madleen und warf ein Kissen nach ihrer Mutter.

„Schon gut, schon gut! Wollte nur den Wecker spielen. Bin schon wieder fort!“

Annett schloss die die Tür und überließ die beiden wieder ihrem Liebesspiel.

„Das war aber nicht sehr nett von dir, mein Engel. Deine Mutter hat Recht! Ist wirklich Zeit zum Aufstehen“ bekundete Elena während sie ihren Venuskörper aus den Federn schwang.

„Das kommt ja einer eiskalten Dusche gleich. Mein Körper glüht noch vor Verlangen. Ich muss alles erst in Ruhe in mich wirken lassen. Es …es will mir noch immer nicht in den Kopf, was da in der Nacht geschah.“ beklagte sich Madleen, sich dabei lang auf dem Bauch ausstreckend, das Gesicht tief in die Kissen vergraben.

„Dann kühl dich in aller Ruhe ab. In der Zwischenzeit mach ich mich ein wenig frisch und begebe mich nach unten.“ erwiderte Elena. Danach kniete sie am Boden nieder, strich ihrer Liebsten sanft über die Schultern küßte deren Haaransatz im Nacken, erhob sich schließlich um in dem kleinen Bad ihrer Morgentoilette nachzukommen.

Als sie damit fertig war, schlüpfte sie schnell in ihre alten Jeans, den schwarzen Wollpullover und die Turnschuhe.

Madleen hatte die Decke über sich gezogen, in Anbetracht der Kühle durchaus berechtigt und  knurrte vor sich hin.

Wortlos verließ Elena das Schlafgemach.

Im Treppenhaus warf sie einen kurzen Blick durch das Fenster, dass die Sicht auf eine große Weide freigab.

Es versprach, ein schöner Tag zu werden.

Einer jener Frühlingstage an dem die Sonne zum ersten Mal Kraft gewinnt. Nach einer frostig-kalten Nacht ein besonders prickelnder Gedanke.

Das passte ausgezeichnet zur derzeitigen Situation. Auch in Elenas Körper konnte es nun wieder Frühling werden.

Während dessen hatte sie die rustikale Bauernküche erreicht. Sauber und adrett, aber erneut fühlte sich Elena in die Vergangenheit zurück versetzt.

Ein alter gusseiserner Maschinenofen knisterte vergnüglich vor sich hin und versprühte wohlige Wärme. Die Holzmöbel hatten mindestens hundert Jahre auf dem Buckel. Jede Menge Geschirr an den Wänden, dessen Bedeutung Elena nicht zu zuordnen wusste, reine Dekoration oder Gebrauchsgeschirr. 

 

Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee und gebackenen Brötchen wirkte verlockend.

Nach energiegeladener Nachtspürte Elena einen besonders großen Appetit.

Annett erwartete sie und lud sie freundlich an den  Tisch.

„Komm Elena, setz dich und lass es dir schmecken. Naja, ich sehe schon, Madleen, meine alte Schlafmütze kommt wieder mal nicht aus den Federn. Da werde ich wohl noch mal nachhelfen müssen.“

„Nein, lass nur,“ wiegelte Elena ab. „Ich denke, sie hat es sich verdient. Immerhin hat sie die gesamte Strecke allein am Steuer gesessen. Wollte mich partout nicht fahren lassen. Aber ich bin sicher, sie kommt gleich.“

„Bringt einen Gast mit und lässt ihn allein frühstücken, das gehört sich wirklich nicht.“ empörte sich Annett.

„Macht mir nichts aus. Im Gegenteil. Ich finde es gut, dass wir zwei mal unter vier Augen sprechen können. So lernt man sich gleich besser kennen. Viel hat Madleen nicht von ihrem Zuhause berichtet.  Ich brenne  darauf, etwas über ihre Familie zu erfahren.“ bemerkte Elena und goß sich einen Kaffee in einen großen Steingutpott.

„Kann ich mir gut vorstellen,“ pflichtete ihr Annett bei. „Ihr Leben hält sie vor Fremden stets bedeckt. Aber mich würde interessieren, wie denn mein kleiner Grashüpfer bei dir aufgetaucht ist.“

Elena gab, während sie sich die Brötchen belegte, einen kurzen Bericht, von der ersten Begegnung angefangen, ihrem Einzug, dem guten Verhältnis zu Tessa, ihrer engagierten Arbeit, alles, was von irgendeiner Bedeutung schien. Das alles geschah in einer Art und Weise, die Annett  verdeutlichte, in welchem Verhältnis die beiden zu einander standen und  wie sehr sie sich liebten.

