Verhängnisvolles Bündnis

 

Elenas Praxis oder besser das soziale Zentrum, das gemeinsam mit dieser entstand, begann langsam aber sicher Formen an zunehmen.

Cornelius hatte dafür einen  Großteil der Gebäude auf dem Geländer der  Kulturfabrik zur Verfügung gestellt. Noch immer hegte er die Hoffnung dass alle Bewohner der Gartensiedlung komplett übersiedelten. Platzmäßig ließ sich das ohne weiteres einrichten und es schien allemal bequemer und sicherer als dort wo sie derzeit lebten. Ein Ansinnen dass sowohl Elena als auch Kovacs freundlich aber bestimmt zurückwiesen. Zusammenarbeit ja, aber keine Fusion oder dergleichen. Die Autonomie der Gruppe sollte unbedingt gewahrt bleiben.

Gesundheitszentrum nannte sie diese Einrichtung der Einfachheit halber,  im Moment fiel ihr nichts Originelleres ein. Natürlich verbarg sich viel mehr dahinter, denn Elena war sich der Tatsache bewusst, dass eine medizinische Versorgung alleine kaum ausreichte. Das ganze Drum und Dran erforderte dies. Es handelte sich ja nicht um eine gewöhnliche Arztpraxis in gut bürgerlichem Ambiente. Die Menschen, die sich hier behandeln ließen, kamen in keiner gewöhnlichen Arztpraxis unter, sie waren einfach durch alle Roste gefallen, niemand interessierte sich für sie. Paria waren Nichtexistenzen. Wer für die Gesellschaft nicht mehr existiert bedurfte auch keiner medizinischen Betreuung mehr, so einfach machte es sich die Regierung. Paria zählten daher auch gar nicht mehr als Menschen im eigentlichen Sinne.

Ein in der Gosse verreckter Paria bewegte die Menschen ebenso wenig wie eine über den Haufen gefahrene Katze am Straßenrand.

Wer sich also unter solchen Umständen für Randexistenzen einsetzte, musste schon eine gehörige Portion Idealismus im Gepäck haben. Elena besaß zwar einen solchen, doch wurde dieser immer wieder auf die Probe gestellt.

Wenn die Menschen kamen, ließ es sich nicht vermeiden, sie erst einmal genau unter die Lupe zu nehmen, auch wenn das dem ersten Anschein nach einer Diskriminierung gleichkam.

Wie sahen die Haare aus, waren diese verkrustet, deutete dies auf Läuse hin?

Wenn ja, mussten sie erst einmal isoliert und entlaust werden. Die alten Lumpen, die sie am Leibe trugen mussten entsorgt und durch neue ersetzt werden, dann hieß es unter die Dusche und gründlich schrubben. Viele waren zudem ausgehungert und bekamen erst einmal etwas zu essen. Erst dann konnte man sich nach den Beschwerden erkundigen. Angefangen bei einfachen Schürfwunden bis zu komplizierten Knochenbrüchen, nichts blieb Elena erspart.

Infektionskrankheiten aller Art wurden ihr präsentiert, auch solche mit Ansteckungsgefahr.

Eine Rundumversorgung mit allem zum Leben notwendigen.

Bald schon reichte der Platz nicht mehr aus, dies brachte es mit sich, dass das die Räumlichkeiten  ständig weiter saniert und umgebaut werden musste, um sich den Bedürfnissen anzupassen.

Ganzheitliche Behandlung, so nannte Elena bald ihre Methode, denn nicht nur die Körper waren krank und ausgemergelt und harrten ihrer Heilung,  auch die meisten Seelen waren tief verwundet.

Wer jahrelang hustet, hat nicht nur eine Lungenentzündung, sondern ist oft auch depressiv, psychisch gestört, orientierungslos oder alles zusammen.

Menschen, die an der untersten Sprosse der gesellschaftlichen Leiter angekommen waren, rutschten immer tiefer ins Elend, aus dem es für sie ohne fremde Hilfe kein Entrinnen gab.

Elena musste in den ersten Wochen eine Unmenge hinzulernen. Zum ersten Mal erkannte sie die tiefe Dimension sozialer Spaltung, die sich auf krasse Art hervortat. Diese Menschen waren Abfall, menschlicher Müll, der auf seine Entsorgung wartete. Mehr nicht.

Zombies, lebende Tote, Menschen ohne Persönlichkeit.

Wie einfach war es doch früher, als sie am grünen Tisch in ihrem mondänen Büro in der Redaktion ihre boshaften Artikel über diese Randexistenzen verfasste, um diese später mit hasserfüllter Stimme über den Sender zu bringen. Sie brach den Stab über Menschen, die von ihr so weit entfernt lebten, wie auf einer fernen Galaxie.

Auf einmal begriff Elena auch den Zweck der mörderischen Sicherungsanlagen, die sich wie ein Schutzwall um die Privosiedlungen schlängelten.

Ein Grenzwall, der ihr selbst einst Sicherheit und Geborgenheit gewährte, allumfassend, immer während, bis an ihr Lebensende, wenn sie wollte.

Diese sichere Umfriedung hatte sie nun ein für alle mal hinter sich gelassen. Nun saß sie  hier, noch immer nicht ganz im Klaren darüber, worauf sie sich eigentlich eingelassen hatte.

Sie war nicht allein, denn so viele hatten sich inzwischen entschlossen, ihrem Beispiel zu folgen, das ermutigte und beunruhigte zugleich, denn sollte sie wider besseren Wissens scheitern, würde sie all jene unweigerlich mit ins Verderben ziehen, die einzig ihrem Charisma gefolgt waren.

Schon allein die Finanzierung bereitet ihr in zunehmenden Maße schlaflose Nächte. Auf staatliche Zuschüsse konnte sie kaum hoffen.

