Traumreise

 

Gemächlichen Schrittes zuckelte Elenas Landrover die kurvenreiche Landstraße entlang. Der Spätsommer verwöhnte mit angenehmer Wärme und Zeit stand ihr reichlich zur Verfügung. Dem Ratschlag der anderen folgend, hatte sie sich ein paar Tage frei genommen. Madleens  Mahnung traf ins Schwarze  Es war fünf Minuten vor zwölf. Sie bedurfte dringend der Ruhe und Einkehr. Die Last der Verantwortung drohte sie zu erdrücken. Von den zahlreichen Nebenbeschäftigungen denen, sie sich zusätzlich noch widmete, ganz zu schweigen. Noch war sie nicht ausgebrannt, aber lange würde dieser Zustand nicht mehr auf sich warten lassen, wenn sie nicht rechtzeitig gegensteuerte. Es gab genügend fähige Leute, um sie in ihrer Abwesenheit zu vertreten. Schließlich waren sie ein Regierungskollektiv. So zumindest ihr Vorsatz. Es war Zeit diesen mit Taten zu füllen.

Eine ständig abrufbereite Elena, bereit jederzeit und überall den Feuerwehrmann zu spielen, wenn es brannte, sollte es in Zukunft nicht mehr geben. Die Bewohner Akratasiens sollten sich endlich in Selbstverantwortung üben, wollten sie in absehbarer Zeit den Zustand der Akratie erreichen.

Der Blick in den Rückspiegel verdeutlichte ihr, dass es bis zur Akratie noch ein weiter Weg war. Im angemessenen Abstand folgte ihrem Landrover ein Jeep der Bürgermiliz, so nannte man die Sicherheitskräfte, die für Ordnung und Sicherheit zu sorgen hatten. Armee und Polizei existierten nicht mehr. Die neue Security wurde von den Bürgerkomitees auf Zeit eingesetzt, überwacht und, wenn nötig, auch abberufen. Die Kommandeure von ihren Einheiten demokratisch gewählt.

Eine Spezialeinheit eigens für die Sicherheit der Regierungsmitglieder verantwortlich. Es waren unruhige Zeiten, ständig konnte es aufgrund der angespannten Situation zu emotionalen Ausbrüchen kommen. Ein Preis den man für weitgehende Freiheiten zu zahlen hatte.

Eigenartig, Elena hatte den Eindruck dass sie sich zu Zeiten Neidhardts Diktatur viel freier hatte bewegen konnte.

Sie tippte mit dem Fuß das Gaspedal, wie eine Rakete zog ihr Allrad-getriebenes  Geländefahrzeug auf und davon und ließ die Verfolger weit hinter sich. Für ein paar kurze Augenblicke erwachte das Partygirl in ihr, ständig drauf und dran mit der Umwelt ihren Spaß zu treiben.

Doch schnell drosselte sie ihre Geschwindigkeit, ihre Verfolger waren auf ihren Schutz bedacht. Die taten ihre Arbeit, so wie sie selbst die ihre. Dem hatte sie sich zu fügen, auch in ihrer Freizeit.

Doch Elena wäre nicht Elena, würde sie nicht auch die Urlaubstage mit einer sinnvollen Beschäftigung verknüpfen.

Sie war im Begriff ein gegebenes Versprechen einzulösen, bewegte sich nicht einfach so durch die Gegend, vielmehr hatte sie ein konkretes Ziel vor Augen. Neidhardts Gartenhaus im Süden des Landes. Elena brachte ihr Fahrzeug an einem Waldparkplatz zum Stehen um eine kleine Rast einzulegen.

Mit einem Griff in ihren Rucksack holten sie den Brief hervor, den ihr Neidhardt hinterlassen hatte, bevor er sich aus ihrem Leben verabschiedet hatte. Jenen Schicksal behafteten Brief den sie in Folge schon hunderte Male gelesen hatten, dessen Aussagen sie aber nach wie vor nicht nachvollziehen konnte.

Darin hatte er ihr unter anderem auch seinen geliebten Garten anvertraut. Elena gedachte dieser Bitte nach zu kommen. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, die sich jedes Mal meldeten, wenn sie den Brief in den Händen hielt, starteten den Landrover und setzte ihre Fahrt fort. In Kürze würde sie ihren Bestimmungsort erreichen.

Würde ihr Neidhardt eigenhändig das Tor öffnen, um sie auf sein Grundstück zu lassen, wenn sie gleich eintraf? Unsinn! Niemand erwartete sie dort. Neidhardt war verschwunden, aus den Augen aus dem Sinn. Ob es ihr gefiel oder nicht, sie hatte sich mit dieser Tatsache abzufinden.

In der breiten asphaltierten Toreinfahrt brachte sie ihr Fahrzeug zum Stehen, verharrte eine Weile, dann öffnete sie die Tür und bewegte sich auf den Eingang zu, holte aus ihrem Rucksack den Schlüssel hervor und schloss die Seitentür auf. Danach betrat sie das Gelände, das sich ihr, trotz des verwilderten Zustandes, in anmutiger Schönheit präsentierte. Noch immer haftete ihm ein geradezu märchenhafter Zauber an, der sich mit Worten nicht beschreiben ließ.

Doch zu einem Zaubergarten gehört der Zauberer und der glänzte durch Abwesenheit.

Langsam schritt Akratasiens Kanzlerin über das Anwesen. Die Wildnis war im Begriff sich dieses früher so kultivierte Stückchen Erde zurück zu erobern. Seit dem Untergang Melancholaniens hatte sich hier keine Menschenhand mehr betätigt. Die einst so gepflegten Beete waren von Brennesseln. Disteln, Quecken und sonstigem Unkraut überwuchert. Der Rasen, mit Sicherheit zwei Jahre nicht mehr gemäht, im Begriff sich zu einem undurchdringlichem Dickicht zu entwickeln. Die Wasserruten auf den Obstbäumen ragten wie spitze Speere gen Himmel und ließen den Früchten nur wenig Platz zum reifen. Elena griff nach einem einsam im Geäst hängenden Apfel, lies ihn von einer in die andere Hand rollen und betrachtete ihn dabei mitleidig. Es hatte dem Anschein als habe er nur darauf gewartet  von ihr geerntet zu werden. Eine ganze Reihe seiner Geschwister lagen als Fallobst verstreut am Boden und faulten langsam vor sich hin.

Elena setzte ihren Erkundungsgang fort und befand sich schließlich vor dem Zaun wieder. Jenem Zaun, den sie vorzeiten auf abenteuerliche Weise überwinden musste, um einem Gralsritter gleich, auf das Gelände des verwundeten Gralskönigs vorzudringen, mit dem Ziel, diesen von seinem Leiden zu erlösen und in die Gemeinschaft der Lebenden zurück zu holen.

Sie traute ihren Augen kaum als sie schließlich die alte knorrige Eiche wieder fand, deren morscher gebrochener Ast noch immer über den mit spitzen Dornen bestückten Draht hing.

Er konnte damals ihrem Gewicht nicht standhalten und lies Elena auf unsanfte Weise direkt vor des Diktators Füße rollen.

Elena wähnte sich in einem Zeitloch. Einfach hineingreifen um sich den betreffenden Tag heraussuchen und noch einmal erleben. Im Traum gelang ihr das, doch die Realität gehorchte rationalen Gesetzen.

Sie trat den Rückweg an, schritt an der Natursteinmauer an der Ostseite entlang und erreichte schließlich das vollständig mit Efeuranken bedeckte Gartenhaus. Die Tür verschlossen. Sie fand den passenden Schlüssel und trat ein. Gespenstisches Dunkel, obgleich sich die Sonne in der Zwischenzeit ihren Weg am Himmel erobert hatte und ihren wärmenden Strahlen den Garten in Besitz nahmen.

Schnell erkannte Elena den Grund. Die Fensterläden waren geschlossen. Sie durchquerte die Stube, öffnete die Fenster um darauf die hölzernen Läden weit aufzustoßen. Frische Luft und Sonnenlicht um die muffige Atmosphäre zu vertreiben. Tausende winzige Staubkörnchen tanzen im Schein der Sonnenstrahlen, wie Schneeflocken in einem Wintersturm.

Der Blick frei, die Einrichtung voll in Augenschein zu nehmen. Penible Ordnung, alles schien an seinem ihm eigenen Platz befindlich.

Man konnte versucht sein zu glauben Neidhardt habe sein Domizil erst vor wenigen Minuten verlassen und würde sich schon in Kürze wieder einfinden.

Elena ließ sich auf den übergroßen Sessel nieder. Sein Sessel, bereit der wuchtigen Gestalt Platz zu bieten. Den Blick zur Eingangstür gerichtet. In froher Erwartung. Aber auf was? Rechnete sie tatsächlich damit dass er im nächst besten Augenblick erschien? Einfach so! Hier bin ich wieder! Jetzt wird alles wieder gut?

Ein Seufzer tiefster Beklemmung entglitt Elenas Brust.

Die Erinnerungen drängten in ihr Bewusstsein, gepaart mit  Trauer um die Erkenntnis einen Menschen wohl für immer verloren zu haben.

Mit seiner Rückkehr war nicht zu rechnen. Er hatte seine Spuren im Sand der Zeit hinterlassen um sich im Anschluss sang und klanglos zu verabschieden. Hatte einer ganzen Zeitepoche seinen Stempel aufgedrückt und sich seinen Platz in den Geschichtsbüchern gesichert, die Weltbühne aber zur angemessenen Zeit verlassen.  

Nichts! Kein Lebenszeichen! Das sah ihm ähnlich!

In Elenas inneren bahnte sich ein emotionaler Ausbruch seinen Weg nach draußen.

„Verdammt noch mal, ich liebe dich doch! Alter bockiger Dickschädel! Warum tust du mir das an? Verschwindet einfach so aus meinem Leben! Wo kann ich dich finden? Ich weiß ja nicht einmal ob du noch am Leben bist.“

Akratasiens Kanzlerin schlug mit der Faust auf die Platte des rustikalen Eichenholztisches vor ihr, um im Anschluss mit ihrer Anklage gegen den Abwesenden fortzufahren.

„Alter machtbesessener Mann. Was hast du denn von mir erwartet? Welchen Liebesbeweis sollte ich dir noch erbringen? Hier! Hier habe ich gesessen! Hier zu deinen Füßen

und bettete meinen Kopf in deinem Schoß!“ Elena wies mit dem Zeigefinger auf den mit grauer Auslegware bespannten Boden.

„Eine Geste, die ich nur bei Leuten vollziehe, denen ich besondere Verehrung entgegen bringe. Es gehören nicht viele dazu. Neben dir nur noch Cornelius und Colette. Aber du hast das Zeichen nicht erkannt. Meinst du, ich hätte dich wie Leander behandelt oder gar wie Frederic? Ich war mir bewusst, dass du dich schwer mit dem Gedanken tatest, auf dem Gelände der Abtei zu leben. Aber man kann doch über alles reden. Wir hätten eine Lösung gefunden. Aber das ist es ja. Du kannst dich keinem Menschen offenbaren! Der große Neidhardt ist sich zu schade dafür. Immer den coolen Unnahbaren mimen, der stets allein mit allem fertig wird und der Liebe nicht bedarf. Das glaubt dir keiner. Auch du brauchst Liebe wie die Luft zum Atmen. Du bist ebenso zum Eremiten geschaffen wie ich. Wer massiert jetzt deinen verhärteten Nacken, wenn du Schmerzen hast? Sagtest du nicht, dass dir meine Berührung unendlich gut bekam? Jetzt wo die Zeit gekommen, sich nach einem Leben voller Entbehrung der Liebe hinzugeben, verschwindest du.  Ach tue doch was du willst, alter Eigenbrötler. Unbelehrbar, sich nichts sagen lassen, schon gar nicht von einer Frau, von einer die zudem deine Tochter sein könnte. Ich will nicht mehr an dich denken. Aber ich kann es nicht.“

Und wieder stiegen die Tränen in die Augen. Elena schneuzte sich geräuschvoll in ihr Taschentuch.

„Schluss jetzt! Fort mit diesen Negativen Gedanken.

Machtmensch, unverbesserlicher Machtmensch. Ist die Macht erst einmal futsch, dann hilft nur noch die Flucht. Einen Neidhardt der keine Befehle mehr erteilen kann, gibt es nicht. Das ist es!“

Elena hatte es erfasst. Machthaber, die von ihrem Sockel gestoßen, scheuen oft die Öffentlichkeit wie der Teufel das Weihwasser. Sie können den Gedanken nicht ertragen nicht mehr in der ersten Reihe zu stehen. Da ging es Neidhardt nicht anders als unzähligen vor ihm, die einmal an der Spitze standen und sich eingestehen mussten, ganz plötzlich ein Niemand zu sein, ein personifiziertes Nichts. Nur noch ein bisschen beseelter Staub, ein Häufchen Materie in der Unendlichkeit des Universums.     

Sie wussten mit ihrem Leben kaum noch etwas anzufangen und nicht wenige wählten den Freitod als einzigen Ausweg.

Hatte sich Neidhart zu diesem Schritt entschieden? Elena musste auch mit dieser Möglichkeit rechnen, doch bei dem Gedanken daran lief es ihr eiskalt über den Rücken.

Sie schlug sich mit den Handflächen auf die Oberschenkel, dann erhob sie sich abrupt und schritt zum Fenster gegenüber.

„Es gibt viel zu tun hier!“ Meinte die Kanzlerin beim Blick über den verwilderten Garten.

„Zeit damit anzufangen. Das ist alles was ich im Moment für dich tun kann, alter grauer, müder Bär. Du sollst dein Haus in einem tadellosen Zustand vorfinden, wenn du heimkehrst.

Ja, wenn du jemals wieder kommst, von wo auch immer und wenn es der Himmel sei.“

Elena öffnete ein Fenster, steckte den Kopf hinaus und inhalierte die frische, saubere Waldluft.

Welche Schritte wären wohl als unbedingt von Nöten? Sie konnte sich gut vorstellen selber Hand anzulegen. Gartenarbeit machte ihr noch immer Spaß. Doch würde sie kaum die Zeit dafür aufbringen, zudem musste sie damit rechnen das Madleen Zeder und Mordio schrie sollte sie davon erfahren.

Nein, dafür gab es genügend andere. Die Volontäre, die in wöchentlichen Schüben aus dem Ausland in Akratasien eintrafen um freiwillige Arbeit zu leisten, wollten beschäftigt werden. Elena würde einige anfordern, um sie hier einzusetzen. Die konnten sogar das Haus bewohnen, natürlich mit der Auflage es jederzeit zu räumen, sollte Neidhardt unversehens wiederkehren.

 

Den Rest des Tages verbrachte die Kanzlerin mit einer Wanderung durch die Umgegend. Die Landschaft hier war hügelig, teils sogar eben, also von anderer Art als jene Bergformation welche die Abtei umschloss. Akratasien bot große Gegensätze auf seinem kleinen Territorium.

Schritt für Schritt, dabei ihren Geist mit der Unendlichkeit vereinen. Tiefer dringen, weiter voranschreiten in das Mysterium, dass sie zu ergründen gedachte.