„Das ist ja spannender als ein Roman ,“ betonte Annett. „Ich bin dir zu tiefem Dank verpflichtet, dafür, dass du meine Tochter so herzlich aufgenommen hast. Du magst sie sehr, nicht wahr?“

„Tja, das kann man wohl sagen,“ stimmte Elena zu und trank darauf einen Schluck heißen Kaffee.

„Nein, es ist bedeutend mehr.  Du liebst sie?“, fügte Annett korrigierend hinzu.

„So ist es! Ich liebe sie! Ich liebe sie mehr als mein Leben!“ bekannte Elena ohne Umschweife.

„Das fiel mir sofort nach eurer Ankunft auf. Und es tat meinem Herzen gut. Dass Madleen dich liebt, ist mir lange schon bekannt. Natürlich konnte ich das früher nicht nachvollziehen. Jugendliche Schwärmerei für einen Star, so etwas kommt häufig vor.

Heute ist es anders. Du sitzt leibhaftig vor mir. Von dem Lebensweg, den du eingeschlagen hast, ganz zu schweigen.“

„Und du hast keine Probleme damit. Ich…ich meine, sie ist deine einzige Tochter nun bringt sie eine Frau mit nach Hause?“ wollte Elena wissen.

„Ach du meinst, weil du eine Berühmtheit bist, eine Prominente, wie man zu Zeiten des alten Regimes zu sagen pflegte. Eine Person des öffentlichen Lebens. Ganz und gar nicht. Ganz gleich, was du warst oder bist. Du bist ein Mensch, ein ausgesprochen guter, das alleine zählt.

Ich freue mich das meine Tochter jemanden gefunden hat der ihr etwas bedeutet und mit dem sie ihr Leben teilen möchte.“ beruhigt Annett.

„Madleen ist ein großes Geschenk, sowohl für mich, als auch für meine Tochter Tessa. Die beiden sind absolut vernarrt in einander. Ich kann mir das kaum erklären. Aber ich denke auch, sie ist noch jung. Vielleicht möchte sie auch mal eigene Kinder?“ mutmaßte Elena.

„Hm, möglich! Aber ich denke, Madleen ist alt genug, um das allein zu entscheiden.

Weißt du, Elena, ich habe in der Zwischenzeit 5 Enkelkinder und wie ich meine Söhne kenne, werde die in den nächsten Jahren noch für weitere sorgen. Ich bin der Ansicht, das ist Ausgleich genug. Madleen wird ihren Weg gehen und ich habe so ein Gefühl, dass es ein besonderer, ein außergewöhnlicher ist. Sie wird imstande sein, all jene Dinge zu tun, welche mir Zeit meines Lebens verwehrt blieben. Nicht dass ich mich beklagen will, ich hatte an Thorwalds Seite ein gutes Leben. Aber die äußeren Bedingungen ließen auch kaum eine Alternative zu. Einfach ausbrechen, etwas ungewöhnliches tun, dem Leben eine besondere Note verleihen. Ach, wie gern hätte ich das getan. Aber als Prekarierin, was konnte man damals ausrichten? Ich musste nehmen, was sich  bot. Meine Kleine soll nicht in dieser Provinz versauern. Ich bin überzeugt, an deiner Seite wird sie sich prächtig entwickeln.“

Annettes Offenheit verwirrte Elena fast. Sie kam aus dem Staunen  nicht heraus.

„Du glaubst nicht wie gut mir deine Worte tun. Ich kam mit gemischten Gefühlen hierher.

Wie wird ihre Familie reagieren? Bleischwer hing diese Frage über meinem Kopf. Gestern zu dieser Stunde schien noch alles offen. Großes Fragezeichen! Wie ich doch in den letzten Stunden beschenkt worden bin, bei Tage und bei bei Nacht.“

„Ihr habt miteinander geschlafen. Ich war mir nicht sicher, ob sie dich schon erobert hat. Als ich euch aber gestern sah, bestätigte sich meine Vermutung. So vertraut gehen nur Verliebte miteinander um. Das gemeinsamen Bett war also keine Herausforderung.“ glaubte Annett.

„Ganz so war es nicht,“ gab ihr Elena zu verstehen. „Das gemeinsame Bett war ein Novum.

Es war… ich weißt nicht, wie ich es erklären soll. Madleen hat es dir noch nicht gesagt?  Das ist wohl der Grund, warum sie bisher nicht auftauchte.  Ebenso wie ich muss sie alles erst verdauen. Verständlich, dass ein Mensch nach so einem Erlebnis Stille und Abgeschiedenheit sucht.“

In Annett keimte ein Verdacht.