Alles musste durch Spenden aufgebracht werden. Sicher, noch verfügte sie über ausreichend Reserven. Auch ihre Freunde wie Gabriela, Klaus, Alexandra taten das ihre dazu. Doch was käme auf sie zu, sollte der Vorrat einmal aufgebraucht sein?

Von Tat zu Tag wuchs die Zahl der Hilfe suchenden Bittsteller.

Die Bauarbeiten beschleunigten sich in einem atemberaubenden Tempo. Es mussten Notunterkünfte errichtet werden, für jene die gar keine Bleibe mehr ihr eigen nennen konnten und auf der Straße dahinvegetierten.

Schon hatten sie das gesamte Areal in Beschlag genommen.

Hier entstand nun eine regelrechte Sozialstation.

Vom Friseursalon bis zur juristischen Beratung, die Bedürftigen bekamen hier alles, was sie brauchten. Auch die von Kovacs und Gabriela geführte Schule fand hier ihr zuhause.

All jene, die hier strandeten, kamen aus unterschiedlichsten Beweggründen. Zum Beispiel solche, die einfach einmal duschen wollten, sich neu einkleiden und einen ordentlichen Harrschnitt benötigten, damit sie beim Betteln oder auf dem Strich eine gute Figur machten. Andererseits kamen auch wirklich Kranke, Leute, die seit Jahren schon keine Arztpraxis mehr von innen gesehen hatten. Ein Leben auf der Straße oder in notdürftig hergerichteten Unterkünften machte krank.

Vorsicht war immer geboten, viele Helfer fürchteten sich anzustecken, mit Infektionen oder einfach nur mit Parasiten. Läuse und Flöhe fragen nicht nach sozialer Herkunft oder intellektuellem Niveau, die piesacken jeden, den sie erhaschen können. Auch Elena selbst bekam nur all zu oft etwas davon ab.

Wenn sie dann des Nachts in ihrem Bungalow so zerstochen war, dass sie es vor Juckreiz kaum noch aushielt, da bohrten die Zweifel dicke Bretter in ihrem Hirn, dann sehnte sie sich heimlich nach ihrem Luxusappartement mit seinem Whirlpool. Da begann sie sich zu fragen, weshalb sie das alles tat. Warum und weshalb hatte sie diese Bürde auf sich genommen? Doch widerstand sie den Dämonen tapfer.

Viele der Hilfesuchenden waren zudem Alkoholiker oder so mit Drogen zugedröhnt, dass sie ihre Umwelt kam noch wahrnahmen. Nicht wenige schlugen wild um sich und Elena bekam häufig einen kräftigen Schlag davon ab.

Auch das ertrug sie mit stoischem Gleichmut. Irgendwo in ihrem Inneren gab es da eine Kraftquelle, eine Energie, die ihr die nötige Stärke bot und sie immer wieder aufrichtete. Es gelang ihr auch, jene Energie auf ihre Umwelt zu übertragen, so dass sich auch die anderen, die mit ähnlichen Anfechtungen zu kämpfen hatten, gestärkt fühlen konnten.

Es verwundert sicher nicht, dass  Kyra, Kim und die anderen der alten Bahnhofsclique am besten damit zurecht kamen. Was sie hier vorfanden, kannten sie nur zu gut. Das war ihr Leben, altbekanntes eben. Nur, dass sie sich in der Zwischenzeit davon emanzipiert hatten.

Keinem anderen aber setzte dieses Leben so unbarmherzig zu wie Leander.

Der eingeschlagene Lebensabschnitt stellte für ihn eine Herausforderung ungeahnten Ausmaßes dar.

So lange die Bauarbeiten liefen, konnte er sich noch ganz gut ein bringen, wurde er hier doch in genügendem Maße gefordert.

Doch nach deren Abschluss stellte sich die Frage: Was nun?

Leander sollte  Elena in der Praxis zur Hand zu gehen. Doch was tut ein in medizinischen Fragen völlig Unqualifizierter dort? Es oblag ihm vor allem die verdreckten Gestalten in Empfang zu nehmen, die alten Klamotten vom Leibe ziehen und entsorgen, dann ab mit ihnen unter die Dusche, schrubben, danach desinfizieren, neu einkleiden.

Ferner den Behandlungsraum säubern, dazu gehörten auch die Toiletten.

Leander stöhnte unter den ständigen Attacken der Läuse und Flöhe. Ihm wurde übel aufgrund des penetranten Gestankes.

So also sah das neue Leben aus. Einen großartigen Tausch hatte er hinter sich. Ein Leben mit den heruntergekommenen Paria teilen? Die waren nun tagein tagaus seine neuen Lebenspartner.

Bald schon sehnte sich Leander nach der Arbeit in der Fabrik, die er doch gerade so voller Enthusiasmus hinter sich gelassen hatte. Die dortigen Gerüche, nach Gummi, Plastik, Jute und was sonst noch so verarbeitet wurde, waren nichts gegen das, was er hier über sich ergehen lassen musste.

Doch ein Zurück gab es nicht mehr. Aufgrund seiner immens langen Fehlzeit war er längst entpersonifiziert. Auch wenn es nie ein direktes Verfahren gegeben hatte. Nun gehörte er selbst zu den Paria. Eine Rückkehr in sein altes Leben ausgeschlossen, sosehr er sich auch so bemühte. An ihm haftete der Pariagestank.

Was für ein Idiot er doch war. Sein Vater hatte vollkommen Recht, als er ihn vor den Konsequenzen warnte, die unweigerlich auf ihn zukämen. Sich dies einzugestehen schmerzte besonders.

Auf und davon? Einfach die Kurve kratzen? Undenkbar! Wo sollte er hin? Ein Zuhause gab es nicht mehr. Seine Eltern vegetierten in einer 20qm großen Absteige, ständig in der Gefahr, selbst auf die Straße gesetzt zu werden. 

Eine eigene Wohnung zu mieten war einmal finanziell nicht zu stemmen, zum anderen verbot es die soziale Apartheid.