Stille, Einkehr, umflutet von einer unverfälschten Wirklichkeit jenseits von Raum und Zeit.

Immer wieder machte sie Halt, dabei nach allen Seiten um blickend. Kein Mensch zu sehen. Sie war allein und doch wieder nicht, denn die Security-Leute waren stets in Rufweite, auch hier draußen.

Die Stille war seit je her eine wichtige Verbündete für alle Menschen die in einem Zwiespalt gefangen waren. Wenn der Kummer am Herzen nagt oder es gar zu zerreißen droht, kann der Mensch Heilung in der Stille der Berge, Felder und Wälder finden oder dem schlichten beschwichtigenden Rhythmus der Wellen lauschen. Langsamkeit und Stille ergreifen allmählich Besitz von der Seele. Der Atem vertieft sich, das Herz schlägt ruhiger, das Verlangen wird besänftigt. Ist der Mensch dann wieder von heiterer Gelassenheit erfüllt, eröffnen sich neue Perspektiven und es besteht die Möglichkeit, dass die Probleme wie eine Aufforderung zu neuen Wachstum erscheinen.

 

Am Abend ließ sich Elena auf der Veranda nieder um den Sonnenuntergang zu genießen. Eine Zeit erfüllt mit besonderen mystischen Erfahrungen.

Die Abenddämmerung stellt eine faszinierende Schwelle dar, denn dies ist der Moment, wo endgültig das Licht erlischt und Dunkelheit die Welt umfängt. Ein Grenzbereich voller Spannung; Anfang und Ende zugleich, Ursprung und Vollendung in einem.

Hier trafen zwei entgegen gesetzte Kräfte aufeinander und ließen eine lebendige Grenze voller Gefahren und Möglichkeiten entstehen.

Elena erkannte die Kraft jenes Augenblickes und atmete dessen Energie tief in ihr Inneres Selbst. Trotz der alltäglichen Anfechtungen, die sie auch hier draußen nie wirklich loslassen konnte, wurde sie von einer tiefen Zufriedenheit erfüllt. Eine der größten Kostbarkeiten  auf der Welt ist und bleibt ein zufriedenes Herz. Doch um das zu erreichen bedurfte es eines langen Atems. Wäre Elena imstande ,ihrer Seele die nötige Zeit zu schenken, würde sie auch ihre dunkle, leuchtende Tiefe begreifen. Gelang ihr das nicht, würde sie eine Fremde in ihrem eigenen Leben bleiben.

Nach diesem Mystischen Erlebnis zog sie sich in das Gartenhaus zurück, kochte sich eine Kleinigkeit von dem Proviant den sie mitgebracht hatte, aß und säuberte im Anschluss das Geschirr. Die Tatsache dass sie Kanzlerin war spielte dabei keine Rolle.

Schnell noch unter die Dusche, dann ins Bett. Sie hatte sich ein Buch zum Lesen mitgenommen, doch nach wenigen Seiten fielen ihr die Augen zu. Schlafen, nur noch schlafen. Sie fühlte sich rund um ausgeglichen, mit sich und der Welt die sie umgab.

Die Sicherheitsleute nächtigen derweil im Wachhäuschen am anderen Ende der kleinen Gasse die direkt in den Wald führte. Für ihren Schutz war gesorgt, ein kleiner Klick auf ihrem Handy und schon konnte sie über die Leute verfügen. So lebt nun mal ein privilegierter Mensch . Sie war es, noch immer oder schon wieder? Eine Amtsperson, etwas, das es in der Akratie eigentlich nicht geben sollte. Noch aber hatten sie keine und Elena konnte ihren Status ohne Gewissensbisse genießen,

Es war Neidhardts Schlafgemach, jenes Zimmer, das sie in der schicksalhaften Nacht aufsuchte um den Diktator zu erlösen. Diese Tat hatte eine Lawine ins Rollen gebracht, ein Dominoeffekt, mit weit reichenden Folgen auch für sie selbst. Damals war sie sich der Tragweite ihres Tuns noch völlig unbewusst.

Würde sie anders handeln, wäre sie imstande die Zeit zurück zu drehen? Kaum! Denn eine Alternative gab es nicht.

 

Wie ein Stein schlief die müde Kanzlerin in dieser Nacht. Als der Wecker ihren Schlaf beendete, kündigte sich bereits der Morgen an. Was würde er bringen? Sie hatte keine Ahnung. Einen festen Plan gab es nicht. Im Grunde wusste sie nicht einmal wie sie den vor ihr liegenden  jungen Tag zu nutzen gedachte.  

Sich einfach treiben lassen, das schien ihr im Moment noch die günstigste Lösung.

Das Frühstück war schnell bereitet, dann lies sie sich lange Zeit es zu genießen. Es bestand kein Grund zur Eile. Spazieren gehen, weiter in ihrem Buch lesen, oder sich den Aktenberg vorlegen den sie mitgenommen hatte um ihn notfalls zu studieren, sollte sich so etwas wie Langeweile einschleichen? Ein Zustand der der viel beschäftigten Elena in den zurückliegenden Jahren völlig abhanden gekommen war.

Letztem wollte sie widerstehen. Sie hatte frei und war mit der Absicht hier her gekommen sich zu erholen.

Doch schon beim Geschirr spülen schlichen sich die Zweifel ein. Das konnte nicht funktionieren. Elena war nicht imstande sich dem Müßiggang zu überlassen. Sie war und blieb ein Workaholic, eine Tatsache, die sich nicht verbergen ließ. Spätestens am Nachmittag würde sie einen heftigen Drang verspüren etwas zu tun, etwas das Sinn machte und von Nutzen war.

Also doch die Arbeitskluft überstreifen und den Rasen mähen? Sie konnte es nicht ertragen den einst so penibel gepflegten Garten in diesem bedauernswerten Zustand zu sehen.

Schnell verwarf sie den Gedanken. Die Sicherheitsleute würden aus allen Wolken fallen, sollten sie die akratasische Kanzlerin tatsächlich im Arbeitsoverall hantieren sehen.

Guter Rat war teuer.

Sie erinnerte sich, dass sie die Mailbox ihres Handys schon seit gestern nachmittag nicht mehr abgehört hatte. Blicke möglichst selten auf das Display, hatte ihr Madleen noch beim Abschied eingeschärft. Ihr Urlaub sollte vollständig sein.

Doch kaum hatte sie die Nachrichtenbox geöffnet fuhr ihr der Schrecken in die Knochen.

Betüls Hilferuf ließ sie zittern.

„Komm schnell! Colette hatte eine Unfall und braucht dich!“

Die weiteren Nachrichten entschwanden ihrem Blickfeld. Schnell drückte sie Betüls Nummer, die meldete sich zum Glück sofort.

Elena erfuhr dass Akratasiens Königen schwer gestürzt sei und über starke Schmerzen klagte.

„Ich breche umgehend auf! Ich könnte noch vor dem Mittag bei euch sein wenn ich mich beeile! Mach dir keine Gedanken! Es wird alles gut!“

Im Anschluss informierte sie die Security und gab die nötigen Anweisungen. Einer der Sicherheitsleute sollte ihren Landrover zurück nach Anarchonopolis fahren, sie übergab die Schlüssel.

Stattdessen würde sie sich mit einem Helikopter in die Abtei fliegen lassen. Die Flugbereitschaft stand ihr jederzeit zur Verfügung.

Elena wollte so bald als möglich bei Colette sein. In Windeseile packte sie ihre Sachen und war startbereit.

Im Prinzip war sie nicht böse um die Tatsache  schnell von diesem Ort zu verschwinden, wenn auch der Anlass berechtigten Grund zur Sorge bot. Somit wurde ihr wieder einmal mehr die Entscheidung abgenommen. Neidhardts Garten musste sich noch eine Weile gedulden. Aber nachdem sie Colette versorgt hatte, gedachte sie wie beabsichtigt, einige Volontäre hierher zu beordern um sich des Gartens anzunehmen.

Elenas Herz klopfte und ihr Puls raste. Was war mit Colette? Ein Unfall? Wie konnte das geschehen? Hatten die Schwestern ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt?

Andererseits waren Vorwürfe überflüssig. Immerhin war Colette weder ein kleines Kind, noch eine Tattergreisin die beständig der Aufsicht bedurfte. Trotz ihrer zahlreichen Leiden stand sie noch immer in mitten des Lebens.

 

Was war geschehen? Zu diesem Zweck galt es die Zeit um etwa 24 Stunden zurück zudrehen:

 

Zur gleichen Zeit als sich Elena zum Ausflug rüstete, begann der Tag für Colette zunächst ganz positiv.

Wie immer widmete sie sich nach dem Frühstück ausgiebig ihrer Tochter Aischa, während Betül einige kleine Besorgungen tätigte.

Flach auf dem Fußboden liegend knuddelte Akratasiens Königin die Tochter, die sich in den zurückliegenden Monaten prächtig entwickelt hatte.

Mehrfach hob Colette die Kleine in die Höhe, die dabei vor Begeisterung wie wild mit den Ärmchen und Beinchen ruderte. Voller Genugtuung betrachte die Königin ihre Prinzessin und konnte sich gar nicht genug an dem Anblick ergötzen. Dann legte sie das kleine Wesen auf ihre Brust. Aischa genoss die Wärme und schmiegte sich eng an ihre Mama Colette.

Nachdem Betül wieder erschienen war nahm, sie die Kleine an sich, was diese nur unter heftigen Protest geschehen ließ. In Anschluss half sie Colette auf die Beine in dem sie diese an den Händen griff und mit einem geschickten Ruck nach oben zog.

„Geht es? Oder hast du Schmerzen?“

„Alles in Ordnung! Wenn ich euch beide um mich habe ertrage ich alles!“ Erwiderte die Königin voller innerer Zufriedenheit und Ruhe.

„Ich mache mich dann mal auf den Weg zur Bibliothek. Es gibt eine ganze Menge zu studieren heute. Ich denke, dass ich den Vormittag über dort bleibe.“ Fuhr sie fort.

„Gut, dann gebe ich Lukas Nachricht. Der soll sich in deine Nähe begeben.“ Schlug Betül vor.

„Ach, das ist unnötig. Ich bin doch nur eine Etage oberhalb. Ich war die letzten Wochen des Öfteren dort und nichts ist geschehen. Außerdem haben wir ja den Sprechfunk, so dass ich mich jederzeit melden kann, sollte ich wirklich der Hilfe bedürfen.“ Lehnte Colette ab.

„Na, ich weiß nicht ob ich dir zustimmen soll. Ich kann verstehen, dass es dir langsam auf die Nerven geht. Aber die Leute befinden sich doch in einer gewissen Distanz zu dir. Lukas arbeitet heute eh hier auf der Etage, mit einigen anderen tapeziert er eines der Gästezimmer.“

Entgegnete Betül.

„Und da sollten wir ihn auch lassen. Alles in Ordnung. Es geht mir gut! Gerade heute fühle ich mich seit langem mal wieder zufrieden und gestärkt.“

„Na wenn du meinst!“

„Ich meine!“ Die Königin küsste ihre Frau, dann entschwand sie schon in den Weiten des großen, weitläufigen Korridors.

In der Tat hatte sich Colette in letzter Zeit häufig in die zauberhaft ausgestatteten Bibliothek zurückgezogen. Große Teile des Tages brachte sie dort zu. Der Raum garantierte die nötige Stille und Abgeschiedenheit derer sie bedurfte. Die rustikale Atmosphäre wirkte sich auf eine sehr angenehme Weise auf ihre Seele aus.

Die Bücherei befand sich im Nordwestflügel des Konventsgebäudes.

Die barocke Ausstattung war ein Kleinod besonderer Art. Ein Blickfang ,der eine geradezu mystische Aura ausstrahlte. Die konnte es ohne weiteres mit anderen bedeutenden Klosterbibliotheken, etwa jener der Abtei von St. Gallen, aufnehmen.

Zu Recht war ganz Anarchonopolis stolz auf dieses Refugium.

Etwa 80% der Einrichtung befanden sich im Originalzustand. Lediglich einen kleinen Teil hatten die Schwestern umgestaltet um dort Kovacs umfangreiche Büchersammlung unterzubringen. Die schien sich prächtig in das mondäne Ambiente einzufügen.

Es handelte sich dabei um eine so genannte Galeriebibliothek. Auf dem aus Tannholz bestehenden Fußboden befanden sich vier wuchtige Tische aus massivem Eichenholz, fast ständig mit verschiedenen Bänden belegt. Des Weiteren ein alter barocker Globus von etwa einem Meter Durchmesser, sowie ein prächtig geschnitztes Stehpult. Elegante hölzerne Geländer durchzogen den ganzen Raum. In der Mitte führte eine gusseiserne Wendeltreppe auf die beiden oberen Etagen. Die übervollen Wandregale beherbergten teils Jahrhunderte alte Bücher.

In bestimmten Abständen durchbrachen kleine Fensternischen die Regale.

Auch die oberen Etagen waren mit zahlreichen kleineren Tischen, Sitzgelegenheiten und modernen Tischleuchten ausgestattet. Hölzerne Leitern gestatteten es auch an die oberen Fächer zu gelangen. 

Die Decke war mit zahlreichen kunstvollen Stukkaturen und Gewölbebildern ausgemalt.

Die Zeit schien still zu stehen. Der Betrachter fühlte sich auf Anhieb in ein früheres Jahrhundert versetzt. Colette wähnte sich als Wanderin zwischen den Zeitepochen.

Zielgerichtet steuerte sie ihren Lieblingsplatz auf der ersten Galerie an, einen kleinen Schreibtisch in einer Fensternische. Der Blick viel dabei direkt auf das Grauhaargebirge mit seinen majestätischen Gipfeln.

Hier ließ es sich auf besondere Art forschen.

Sie verschlang alles was ihr in die Hände geriet. Bei den jüngeren Bänden war es relativ einfach, sich mit Wissen an zu reichern. Bei den Uralt- Werken ließ sie Vorsicht walten. Die kostbaren Textsammlungen bedurften besonderer Handhabung. Schon deren Berührung   verlangte nach einer akribischen Vorgehensweise. So durften einige nur mit Spezialhandschuhen berührt werden. Zudem waren sie äußerst schwer zu entschlüsseln, die Schreibweise, Ausdruck und Redewendungen und nicht zuletzt der Zahn der Zeit machten die Sache zum Teil sehr kompliziert. Zudem durfte sich Colette aufgrund ihrer angeschlagenen Gesundheit nicht überanstrengen und musste häufig größere Pausen einlegen.

Betül hatte ihr immer wieder eingeschärft nicht auf die Leiter zu steigen, wenn sie nach einem Buch aus den oberen Regalen verlangte, stattdessen sich mittels Haustelefon bemerkbar zu machen, bei ihr oder einem anderen.

Colette stimmte dem zu, hatte aber bisher noch nie Gebrauch davon gemacht und sich entsprechend selbst versorgt. Es kam ihr einfach albern vor, schließlich war sie keine Tattergreisin.

Bisher war es gut gegangen. Bis jetzt, bis zu diesem Morgen, der so vielversprechend begann.