„Du…du willst damit andeuten, dass ihr in der vergangenen Nacht das erste mal miteinander…“ Annett unterbrach sich selbst und suchte nach Worten, musste erst entscheiden, ob sie dem soeben vernommenen Glauben schenken mochte.

„Ihr lebt Monate unter einem Dach, verzehrt euch in Sehnsucht und nichts geschieht? Ihr habt in diesem Haus eure erste gemeinsame Nacht miteinander verbracht? Das haut mich um.

Aber warum denn?“

„Es war… verzwickt. Ich wollte nicht die Gönnerin spielen, die sich für die freundliche Aufnahme bezahlen lässt. Nein, sie sollte den ersten Schritt tun. Offensichtlich hat sie sich aber nicht getraut. Hier jedoch, in dieser Umgebung, bin ich Gast. Der Knoten begann sich zu lösen und schon klappte es im Handumdrehen. Und es war wunderschön.“

„Nein, wirklich? Frauen, so sind eben Frauen. Warten ab, dass die andere den Anfang macht. Verpassen dabei nur all zu oft das Beste. Trotzdem bewundere ich deine Haltung. Meine kleine Madleen, mein Sonnenschein hat endlich einen sicheren Hafen gefunden. Nach all dem, was sie erleben musste. Ich gönne ihr  dieses Glück.

Ach, wie ich mich freue.“

Elena schreckte auf.

„Was war denn in der Vergangenheit? Sie redet recht wenig über ihr früheres Leben. Wenn ich mal hartnäckig bin und tiefer dringen will, blockt sie ab. Nicht selten weint sie dann heimlich. Es scheint, als wolle sie mir ihre Ängste und Schwächen nicht offenbaren.“

Annettes Miene verfinsterte sich und ihr Gesichtszüge wurden hart wie ein Kieselstein.

„Das kann ich mir gut vorstellen. Niemals wird sie freiwillig ihre Vergangenheit offenlegen.

Aber ich denke, du hast ein Anrecht auf die ganze Wahrheit. Weißt du, dieser Mistkerl, dieser Taugenichts, der hier eines Tages auftauchte….“

„Du meinst diesen Rolf? Ja, sie sagte mir, dass sie verheiratet war. Und diese Beziehung hat ihr, wie es scheint, kein rechtes Glück beschert.“ unterbrach Elena.

Annett erhob sich, ging in der Küche auf und ab.

„Ja, Rolf! Nur unter großen Schwierigkeiten gelingt es mir, diesen Namen überhaupt noch auszusprechen.“

„Was…was hat er ihr angetan?“ Elenas Tonfall wurde härter und forscher.

„Ein ganz gewöhnlicher Anfang zunächst. Dieser Tunichtgut tauchte eines Tages mit einem Sendungsbefehl auf, um als Saisonarbeiter in der Erntezeit zu helfen.

Er lebte wie die anderen kaserniert.

Auf eine mir bis heute nicht einleuchtende Art und Weise gelang ihm sich Madleens Vertrauen zu erschleichen. Meine Tochter ist ansonsten nur schwer  beeinflussbar, das hat sie von mir, weißt du. Aber Rolf erwies sich als exzellenter Schauspieler. Ich sage dir, der konnte auf Befehl seine Tränendrüsen aktivieren und eine Komödie von Stapel lassen, die an Theatralik kaum zu überbieten war.

Und sie glaubte ihm. Es dauerte nicht lange und die beiden wurden ein Paar.

Madleen begann sich um hundertachtzig Grad zu drehen. Vergaß dabei selbst ihre Göttin und das wollte  etwas heißen.“

„Ihre Göttin? Welche Göttin?“

„Elena, du warst ihre Göttin. Sie hat dich immer geliebt. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dir untreu zu werden. Das betonte sie immer. Aber ich schweife ab. Die beiden heirateten. Heimlich! Niemand wusste davon. Nur kurz lebten sie in ihrem Zimmer. Der Kerl war nicht zufrieden damit, überredete sie, mit ihm fort zu gehen. Er beschwatzte sie ständig, redete von Verbesserung. Er war ein Preka, wie konnte er sich da verbessern?

Dann enthüllte sich die schreckliche Wahrheit.“

„Er schloss sich den Patrioten an. Ich bin im Bilde, das hat mir Madleen mitgeteilt. Sie hat sich ihm verweigert und schließlich verlassen. Auch das ist mir bekann.“ erinnerte sich Elena.