Er gehörte nun mal nicht zu jenen, die sich ein Leben nach Maß wählen konnten, so wie Elena und ihre Freunde. Auch wenn die ständig die Gleichwertigkeit aller Kommunemitglieder herausstellte. Die sozialen und intellektuellen Unterschiede ließen sich nicht einfach per Beschluss wegretuschieren.

Hier kam er nicht mehr weg. Nun gehörte er zu den Ausgestoßenen.

Immer tiefer glitt er in die Depression.

Und Cornelius? Hatte der nicht vor einiger Zeit von einer großen Aufgabe gefaselt, die ihn in der Bürgerbewegung erwartete? Nichts dergleichen geschah. Weilte Cornelius zu Besuch in der Siedlung und das kam in letzter Zeit recht häufig vor, tauschte er sich ausschließlich mit Elena oder Kovacs aus. Die Intellektuellen unter sich, der Prolet störte nur. Ab in den Saustall, wo du hingehörst.

Sollte so die neue Welt aussehen, konnte er herzlich gerne darauf verzichten. Die waren  auch keinen Deut besser als die Schwätzer, die heute noch das Sagen hatten.

Als er eines Nachmittags gerade im Begriff war, die Toiletten zu säubern, staunte er  nicht schlecht, als der große Cornelius höchst persönlich bei ihm erschien und zu einem Gespräch einlud. Welche Ehre, er durfte doch tatsächlich für einen halben Nachmittag am Tisch der Götter sitzen, als stummer Zuhörer den geistigen Attitüden Melancholaniens linksintellektueller Elite lauschen.

„Wie komme ich denn zu der Ehre? Bisher habt ihr auch keinen Wert auf meine Anwesenheit gelegt. Woher der plötzliche Sinneswandel, Cornelius?“ erkundigte sich Leander, den Frust kaum verbergend.

„Nun sagen wir mal so. Es wartet eine neue Aufgabe auf dich, nachdem du dich in deiner sicher nicht leichten Probezeit so wacker geschlagen hast.“ antwortet Cornelius, während sich beide über den Hof des Gesundheitszentrum bewegten.

„Probezeit? Was für eine Probezeit? Ich verstehe kein Wort!

„Das erklären wir dir, sobald wir beisammen sind!“ gab Cornelius kurz und knapp zu verstehen.

Unterdessen erreichten sie Elenas kleines Büro. Drinnen hatten neben Elena auch Kovacs und Alexandra Platz genommen.

Aha, die erlauchte Gesellschaft hatte sich eingefunden, dachte sich Leander. Diskutieren, planen, Entscheidungen fällen. Alles in möglichst kleiner Runde, so lief das hier seit Kurzem.

Nix mehr mit Großplenum und Entscheidung im Konsens, alle gemeinsam. Die alte Hierarchie schien zurück, die Einen verwalteten und entschieden, die Anderen arbeiteten für alle mit.

Elena begrüßte Leander, indem sie ihn umarmte und küßte.

Hi, Liebster! Was ist denn? Was guckst du denn so böse? Ist irgendwas?“

„Was gibt es denn so wichtiges, das ihr mich vom Toiletten reinigen wegholen müsst?“

„Hm, riecht man auch! Du hättest dich wenigstens um ziehen können, bevor du in so eine Gesprächsrunde kommst!“ beschwerte sich Alexandra!

„So? Ich hätte lieber gar nicht kommen sollen!“ Leander erhob sich spontan von seinem Stuhl, auf dem er sich erst wenige Augenblicke zuvor niedergelassen hatte.

„Schönen Tag wünsche ich!“ Leander eilte zur Tür hinaus. Elena folgte ihm.

„Leander, bleib doch stehen! Was ist denn? Warum bist du so empfindlich? Du benimmst dich wie ein kleines Kind, also weißt du. Das beobachte ich übrigens schon seit geraumer Zeit.“ Elena hielt ihm am Ärmel fest.

„Oh, du beobachtest mich. Na, das ist ja schon mal was. Da habe ich wenigstens wieder deine Aufmerksamkeit. Ich glaubte schon, du hast in der Zwischenzeit vergessen, dass es mich überhaupt noch gibt. Da kann ich mich ja glücklich schätzen.“ polterte Leander heraus.

„Wieso soll ich dich vergessen haben? Und was ist dann in der Nacht, wenn wir zusammen liegen? Da spürst du wohl keine Aufmerksamkeit meinerseits?“ konterte Elena barsch.

„Ja klar, du schläfst mit mir! In der Nacht bin ich gut genug, um dir Spaß zu bereiten. Der Preka macht sich gut als Liebhaber. Aber es gibt auch noch den Tag und da gehst du mir aus dem Weg, da bin ich dir offensichtlich nicht gut genug, dann ziehst du die Gesellschaft deiner Standesgenossen vor. Offensichtlich schämst du dich meiner!“ es kam nicht dick genug heraus. Leander war an einem Punkt gekommen, an dem er einfach alles loswerden musste.

„Na, jetzt hört doch alles auf. Was ist denn auf einmal in dich gefahren? Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen? Wie kommst du darauf, mir so etwas vorzuwerfen? Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Ich versuche dich überall mit einzubeziehen, seit du hier bist. Du bist es, der mir aus dem Wege geht!“

„Nee, ich geh dir nicht aus dem Weg, da hab ich gar keine Zeit dafür. Ich bin ständig damit beschäftigt, den Dreck zu beseitigen, den andere machen. Das nimmt mich so in Beschlag, dass für Zerstreuung und Muße kaum noch  Zeit bleibt. Es ist zum Kotzen. Ich bin der letzte Dreck, gerade mal gut genug anderer Leute Scheiße zu entsorgen.“ Nun war es raus. Jetzt schien Elena zu kapieren, was ihn verletzt hatte.