Das Büchlein, dass sie zu erreichen gedachte, befand sich  in einer Nische. Weit musste sich die Königin strecken um dessen habhaft zu werden. Einmal, zweimal beim dritten Mal spürte sie einen stechenden, furchtbaren Schmerz in ihrer Lendengegend. Der kostbare Band, den sie noch greifen konnte viel ihr aus der Hand, die ihr plötzlich ohne Gefühl vorkam. Dann stürzte sie laut schreiend von der Leiter. Zum Glück landete sie auf der schmalen Empore und nicht auf dem Geländer, das, bei ihrem Gewicht mit Sicherheit nachgegeben hätte.

Nach Luft ringend, gelang es ihr nur mit Mühe sich zu sammeln. Sie versuchte aufzustehen, rutsche aber sogleich wieder in sich zusammen, zu groß waren die Schmerzen.

Hatte sie sich etwas gebrochen?

„Betül, hilf mir!“ gelang ihr mit zerbrechlich klingender Stimme ein Hilferuf. Doch ihre Frau würde sie hier nicht hören können.

Warum nur hatte sie deren Rat nicht befolgt? Jetzt wurde sie für ihre Eigenmächtigkeit bestraft.

Verzweifelt schlug sie mit der Faust auf den Holzfußboden.

„Betül!“ Rief sie ein weiteres Mal den Namen der Gefährtin.

Doch es war sinnlos. Sie musste das Haustelefon erreichen, dass in etwa 10 m Entfernung an der Wand befestigt war.

Unter Aufbringung ihrer letzten Kraftreserven robbte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht den Boden entlang. Langsam, Stück für Stück ,gleichsam in Zeitlupe. 

Immer wieder pausierend um sich nicht zu überanstrengen.

Endlich am Ziel. Doch welch ein Schreck. Der Apparat befand sich in etwa einem Meter Höhe über ihr. Wie in aller Welt sollte sie den erreichen? Es war unmöglich sich aufzurichten. Doch dass würde sie tun müssen, um den Hörer abzunehmen. Warum nur hatte sie ihr Handy nicht dabei? Manchmal funktionierten die Dinger nicht, wenn man sie innerhalb des Konventsgebäudes benutzte. 

Insgesamt 10 Anläufe benötigte Colette bis es ihr unter unsagbaren Schmerzen gelang den Hörer zu greifen. Ein modernes Gerät zwar aber eben mit Hörer.

Die Angst niemanden zu erreichen senkte sich bleischwer auf die Seele. Doch dann vernahm sie Betüls erlösende Stimme.

„Hilf mir Betül! Es ist geschehen! Ich bin von der Leiter gestürzt.“

Ohne ein Wort er Erwiderung setze sich die besorgte Geliebte sogleich in Bewegung. Nur wenige Augenblicke später stürmte sie in den Bibliothekssaal.

Ihr war Colettes bevorzugter Platz bekannt, so dass sie nicht erst durch rufen auf sich aufmerksam machen musste.

Auf der Empore angekommen sah sie ihre Anvertraute am Boden liegen.

„Meine Königin!“

Sie stürmte zu Colette und versuchte sie auf zu richten. Doch es gelang ihr nicht. Akratasiens Königin schrie vor Schmerz bei dem Versuch.

Sanft bettete die junge Gefährtin deren Kopf in ihrem Schoß.

„Colette, meine liebe. Große Schmerzen? Glaubst du dass du aufstehen kannst?“

„Ich habe es versucht, aber es geht nicht. Der Schmerz drückt mich gleich wieder zu Boden. Ich weiß nicht was es ist. Ich wollte ein Buch aus der oberen Reihe nehmen. Es war so als würde  mir jemand eine Speerspitze in den Lendenwirbel jagen. Ich stürzte von der Leiter.“ Berichtete Colette, dabei heftig nach Luft ringend.

„Ich versuche dich aufzurichten. Pass auf, wir gehen ganz langsam vor. Stück für Stück. Wenn es weh tut meldest du dich sofort.“

Doch die Versuche brachten nichts. Nichts als Schmerzen. Betül besaß viel Kraft. Ihr athletischer Körper konnte so manche Last stemmen, doch bei der fast 90 kg schweren Königin, versagten ihre Kräfte. Da mussten Helfer ran.

„Wir schaffen es nicht, meine Königin. Ich hole Hilfe. Manchmal geht es eben nicht ohne starke Männerhände. Bleib ganz ruhig liegen. Ich bin sofort wieder bei dir.“

Alle Sitzgelegenheiten auf der Galerie waren mit weinroten Kissen belegt. Betül suchte einigen zusammen und baute eine Stütze auf deren Oberfläche sie Colettes Kopf legte.

Dann stürmte sie nach draußen.   

„Lukas! Luuuuuukaaaaas!“

Die Treppe hinunter, den Korridor entlang bis sie fündig wurde. Der Gerufene kam ihr bereits entgegen.

„Komm schnell! Colette hatte einen Unfall. Sie braucht deine starken Arme und Hände. Wir müssen sie von der Bibliothek in unsere Wohnung bringen.

Lukas lief ein paar Meter zurück und rief in das Zimmer das er mit zwei anderen renovierte.

„Hey, kommt alle mit! Schnell! Wir müssen Colette helfen!“

Die beiden anderen gehorchten wortlos und folgten.

Schnell gelangten sie zur Bibliothek.

„Tritt beiseite Betül. Wir machen das schon. Kommt, wir versuchen es zu dritt. Ich greife ihr unter die Arme, ihr werdet sie an den Bein fassen.“

Lukas starke Arme schlossen sich sanft um Colettes Brust.

„Du bist immer zur Stelle mir unter die Arme zu greifen. Immer dann, wenn ich deiner Hilfe am nötigsten bedarf.“Flüsterte Colette in Lukas Ohr.

„Na das will ich doch meinen. Es ist meine Aufgabe, dich auf meinen starken Armen zu tragen. Auch wenn du zugegeben, ein wenig schwer geraten bist.“

Der Scherz lockerte Colette Gemüt ein wenig auf.

Vorsichtig, ganz vorsichtig trugen die drei Männer Akratasiens Königin in deren Schlafgemach und platzierten sie auf dem großen weichen Doppelbett, das sie in der Nacht mit Betül teilte.

„Ihr zwei könnte gehen. Macht schon mal ohne mich weiter. Ich komme später. Ich weiß nicht, ob ich hier noch gebraucht werde.“ Meinte Lukas seinen beiden Begleitern zugewandt, die umgehend das königliche Schlafzimmer verließen.

„Du wirst gebraucht, Lukas. Ich brauche dich, ebenso wie dich meine Geliebte.“ Colette griff nach Betüls Hand und drückte diese fest.

„Dein Griff ist fest, meine Königin. Ein gutes Zeichen. Du scheinst dich in der Lendenwirbelgegend nicht verletzt zu haben.

Wir brauchen einen Arzt. Elena ist nicht da, ausgerechnet jetzt. Da müssen wir einen anderen zu Rate ziehen.“

„Nein, ich möchte Elena. Elena und keine anderen. Dann muss ich eben warten bis sie wieder hier ist.“ Lehnte Colette ab.

„Aber sie hat sich ein paar Tage frei genommen und wollte ausfahren. Gut, dann müssen wir sie zurückbeordern.“ Betül griff nach ihrem Handy und drückte Elenas Nummer.

„Hmm, derzeit nicht erreichbar. Ich kann ihr nur eine Nachricht hinterlassen. Wir haben sie alle darin bestärkt, das Gerät nicht ständig bei sich zu tragen. Sie sollte ihren Urlaub genießen. Wir können nur hoffen dass sie unseren Rat nicht zu genau nimmt.“

„Ich werde warten, dem Schmerz zum Trotz. Ich bedaure es auch, Elena aus ihrem Urlaub rufen zu müssen. Aber ich kann diesen Schmerz nur mit meiner kleinen Schwester teilen.“

Colette Kopf triefte vor Schweiß. Sanft begann Betül diesen mit einem Handtuch zu trocknen. Die Königin ballte vor Schmerz die Fäuste und atmete hastig wie ein Hund.

Der sonst so coole und stets zu Scherzen aufgelegte Lukas stand daneben und musste mit den Tränen kämpfen, so sehr schien ihn diese Szene zu belasten.

Betül streckte sich an der Seite der Gefährtin aus und schlang ihre Arme um deren Oberkörper spendete ihr Wärme und Liebe.

Nach einiger Zeit trafen auch noch andere ein. Kim, Eve, Valeria, Kristin, sowie Denise. Bei letzterer handelte es sich um eine Volontärin aus der Schweiz, mit einem herrlichen schweizerdeutschen Dialekt, hübschen Gesicht und einem etwas punkmäßigen Outfit. Körperlich zu 100% weiblich, doch was ihr soziales Geschlecht betraf, wollte sie sich nicht festlegen. Non-Binary, genderqueer oder wie auch immer. Man durfte sie mit männlichen oder weiblichen Pronomen anreden. Es versteht sich von selbst, dass sie sich zu Leuten wie Kim, Eve oder Kyra im Besonderen hingezogen fühlte. Monatelang hatte sie von ihrer Heimat aus immer wieder um Aufnahme in die Gemeinschaft nachgesucht, wurde aber stets abgelehnt, mit der nicht von der Hand zu weisenden Begründung der begrenzten Aufnahmekapazität. Doch ihre Hartnäckigkeit hinterließ einen nachhaltigen Eindruck und sollte sich auszahlen. Schließlich akzeptierte die von Luisa geleitete Aufnahmebehörde ihre Bitte.

Als Lohn für ihre Ausdauer und Geduld wurde ihr eine Stelle direkt im Konventsgebäude, also dem „Inneren Kreis“ angeboten, die sie natürlich voller Begeisterung akzeptierte.

Nun durfte sie in der unmittelbaren Umgebung all jener verehrten und umschwärmten Amazonen leben, die ihr bisher nur aus dem Fernsehen, der Zeitung oder dem Internet bekannt waren.

Schon wartete die erste Bewährungsprobe. Denise sollte sich neben Kim in Colettes Haushalt nützlich machen. Von einem Hofstaat wollte niemand sprechen, doch alles deutete darauf hin, dass so etwas im Entstehen war und mit der angestrebten Akratie in Einklang gebracht werden musste. 

Dass sich Denise um eine kranke Colette zu kümmern hatte und damit in einen intimen Kontakt zu Akratasiens Königin trat, konnte sie nicht ahnen.

Wenig später traf auch noch Madleen ein.

Die Schwestern gruppierten sich in einem Kreis um Colettes Lager und taten was die Töchter der Freiheit immer taten, wenn eine von ihnen leiden musste. Sie begannen die von Schmerzen gepeinigte Königin und Schwester zu streicheln und zu liebkosen. Auch Denise beteiligte sich daran, vor Aufregung kaum imstande zu sprechen.

Lukas stand noch immer etwas außerhalb, doch dann ließ er sich am Fußende nieder, griff nach Colettes Füßen und begann diese mit viel Fingerspitzengefühl zu massieren.

Betül hatte sich am Kopfende im Schneidersitz postiert und bettete den Kopf der Königin in ihrem Schoß, dabei sanft die Wangen streichelnd und wenn nötig,  die Stirn vom kalten Schweiß zu befreien.

Die Szenerie erinnerte an jenes bedeutende Ritual vor langer Zeit, als ein Teil der Schwestern

mit Elena an der Spitze, durch ihre zärtlichen Berührungen dafür sorgten, dass Colette vom hässlichen Entlein zum stolzen Schwan mutierte. In der betreffenden Nachte hatten sie die zukünftige Königin geformt.

Langsam schien Colette sich zu beruhigen, die Berührungen taten ihr gut und aktivierten die Selbstheilung, doch es reichte nicht für eine vollständige Genesung, hier konnte nur die große Meisterin helfen, deren Eintreffen alle voller Sehnsucht entgegenfieberten.

„Betül, mein liebe, meine wunderschöne Gefährtin. Denke immer daran, alles hat einen Sinn, nichts geschieht durch Zufall in der Welt. Wir dürfen niemals aufhören im Negativen das Positive zu erkennen und umgedreht. Wer zu dieser Erkenntnis erlangt, hat die Welt mit all ihren Fallstricken überwunden und steht über den Dingen. Auch mein Unfall hat irgendeine Bedeutung. Er soll mich auf etwas hinweisen, soll etwas zustande bringen, dass schon lange seiner Erfüllung harrt.“

Colette griff nach der Hand der Geliebten und drückte diese fest.

Warten, ein langes und banges Warten auf Elena. Wann würde sie endlich eintreffen und Abhilfe zu schaffen? Wieder einmal offenbarte es sich auf tragische Weise, dass die Gemeinschaft noch weit von ihrem Ideal entfernt war. Ohne die Leitfigur kamen sich alle wie Waisenkinder vor.

 

Endlich, im Laufe des frühen Nachmittags traf die Kanzlerin ein und bewegte sich eiligen Schrittes in Richtung Konventsgebäude, am Eingang schon von Betül erwartet.

„Ihr habt wirklich keinen anderen Arzt zu Rate gezogen? Das war nicht gut Betül. Hier in Anarchonopolis gibt es mindestens ein Dutzend weitere Ärzte. Gute Ärzte. Colette hätte umgehend behandelt werden müssen, von wem ist doch völlig egal. Warum habt ihr Kurt nicht verständigt?“

„Sie wollte dich! Nur dich! Du kennst sie doch! Du weißt welch Sturkopf sie sein kann.

Ich muss diesen Schmerz mit meiner kleinen Schwester teilen, mit ihr und nur mit ihr. So ihre Worte“

„Ja, das ist Colette! Na, da will ich nur hoffen das die Verzögerung keine bösen Folgen hat.“

Schließlich trat Elena in das Schlafgemach. In ihren Mundwinkeln bildete sich ihr typisches sanftes Lächeln, bei dessen Anblick ein Teil von Colettes Schmerz zu weichen begann.

„Was machst du denn für Sachen, meine Große?“ Begrüßte Elena die Königin mit zarter leiser Flüsterstimme. Dann beugte sie sich über  die Leidende und verabreichte ihr den fünffachen Schwesternkuss. Auf die Stirn, das rechte Auge, das linke Auge, auf die Nase und schließlich auf dem Mund. Wobei sie sich viel Zeit nahm. Schließlich ließ sich Elena auf der Bettkante nieder.

„Große Schmerzen?“

Colette bejahte indem sie mit leicht mit dem Kopf nickte.

„Ständig oder nur wenn du dich bewegst?“

„Wenn ich liege ist es auszuhalten. Versuche ich hingegen mich aufzurichten ist es schlimm.“

„Ich muss versuchen dich auf den Bauch zu drehen, damit ich deinen Rücken betasten kann.

Betül, hilf mir dabei! Keine Sorge wir sind so vorsichtig wie nur irgend möglich.“

Langsam, ganz vorsichtig drehten sie den Körper der Königin auf den Rücken. Colette verzog das Gesicht zu einer verzerrten Fratze, doch es kam kein Schmerzenslaut über ihre Lippen.