„Das ist die harmlose Version. Die hat sie so verinnerlicht, dass sie begann, selbst daran zu glauben. Nein, Rolf war bereits ein Blauer, als er zu uns kam. Ein Spitzel, vom Orden eingeschleust, um die Kooperativen nach vermeintlichen Revolutionären zu durchforschen.“

„Nein, davon hat sie mir nichts erzählt! Sprich weiter, wie ist es ihr danach ergangen.“

Elenas Gesicht wurde immer bleicher.

„Für sie brach eine Welt zusammen,“ setzte Annett ihren Bericht fort. „Doch nach wie vor hielt sie zu ihm. Weiß der Teufel, warum. Er entpuppte sich immer mehr, sperrte sie tagelang ein, misshandelte und vergewaltigte sie. Zudem war er krankhaft eifersüchtig. Er gestatte  ihr nicht einmal, mit einem anderen Mann zu reden. Vor seinen Kameraden demütigte er sie vorsätzlich. Zum Glück brach die Revolution aus. Madleen nutzte das allgemeine Chaos, um zu fliehen. Als sie ankam, erkannte ich sie kaum wieder, sosehr hatte sie sich verändert. Tagelang verbarrikadierte sie sich in ihrem Zimmer, sprach nicht mehr, ließ niemand an sich heran.“

Elena wurde von kaltem Entsetzen gepackt. Trauer, Schmerz und Hass wüteten in ihrem Inneren. Die Last jener Wahrheit hing wie ein Mühlstein an ihrem Hals. Unter dem Tisch ballte sie die Fäuste und kniff die Augen zusammen. Es schien, als könne sie das entsetzliche Leid, das man ihrer Geliebten angetan hatte, mit ihrem inneren Auge erkennen.

Dieses Ungeheuer hatte ihren zärtlichen Engel gequält. Noch berauscht von dieser Liebesnacht, in deren Verlauf sie eine Madleen kennen lernen durfte, die so wunderbar sinnlich, so zärtlich auftrat und ihr ihren geschmeidigen Körper zur Liebkosung schenkte.

Und nun so etwas! War es fair, ihr das gerade nach dieser Nacht zu beichten?  Andererseits war es richtig dieses dunkle Geheimnis zu lüften. Denn nun konnte Elena gezielt ansetzen, um ihrer Geliebten zu helfen.

„Hab ich dich sehr geschockt, Elena? Das lag keineswegs in meiner Absicht. Ich wollte dir nicht den Tag verderben. Aber ich war der Ansicht, dass du es erfahren musstest.“

„Schon gut! Du hast recht getan, mich einzuweihen. Das erklärt einiges. Jetzt werde ich ihr besser helfen können. Sie bedarf vieler Streicheleinheiten.

Aber wie ging es weiter? Was ist aus diesem Schläger geworden? Hat er sich noch einmal blicken lassen?“

„Seine Spur verliert sich im Nirgendwo! Er verscholl, als das Chaos regierte, wie so viele andere auch. Wir forschten nach. Er soll bei Turkstein umgekommen sein. Aber alles nur Mutmaßungen. Wir konnten nie in Erfahrung bringen, was damals wirklich geschah.“

Elenas Erinnerungen meldeten sich. Tief hatte sich der Tag von Turkstein in ihr Bewusstsein gegraben. An jenem Tag schenkte sie Tessa das Leben.

Gern hätte sie noch mehr in Erfahrung gebracht, doch in diesem Moment öffnete sich die Tür und Madleen trat ein. Ihr Gesicht überzog sich mit einem hellen Lachen, als sie ihre Geliebte erblickte.

„Oh, wie ich sehe, seit ihr schon fast fertig. Naja, macht ja nichts.“ hauchte Madleen noch immer etwas schläfrig und ließ sich in einen Küchenstuhl fallen.

„Na also weißt du! Ein bisschen früher hättest du den Federn schon entsteigen können. Lässt Elena hier ganz allein.“ bemängelte Annett.

„War doch nicht so schlimm, Annett,“ versuchte Elena zu beschwichtigen. „Wir haben uns doch so nett unterhalten.“

„Echt? Das überrascht mich.  Eigentlich auch wieder nicht, denn wer versteht sich nicht mit Elena? Da muss sogar meine Mutter einen Pflock zurückstecken.“ erwiderte Madleen mit aufmüpfigem Ton und begann ein Brötchen zu mampfen.