Ihre Stimme klang nun auf einmal viel sanfter. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter.

„Ach so, das ist es. Ich wusste ja nicht, dass dich das so verletzt. Wenn es nur das ist, da können wir doch Abhilfe schaffen. Warum hast du nicht mit mir darüber geredet. Wir wollten uns doch immer alles sagen, was uns bedrückt.“ Sie schlag ihre Arme um seine Taille und schmiegte sich an ihn.

„Du musst diese Arbeit nicht tun! Wenn du es nicht mehr schaffst, werde ich schon etwas Geeignetes für dich finden. Es gibt genug, was du tun kannst. Das sollte doch kein Problem sein.“

„Ist es aber!“ Abrupt entwand er sich ihrer Umarmung.

„Da habe wir`s wieder! Die große Elena spricht, entscheidet und alles wird geregelt. Du holst mich aus dem Dreck heraus und alles wird wieder gut: Glaubst du wirklich, dass das so einfach ist?“

„Ja, aber was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?“ Elena war sich keiner Schuld bewusst.

„Du willst Hierarchien abbauen, indem du neue aufrichtest! Ich bin ein kleines Würstchen, ich werde nie aus deinem Schatten treten. Uns verbindet allem Anschein nur die Nacht, weiter nichts. Gut, können wir haben. Ich stehe immer zu deiner Verfügung, wenn du befiehlst. Tagsüber aber leben wir in getrennten Welten. Die alte Apartheid ist tot! Es lebe die neue!“

Elena wollte gerade zum Widerspruch ansetzen, als Cornelius in der Tür erschien.

„Es wäre nicht schlecht, wenn ihr euren Zank auf später verschiebt. Wir wollten etwas Wichtiges besprechen. Ich habe ausgerechnet heute nicht viel Zeit, da gibt es noch eine Reihe von Terminen. Wenn es euch also nichts ausmacht?“

„Tut mir leid, aber ich verpeste da drinnen nur die Luft, wie du ja selbst gehört hast. Ich geh dann mal wieder, ihr kommt sicher glänzend ohne mich aus.“ lehnte Leander ab.

„Ach Leander, lass doch den Unsinn!  Die Angelegenheit ist von entscheidender Wichtigkeit, vor allem was die Rolle betrifft, die dir dabei zukommt. Also reißt euch doch mal ein bisschen zusammen und kommt rein.“

„In Ordnung, wir kommen!“ versprach Elena.

Wieder hatte sie für Leander mit entschieden. Wortlos schritten beide zur Tür.

„Leander entschuldige! Ich wollte dich nicht kränken. Es tut mir leid, wenn ich dich beleidigt haben sollte!“ bekundete Alexandra mit gesenktem Kopf.

„Schon gut! Alles vergessen!“ entgegnete Leander immer noch angespannt.

„Na gut, dann wären wir ja schon einen Schritt weiter!“ gab Cornelius zu verstehen.

„Dürfte ich dann auch erfahren, worum es geht? Ich hab nicht so viel Zeit, meine Toiletten warten auf mich, die machen sich nicht von alleine sauber.“

Kovacs räusperte sich kurz.

„Leander, ich denke, du wirst in Zukunft kaum noch Gelegenheit für derlei Dinge haben. Wir haben eine wichtige Aufgabe für dich. Cornelius und ich sind übereingekommen, dass es an der Zeit ist, dich in unsere politischen Aktivitäten einzubeziehen.“

„Und wie komme ich zu dieser Ehre?“ antwortet dieser kaltschnäuzig.

„Es ist erforderlich, dass sich unsere Initiative bedeutend besser organisiert und vernetzt. Da werden in Zukunft einige Helfer benötigt, vor allem was die Öffentlichkeitsarbeit betrifft. Wir haben uns entschieden, dich in unseren engeren Stab aufzunehmen und das schon in absehbarer Zeit.“ klärte Cornelius auf.

„Ach, da bin ich  platt! Und wann soll ich damit an fangen?“

„Am besten so bald als möglich. Wann es dir passt, gleich morgen wäre uns allen natürlich am liebsten!“ antwortet Cornelius wie aus der Pistole geschossen.

„Also, das muss ich mir noch überlegen und mindestens eine Nacht drüber schlafen.“

„Aber warum denn, was gibt es da  noch zu überlegen?“ wollte Kovacs wissen.

„Leander, bedenke doch, was dir hier geboten wird. Das ist deine Chance! Ich freue mich für dich. Das ist es doch, was du immer gerne tun wolltest!“ mischte sich Elena ein.

Nun wurde er wieder mal von allen Seiten bedrängt, das behagte ihm ganz und gar nicht, trotzdem reizte ihn natürlich die Aussicht, auch wenn er sich  im Moment noch nichts darunter vorstellen konnte.

„Wie ich sehe, habt ihr drei längst für mich entschieden, da kann ich ja wohl kaum  ablehnen.“ meldete sich Leander zu Wort.

„Damit haben wir auch ehrlich gesagt nicht gerechnet!“ gab Kovacs zu.

„Ja gut, wenn du einverstanden bist, dann komm doch gleich morgen im Laufe des Vormittages rüber in mein Büro. Dann können wir schon mal in Ruhe alles durchgehen, was so in Zukunft alles an steht. Du musst dir zum Beispiel auch ein Büro einrichten. Platz haben wir in der Barracke reichlich.“ ließ Cornelius durchblicken

„Na, so was, ein eigenes Büro? Ich bin sprachlos. Und was soll ich dann in diesem eigens für mich hergerichtete Refugium arbeiten, wenn ich fragen darf?“ Leander kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

„Das müssen wir entscheiden! Las mich nachdenken.“ Kovacs begann zu grübeln, dabei legte er denn Kopf weit nach hinten, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er angestrengt nachdachte.