Elenas Hände glitten sanft über Colettes nackten Rücken. Die Wärme der Berührung tat ihr gut und sie stöhnte leicht auf.

Langsam ertastet die erfahren Ärztin die besonders schmerzenden Stellen.

„Da können wir im Moment nicht viel unternehmen. Zunächst verabreiche ich dir eine Spritze gegen die Schmerzen. Dann wird es besser. Was du vor allem brauchst ist sehr viel Ruhe. Du muss die nächsten Tag im Bett verbringen, am besten ruhig auf dem Rücken liegend.“

Elena bereitet die Injektion vor, dann verabreichte sie die der Königin. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Die Krämpfe begannen sich zu lösen und Colette wirkte entspannter und zufrieden.

„Ich muss mal schnell nach Aischa sehen! Ich habe sie bei der Aufregung ganz vernachlässigt!“ Erinnerte sich Betül. „Macht es dir etwas aus wenn ich mich eine Weile entferne, meine Königin?“

„Nein, das ist richtig! Kümmere dich um unsere Tochter! Ich befinde mich in sicheren Händen!“ Stimmte Colette zu.

Betül entfernte sich.

„Es tut mir leid dass ich dich aus deinem Urlaub zurückrufen ließ. Aber du holst ihn nach sobald alles wieder in Ordnung ist?“

„Mach dir darüber keine Gedanken. Ist schon in Ordnung so. Ich war ohnehin am Überlegen vorzeitig zurück zu kehren. Neidhardts Garten weckte die Traurigkeit in mir. Die Traurigkeit über einen großen Verlust.“ Antwortete Elena.

„Du liebst ihn noch immer?“

„Ja! Ich kann ihn einfach nicht vergessen. Das macht die Sache so kompliziert.“

„Mein armes Mädchen. Du hast so viel am Hals und nun drückt dich auch noch der Liebeskummer.“ 

„Ach, es geht dabei gar nicht um mich. Ich bin ausgezeichnet versorgt mit meiner Frau Madleen, meiner Tessa, du und die vielen anderen Schwestern die mir eine Familie sind. Er ist es, um den ich mich sorge. Wo lebt er? Wie lebt er? Ganz allein, ohne einen lieben Menschen an seiner Seite.“

„Mach dir keine Vorwürfe. Er hat es so gewollt. Er ging aus freien Stücken weg!“

„Ja und er nahm mir dadurch die Entscheidung. Es wäre sicher verhängnisvoll geworden, zwischen ihn und Madleen zu entscheiden. Auf diese Weise kann ich mich voll und ganz auf die Frau an meiner Seite einstellen. Trotzdem ist es traurig. Aber wir wollen nicht mehr davon sprechen. Es ist wie es ist. Die Pforte zur Abtei steht offen. Wenn er will kann er sie jederzeit durchschreiten.“

Elena lenkte vom Thema ab. Es war ihr offensichtlich unangenehm weiter darüber zu reden und Colette akzeptierte das.

„Wir müssen jetzt abwarten wie es mit dir wird. Die nächsten Tage werden die Frage beantworten. Du musst ruhig liegen und dich so wenig wie möglich bewegen.“

„Das wird hart! Ich hoffe, dass ich schlafen kann. Du weißt doch das ich auf der Seite schlafe, mit angezogenen Beinen.“ Klagte Colette.

„Es kann schnell zu einer Besserung kommen, es kann aber auch länger dauern. Ich weiß es nicht. Wir können nur warten. Wenn es besser wird und du dich wieder leichter bewegen kannst, könnte ich den therapeutischen Beischlaf mit dir praktizieren um die Heilung zu beschleunigen. Aber das musst du entscheiden. Wenn dir der Zeitpunkt günstig erscheint werde ich für dich bereit sein.“

„Ich denke das kommt darauf an ob du es zeitlich ein zurichten vermagst.“

„Für dich habe ich immer Zeit. Deine Gesundheit geht vor. Außerdem haben wir ein Regierungskollektiv. Mein Vize wird mich gut vertreten.“

„Glaubst du, dass du Dagobert vertrauen kannst?“

„Ich denke schon. Es besteht kein Grund an seiner Loyalität zu zweifeln. Manchmal sind es die Falken mit denen man am besten kooperieren kann. Und da gibt es noch viele andere. Ronald, Folko, Lars alle mit Führungsqualitäten. Von unseren Schwestern ganz zu schweigen.

Gabriela, Alexandra, Chantal, ich kann sie gar nicht alle aufzählen die mich gut ersetzen können. Madleen hat sich hervorragend in der Verwaltung der Abtei bewährt und führt den Haushalt. Und die viele freiwilligen Helfer und Helferinnen. Ich weiß unser Werk in guten Händen. Ich bin frei mich dir zu widmen, etwas das ich schon lange hätte tun sollen.“ Versuchte Elena Colettes Zweifel zu zerstreuen.

„Mach dir aber meinetwegen nicht zu viele Gedanken.  So manches schon hatte ich zu verkraften in meinem Leben. Ich werde auch diese Krise überstehen.“

Elena blieb noch eine Weile und massierte mit vorsichtigen Bewegungen den Leib der kranken Königin.

Als diese sanft in einen leichten Schlummer glitt, entfernte sich die Kanzlerin unbemerkt aus dem Schlafgemach.

 

In den Folgetagen stagnierte Colettes Gesundheitszustand. Es wurde nicht schlimmer aber auch nicht besser. Aus dem ganzen Lande trafen Genesungswünsche in der Abtei ein und viele Persönlichkeiten aus dem Ausland ließen ihre Anteilnahme erkennen. 

Wer es einrichten konnte machte der Königin persönlich eine Aufwartung. Die Schwestern erschienen nacheinander und sorgten dafür dass sich Colette niemals wirklich allein fühlen musste. Selbst Dagmar, die große Kritikerin der anarchistischen Monarchie erschien wie selbstverständlich, verharrte lange am Krankenlager der Königin, hielt deren Hand und beschenkte sie mit einer Tafel ihrer Lieblingsschokolade.

Nur eine ließ sich entschuldigten. Gabriela konnte es nicht übers Herz bringen, die Königin in diesem Zustand zu sehen. Zu sehr erinnerte deren Schicksal an ihre eigene schwere Krankheit vor geraumer Zeit. Die Erinnerung hatte sich, gleich einem Trauma, tief in ihre Seele gegraben meldete sich immer dann besonders heftig, wenn eine ihr nahe stehende Person unter schweren Schmerzen litt. Colette hatte für diese Reaktion absolutes Verständnis.

 

Mehr noch als die Schmerzen setzte der Königin die Langeweile zu. Sie sehnte sich nach ihrer die Bibliothek um in den alten Büchern zu blättern und an ihren Texten zu arbeiten.

Auch ihre geliebte Eremo musste warten, die dortige Stille und Abgeschiedenheit fehlten ihr sehr.

 

Eines Tages ließ sie Elena die vereinbarte Nachricht zukommen, sie war bereit für den therapeutischen Beischlaf.

Inzwischen war es Oktober, die ersten Herbststürme peitschen mit großer Wucht über das Land und zwangen die Menschen ihre Aktivitäten im Freien auf ein Minimum zu reduzieren.

Elena erschien am Abend mit allem was sie für diesen rituellen Akt benötigte.

Betül und Madleen waren gemeinsam mit Tessa und Aischa am Krankenlager versammelt, um sich von den beiden in ihrer Art zu verabschieden.

Nach einer Weile zogen sie sich zurück und ließen Königin und Kanzlerin allein.

„Uns steht genügend Zeit zu Verfügung. Ich habe mir den gesamten morgigen Tag frei genommen. Mach dir keine Gedanken.“ Meinte Elena während sie im Begriff war sich ihrer Kleider zu entledigen.

„Ich finde es gut das Betül die Nacht mit Madleen verbringt. Unser Prinzip, das es keine Verlierer oder Abgehängte geben darf bewährt sich immer wieder aufs Neue. Alle sind versorgt. Tessa wacht über Aischa. Glaubst du, dass du deiner Tochter so etwas schon zumuten darfst?“

„Warum denn nicht? Tessa ist inzwischen ein großes Mädchen, für ihr Alter sehr diszipliniert und verständig. Sie hat sich darauf gefreut das kleine Schwesterchen zu betreuen. Und sollte etwas sein, kann sie jederzeit Betül oder Madleen verständigen.“ Erwiderte Elena

Colette klopfte mit der Handfläche auf die Bettdecke.

„Verdammt! Das mir das ausgerechnet jetzt passieren muss. In dieser entscheidenden Zeit. Dabei verliefen die letzten Monate so gut für mich. Andererseits sage ich mir immer wieder, dass auch das Negative eine bestimmte Bedeutung hat, uns in eine Richtung führen will.“

„Das könnte sein!“ Bestätigte Elena. „Ich denke auch, es sollte so sein. Ein Hinweis, auf was auch immer. Wie sagte doch der Philosoph Heidegger so treffend. Erst wenn der Hammer nicht mehr funktioniert, erkennt man plötzlich dass es ein Hammer ist. Wenn etwas gründlich schief läuft, wird man am Grab des Verlustes zwangsläufig mit Erkenntnis konfrontiert.“

„Das hast du schön gesagt, Elena. Wir schaffen uns ein Zuhause, das Leben wird vorhersehbar und wir funktionieren ganz mechanisch innerhalb unseres Systems. Erst wenn etwas schief geht werden wir an den Rand geschleudert. Die vertraute Landschaft löst sich auf und Gebiete die noch vor Stunden sicheres Terrain darstellten, existieren nicht mehr.“

„So ist es! Ohne deinen Unfall lägen wir jetzt nicht hier beisammen und ich denke wir können dieses ursprünglich ausgesprochen negative Geschehen in eine positive Richtung wenden.

Zunächst aber müssen wir uns um deine Gesundheit kümmern.“ Erwiderte Elena  

Dann schlüpfte sie unter die Decke.

„Du allein bestimmst das Tempo, Colette. Ich werde so behutsam wie nur möglich vorgehen. Sobald du Schmerzen empfindest meldest du dich. OK?“   

„Das werde ich tun. Hoffe aber das ich nicht davon Gebrauch machen muss.“

Langsam, gleichsam in Zeitlupe platzierte sich Elena hinter Colette, dann ließ sie deren Körper sanft in ihre Arme gleiten.

Als die Königin die Wärme im Rücken spürte, die von Bauch und Brust der Schwester ausging, stöhnte sie leicht auf, aber nicht aus Schmerz. Eine positive Empfindung. Die Heilung begann sich schon in diesem Augenblick zu entfalten.

Elena betätigte den CD-Player, den sie vorher auf den Nachttisch zu ihrer rechten deponiert hatte. Kurz darauf entströmten diesen sanfte, heilsam Klänge, von ihr eigens für dieses Ritual zusammengestellt.

Halten, einfach nur halten. Colette lehnte ihren Kopf an die Schulter der jüngeren Schwester und gab sich ganz deren zarter Berührung hin. Elena schlang Arme und Beine um den Körper der Königin. Eine ganze Weile verharrten sie so in andächtigem Schweigen.

„Und? Spürst du schon was? Wird es langsam besser?“ Flüsterte Elena in Colettes Ohr.

„Ja! Merklich besser. Deine Wärme tut mir unbeschreiblich gut.“

Zärtlich glitt Elenas Handfläche über den Bauch und die Oberschenkel der Königin.

„Sag mal, möchtest du mit mir auf eine große Reise gehen? Jetzt! In dieser Nacht?“

Colette verwirrte diese Frage.

„Meine Kanzlerin beliebt zu scherzen! Ich glaube kaum, dass ich zum Reisen imstande bin. Ich werde froh sein, wenn ich in den Folgetagen das Klo eigenständig und unter wenig Schmerzen aufsuchen kann. Es ist ausgesprochen unangenehm wenn mir Betül die Ente oder den Schieber reichen muss, ...“

„Ich meine natürlich nicht körperlich“, unterbrach Elena. „Wir werden sicher, bequem und warm hier an dieser Stelle verharren. Nein, unsere Seelen sollen gemeinsam auf Reisen gehen.“

„Träumen? Du meinst wir könnten zusammen auf  Traumreise gehen?“

„Genau das! Fühlst du dich dazu imstande?“

„Hmm! Ja schon! Aber glaubst tatsächlich dass es zwei Menschen vermögen den gleichen Traum zu träumen. Das ist es doch was du damit sagen willst?“ Forschte Colette nach.

„Nun, mit Sicherheit funktioniert das nicht bei allen Menschen. Aber solche die mental  in ausreichendem Maße geschult sind, sollten dazu imstande sein sein. Und wir beide bringen diese Voraussetzung mit. Gute Voraussetzung für ein Gelingen.“ Glaubte Elena zu wissen.

„Lust hätte ich schon! Aber wie könnte das funktionieren? Ich darf mich nicht überanstrengen. Schließlich bin ich froh über die Tatsache, dass die Schmerzen einigermaßen gebannt sind.“ Sorgte sich die Königin.

„Sei ohne Furcht! Überlasse dich ganz meiner Obhut. Wir werden unsere Seelen mit einander verschmelzen. Das haben wir doch schon einige Male getan. Du erinnerst dich doch an die Ereignisse, die ich meine.“

„Ja! Aber das geschah bisher ausschließlich unbewusst, passiv. Es war einfach da. Wir konnten nicht eingreifend wirken.“ Zweifelte Colette.

„Nun werden wir es willentlich einleiten. Eine Garantie für ein Gelingen gibt es freilich nicht, aber schaden kann es ebenfalls nicht. Soviel sei gewiss.“ Beruhigte die Kanzlerin.

„Wie ich schon erwähnte. Wir lassen uns viel, viel Zeit. Die benötigen wir auch. Ruhig atmen, bequem liegen. Verstehst du? Suche dir einen Stellung die dir am besten geeignet scheint. Die Seele vom Unrat des Tages reinigen. Loslassen, bereit, sich auf das Unbekannte einzulassen. Den Zweifel beiseite schieben, den können wir am allerwenigsten gebrauchen.

Mache dich darauf gefasst Welten zu erleben, die dir noch vor wenigen Augenblicken unlogisch und irreal erschienen.

Die richtige Musik wird uns dabei unterstützen. Auf den Schwingen mystischer Klänge reist man um einiges leichter ins Land der Träume.“

Elena stoppte den CD-Player um eine andere CD einzulegen. Die Klänge schienen aus einer fremdartigen Welt.

„Lass dich fallen! Vertrau mir! Langsam werden wir jetzt unser Bewusstsein auf einen gemeinsamen Punkt richten und unsere Seelen mit einander vereinen. Lass dich nicht beirren wenn es am Anfang nicht gleich funktioniert. Womöglich benötigen wir mehrere Anläufe. Zeit spielt im Reich der Schatten kaum eine Rolle. Es kann sein, dass uns das Erlebte im Traum unendlich lang erscheint während tatsächlich nur wenige Minuten verstrichen sind.“

„Keinem Menschen würde ich mein Leben lieber anvertrauen als dir, kleine Schwester. Trage mich fort auf den Schwingen deiner Energie. Ich freue mich, mit dir gemeinsam auf Erkundungsreise zu gehen. Auch ich möchte endlich in Erfahrung bringen, was es mit diesen Visionen und Erscheinungen auf sich hat.“ Entgegnete Colette.