„Über was habt ihr denn geredet? Kann mir denken, worum es ging. Über mich! Na, ist schon  recht. Elena soll  wissen, mit wem sie`s zu tun hat!“

„Natürlich haben wir über dich gesprochen, mein Grashüpfer. Stell dir vor, wenn ich zum nächsten Kaffeeklatsch der Kooperativenomas gehe. Dann werde ich einiges zu berichten haben. Die werden Augen machen. Ach, was rede ich, die werden unter den Tisch fallen. Mal nicht der übliche Tratsch über Enkelkinder, aufmüpfige Schwiegertöchter oder nichts taugende Schwiegersöhne. Meine Tochter ist mit Elena zusammen, mit der berühmten Elena, die alle mögen und verehren.  Das ist doch was!  Das sprengt jeden Rahmen. Die werden mir gar nicht glauben, fürchte ich.“

Annett versuchte auf diese Weise dem Gespräch wieder eine etwas heitere Note zu verleihen.

„Ja Mutti das würde dir Freude bereiten.“ antwortete Madleen, während sie sich ein Brötchen mit Butter bestrich.

„So schnell geht`s? Schon vergessen  jene Zeiten, da du mich regelmäßig verspottet hast, wenn ich von Elena schwärmte und mein Vorhaben bekundete, zu ihr zu gehen.“

„Madleen, was wollen wir heute machen?“ versuchte Elena mit der Frage eine Auseinandersetzung abzublocken. „Gern würde ich eure Gegend erkunden. Auch würde mich interessieren, wie eure Kooperative funktioniert. Möchtest du mich nicht ein wenig ausführen?“

„Ja sicher! Sag einfach, wann du Zeit hast und du findest mich bereit.“

„Nun, nicht sofort! Ich benötige ein wenig Zeit für die Meditation. Bei entsprechender Kleidung würde das draußen funktionieren. Ich gebe dir Bescheid.“

„Das trifft sich gut. Auch ich benötige noch etwas Stille. Weißt du letzte Nacht da….“ Madleen räusperte sich verlegen. „Ich muss das alles erst mal richtig verdauen.“

Die Tür öffnete sich und Robert trat ein.

„Guten Morgen allerseits! Wünsche wohl geruht zu haben!“

Er rückte sich einen Stuhl zurecht und ließ sich an der Stirnseite des Tisches nieder.

„Elena, gut, dass ich dich antreffe. Der Buschfunk funktioniert bei uns ausgezeichnet. Jedenfalls wussten die in der Werkstatt heute Morgen schon von deiner Anwesenheit. Die waren total aus dem Häuschen, sage ich euch.“

„Robert, Elena ist schon lange im Bilde. Die Leute werden sie sehen wollen, gut. Du bist doch nicht extra hierher gekommen, um zum Besten zu geben, wie die Leute tratschen?“ unterbrach Annett ihren Sohn.

„Ich bin doch noch gar nicht fertig, Mutter.“ beschwerte sich Robert. „Elena, der Rat der Agrarkooperativen lässt nachfragen, ob du heute Abend auf ihrer Versammlung erscheinen kannst. Die brennen darauf, von dir ein paar Worte zu hören.  Es gibt auch einige konkrete Anliegen. Fragen der Sicherheit, des Überlebens. Eben, welche Vorstellungen du so im Gepäck hast.“

„Nein, das wird sie nicht tun!“ mischte sich Madleen aufgebracht ein. „Die haben wohl einen Vogel. Elena ist gerade ein paar Stunden hier. Sie ist mein Gast und soll sich ein wenig erholen können. In ihrem Umfeld hat sie wahrlich genug um die Ohren. Sie soll sich nicht gleich am ersten Tag mit euren Sorgen herumschlagen!“

„Es sind auch deine Sorgen!“ konterte Robert.

„Aber nein! Lass sie doch nur! Ich bin gern bereit zu kommen. Das kannst du ihnen ausrichten Robert. Ich bin sehr interessiert. Ich kann doch das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.“ schaltete sich Elena beschwichtigend ein.

„Eigentlich hatte ich vor so viel Zeit wie nur irgend möglich mit dir  zu verbringen. Aber ich muss wohl akzeptieren lernen  dass Elena zuerst der Allgemeinheit gehört.“ gab Madleen enttäuscht zur Antwort.

„Wir werden genügend Zeit für einander haben. Versprochen!. Dafür werde ich Sorge tragen.“ versprach Elena.

„Ja gut, das wollte ich hören!“ schaltete sich Robert ein und erhob sich vom Tisch. „Also, dann teile ich das den Andern mit. Ich werde dich zur gegebenen Zeit abholen. Tschüss, ich geh dann mal wieder.“

Die Tür krachte ins Schloss.