„Ich habs! Du wirst der neue Generalsekretär unserer Organisation. Partei will ich das ganze auf keinen Fall nennen, denn wir haben noch darüber zu befinden,welche Struktur diese Organisation bildet. Aber ich denke, Generalsekretär hört sich doch gut an oder?“

„Ihr wollt mich verscheißern!“ zweifelte Leander nun mit deutlichem Wort.

„Nichts liegt uns ferner als dass!“ widersprach Cornelius.

Elena fiel Leander um den Hals und gab ihm einen dicken Kuss.

„Ich gratuliere dir und ich wünsch dir das Beste. Ich denke, diese Aufgabe entspricht dir bedeutend mehr, als deine letzte.“

Leander schwieg verwirrt. Das ging ihm einfach viel zu schnell. Vom Toilettenputzer zum Generalsekretär einer aufstrebenden politischen Bewegung, so etwas gab es nur in seichten Seifenopern im TV. Das konnte doch keine Realität sein. Die hatten sich gegen ihn verschworen, um ihm einen Streich zu spielen.

Doch ehe er etwas erwidern konnte, umarmte ihn auch noch Alexandra.

„Auch von mir alles Gute! Dann sehen wir uns demnächst des Öfteren, denn ich werde auch zumindest ein paar Mal die Woche bei Cornelius Dienst tun!“

„Aber ich weiß doch gar nicht, was ich dort zu tun habe. Ihr könnt mich doch nicht so von einem zum anderen Tag auf einen Posten befördern. Ich muss mir das alles erst mal an sehen, mich mit der Materie vertraut machen. Das kann ganz leicht in die Hose gehen, dann lachen sich die Gegner tot über uns. Gut, einverstanden, ich tue gern was in eurem Stab, aber mir wäre es lieber etwas im Hintergrund.“ gab Leander zu.

„Es gibt da keinen Hintergrund, Leander! Da stehen alle im Rampenlicht, dort kann sich keiner drücken:“ entgegnete Kovacs.

„So? Nein, ich sage dir, du solltest auf diese Funktion, Kovacs! Du bist noch immer bekannt und beliebt in Melancholanien. Die Leute werden gespannt sein, was du zu sagen hast, dir werden sie zuhören. Wer aber interessiert sich schon für das, was ein ehemaliger Fließbandarbeiter zu sagen hat.“ versuchte sich Leander weiter klein zu reden.

„Dass ist es ja! Weder Kovacs noch ich kommen direkt aus der Preka-Kaste. Wir benötigen einen, der die Belange der Bevölkerung kennt, alles am eigenem Leibe erfahren hat, der einfach mitreden kann. Kein Oberlehrertyp, der nur den Zeigefinger hebt und den Menschen etwas einzureden versucht. Du bist doch nicht allein. Wir unterstützen dich. Ich bin der Vorsitzende der Bewegung, wir werden als Team zusammen auftreten.“ versuchte ihn Cornelius einzustimmen.

„Ich bin trotzdem der Meinung, Kovacs sollte an diese Stelle. Gemeinsam könntet ihr euch gut ergänzen. Ach ja, welche Aufgabe hast du dir denn ausgewählt Kovacs?“ konterte Leander geschickt.

„Für mich? Eigentlich gar keine!“

„Gar keine? Das kann ich nun absolut nicht nachvollziehen!“ Leander war mit der Antwort äußerst unzufrieden.

„Kovacs ist, nun sagen wir mal unser Philosoph, unser Chefideologe, wenn ich es mal so ausdrücken will. Ich denke, es gibt bedeutend bessere, aber mir fällt gerade nichts ein. Er steuert alles aus der Deckung, er versorgt uns mit geistreichen Ideen aller Art.“ erläuterte Cornelius.

„Versteh ich zwar immer noch nicht ganz, aber ich muss mich wohl geschlagen geben. Und Elena, welche Aufgabe übernimmst du?“ bohrte Leander nun in die andere Richtung.

„Ich? Ach weißt du, ich gehe hier in meiner Aufgabe so sehr auf, dass mir wenig Zeit für solche Dinge bleibt. Die Sozialstation ist im Moment mein Lebensinhalt, da muss noch viel getan werden. Und jetzt, da du mich dort nicht mehr unterstützen kannst, werde ich noch aktiver werden müssen!“ gab Elena zu verstehen.

Diese Antwort befriedigte in ganz und gar nicht.

„Ach, das glaubst du doch selber nicht! Nein, das kannst du mir nicht weismachen. Die Initiative ohne Elena?“

„Elena ist unser größter Trumpf. Den lassen wir bist zum Schluss im Verborgen, den ziehen wir, wenn die Stunde gekommen ist. Noch stehen keine Wahlen an. Aber ich denke, es riecht danach. Wenn es soweit ist, brauchen wir eine Spitzenkandidatin, und die haben wir mit ihr.“ offenbarte Cornelius.

„Nun, darüber müssen wir uns noch verständigen. Eine Zusage meinerseits gibt es noch lange nicht. Wir wollten etwas Neues schaffen. Aus diesem Grund leben wir in der Gartensiedlung. Elena die Wahlkämpferin? Kann ich mir ganz und gar nicht vorstellen. Da lasse ich mir mit der Entscheidung viel Zeit.“ bog Elena ab.

„Soso, noch eine Unentschiedene!“ lästerte Leander.

„Es gibt keinen Grund zu übertriebener Eile. Wie ich schon sagte, wir besprechen das, wenn die Zeit dafür gekommen ist!“ entschied Cornelius.

„Aber die Zeit kommt rasch, sie könnte rascher kommen als uns allen lieb ist.“ gab Kovacs zu bedenken." Auch ich hege große Zweifel ob die Teilnahme an Wahlen irgend eine Lösung bringt. Ehrlich gesagt kommen mir dabei große Bauchschmerzen. Die Akratie die wir anstreben ist nicht wählbar! Aber die Organisation die wir aufbauen soll viele Funktionen bekleiden."