Elenas Blick streifte den Radiowecker. Auf einem Notizblock notierte sie die aktuelle Uhrzeit.

„Nach unserem Erwachen, darf ich nicht vergessen sofort auf den Wecker zu sehen, damit ich

überprüfen kann wie lange wir tatsächlich auf der anderen Seite der Nacht waren.“

Auch ihr Diktiergerät positionierte sie in greifbare Nähe,um nach dem Erwachen dort ihre Erinnerung zu verewigen.

Dann endlich brachten sie sich in Positur. Colette schloss die Augen und überließ sich ganz Elenas Führung.

Beider Atem wurde ruhiger. Schritt für Schritt sank das Bewusstsein in eine andere Dimension. Die musikalische Begleitung lullte sie ein wie in eine weiche Daunendecke.  Balsam für die Herzen und Ohren.

Dann wurde es leiser, immer leiser, bis die Musik langsam aus ihrem Wahrnehmungsbereich entschwand. Der CD-Player war so programmiert, das er sich irgendwann in der Nacht ausschalten sollte, doch davon würden sie nichts mitbekommen.

Immer tiefer zog sie der Sog in eine unbekannte Richtung. Dunkel hüllte sie ein, ein tiefes Dunkel angefüllte mit mystischer Energie. Dunkelheit, das ist die große Leinwand vor der die Schönheit sichtbar wird. Die Dunkelheit widersteht dem Glanz des Augenlichts und vertieft das Mysterium. In den Tiefen der Nacht ruht die dunkele Seite des eigenen Selbst. Der Schatten hat seinen Ursprung in all den negativen Erfahrungen, die ein Mensch angesammelt hat, und es gehört zur inneren Befreiung, dass man seinen verbannten Schatten wieder findet.  Elena und Colette hofften ihre Schatten ausfindig zu machen, sich ihnen zu stellen und die Wirkungen zu erforschen, die er auf beider Leben ausübte.

Dann plötzlich wurden sie mit einem Schlag aus dem Dunkel in helles Licht katapultiert. Weiß, ein unglaublich schönes Weiß umgab sie von allen Seiten. Weiß wird im allgemeinen mit Reinheit und Unschuld assoziiert. Sogleich wurden beide von einem Schwall positiver Energie durchflutet. Ein Akt innerer und äußerer Reinigung. Immer heller, immer intensiver drang das gleißende Licht in ihr Bewusstsein, bis es zu brennen schien.

Mit einem Schlag breitete sich vor den beiden das Weltall aus. Zumindest hatte es den Anschein. Eine unendliche Fülle von Sternen, die aus der Ferne betrachtet, wie Nadelstiche im Mantel der Nacht wirkten. Das ganze Universum tat sich vor ihnen auf und wartete darauf von den Schwestern erobert zu werden. Das Funkeln tausender Edelsteine war nichts im Vergleich zu dem Bild dass sich ihnen  bot.

Bekannte Zeichen und Symbole des Himmels offenbarten sich ihnen und schienen zum Greifen nahe.

Wie eine Rakete starten sie durch, fixiert auf ein Ziel am Horizont. Ein gelbes Feuer brannte dort, weit entfernt in den endlosen Tiefen des Kosmos. Alles irdische Leben hing von diesem gelben Schmelzofen ab. Es schien die beiden bedrohlich in seinen Bann zu ziehen.

Ein Traumbild, so wie alles andere das ihnen hier begegnete. Sie sahen nicht mit ihren organischen Augen, somit konnte ihnen das Sonnenlicht nicht schaden. Ein unglaubliches Gefühl der Erhabenheit und Schönheit, der Sonne auf diese Weise nahe zu sein.

Zu ihrer Rechten erschien ein allzu vertrautes Bild, gleich einem Amethyst, der im Dunkel des Universums schwamm, die Erde. Der blaue Planet des Lebens, die Krönung des Alls.

Noch nie hatten beide die Erde in dieser Formation gesehen. So nah und doch so fern.

Ein Blau das sich kaum in Worten fassen lässt. Blau, die Farbe der Ferne, des Unendlichen.

Himmel und Erde ergänzen sich gegenseitig so ideal, weil beide mit eben jener Farbe bekleidet sind. Die großen Ozeane bedeckten ein Großteil der Erde, das Meer ist der riesige Spiegel des Himmels. Unter seiner blauen Oberfläche birgt es seinen eigenen Vorrat an ungeklärten Geheimnissen.

Die Erdanziehungskraft begann sich auszuwirken. Wie ein Raumschiff begannen sie die Erde zu umkreisen, erst ganz weit in Form einer Ellipse, dann immer gleichmäßiger und näher.

Colette sank noch tiefer in Elenas Arme und genoss diese nächtliche Himmelfahrt in vollen Zügen.

Schließlich kamen sie der Erde immer näher und schon bald schwebten sie über den Weiten des Ozeans. Das Rauschen der Wellen und das schäumen der Gischt drang wie beruhigende Musik an ihre Ohren.

Bald würden sie daheim sein. Doch daheim? Wo befand sich das in jener Welt der Träume?

Nun traten sie in die Atmosphäre, es wurde wärmer und wärmer, doch sie verbrannten nicht.

Im Gleitflug brausten sie über das Land das sich vor ihnen erschloss.

Noch immer spürte Colette Elenas Wärme an ihrem Rücken, eine vertraute Wärme, die sie nicht verlieren wollte.

Berge und Täler, Felder und Wälder, Seen und Flüsse breiteten sich unter ihnen aus. Schließlich befanden sie sich über einer Art Steppe. Am Horizont erkannten sie ein Gebirge.

Aber es unterschied sich deutlich von jenem heimatlichen, das ihnen so vertraut war.

Colette griff nach der über ihr schwebenden Elena, als sie begannen zur Landung anzusetzen.

Der Schätzung nach trennten sie vielleicht noch 20 m von der Erdoberfläche.

„Colette! Wir werden uns womöglich trennen und uns an unterschiedlichen Stellen manifestieren. Aber unsere Seelen bleiben vereint durch das Band das uns verbindet.“

Rief Elena der Königin zu.

„Aber ich will dich nicht verlieren. Wir wollten doch vereint die Welt der Träume betreten.“

Erwiderte Colette.

Beide juchzten laut auf und breiteten die Arme seitlich aus. Dann wurden sie wieder von einer dunklen Hülle umgeben.

Schon im nächsten Augenblick lösten sie sich von einander und befanden sich in unabhängigen Existenzen wieder.

Colette öffnete die Augen und fand sich in einem etwa 20m großen rechteckigen Raum wieder,dessen Wände sauber weis gekalkt schienen. An der Südwand führte eine lange Leiter bis zum Dach. An der gegenüberliegenden Wand gemauerte Plattformen die wahrscheinlich zum Schlafen dienten oder zum Sitzen.

Der gesamte Boden war mit Bastmatten ausgelegt.

Die Wände mit bunten Wandbildern und Reliefs geschmückt.

Colette hatte auf einer mit weichen Fellen belegten Plattform Platz genommen und lehnte halb an der Wand. Sie war mit einer grauen Tunika aus feinem Leinen bekleidet, in der Mitte von einem Ledergürtel zusammengehalten. Ärmellos, doch am Hals hochgeschlossen.

Sie erhob sich und spürte einen leichten Schmerz im Rücken. Es war aber noch auszuhalten. Hatte sie also ihr Leiden bis in die Traumwelt begleitet? Sie richtet sich auf, was ihr mit einiger Mühsal auch gelang. An ihren nackten Füßen trug sie Bastsandalen.

Sie schritt durch den mit verschiedenen Utensilien gefüllten Raum. Eine Reihe von kunstvoll gestalteten Tongefäßen lehnte an den Wänden. Genau in der Mitte des Raumes eine Feuerstelle. Darüber ein Rauchabzug. Beim Bau dieses Hauses schienen begabte Architekten am Werk.

Eine große Tonschale war randvoll mit frischem Wasser gefüllt. Daneben eine Reihe Becher ebenfalls fest aus Ton gebrannt. Colette tauchte einen in das Wasser und trank anschließend einen Schluck  Dann fiel ihr Blick auf die Oberfläche. Das Gesicht einer Frau in den mittleren Jahren blickte sie an. Das war nichts Besonderes. In ihren Träumen erlebt sich Colette stets als Frau.

Colette? Nein! Sie war die gleiche wie vordem und doch eine andere. Eine Colette gab es nicht in dieser Dimension ! Wer war sie? Von oben hörte sie jemand rufen und fühlte sich angesprochen.

„Inanna? Bis du zu Hause?“

Kein Zweifel. Die Person auf dem Dach meinte sie.

Zur gleichen Zeit matrialisierte sich Elena auf dem gesattelten Rücken eines schwarzen Hengstes.

Sie strebte in einem zügigen Galopp eine Anhöhe hinauf. Umgeben von einem Trupp Reiter, nein es waren allesamt Reiterinnen. Elena fühlte sich auf Anhieb heimisch.

Eine Reiterin zu ihrer Rechten schoss zu ihr auf.

„Ich fürchte wir kommen zu spät, Aradia. Wir können das Dorf nicht mehr retten. Vielleicht gelingt es uns wenigstens noch ein paar Menschenleben in Sicherheit zu bringen. Aber mehr können wir nicht tun.“ Sie wies mit dem Zeigefinger in die Ferne. Dicke Rauchschwaden stiegen am Horizont gen Himmel.

Aradia? In dieser Welt existierte Elena nicht. Hier war sie Aradia. Sofort war sie sich dieser Erkenntnis bewusst.

Sie hatte die Person die sie zu treffen hoffte, gefunden. Aber nicht außerhalb von ihr. Nein, sie war Aradia.

Am Leibe trug sie die typische traditionelle Amazonentracht. Eine dunkelbraune eng anliegende Leggins aus Wildleder, mit seitlicher Schnürung, die ihr bis oberhalb der Knöchel reichte, eine ebenso farbige ärmellose, hoch schließende Weste. Ein Ledergürtel mit Kupferschnalle um den Bauch gebunden, darin steckten auf der linken Seite die kupferne Doppelaxt, auf der linken ein Kupferschwert. Zu Pferd ritt Aradia meist barfuss, stieg sie ab steifte sie sich die Schnürsandalen über. Ihr wildes kupferblondes Haar das ihr bis zu Taille reiche, trug sie heute offen. Meistens, vor allem im Kampf ,raffte sie es auch zu einem Pferdeschwanz zusammen.

Die Kämpferinnen beschleunigten ihren Galopp. Doch je näher sie ihrem Ziele kamen, desto mehr schien sich die Vermutung zu bestätigen, dass sie zu spät eintrafen. Die kleine, kaum mehr als 20 armseligen Lehmhütten zählende Siedlung, war fast vollständig zerstört.

Die Reiterinnen schwärmten seitlich aus und umkreisten das Ruinenfeld, in der Hoffnung doch noch einige Verantwortliche ausfindig zu machen, um an Ort und Stelle mit ihnen abzurechnen. Doch vergebens. Die Schlächter hatten ihr blutiges Handwerk vollbracht und sich schon lange aus dem Staub gemacht.

Aradia drosselte ihre Geschwindigkeit. Es gab keinen Grund mehr zur Eile, hier kam jede Hilfe zu spät. Langsam ritt sie durch die zerstörte Ansiedlung, abwechselnd nach links oder nach rechts blickend. Stechender Rauch stieg ihr in die Lungen und lies sie husten. Das meiste war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Verkohle Leichen, ein grausiger Anblick.

Eine der Reiterinnen kam ihr im leichten Galopp entgegen.

„Wie ich vermutete Aradia, nichts mehr zu machen. Latos Schlächter haben ganze Arbeit geleistet. Männer und Greise alle getötet. Ich schätze, dass sie die Frauen und Kinder mitgenommen haben. Frischfleisch für den Sklavenmarkt.“ Die junge Frau hatte pechschwarzes langes Haar und leuchtend blaue Augen.

„Verdammt! Wie konnte das geschehen?“ Schimpfte Aradia wutentbrannt. „Wir sind rechtzeitig aufgebrochen. Es ist nun schon das zweite Mal in Folge das wir zu spät eintreffen und die Bewohner nicht mehr schützen können. Das darf nicht sein.  Dieser elende Stadtfürst hat seine Kundschafter überall. Seht euch noch mal um. Danach können wir zurück reiten!“

Die Kämpferin signalisierte nickend ihre Zustimmung und entfernte sich rasch.

Aradia blickte sich um, von Trostlosigkeit befallen machte sie Anstalten sich von dem Schlachtfeld zu entfernen.

Einer Eingebung folgend kehrte sie um und führte ihren Hengst Bechtar geschickt durch die Trümmerhaufen den Weg zurück.

Sie glaubte jemand weinen zu hören.

Da erblickte sie zu ihrer Rechten vor einer noch halb erhaltenen Lehmhütte eine in sich zusammen gesunkene Gestalt und brachte ihr Pferd zum Stehen.

Ein junges Mädchen, vielleicht gerademal 16 Jahre, ein Wesen auf dem Weg vom Kind zur Frau, dessen Lebensgrundlage vor wenigen Augenblicken für alle mal zerstört schien.

Hellblonde Haare, an den Spitzen vom Feuer versenkt rahmten ein trauriges, verstörtes zum Teil mit Ruß geschwärztes Gesicht, aus dem zwei in Tränen schwimmende Augen blickten.

Augen die soeben noch das Grauen erblickt hatten.

„Dann sind wir doch nicht ganz umsonst gekommen.“ Sprach Elena mit sanfter Stimme.

„Sie... sie haben alle umgebracht!“ Sprach das Mädchen und wies mit dem Arm rund über das ganze Gelände.

„Ich habe... ich habe mich unter einem Schutthaufen versteckt, deshalb konnten sie mich nicht finden. Es war furchtbar. Ich habe noch immer solche Angst!“

„Wie ist dein Name!“ Wollte Aradia wissen.

„Leyla, ich heiße Leyla!“ Antwortet das Mädchen. „Du...du bist Aradia, nicht wahr?“

„Und wenn es so wäre? Hättest du dann Furcht vor mir?“

„Nein! Vor allem, aber nicht vor Aradia! Sie ist unsere einzige Hoffnung in trostloser Zeit, so sagte meine Mutter immer.“ Als sie das Wort Mutter über ihre Lippen brachte begannen die Tränen erneut zu fließen

„Ich bin Aradia! Leider konnte ich deiner Familie, deiner Sippe und deinem Dorf nicht mehr helfen. Verzeih mir! Ich bin über diesen Umstand unendlich traurig.“

„Ihr habt getan, was ihr konntet. Es ist nicht eure Schuld, dass ich von nun an allein auf der Welt bin. Aber ich danke euch allen das ihr gekommen seid.“ Erwiderte Leyla und senkte ihr Haupt dabei zu Boden.