„Also, wenn ihr fertig seid, dann würde ich gern abräumen. Ich habe mir heute im Agrarbüro frei genommen. Aber ich möchte die Zeit anderweitig nutzen.“ trieb Annett plötzlich zur Eile an.

„Selbstverständlich sind wir fertig und genauso selbstverständlich werden wir dir beim Aufräumen helfen,“ bot Elena spontan an.

Die gemütliche Tafel wurde aufgehoben.

Ein strahlender Frühlingstag begann seien Kraft zu entfalten. 

Es bedurfte keiner langen Suche, um einen geeigneten Platz ausfindig zu machen, an dem sich Elena ungestört ihren Gedanken überlassen konnte.

Unweit des Hofes befand sich eine alte knorrige Eiche, deren Stamm mit Sicherheit schon einige Jahrhunderte auf dem Buckel hatte. Die Rinde hing zum Teil herab und war brüchig vom Alter. Die wenigen dünnen, noch vom Herbst übrig gebliebenen Blätter, lieferten den einzigen Anhaltspunkt, dass der Baum noch lebte.  Elena breitete die Thermodecke direkt vor dem Stamm aus. Die konnte sie gut gebrauchen, denn der Boden präsentierte sich hart und kalt. Über ihr stimmte ein Fink einsam ein erstes Lied an den erwachenden Frühling an.

Elena wollte die negativen Gedanken schnell aus ihrem Bewusstsein bannen.

Stattdessen durchlebte sie noch einmal jene heilsamen Erinnerungen an die vergangene Nacht, die erst wenige Stunden alt waren.

Das Eis war gebrochen.

Die beiden waren nun ein Liebespaar.

Sie hatte sich gegenseitig reich beschenkt,teilten von nun an Ängste, Schmerzen und Trauer. Sie wurden eins. Geben und nehmen im gleichen Augenblick. Beste Voraussetzung  um zu gesunden.

Die Erfahrung über Madleens leidvolles Schicksal trübte zwar die unaussprechliche Freude, beruhigte sie aber zugleich und führte sie zu der Erkenntnis, dass jenes Wissen ihr viel Arbeit ersparen würde. Sie konnte so bald als möglich damit beginnen, das Trauma ihrer Geliebten zu heilen.

Elena sinnierte auch über die Familie. Es waren einfache aber herzensgute Menschen.

Annett stach heraus. Eine kultivierte und intelligente Frau, die auf den ersten Blick so ganz und gar nicht zu diesem gutmütigen, tapsigen und etwas naiven Brummbär Thorwald passen wollte. Jenem bodenständigen Landwirt, fest mit der Gegend verwurzelt, wie die Eiche, deren altes Holz sie im Rücken spürte.

Doch auf irgendeine Art und Weise hatten es die beiden geschafft, in einer fast perfekten Harmonie ihr Leben zu teilen indem sie sich arrangierten. Vor allem hatte sich Annett  mit einem für sie artfremden Leben abgefunden und auf mögliche Alternativen verzichtet.

Elena bewunderte diese starke Frau. Vier Söhnen hatte sie das Leben geschenkt, alle bodenständig, fleißig, bescheiden, sich in das Unvermeidliche fügend. Alle schon mit eigener Familie auf ein Leben im ländlichen Bereich festgelegt, ohne das zu hinterfragen. Und da war Madleen, dieses zauberhafte Geheimnis, dieses stille Wasser, in dessen dunklen Tiefen Elena mit Freude zu ertrinken glaubte.

Mit vier Brüdern aufgewachsen, schlug die Schwester aus der Reihe, ein ungeschliffener Diamant, außerordentlich begabt, sensibel und verletzlich, harrte sie ihrer Erlösung.

Nachdem Elena diese Gedanken hatte Revue passieren lassen, wollte sie zunächst ihre Seele leeren.

Etwas völlig neues würde sich bald vor ihnen auftun. Die letzten Nacht hatte ihr auch eine neue spirituelle Kraft geschenkt, eine Kraft, derer sie in den kommenden Wochen und Monaten dringend bedurfte.

Sie versuchte nun, alle gewonnene Erkenntnis zu ordnen.

Der Dichter Kovacs hatte ihr diese Art der Meditation schon vor Zeiten anempfohlen, doch lenkten sie zu viele Ereignisse davon ab. Hier fand sie endlich eine geeignete Umgebung

Die vergangene Nacht hatte einen Energiestrom freigesetzt. Ein Gefühl der Transzendenz.