„Jedenfalls sind wir heute ein gehöriges Stück voran gekommen und das ist gut. Wir wachsen und gedeihen. Alexandra wird unsere Geschäftsführerin, sie hat sich in Verwaltungsaufgaben sehr gut geschlagen in letzter Zeit. Auch die andern werden wir ein binden. Gabriela muss ich unbedingt dazu bewegen und selbst für unsere Wildkatze Kyra könnte ich mir eine Aufgabe vorstellen.“ schlug Elena vor.

„Also was die Aufgabenverteilung betrifft, da bist du einfach unschlagbar, Elena.“ warf Alexandra ein.

„Toll, dann wäre unser Kompetenzteam gut aufgestellt, da kann ich mit gutem Gewissen nach Hause gehen.“ Stellte Cornelius fest.

„Also ich verstehe nur Bahnhof was soll ich dann morgen früh  konkret tun? Klärt mich mal auf und laßt mich nicht dumm sterben.“ Wollte Leander  wissen.

„Wie abgesprochen. Das wird ab sofort dein Arbeitsplatz.Natürlich musst dich erst ein gewöhnen, das ist nicht einfach, aber wir schaffen das.“ Ermutigte Cornelius.

„War es das oder gibt es noch wichtiges zu besprechen?“ erkundigte sich Elena.

„Nicht, das ich wüsste! Also dann. Wir sehen uns morgen, ich muss jetzt auch zurück. Kommst du morgen auch mit, Elena?“ fragte Kovacs, zu dieser gewandt.

„Ja gut! Wenn du willst!“

Einer nach dem anderen verließ den Raum, bis nur noch Elena und Leander zurückblieben.

„Ich hoffe, du bist mit deiner neuen Aufgabe zufriedener, als mit deinen bisherigen. Ich habe dir doch immer gesagt, dass ich mich für dich verwende. Es war eben nur ein wenig Geduld von Nöten. Nun kannst du dich entfalten. auf die Weise die dir entspricht. Oder bist du noch immer nicht zufrieden gestellt?“

„Du hast dich also wieder mal für mich verwendet. Es fällt mir unglaublich schwer mich daran zu gewöhnen das du die Hosen in unserer Beziehung trägst, geht eben kein Weg dran vorbei. Ich muss es wohl akzeptieren.“ Leander starrte zu Boden, Elena konnte sich seine Reaktion nicht erklären.

„Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe den Eindruck, dass man dir wohl nie etwas recht machen kann. Ich dachte, du freust dich über die große Aufgabe. Aber dir ist anzumerken, dass sich deine Begeisterung in Grenzen hält.“

„Was erwartest du von mir? Dass ich in die Luft springe und vor Freude drei Saltos rückwärts mache?“ gab Leander sarkastisch zurück.

„Ach, mit dir ist heute wirklich nicht zu reden! Offensichtlich schlechte Laune? Naja, da kann ich auch nichts machen, dann soll es eben so sein.“

Elena erhob sich und wandte sich zur Tür und vergrub dabei ihre Hände in den Hosentaschen. Leander blickte weiterhin stumm zu Boden.

„Ich…ich habe noch Sprechstunde heute Nachmittag! Wir sehen uns dann heute Abend?“

„Jaja, bis heute Abend! Ich hoffe, dass ich da wieder in besserer Stimmung bin. Ich muss das alles erst mal verdauen. Das geht mir einfach alles zu schnell. Ich brauche Zeit, um mit all dem klar zu kommen.“ erwiderte Leander.

„Natürlich brauchst du die!“

Elena öffnete die Tür, konnte sich aber nun doch nicht zum Gehen entschließen. Schließlich schloss sie diese wieder und nahm neben Leander Platz. Zärtlich legte sie ihren Arm um seine Schultern.

„Liebster, was ist mit dir? Sprich doch mit mir, wenn dich etwas bedrückt. Wenn du mit all dem nicht klarkommst, ist das doch keine Schande. Wir alle sind aus unseren Welten gefallen und müssen gründlich um denken und uns der neuen Situation anpassen. Der eine kommt gut damit klar, der andere benötigt eben länger. Ist doch alles nicht so tragisch.“

„Ja, für dich vielleicht. Aber bei mir liegen die Dinge etwas komplizierter. Wenn du einmal die Nase voll haben solltest, von all dem hier…“ Leander drehte mit dem Arm einen Halbkreis in der Luft und schwieg für einen Weile.

„Wenn... wenn du genug von all dem hast, kannst du mit gutem Gewissen in deine alte Welt zurückkehren. Mag sein, dass es hier und da ein wenig klemmt, aber ich bin sicher, nach kurzer Zeit bist du wieder ganz die alte.“ fuhr er fort.

„So! Das denkst du von mir!“ Elena zog ihren Arm von Leanders Schultern. „Womit habe ich verdient dass du mir so misstraust. Ich habe mit meinem alten Leben gebrochen, gründlich, es gibt kein zurück mehr, nicht heute, nicht morgen und nicht irgendwann. Du glaubst, das ist hier ein Spaß für mich? Da hast du dich aber getäuscht. Tagtäglich diese verdreckten armen Teufel verarzten, eiterige Wunden versorgen, Knochenbrüche, Infektionen, totale Ansteckungsgefahr. Was glaubst du,bei welcher Gelegenheit ich mir die fiebrige Grippe letzte Woche eingefangen habe? Und hier sieh her!“ Sie zog den Ärmel ihrer Bluse hoch. „Was glaubst du, woher die Stiche da kommen?