 Aradia streckte ihren rechten Arm in Richtung des Mädchen, öffnete die Hand

und sprach:

„Komm! Komm mit uns! Deine Familie konnte ich nicht retten. Aber dich werde ich nicht im Stich lassen.“

Leyla erhob sich langsam von ihrem Platz und blickte der Frau auf dem Pferd tief in die Augen.

„Du willst mich mit dir nehmen?“

Noch einmal streckte Aradia die Hand aus und erneuerte ihre Einladung.

„Komm! Steig einfach zu mir auf!“

Mit einem Ruck zog ihr kraftvoller Arm das Mädchen auf den Pferderücken. Leyla platzierte sich hinter ihre Retterin, schlag instinktiv die Arme um deren Taille.

„Lass uns verschwinden! Weg von diesem Ort des Grauens! Wir haben hier nichts mehr verloren. Das Leben erwartet uns.“

Aradia feuerte ihren Hengst an und trieb ihn aus der Siedlung. Schon nach kurzer Weile entschleunigte sie, nachdem ihr auffiel welche Schwierigkeiten Leyla mit dem Reiten hatte.

„Ich habe noch nie auf einem Pferderücken gesessen. Ich habe Angst zu stürzen. Außerdem ist mir schrecklich übel.“

Umgehend stoppte Aradia. Benommen und aschgrau im Gesicht ließ sich Leyla vom Sattel gleiten, ging zu Boden und übergab sich laut hustend. Die Amazonenkriegerin erkannte sofort, dass dieser Zustand nicht von dem kurzen Ritt her rührte. Das Mädchen hatte fürchterliche Stunden hinter sich. Womöglich gar eine Verletzung? Aradia bemerkte erst jetzt, dass sie sich gar nicht danach erkundigt hatte, schritt zu der noch immer am Boden kauernden, platzierte sich neben diese und schloss sie in die Arme.

„Geht es wieder? Haben sie dir schlimmes angetan?“

Leyla blickte nur stumm zum Boden.

Aradia strich ihr einer Haarsträhne aus dem Gesicht, erst jetzt bemerkte sie die blutende Wunde an der Schläfe.

„Das sieht nicht gut aus.  Ich werde mich darum kümmern, gleich nachdem wir zu Hause  eingetroffen sind.

Ich kenne mich da ein wenig aus, so wie alle Schwestern. Glaubst du, dass du reiten kannst oder wollen wir eine Weile rasten. Es besteht kein Grund zur Eile. Es ist nicht mehr weit. Und die Krieger der Fürsten trauen sich nicht in diese Richtung.“

„Es geht schon wieder! Nun ist e raus, was mich quälte. Ich möchte weg von diesem Ort.“

Aradia half der Jüngeren auf die Beine, dann auf den Pferderücken.

„Hab keine Angst! Wir reiten langsam! Ich bringe dich in dein neues Zuhause. Wenn du magst kannst du bei uns bleiben. Wir werden für sich sorgen! Aber das entscheidest einzig und alleine du. Wir zwingen niemanden. Aber Frauen in Not sind bei uns immer willkommen.“ Bot Aradia an.

„Ja, Das möchte ich. Ich freue mich auf das neue Leben.“ gab Leyla zu verstehen.

Danach schmiegte sie sich eng an die neue Schwester vor ihr.

„Unserer Siedlung wird dir gefallen. Sie ist uralt. Niemand vermag zu sagen wann sie gebaut wurde. Es heißt, sie stamme noch aus der Zeit des Großen Friedens. Damals als alle noch Gleiche unter Gleichen waren und es keine Fürsten gab. Wir Schwestern haben sie wieder aufgebaut, das heißt, wir sind noch immer dabei auszubessern und zu erweitern.

Ich benutze wie viele andere auch ein kleines Haus für mich allein. Du kannst  gerne bei mir wohnen. Ich würde mich über deine Gesellschaft sehr freuen.“

Aradias Worte klangen phantastisch.

„Wirklich? Aber...das wäre... das wäre wunderbar. Danke! Ich danke dir.“ Vor Freude umarmte Leyla Aradia von hinten und küsste sie auf die Wange.

Aradia begegnete dieser Annäherung mit ihrem typischen verführerischen Lächeln.

Nach einer Weile konnten sie die Siedlung am Horizont entdecken. Dahinter schob sich eine schroffe Berglandschaft in die Weite.

Eine atemberaubende Weite, die den Geist absoluter Freiheit und Unabhängigkeit atmete.

Leyla betrachtete die Siedlung mit andächtigem Schweigen. Noch nie hatte sie etwas dergleichen zu Gesicht bekommen.

Aradia stoppte, schwang sich von Sattel, in Anschluss half sie der neue Schwester beim Absteigen.

 

Es handelte sich hier um eine Stadt, deren Architektur allerlei Rätsel aufgab.

Die Siedlung erstreckte sich in Terrassen über einen Hügel

Bis auf eine Ausnahme gab es keine Innenhöfe. Die Häuser standen Wand an Wand. Jedes Haus besaß eigene Mauern und ein Flachdach. Diese schienen alle die gleichen Maße zu haben. Leyla fühlte sich an einen Bienenstock erinnert den sie als kleines Kind einmal gesehen hatte. Die dortige Wabenstruktur wies große Ähnlichkeit mit diesen Gebäuden hier auf.

Der Zugang zu den einzelnen Häusern war ausschließlich über die Dächer möglich. Die Bewohner erreichten ihre Nachbarn, sowie die Ortsausgänge in dem sie sich von Dach zu Dach fortbewegten. Über geschützte Dachluken gelangten sie ins Innere ihrer Behausungen.

Nachdem Aradia ihr Pferd versorgt hatte lud sie Leyla ein ihr zu folgen. Eine Kletterparty über eine Reihe von Hausdächern begann. Auf den Dächern trafen sie auf viele vor allem jünger Frauen. Hier oben schien sich das soziale Leben und die gesamte Kommunikation abzuspielen. Es lebten ausschließlich Frauen,  und einige Kinder. Erwachsenen Männern war es nicht gestattet die Stadt zu betreten.

Über eine hohe Leiter gelangten sie schließlich ins Innere eines Hauses.  Leyla betrat die Sprossen ausgesprochen vorsichtig. Noch immer war ihr schwindelig. Sie betrat einen schönen, sauberen und gepflegter Raum mit der Standartinnenausstattung. So wie ihn auch Colette vorgefunden hatte. 

„Setz dich! Mach es dir bequem. Leyla. Das ist von nun an dein Zuhause! Zunächst möchte ich deine Wunde versorgen. Hast du außer jener am Kopf noch andere?“

Schlug Aradia vor, während Leyla auf einer der gemauerten Podeste Platz nahm.

„Ich glaube nicht!" Sprach die neue Bewohnerin noch etwas unsicher und blickte zaghaft an ihrem Körper herab.

„Zieh erst mal dein schmutziges Kleid aus. Du kannst eins von mir haben. Du bist zwar etwas schmaler in den Hüften, aber es dürfte dir noch passen.“

Aradia holte aus einer Truhe eine Leinentunika hervor und reichte sie ihr.

.“Vorher solltest du dich waschen. Dort drüben findest du eine große Schale mit sauberem Wasser."

 Leyla entblößte sich und tat wie ihr geheißen. Es war eine Wohltat sich von dem Schmutz zu befreien, der überall an ihrem Körper klebte.

„Setzt dich hier rüber!“

Leyla folgte der Aufforderung nach dem sie sich gründlich gesäubert hatte. Nun begann sich Aradia um die Wunde zu kümmern. Reinigte diese und betupfte sie mit eine wohltuenden klebrigen Flüssigkeit.

„Wie hast du dir die Wunde zugezogen?“

„Ein Schlag vor dem Kopf, gleich nachdem die Krieger des Fürsten ins Dorf eindrangen. Ich erwachte erst wieder unter einem Schutthaufen, als das Morden in vollem Gange war.“

„Hast du Schmerzen im Kopf oder den Schultern?“ Aradia nahm den Kopf des Mädchens in beide Handflächen und bewegte ihn sanft in alle Richtungen, ihr dabei tief in die Augen blickend.

„Du solltest dich erst mal ausruhen. Legt dich einfach hin. Womöglich wird es von alleine besser?“

Aradia polsterte die Plattform auf der Leyla saß mit Fellen aus, so das eine bequeme Liegestatt entstand. Leyla schlüpfte in ihr neues Kleid und bette sich auf dem Lager.

Sanft breitet Aradia eine Decke über ihr, streichelte die Wangen ihrer neuen Mitbewohnerin.

„Wenn du durstig bist, frisches Trinkwasser gibt es dort drüben in dem großen Tonkrug. Gleich treffe ich mich mit einigen Schwestern um die Ereignisse des Tages auszuwerten. Das tun wir oben auf den Dächern, so wie alles das wir gemeinschaftlich unternehmen. Vorher muss ich mich ebenfalls säubern und etwas Luftigeres anziehen. Bei dieser Hitze kommt man ganz schön ins Schwitzen.“

Aradia begann sich von ihrer eng anliegenden Kampfmontur zu befreien, bis sie vollständig nackt war.

Mit großen Augen und halb offen stehenden Mund blickte Leyla zu ihr herüber. Noch nie im Leben hatte sie einen solchen Körper gesehen. Schon während ihres gemeinsames Rittes waren ihr diese stahlharten Muskeln aufgefallen, nun aber hatte sie das komplette Meisterwerk  vor Augen.

Jeder Mann würde bei diesem Anblick vor Neid erblassen. Hier stimmte einfach alles. Kraft, endlose ungezügelte Kraft strömte unablässig von diesem Leib.

Dabei wirkte sie keineswegs plump oder unansehnlich. Im Gegenteil, elegant und graziös wie sie sich so dahin bewegte. Jeder Schritt eine reine Offenbarung. Ihre sinnlichen Brüste fügten sich nahtlos in das Muskelgeflecht.

Kein Wunder, dass die Machthaber der mit der Amazonenschwesternschaft verfeindeten Stadtstaaten es mit der Angst zu tun bekamen, wenn sie den Namen Aradia nur hörten. Niemand wollte ihr als Gegner im Kampf gegenüberstehen.  Jede Waffe führte sie mit Ausdauer und  Präzession.

Schwert oder Doppelaxt schien mit ihr verwachsen, wenn sie diese elegant durch die Lüfte schwang, so sicher lagen sie in ihrer Hand. Keiner warf den Wurfspeer mit einer solchen Sicherheit in sein Ziel. Und auch der Holzstab entpuppte sich in ihren Händen als gefährliche Waffe.

Doch auch ohne solches Zubehör verstand sich Aradia ausgezeichnet zu verteidigen. Ihre Faustschläge und Fußtritte hinterließen bei ihren Gegnern dauerhaft schmerzende Erinnerungen.

Von nichts kommt nicht. Täglich unterzog sich Aradia einem harten Intensivtraining um in Form zu bleiben.

Aradia spürte Leylas Blicke auf ihrem Körper, es schmeichelte ihr, auf eine solche Art und Weise angehimmelt zu werden. Sie lohnte es ihrem Gast mit charmantem Lächeln.

„Darf ich dich etwas fragen Aradia?“

„Ja, sicher! Nur zu!“

„Wie kommt eine Frau zu einem solchen Körper? Du hast Muskeln, wie ich sie noch nicht einmal bei einem Mann zu sehen bekam. Die Leute aus meinem Dorf sprachen immer wieder über dich. Sie behaupteten du seist kein normaler Mensch, sondern ein Wesen, von den Göttern gesandt. Ich konnte dem keinen rechten Glauben schenken. Doch wenn ich dich so vor mir sehe?“

„Ich bin ein Mensch wie du. Nicht mehr und nicht weniger. Für was mich die Leute halten sei dahin gestellt. Von Kindesbeinen an übe ich mich täglich im Kämpfen. Das ist schon das ganze Geheimnis. Ob die Götter ihre Hände dabei im Spiel haben, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber mit Sicherheit hatte ich die beste Lehrerin der Welt. Inanna, meine ältere Schwester. Du wirst sie heute noch kennen lernen. Wir essen bei ihr zu Abend, ich möchte dich ihr vorstellen.

Jetzt aber muss ich mich beeilen, sonst komme ich zu spät zu unserer Besprechung.“

Aradia zog sich eine dunkelgrüne Leinentunika über, die sie in der Taille mit einem Ledergürtel band. Dann schwang sie sich auf die Leiter und kletterte nach oben.

„Bis später! Ich hole dich wenn es soweit ist. Ruhe dich  bisweilen aus.“

Schnell war die Amazone durch die Dachluke entschwunden. 

 

Aradias Ruf weckte Leyla aus einem tiefen gesunden Schlaf. Sie schnellte in die Höhe und warf das Fell beiseite, das ihr als Decke diente. Mit unsicheren Schritten betrat sie die hölzerne Leiter. Immerhin führte diese etwa 8 Meter in die Höhe. Aradia reichte ihr die Hand und half ihr auf das Flachdach. Die Tageshitze war einer angenehmen lauen Abendluft gewichen und die rote Sonne war gerade im Begriff vom Horizont verschluckt zu werden.

Erst jetzt gelang es dem Neuankömmling sich ein Bild vom Ausmaß der Stadt zu machen. Noch nie hatte Leyla eine solche Häuserfülle auf einen Haufen gesehen.

Aradia griff nach Leylas Hand, dann schlenderten sie die Dachterrassen entlang.

„Inannas Haus befindet sich gleich hier drüben.“ Die Amazone wies mit dem Finger auf die rechte Seite. „Aber wir haben noch etwas Zeit. Lass uns ein wenig spazieren gehen. Hast du gut geschlafen?“

„Ja, wie ein Stein! Ich bin noch immer etwas müde. Was für eine sonderbare Siedlung. Ich bin noch nie auf Hausdächern spazieren gegangen.“ Erwiderte Leyla.

„Ja unsere Stadt ist etwas ganz besonderes. Ich möchte nirgendwo anders leben.“

„Wie viele Häuser mögen das wohl sein?"

„Etwas über tausend. Und das ist nur eine Siedlung. Es gibt noch fünf weitere, nicht ganz so groß wie diese, aber in ähnlicher Form.“ Klärte Aradia auf.

 „Und dort leben nur Frauen, Kriegerinnen wie hier?“

„Ja! Zusammen etwa 10000 und sie stehen alle unter meinem Oberbefehl.“

„Dann bist du also ihre Königin!“

„Wenn du es so siehst. Ich sehe mich lediglich als ihre Heerführerin. Nie würde ich mir einen solchen Titel anmaßen. Wir betrachten uns als Gleiche unter Gleichen. Keine sollte über einer anderen stehen. Wir teilen alles was wir haben unter einander auf. Niemand beansprucht mehr als ihm zusteht.“

„Das ist wunderbar. Es gibt hier keine Fürsten, keine Aufseher oder Statthalter, keine Priester die dir sagen was du zu tun und zu lassen hast.“

„Richtig! Wer braucht sie denn? Wir jedenfalls nicht. Darum lebt es sich hier viel leichter als anderswo. Komm lass uns jetzt zu Inanna gehen. Sie wird dir bestimmt gefallen und sich über deine Fragen freuen.“

„Warum lebt ihr eigentlich getrennt?“

„Früher bewohnten wir gemeinsam ein Haus, teilten alles was wir hatten. Doch ich habe sehr viel Besuch. Meist auf dem Dach aber manchmal auch im Haus. Als es mit Inannas Gesundheit immer schlechter wurde, bekundete sie den Wunsch nach mehr Ruhe und Rückzugsmöglichkeit. Seitdem hat sie ein Haus für sich allein. Nun ganz allein ist sie nicht. Es gibt eine ganze Menge die ihr helfen, mich natürlich inbegriffen.