Anfänglich belächelte auch sie Kovacs naturreligiöse Metaphern, als liebenswerte Verrücktheiten eines großen Dichters. Doch bald schon zollte sie ihm den gebührenden Respekt.

Doch erst jetzt, in diesem Augenblick wurde sie von echter Neugier gepackt und wollte diesen verschlungenen Pfad eigenständig erkunden,  sich dabei auf ein Ziel bewegen, dass bis dato noch in den Nebeln des Unbekannten verborgen lag. 

Stellten ihre bisherigen Meditationen allemal Entspannungsübungen dar, sah sie jetzt die Zeit gekommen, tiefer vorzudringen. Vor ihr tat sich eine neue fremdartige Welt auf.

Fest an den Baumstamm gelehnt schlug sie die Beine an den Knöcheln übereinander, so dass sie sich im Gleichgewicht befand, die geöffneten Hände legte sie auf die Knie.

Zunächst musste sie ihre Mitte finden.

Sie atmete ein, hielt den Atem an, stieß ihn langsam aus und mit ihm die vielen Gedanken, die sie ablenkten. Einatmen und ausatmen- sie wiederholte den Vorgang und zählte dabei, während sich ihr Bewusstsein nach innen richtete und sie begann, in einem zeitlosen Frieden zu ruhen.

Nach einer bestimmten Zeit, sie vermochte nicht zu sagen wie viel, bemerkte Elena, wie ihr Geist immer tiefer vorwärts strebte. Diese Tiefe mochte instabil sein, doch war sie gleichzeitig eine Quelle der Kraft. Elena saugte jene Energie durch die Wurzeln ein, die ihr Geist geschlagen hatte und zog sie in einem belebenden Strom nach oben, der einer Fontäne gleich aus ihrem Kopf himmelwärts schoss.

Im ersten Hochgefühl glaubte sie, ihre Seele löse sich vom Körper, doch Reaktionen zogen die Energie zurück nach unten und lenkten sie über das Gesicht, die Brüste, den Bauch wieder in die Erde. Noch einmal kreiste die Kraft nach oben.

Langsam erhob sich Elena, richtete die Arme in die Höhe, um sich jener Kraft ganz zu überlassen. Allmählich wurde der Strom zu einer Schwingung, zu einer Säule, die von der Erde zum Himmel reichte.

Elena war nicht mehr als der Kanal dazwischen.

Ein unglaubliches Gefühl. Das musste es sein. Diese göttliche Energie, von der Kovacs so oft gesprochen hatte.

Ihre Arme senkten und hoben sich im langsamen Rhythmus. Mit ihrem inneren Auge nahm sie all jene Dinge war, die von großer Bedeutung waren, alles lag nah beieinander, floss in einen sich ständig erneuerten Kreislauf des Schicksals.

Es gab kein Gestern und kein Morgen, keine Zeitenwende.  

Aus den Tiefen der Erinnerung rief sie sich Worte ins Bewusstsein, Worte, die sie Kovacs einst gelehrt hatte, aber auch Begriffe, aus einer viel tiefer liegenden noch unbekannten Schicht.

Alles um sie herum begann sich aufzulösen.

Stellte die reale Welt nur ein Trugbild dar? Existierte sie in Wirklichkeit gar nicht?

Was existierte auf der anderen Seite?

Wo verlief die Grenze?

Nein, es existierte keine Grenze. Es gab kein Ich. Kein falsches Ego. Die Person Elena verlor sich bei der Berührung mit der anderen Dimension im Nichts.

War das die Antwort?  Nichts existiert?

Nichts und alles.

Wer bist du? Drang eine Stimme in ihr ein.

Dein wirkliches Ich!

Ihr „Ich“ war nichts, oder nur der flackernde Punkt kurz vor dem Erlöschen. Einen ewigen Augenblick wurde sie Teil einer Ekstase.

Dann weitete sich ihr Blick und sie konnte Bilder wahrnehmen, so real, so echt, als habe sie selbst Teil daran. Trotz ihrer Disziplin wurde sie erfasst vom Sog der Bilder, die sie weder auf halten noch kontrollieren konnte.

Sie sah den Krieg, der das Land verwüstet hatte, verzweifelte Menschen, die nur den Wunsch nach Frieden und ein wenig Anteil am Glück am Leben hielt.

Eine Katastrophe machte der nächsten Platz. War das Vergangenheit oder Zukunft? Armut, entsetzliche Armut wohin sie auch blickte. Die Menschen schienen fragend zu ihr aufzublicken.