Zum Glück sind die am Abklingen. Ich muss Tausende von Flöhen aufgesammelt haben, dem Anschein nach fühlen die sich bei mir besonders wohl. Ach ja, und dann gibt es noch etwas, ganz frisch von heute morgen.“ Sie zog ihr Hosenbein hoch, zum Vorschein kann ein großer blauer Fleck am linken Schienbein. „Einer unserer angesoffenen Stammkunden hat kräftig zugetreten. Wie durch ein Wunder ist es bei einer Prellung geblieben!“

„Was? Na, wenn ich den erwische, den mach ich zur Sau!“ Mit einem Satz sprang Leander nach oben. Elena zog ihn wieder runter.

„Bleib hier! Ist ja schon gut! Tut gar nicht mehr so weh. Aber deine Reaktion zeigt mir, das dir doch noch einiges an mir liegt!“

„Warum sollte mir nichts mehr an dir liegen? Ich liebe dich! Das weißt du doch, daran hat sich  nichts geändert! Aber das ist es ja gerade. Sicher, ich sehe es ein! Dir muss die Sache hier sehr ernst sein. Warum solltest du sonst diese Torturen über dich ergehen lassen?“

„Eben Leander, eben!“

„Aber wie gesagt, du könntest es, wenn du das alles nicht mehr ertragen kannst. Du hättest zumindest die Möglichkeit.“ beharrte Leander noch immer auf seinem Standpunkt

„Ich tue es aber nicht!“ Elena strich ihm sanft durch das Haar. „Was auch kommen mag, ich bleibe. Du wirst es ab morgen bedeutend besser haben. Freu dich doch auf die neue Aufgabe, das ist doch eine große Herausforderung für dich. Da kannst du deine Talente voll zur Geltung bringen. Ich arbeite weiter hier, in Gesellschaft von Flöhen, Läusen und Gestank.“

„Aber wie lange werden wir uns das noch leisten können? Das ist eine andere Frage. Wir tun das alles unentgeltlich. Was glaubst du, wie lange halten wir noch durch? Wann wird er letzte Spargroschen aufgebraucht sein? Hast du mal darüber nachgedacht?“ flocht Leander nun dieses heikle Thema ein.

„Mach dir darüber keine Gedanken! Glaub mir, das ist völlig unnötig. Das halten wir noch ne ganze Weile durch.“ versuchte Elena zu beschwichtigen.

„Ich habe stets meinen Lebensunterhalt selbst verdient. Ein solches Denken ist mir fremd. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, von anderer Leute Geld zu leben.“

„Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben. Glaub mir, von dem Geld, das ich noch auf der hohen Kante habe, können wir noch eine ganze Weile leben.“ kaum waren diese Worte über die Lippen, bereute sie diese schon.

„Ja genau! Da haben wir es wieder! Du bist sehr direkt! Das kann man an dir sowohl schätzen als auch verfluchen!“

Mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch erhob sich Leander spontan und verließ den Raum.

Elena ballte eine Faust und schlug sich damit auf den Oberschenkel.

„Verfluchter Mist! Ich blöde Kuh! Warum kann ich nur meinen Mund nicht halten? Ich hab`s verpatzt. Ich hab`s wieder verpatzt!“

Der Tag verging ohne weitere Vorfälle. Tiefe Traurigkeit umgab Elena, während sie ihrer Arbeit nachging. Würde sie je einen Draht zu Leander finden? Es war so unsagbar schwer, die Barrieren zu überwinden Immer wieder endeten Gespräche auf solche Art im Streit.

Sichtlich geschafft kehrte Elena am Abend in die Bungalowsiedlung zurück. Sie war müde und wollte einfach nur noch schlafen.

Als sie den Bungalow betrat, erwartete Leander sie dort schon. Beide vermochten es nicht, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Schweigen, einfach schweigen, das war wohl das Beste. Beide brannten vor tiefem Verlangen für einander. Sie standen sich gegenüber und ihre Blicke kreuzten sich. Dann die gegenseitige Berührung. Leander begann Elena ganz langsam zu entkleiden, sie ließ es geschehen. Es kribbelte auf ihrer Haut, wie Tausende unsichtbarer Ameisen. Als sie nackt vor ihm stand, begann sie nunmehr ihn von seiner Kleidung zu befreien. Dann Küsse, Zärtlichkeiten, Berührung am ganzen Körper. Nur nicht zu lange stehen. Denn immer wieder war Leander genötigt, zu der1,89cm großen Frau aufzublicken und das konnte er einfach nicht ertragen. Schnell ins Bett, im Liegen ließ sich dieser Umstand verbergen. Liebe, immer nur Liebe, stundenlang, bis tief in die Nacht, schnell hatte Elena ihre Müdigkeit überwunden, ihr starke Erregung ließ eine solche nicht mehr zu. Immer, wenn der Tag einen Streit hervorgebracht hatte, wurden sie durch eine besonders sinnliche Nacht entschädigt. Warum?  Verband sie wirklich nur die Nacht? Waren sie nur dann ein richtiges Paar? Konnten sie denn nicht auch am Tage ihre Verbundenheit füreinander darbieten?

Unlösbare Fragen? Im Moment waren diese außer Kraft gesetzt. Was der morgige Tag im Gepäck hatte, spielte keine Rolle.

Elena hörte sich flehen: „Bitte lass diese Nacht ewig dauern! Sie sollte nie vergehen. So eng umschlungen auf den Flügeln der Liebe in den Himmel fliehen. Niemals wiederkehren. Die Welt mit ihren Anfechtungen weit hinter sich lassen.“

Doch sie gehörten nun mal in diese Welt, daran gab es keinen Zweifel, und diese Welt würde sie gefangen halten. solange sie lebten.

Nur wenig Schlaf war ihnen in dieser Nacht vergönnt, so intensiv waren sie miteinander beschäftigt.

Langsam begann die Sonne sich ihren Platz am Himmel zu erobern. Schob die schützende Dunkelheit vor sich her. Mit der ein brechenden Helligkeit würden sich auch die Anfechtungen des Tages wieder ein Stelldichein geben. Ob sie es wollten oder nicht, beide mussten sich dieser Tatsache stellen.