Inanna, bist du zu Hause?“ Rief Aradia in den Einstieg.

„Natürlich, wo sollte ich sonst sein? Kommt einfach rein! Es ist alles schon bereitet.“

Hörten die beiden Besucher eine Stimme aus dem Inneren.

Danach bewegten sie sich auf der Leiter nach unten.

Inanna erwartete sie schon, dabei einen langen kunstvoll geschnitzten Stab gestützt.

„Guten Abend, Schwester. Ich freue mich das du deinen reizenden Gast mitgebracht hast.“

„Guten Abend Schwester. Wie geht es dir heute? Hast du wieder Schmerzen?“

erkundigte sich Aradia mit sorgenvollem Blick.

„Die üblichen wie immer. Aber ich habe mich ja in der Zwischenzeit daran gewöhnt. Es gab schon schlimmere Zeiten. Aber möchtest du mir nicht deine Begleiterin vorstellen?“

„Natürlich! Inanna, das ist Leyla. Einzige Überlebende des Dorfes unten am Fluss. Für die anderen kam leider jede Hilfe zu spät. Leyla, das ist meine ältere Schwester Inanna. Sie ist...

ja, sie ist unsere große Seele, das Herz unserer Gemeinschaft.“

„Guten Abend Inanna. Ich fühle mich geehrt dich kennen zu lernen.“ Antwortete Leyla dabei ehrfürchtig ihr Haupt senkend.

Schon in jenem Moment da sie ihrer ansichtig wurde erkannte Leyla, dass sie es mit einer Respektsperson zu tun hatte. Inanna war um einiges älter als Aradia, ihre langen lockigen Haare waren schwarz-grau meliert. Ihr Körperbau ähnelte dem ihrer jüngeren Schwester, möglicherweise war er früher noch wuchtiger, doch die Krankheit forderte ihren Tribut.

So dass die Muskeln erschlafften und wieder mehr weibliche Weichheit zu Tage trat. Sie hatte ein wunderschönes sinnliches Gesicht

und strahlte Würde und eine natürliche Autorität aus.

„Setzt euch! Komm zu uns Kasuba, vervollkommne unseren Kreis.“ Lud Inanna ein und richtete ihren Blick in Richtung Wand. Erst jetzt wurde sich Leyla der Gestalt gewahr die sich dort an der Feuerstelle zu schaffen machte. Die junge Frau war etwa Anfang 20, ihre Haut tief braun, sie war von schlanker, geschmeidiger Gestalt, aber trotzdem athletisch. Die Kämpferin in ihr unübersehbar.

Sie war wunderschön. Eine relativ hohe Stirn, leuchtend braune Augen. Eine schmale leicht nach vorn gekrümmte Nase und einen sinnlichen Mund.

Ihr pechschwarzes glänzendes Haar kräuselte sich in kleinen Locken über ihren Schultern.

Leyla vermutete dass sie Inanna hier im Haushalt zur Hand ging.

„Ich hoffe es gefällt dir bei uns Leyla. Meine Schwester hat dich sicher schon mit den wichtigsten Gepflogenheiten unserer Schwesternschaft bekannt gemacht?“

„Ja! Ich bin dabei zu lernen.“ Bestätigte Leyla.

„Ich bedaure es zutiefst, dass wir das Dorf nicht mehr rechtzeitig erreichten. Aber ich bin sicher dass sich unsere neue Schwester hier gut einleben wird. Natürlich muss der Rat noch zustimmen. Aber da sehe ich kein Problem.“ Fügte Aradia hinzu.

„Aber worauf wartet ihr noch, esst, lasst es euch schmecken.“ Forderte Inanna auf.

Leyla langte ordentlich zu. Noch nie in ihrem Leben wurde ihr so viel gutes Essen im Überfluss vorgesetzt.

Das Mahl in der Hütte ihrer Familie viel üblicherweise karg und ausgesprochen mangelhaft aus.

 

Die Gespräche liefen eine ganze Zeitlang weiter. Leyla bemerkte wie Müdigkeit sie übermannte.

„Ich würde mich gerne zurückziehen. Ich bin sehr müde, wenn ihr hier nichts dagegen habt.“ Entschuldigte sie sich.

„Ja, sicher! Ruhe dich aus. Es war ein schlimmer Tag für dich. Findest du den Weg allein zurück?“ erwiderte Aradia.

„Ich werde sie zurückbringen!“ Kasuba erhob sich und gesellte sich zu der neuen Mitbewohnerin. Sie hatte die Situation richtig eingeschätzt, nämlich dass Aradia und Inanna unter vier Augen zu reden gedachten.

Danach verließen beide den Raum über die Leiter nach oben.

„Ein ausgesprochen nettes und liebenswertes Mädchen. Du hast einen guten Geschmack Schwester. Den hattest du schon immer. Gute Idee dir eine Gefährtin von außerhalb zu suchen. Das wahrt den Frieden innerhalb unserer Gemeinschaft.“ Meinte Inanna.

„Was willst du damit sagen? Leyla war die einzige Überlebende dieses schrecklichen Überfalls. Ich konnte sie doch unmöglich zurücklassen. Eines unserer wichtigsten Prinzipien besagt, dass jeder Frau, jedem Mädchen und jedem minderjährigen Jungen Zuflucht gewährt wird, wenn sie in Not geraten sind. Du hättest es auch getan. Leyla ist jetzt unserer Schwester, sie wird bei uns...“

„Richtig! Aber das ist es nicht allein. „Unterbrach Inanna den Redefluss. Dann ergriff sie Aradias Hand. „Mir kannst du nichts vormachen. Ich sah die Leidenschaft in deinen Augen, wenn du auf sie blicktest. Und Kasuba erzählte mir, dass sie euch Hand in Hand auf dem Dach spazieren sah. So etwas gab es schon lange nicht mehr bei dir. Dich scheint es richtig erwischt zu haben?“

„Ach was! Ich möchte freundlich zu ihr sein, weil sie viel durchgemacht hat. Sie soll sich möglichst schnell in unserer Gemeinschaft einleben, ich möchte es ihr dabei leicht machen und.... Ach, ich kann dir wirklich nichts vormachen. Ja, du hast recht! Sie bedeutet mir tatsächlich etwas. Schon als ich sie dort am Boden zusammengekauert sah, da wurde mir bewusst, es könnte die Frau sein, auf die ich schon so lange warte.  Ich spüre tiefe Zuneigung zu ihr.“

„Na also! Aradia, ich freue mich für dich. Ich hatte fast die Hoffnung aufgegeben, dass du noch einmal dein Herz verschenken würdest. Du tust recht damit. Meinen Segen hast du und auch die anderen werden dich verstehen.“

„Langsam, langsam! Ich kenne sie gerade mal einen Tag. Sie befindet sich in Not, hat alles verloren was ihr lieb und teuer und Heimat war. Ich käme mir ausgesprochen schlecht dabei vor, würde ich diese Situation ausnutzen. Zunächst müssen wir ihr helfen wieder ins Leben zurück zu finden und  ihr eine neue Heimat schaffen. Dann sollte sie so bald als möglich zur Kämpferin werden, alle Kampftechniken lernen und später beherrschen. Ich werde sie ausbilden, so wie du es bei mir tatest, damals vor so langer Zeit. Die Gefährtin an meiner Seite sollte ebenso gut kämpfen wie ich selbst, nur so kann sie mir ebenbürtig werden und der Gefahren trotzen deren sie tagtäglich ausgeliefert ist. Erst dann  darf ich sie lieben.“

„Deine Antwort ist klug und weise. Im Kern hast du Recht. Selbstverständlich wirst du ihr Zeit lassen sich mit allem vertraut zu machen und kämpfen muss sie eh lernen, wenn sie eine Schwester werden will. Aber lass dir nicht zu viel Zeit, denn das Leben ist kurz, gerade für Leute wie uns, die wir es jederzeit verlieren können. Ich möchte dich in guten Händen wissen, Schwester, dann, wenn es Zeit für meine letzte Reise wird.“

Das Entsetzen packte Aradia und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie begab sich zu ihrer großen Schwester und bette ihren Kopf in deren Schoß.

„Sag so etwas nicht. Du machst mir Angst. Wie soll ich ohne dich leben? Allein der Gedanke  dich zu verlieren ist furchtbar. Du bist doch die Einzige die ich habe.“

„Eben! Eben deshalb sollst du Vorsorge treffen. Warte nicht zu lange, Leyla ist die ideale Gefährtin für dich. Du muss an spätere Zeiten denken, wenn du womöglich nicht mehr kämpfen kannst, so wie ich jetzt. Dann wird dir der Mensch den du liebst Sicherheit, Würde und eine Zuflucht bieten, in diesen unsicheren Zeiten.

Ich werde sterben, Kleine Schwester über kurz oder lang. Die Krankheit schreitet voran. Ich werde nie wieder gesund.“

Aradia schluchzte in den Schoss des Menschen der ihr alles auf der Welt bedeutete.

„Gerade deshalb darf ich mich nicht andererseits binden. Ich möchte für dich da sein und mit dir die Freuden des Lebens teilen, so lange es noch geht.“

„Mach dir um meinetwegen keine Gedanken. Kasuba ist schon lange mehr als nur eine Schwester. Seit geraumer Zeit teile ich des Nachts mit ihr mein Lager. Sie ist eine wunderbare, zärtliche Geliebte. Ihre Berührungen und ihre Körperwärme bannten den Schmerz und ich fühle mich seit langem wieder besser und rundum glücklich. Allzeit ist sie für mich da und liest mir jeden Wunsch von den Lippen ab, lange bevor ich ihn ausspreche. Außerdem ist sie eine exzellente Kämpferin und beherrscht fast alle Waffen. Sie kann für mich die Doppelaxt führen, sollte ich diese irgendwann gar nicht mehr heben können.“

Letzt gesagtes brachte Aradia erst recht zum Weinen.

„Keine von uns schwang die Axt so sicher und schlagkräftig wie du. Du warst und bist die Beste von uns allen. Aber das mit Kasuba finde ich phantastisch. Ich freue mich mit dir und wünsche euch viele, viele zärtliche Stunden.“

„Welch weiten Weg sie doch hinter sich hat, aus einem fernen Land kommend, weit unten im Süden, wo alle Menschen dunkelhäutig sind.* Sie kam eigens um mir beizustehen, wie sie stets betont.

Endlich habe ich einen sicheren Hafen angelaufen und darf jene Liebe schmecken nach der ich mich ein Leben lang gesehnt.  Dafür lohnt es sich noch eine Weile durchzuhalten. Dafür und für meine letzte Mission. Ich bin des Kämpfens müde. Ich kann nicht einmal mehr reiten.“

„Keine bestieg den Pferderücken würdevoller als du. Keine Reiterin konnte es mit dir aufnehmen.“ Unterbrach die jüngere Schwester, während Inanna unaufhörlich deren kupferrote Lockenmähne kraulte.  

„Ich schreite jetzt meiner letzten Lebensphase entgegen. Zeit die Waffen nieder zulegen. Du wirst ab jetzt die alleinige Oberbefehlshaberin der vereinigten Schar der Schwertschwestern.  Du brauchst deine Entscheidungen nicht mehr von mir absegnen lassen. Dein Befehl gilt. Selbstverständlich musst du dir immer bewusst sein, dass wir eigentlich keine Herrscherin wollen. Du bist Gleiche unter Gleichen. Ist die letzte Schlacht geschlagen und der egalitäre Frieden wieder hergestellt, gibt es außer der großen Mutter niemand vor dem wir unsere Knie beugen. Dann werden alle gleichgestellt sein und alles soll allen gehören. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Ich werde mich von nun an anderen Aufgaben widmen. Zeit eine Philosophin zu werden, Seherin, Heilerin, Prophetin und was sich noch alles damit verbindet. Ich bin stets bei dir. Niemand kann uns trennen. Auch dem Tod wird es nicht gelingen. Sterben wir, sind wir doch nie wirklich tot, unsere Seelen sind unsterblich und irgendwann, sollte es auch Tausende von Jahren dauern, werden wir wieder zueinander finden.“

„Glaubst du dass wir uns wieder finden? Ich meine woran werden wir uns erkennen, da draußen in diesem unendlichen Universum, unter Millionen anderer heimatlosen Seelen?“

Wollte Aradia wissen, dabei Bäche von Tränen vergießend.

„Wir werden uns erkennen. Vielleicht nicht sofort, womöglich wird es lange brauchen. Haben wir uns aber gefunden, wird die Freude um so größer ein.“

Aradia erhob sich und wischte sich mit dem Handrücken über die verquollenen Augen. Lange schon hatte sie nicht mehr so viele Tränen vergossen.

„Schlaf gut, mein ein und alles. Ich komme morgen früh gleich zu dir.“ Aradia küsste die Schwester nach der alten Sitte. Auf die Stirn, die Augen, die Nase und den Mund. 

Dann entschwand sie so wie sie gekommen

Inzwischen hatte die Nacht ihre dunkle Decke über den Himmel gezogen und der Mond prangte als silberne Scheibe am östlichen Horizont.

Aradia erhob beide Arme in dessen Richtung und atmete tief durch.

„Große Mutter, du, die du keine Namen hast. Beschützerin alles Leben auf Erden. Halte deine Hände über meine Schwester Inanna.  Irgendwann müssen wir alle gehen. Wir sind nur Gäste hier auf dieser Erde. Aber las uns noch eine kleine Weile unser Leben mit einander teilen. Leid und Verdruss, Kampf und Gefahr, dass bestimmt seit unserer Kindheit unserer beider Leben. Hier konnten wir eine neue Heimat finden, für uns und viele andere. Lass es nicht schon jetzt ein Ende haben. Nimm mir nicht den besten Menschen den ich im Leben je besaß.“

Langsam  ließ Aradia die Arme sinken, blickte aber noch eine Weile auf die Silberscheibe, die ihr seit den Kindertagen tiefes Vertrauen in ihr weckte.

Dann kletterte sie in die Dachluke ihres Hauses. Sie fand Leyla in tiefen Schlaf und bemühte sich so wenig Lärm wie möglich zu machen um sie nicht aufzuwecken. Sehnsuchtsvoll blickte sie zu diesem jungen Körper der schon so viel Leid im Leben hatte erfahren müssen.

Sie kniete sich zu Boden, hob die rechte Hand um die Wangen ihres Gastes zu berühren, tat es aber im letzten Moment doch nicht.

Dann blickte sie wieder zur Dachluke. Sollte sie noch mal zu Inanna gehen und sich nach deren Befinden erkundigen.