Plötzlich brach das Bild entzwei und vor ihr erschien ein sanftes Tal. Eine kleine Siedlung aus kleinen, einfach aus Naturstein gemauerten Häusern schmiegte sich in die sanfte Natur.

Sie konnte direkt auf Wald, Wiesen, eine Plantage mit herrlich blühenden Kirschbäumen blicken. Ein kleiner Weiher am Rande über dessen Wasser ein leichter Nebel hing.

Das Land dort schien gerade aus einem traumlosen Schlaf erwacht und lauschte den Worten aus der Tiefe, die wie ein mahnender Gesang auch in Elenas Seele drang.

Eine Erwartungshaltung, ohne Zweifel. Doch auf wen warteten die Menschen, die jetzt langsam aus ihren Behausungen ins Freie traten und ihren Blick in ihre Richtung wandten.

Da konnte sie deutlich die Worte vernehmen.

„Irgendwann in fernen Zeiten, da könnte es geschehen, etwas, was mit unsren Augen wir noch nie gesehen.

Das Siegel wird gebrochen, das uns trennt von der verlor`nen Welt und eine Kraft wird zu uns strömen, die solange uns gefehlt.

All das und noch vielmehr wird uns beschert, wenn Anarchaphilia zu uns wiederkehrt.“

Sie glaubte Kovacs´ Stimme zu hören.

„Aber sind es tatsächlich ferne Zeiten, Elena? Könnte sich all das nicht schon in naher Zukunft erfüllen, wenigstens ansatzweise?

Du bist es die entscheidet und die daran mitwirken kann. Möchtest du so leben, Elena? In Frieden und Einklang mit der Natur und all ihren Kindern? In einer Welt ohne Krieg und Armut? In einer Welt, in der Herrschaft ein unbekannter Begriff ist?

Möchtest du das, Elena? Ja? Aber gib acht! Bevor sich der See der Hoffnung vor dir auftut, wirst du einen langen Weg zurücklegen müssen, Steine und Dorne säumen auch weiterhin deinen Weg.

Tapfer hast den Berg des Zweifels du genommen. Hast auf dem Feld der Einsamkeit die Selbsterkenntnis geerntet. Nur wenigen Menschen ist so etwas vergönnt. Die meisten deiner Artgenossen sind schwach, haben Angst vor dem Neuen, vor dem Unbekannten. Fallen nur all zu oft beim ersten leichten Gegenwind in alte Gewohnheiten und Denkstrukturen zurück.

Du kannst den Weg weisen. Geh voran! Fang an, den großen Felsblock zu behauen auf dass dein Meisterwerk entsteht. Schaffe Neues! Die Kraft schlummert lange schon in dir.

Gedenke jener Worte, die ich dir schon früher einschärfte. „Wenn die Tochter am Tag der Entscheidung auf der obersten Plattform im gleißenden Licht erscheint und tosender Jubel sie empfängt.“

Halte dich bereit! In ferner Zukunft wirst du Zeuge sein.“

 

Plötzlich schien Elena wie ein Blatt  zu fallen, das nicht leicht genug war, um im Wind zu treiben, nach unten, nach innen und fügte von neuem zusammen, was verloren gegangen war.

Als Elena in ihren Körper zurückkehrte, war sie nicht mehr die Alte. Als sie sich neu definierte, kam ihre Stimme wieder und sie sang die steigenden und fallenden Silben der Beschwörung, so wie es Kovacs sie dereinst gelehrt hatte.

Das innere Licht schwand, die Nebel auf ihrer Seele hatten sich in ein helles Schimmern verwandelt. Elena blinzelte, bis sie die vertraute Umgebung sehen konnte.

Die reale Welt mit all ihren Bildern, mit ihren Düften und Gefühlen fügte sich vor Elenas Augen zusammen. Alles befand sich noch in jenem Zustand, der sie umgab, als sie ihre Reise antrat, doch erschien es ihr auf geheimnisvolle Weise neu.

Sie streckte sich, bewegte den Kopf auf dem Nacken hin und her, atmete tief durch. Der harte Boden ließ die Kälte spüren. Sie erhob sich langsam, leicht benommen, so dass sie nach dem Stamm der Eiche griff und sich dagegen lehnte.

Nach wenigen Augenblicken schien sie endgültig angekommen, spürte in ihrem Herzen ein tiefes Gefühl des Friedens und der Ausgeglichenheit.

Was war das? Elena war intelligent genug, um das, was ihr so eben widerfahren war, als eine transzendente Erfahrung zu deuten.

Es war ein Auftrag!

Sie würde ihn ausführen. Am liebsten auf der Stelle damit beginnen.