Die Aussagen der geliebten Schwester waren wie ein scharfes Schwert das tiefe schmerzenden Wunden in Aradias Herzen hinterließ.

Seit dem Tod der Eltern, damals, als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte Aradia nicht mehr unter solchen Verlustängsten gelitten.

Ihr eigenes Leben bedeutete ihr nicht viel. Sie war Kämpferin, seit sie denken konnte, der plötzliche Tod ein ständiger sicherer Begleiter.

Doch der Tod der großen Schwester würde sie aus der Bahn werfen. Inanna war unersetzlich,

ohne deren Präsenz würde es keinen Halt, keine Zuflucht, kein bisschen Heimat mehr in ihrem Leben geben.

Gab es noch eine Möglichkeit für deren Rettung? Würde sie dem Rad des Schicksals in die Speichen greifen können?

Dann blickte sie wieder zu Leyla herab. Zwei Menschen die sie liebte, die eine kannte sie ihr ganzes Leben lang, die andere nicht einmal einen ganzen Tag.

Aradia schritt zu ihrer Liege um sich auszukleiden, hielt aber kurz inne. Dann griff sie nach ihrer kupfernen Doppelaxt, hielt sie in die Höhe und sprach.

„Und wenn ich mit dem Tod persönlich kämpfen muss. Ich schwöre bei allem was mir heilig ist. Ich werde Inanna nicht im Stich lassen. Inanna darf nicht sterben!

 

Darf nicht sterben, darf nicht sterben, darf nicht sterben….“

 

Elena warf sich auf dem Bett hastig hin und her, dabei nach Luft ringend, nach wenigen Augenblicken wurde ihr bewusst dass sie sich langsam in Richtung Wachzustand bewegte.

Schnell blickte sie zu Colette der es nicht anders zu ergehen schien.

„Colette bist du wach? Kannst du mich hören?“

„Ja! Ja ! Ja! Rief ihr die Angesprochenen hastig entgegen.

Elena tastete wie besessen auf dem Nachttischchen nach dem Diktiergerät.

Endlich hatte sie es im Griff. Leicht zu handhaben, so dass sie ihre Träume so schnell es ging auf Band sprechen konnte.

„Schnell Colette wir müssen uns beeilen. Träume verblassen rasch und es bleiben meist nur Fetzen von Erinnerungen. Was hast du gesehen?“

Beide berichteten nun in kurzen Abschnitten das jeweilige Erleben. Dabei stellten sie fest, dass der Traum schon einmal ungewöhnlich lang in seiner Gesamtheit in ihren Erinnerungen lebendig blieb. Doch viel verblüffender war der Umstand, dass der Traum tatsächlich den  gleichen Inhalt hatte. Natürlich gab es Unterschiede. So hatte Colette Aradias Ritt zum brennenden Dorf, Leylas Auffindung und deren Ankunft in der Siedlung nicht erlebt, kannte es aber durch Aradias späteren Bericht beim abendlichen Mahl in Inannas Haus.

Colette befand sich die ganze Zeit über in dem Haus, dass sie als Inannas kennen lernte, dabei war sie in Gesellschaft dieser schönen dunkelhäutigen Frau, die Kasuba genannt wurde. Am Abend trafen dann Aradia und Leyla ein.

Die Gespräche zu Tisch, erst zu viert, später zu zweit erlebten beide vollkommen identisch.

Elena richtete sich langsam auf und blickte zu Colette. Dann strich sie ihr Haar aus ihrem Gesicht und griff nach der Flasche Mineralwasser auf dem Nachttisch.

„Hast du auch Durst, Colette?“

„Ja! So ein Trip kann ganz schön anstrengend sein.“

Elena goss zwei Gläser voll und gab zunächst Colette zu trinken bevor sie selbst das Glas leerte.

Danach fiel ihr Blick auf den Radiowecker.

„Richtig! Die Uhrzeit. Hätte ich fast vergessen. Hmm, 2.25 Uhr. Wir haben uns etwa 22.15 Uhr niedergelegt. Die Zeit die wir im Tiefschlaf verbrachten, müssen wir abziehen, da gibt es keine Träume. Nicht leicht zu berechnen. Wir können aber davon ausgehen, dass wir uns nicht lange im Traumzustand befanden, erst kurz vor dem erwachen. Trotzdem haben wir viel erlebt. Wie ist es bei dir Colette? Schwinden die Erinnerungen schon?“

„Es ist noch da! Verschwommen zwar aber ich kann den Ablauf noch immer gut rekonstruieren. Das ist bemerkenswert.

„Ja, ich erinnere mich. Möchtest du darüber weiter reden oder lieber schlafen?“ erkundigte sich Elena.

„Am besten beides! Ich bin müde, aber ich werde nach den Erlebnissen sicher nicht leicht in den Schlaf finden. Das hat mich total aufgewühlt. Ich bin kaum imstande meine Gefühle in Worte zu kleiden.“ Gab die Königin zu verstehen.

„Bei mir ist das nicht anders. Ob es wohl eine Fortsetzung geben könnte? Ich kann es kaum erwarten weiter mit dir zu träumen, an das Erlebte anzuknüpfen.“

" Ich hätte da sicher Probleme. Ich denke, wir sollten es nicht erzwingen. Lassen wir den Rest der Nacht auf uns zukommen.“

„Entschuldige! Ich vergaß in der Aufregung ganz, dich nach deinem Befinden zu befragen.

Wie geht es dir? Hast du noch immer Schmerzen?“ Fiel Elena ein.

„Sie sind nach wie vor präsent! Aber es geht. Ich brauche kein Schmerzmittel. Da fällt mir ein, dass Inanna von Schmerzen ähnlicher Art geplagt wurde. Das kann kein Zufall sein. Die Übereinstimmungen sind einfach zu gravierend.“

Die beiden kuschelten sich eng aneinander, so dich dass sich ihre Nasenspitzen berührten.

„Kann es so etwas geben? Ich meine Präexistenzen? Ich habe mich eingehend damit beschäftigt. Ich finde einfach keine andere Erklärung. Die ersten Visionen meldeten sich bei mir schon vor einigen Jahre.“

„So wie bei mir! Aradia, immer wieder Aradia. Lange konnte ich mit dem Namen nichts anfangen. Doch die Visionen und Träume wurden im Laufe der Zeit immer deutlicher und präziser. Aber erst in jüngster Zeit verdichteten sich sie derart,dass ich deren Sinn entschlüsseln konnte.“ Bestätigte Elena.

Es besteht kein Zweifel. Auch wenn es unwahrscheinlich und nach Fantasy klingt. Du bist Aradia.“

„Ja! Und du….. du bist Inanna!“

„Mit anderen Worten ausgedrückt! Wir sind richtige Schwestern? Ich meine nicht nur symbolisch, so wie wir mit allen Töchtern der Freiheit verschwistert sind. Das….das ist einfach zu überwältigend. Du bist meine kleine Schwester. Und das seit sage und schreibe 5000 Jahren.“

„Ja! Und du bist meine große Schwester, meine Inanna.“

Nun war es an der Zeit reichlich Tränen zu vergießen. Die Worte stockten beiden auf den Zungen.

„Aber….aber, wir leben doch schon so lange eng beieinander. Warum haben wir nie etwas bemerkt, Inanna?“

„Ich weiß es nicht, Aradia! Doch andererseits stimmt das nicht. Meine Gefühle für dich  gingen von Anfang an in eine ganz bestimmte Richtung!“

„Hast du es bemerkt? Du nanntest mich eben Aradia!“

„Ja! Und du mich Inanna!“

Elena umschlang die wieder gewonnene Schwester mit Armen und Beinen.

„Als kleines Kind habe ich mir immer eine ältere Schwester gewünscht!“ Gestand Elena.

„Ja! Und ich mir einer jüngere!“

Sie hielten sich in den Armen. Der Versuch wieder einzuschlafen gelang beiden nicht. Ein deutliches nach Bedürfnis nach Nähe und Austausch. Die emotionalen Empfindungen glichen einer Achterbahnfahrt.

„Wann sind wir uns eigentlich das erste Mal begegnet? Das war…“

„In der Gartensiedlung am See!“ Unterbrach Colette. „Du lebtest dort schon einige Zeit. Ich fand recht spät den Weg zu eurer exklusiven Gemeinschaft. Als ich das erste Mal dorthin kam, warst du nicht anwesend. Ich sprach mit Kovacs und er überzeugte mich zu bleiben. Als ich dann kurz entschlossen einzog traf ich dich in dessen Laube. Du warst im Begriff dir einen Pinsel auszuleihen. Den brauchtest du für Tapezierarbeiten in einer anderen Laube.“

„Richtig! Jetzt erinnere ich mich auch. Du warst mir auf Anhieb sympathisch. Eine Empfindung, die ich noch bei keiner anderen Person verspürte. Ich fühlte mich sofort zu dir hingezogen. Du strahltest Ruhe und Sicherheit aus, ein Gefühl  tiefer Geborgenheit .“ Bestätigte Elena.

„Mir ging es ebenso! Als ich dich erblickte war mir so, als sei ich nach unendlich langer, ruheloser Wanderschaft endlich zuhause angekommen.“

„Wir erkannten uns unbewusst! Ich nannte dich schon nach kurzer Zeit große Schwester. Das war kein Zufall. Es war Bestimmung. Vorsehung. Es sollte so sein. Eine geheime Kraft hat uns zusammen geführt. Pass auf! Aradia rief eine Göttin an, eine die keinen Namen trägt. Doch wir beide kennen inzwischen ihre Identität. Es ist nicht schwer zu erraten, es ist Anarchaphilia.“

„ Mir erschien sie ebenfalls. In unregelmäßigen Abständen. In den eigenartigsten Manifestationen. Stets hielt sie die Hände über uns. Es war ihre Absicht, dass wir zusammen finden. Sie tat alles mögliche damit sich unsere Wege kreuzten. Ob und was wir daraus machen würden, überließ sie uns.“

„Als du damals fort gingst, kurz nach meiner Genesung, brach für mich eine Welt zusammen. Nie erlebte ich schlimmere Verlustängste. Es war so, als ob ein Teil von mir selbst einfach nicht mehr vorhanden war. Ich fühlte mich unendlich schuldig, man hatte dir wehgetan und ich tat nichts dergleichen um dir zu helfen.“ Offenbarte sich Elena.

„Ich war heimatlos in jener Zeit. Es war so schlimm, dass es mir heute noch schwer fällt, darüber zu sprechen. Aber all das bestätigt nur um so mehr unsere Vermutung.“

„Was ich aber nicht verstehe ist, warum Kovacs nie über Aradia sprach, oder Inanna. Er machte vage Andeutungen. Diese Prophezeiung mit der Oberen Plattform und so weiter. Er vermutet etwas, aber wissen? Anarchaphilia nannte er mehrmals. Davon hatte er also Kenntnis. Ich muss scharf nachdenken. Oder erwähnte er die beiden doch und mir ist es bloß nicht aufgefallen?“ Wunderte sich Elena.

„Kovacs war ein Dichter. Er beschäftigte sich zunächst aus rein beruflichen Gründen mit alten Mythen und Legenden. Dann wurde sein Interesse immer größer. Schließlich wurde er fündig. Er entdeckte etwas, drang dabei immer tiefer vor, wurde schließlich so stark in den Bann gezogen, dass er zum Anhänger der alten Lehren wurde. Er suchte einen Weg diese alten Überlieferungen mit den Anschauungen des modernen  Anarchismus in Einklang zu bringen. Ihm ging auf, dass der Anarchismus keine Erscheinung der Neuzeit ist, sondern schon vor Jahrtausenden praktiziert wurde. Das ist sein Verdienst. Doch im Unterschied zu uns war er damals nicht dabei. Das erklärt, warum er viele Dinge, die uns nach und nach ins Bewusstsein rückten, nicht wissen konnte.“ Wagte Colette den Versuch einer Deutung.

„Ich könnte mir vorstelle das er doch um Aradia und Inanna wusste, dass er möglicherweise sogar uns mit ihnen in Verbindung brachte, es aber nicht wagte seine These öffentlich zu äußern, weil sie einfach zu abenteuerlich und phantastisch klang. Er musste fürchten sich lächerlich zu machen. Auch wir schenkten ihm am Anfang  nicht viel Glauben.“ Vermutete Elena

„Ja und es gilt zu bedenken, dass die offizielle Geschichtsschreibung die Existenz von Aradia und Inanna als reale Personen leugnet. Deren Leben wurde ins Reich der Legenden und Fabeln verwiesen. Schon kurz nach Aradias Tod begannen die damaligen Machthaber jegliche Erinnerung an die Schwestern auszulöschen. Eine Schrift gab es damals erst in Ansätzen und selbst wenn, hätte man diese ebenso vernichtet.

Heutige Historiker lassen sich davon leiten. Sie leben nach der Devise, es kann nicht sein was nicht sein darf. Kämpfende Amazonen gab es nicht, punkt. Fertig! Wir leben nach wie vor im Patriarchat, vergiss das nicht. Die haben allesamt kein Interesse daran einen Nachweis darüber zu finden, dass es eine egalitäre Gesellschaft gab, oder gar eine Amazonenarmee, die für deren Wiederherstellung kämpfte.“

Fügte Colette hinzu und wirkte dabei sehr aufgebracht. Elena bemerkte das und schloss ihre Arme noch fester um die Schwester.

„Wir sind da! Wir werden die Wahrheit verkünden, ganz gleich mit welchen Argumenten sie uns bewerfen. Sollen sie uns verunglimpfen, es ist mir einerlei.  Wir waren dabei!“

Nachdem schließlich doch die Müdigkeit obsiegte, sanken beide nacheinander in einen traumlosen Schlaf. In dieser Nacht begegneten sie ihren Präexistenzen nicht noch einmal. Aber das war nicht von Bedeutung. Sie würden weiter forschen, Hand in Hand und ihre Kräfte bündeln, Bahn brechende Erkenntnisse warteten darauf, von ihnen enthüllt zu werden.   

 

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Anmerkungen:

 

 

Vorbild für die Stadt ist die in der heutigen Türkei gelegene jungsteinzeitliche Siedlung

Catal Hüyük. Entdeckt wurde die Siedlung in den 60er Jahren von dem britischen Archäologen James Melhaart.

Texte und Bilder sind im Internet reichlich vorhanden.

Die von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannte Steinzeitsiedlung gilt als architektonisches Meisterwerk.

 

 

Inanna war eine der großen sumerischen Göttinnen.

 

Aradia ist die Göttin der Wicca-Religion sowie anderen Strömungen im Neopaganismus.

Der Überlieferung nach ist sie die Tochter der römischen Göttin Diana (griechisch Artemis)

Sie gilt als einzige weibliche Avatarin und soll sich im 19 Jh. in England manifestiert haben.

Beweise für eine historische Person dieses Namens gibt es nicht.

Bekannt gemacht wurde sie von dem britischen Schriftsteller Charles Godfrey Leland

in seinem Buch „Aradia or the Gospel of the Witches“ aus dem Jahre 1899.

 

* Kasuba ist eine Äthiopierin