Leander war schon im Badezimmer verschwunden, während sich Elena noch in die Decke rollte. Als er wieder erschien, hob sie ihren Kopf und strich mit sinnlicher Geste ihre kupferrote Lockenmähne nach hinten. Ach, wie mochte Leander diese Gestik, in solchen Augenblicken war sie einfach seine Göttin.

„Guten Morgen! Schon so früh auf?“

„Hab einfach keine Ruhe mehr. Bin ein klein wenig aufgeregt, wegen heute!“

„Kann ich gut verstehen! Du schaffst das! Soll ich dich begleiten?“

„Ja, gern! Wenn du magst. Hast du denn heute Vormittag keine Sprechstunde?“

„Heute nicht! Ich muss mir ja auch mal frei nehmen. Also, dann fahren wir gemeinsam.“

Elena schlug die Decke zur Seite und ihr Venuskörper kam zum Vorschein. Schnell war sie auf den Beinen, baute sich vor ihm auf und blickte wieder zu ihm herab. Leander konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. Sie war so perfekt, dass er sich dabei ertappte, sie zu fürchten. Konnte es überhaupt so einen idealen Menschen geben?

Und ihm wurde das Privileg zuteil diesen Körper berühren und lieben zu dürfen, in solchen Momenten fühlte er Stolz und Dankbarkeit.

Elena entschwand im Badezimmer.

Auch später, beim gemeinsamen Frühstück wechselten sie nicht viele Worte. Reden ist Silber - Schweigen ist Gold! Beide schienen diese goldene Regel zu beherzigen. Wer schweigt, kann auch nichts Unpassendes von sich geben. Schweigen bewahrt vor so mancher Torheit des Wortes.

Andererseits waren sich beide bewusst, dass sie reden mussten, wollten sie einander besser kennen lernen, sonst drohten sie immer Fremde füreinander zu bleiben.

Um ihr Ziel schnell zu erreichen, benutzen beide nicht wie üblich die Fahrräder, sondern ein Auto. Elena steuerte den Jeep sicher und mit Routine zur Kulturfabrik. Wieder war sie es, die führte. Leander besaß nicht mal einen Führerschein. Sollte er der ewig Abhängige bleiben, bei allem was er tat?

Endlich am Zielort, Ablenkung, wenn er sich auch vor der neuen Aufgabe fürchtete. Er hoffte abschalten zu können. Alles in Ruhe angehen, so wie es Cornelius und Kovacs angeboten hatten.

Doch daraus würde wohl nichts. Hastig kam ihnen Cornelius in der Toreinfahrt entgegen.

„Guten Morgen, Cornelius, was ist denn mit dir los. Warum bist du so außer Atem?“ begrüßte Elena diesen.

„Es gibt Neuigkeiten, deshalb! Gut, das ihr schon so früh gekommen seid!“ gab der Angesprochene zu verstehen.

„Was denn für gute Neuigkeiten? Da bin ich aber gespannt!“ meinte Elena, während sie das Auto verschloss.

„Neidhardt kommt heute zu uns! “ berichtete Cornelius außer Atem.

"Neidhardt?! Wie kommt der denn dazu?" Entfuhr es Elena.

"Er hat uns ein Bündnisangebot unterbreitet und will erste Sondierungsgespräch führen!"

"Aber das tut er doch ständig, in regelmäßigen Abständen. Und erhält von dir immer die gleiche Absage. So ist es unser Konsens. Was ist denn so besonderes daran? Du hast doch abgelehnt....oder?" Erinnerte sich Elena.

"Äh.. ja äh... diesmal nicht! Ich ...ich habe mich bereit erklärt ihn zu empfangen und mit ihm zu reden!" Gab der Alte kleinlaut zu.

"Du... na das schlägt dem Fass den Boden aus!" Elenas Entrüstung kannte keine Grenzen.

"Elena, es handelt sich nur um ein Erstgespräch. Ich habe lange nachgedacht über unsere Strategie und bin zu dem Entschluss gekommen, diese an bestimmten Stellen zu lockern. Einiges muss überdacht und neu entworfen werden."

"Aha! Du hast das entschieden! Einfach so! Ohne die anderen einzubeziehen oder auch nur zu informieren. Du stellst uns vor vollendete Tatsachen und erwartest das wir das akzeptieren?"

„Das fängt ja gut an! Mein erster Tag  und schon ins kalte Wasser gestoßen. Ne feine Sache ist das!  beschwerte sich Leander, während sie über den geräumigen Fabrikhof hasteten.

„Tut mir sehr leid, Leander, aber ich habe davon auch erst vor einer Stunde erfahren. eigentlich wollte Neidhardt erst nächste Woche kommen. Aber so ist er eben, unberechenbar. Man muss bei ihm immer auf Überraschungen gefasst sein.“ bedauerte Cornelius.

„Dieser Mann hat kein Benehmen.  Der geborene Diktator. Denkt, er kann mit uns um springen, wie mit seinen Untergeben. Befehle erteilen und alle können gehorchen. So etwas habe ich gern.“ schimpfte Elena.

Im Sekretariat wartete Alexandra schon auf die anderen.

„Hallo Alexandra? Bist wohl neuerdings unter die Frühaufsteher gegangen?“ begrüßte Elena ihre Freundin.

„Gerade  vor 5 min.bin ich rein. Wollte mich nur mal in Ruhe umsehen. Hm, hier werde ich also demnächst als Tippse schuften. Naja, die Umgebung scheint gar nicht so übel, so auf den ersten Blick.“ erwiderte die Angesprochene.

„Tut mir leid, kann ich nur noch mal wiederholen.  Wir alle werden ins kalte Wasser gestoße.Nicht nur du Leander. Wir müssen viel inprovisieren. Ich betone noch einmal. Es handelt sich ausschließlich um ein Erstgespräch. Es fällt keine Entscheidung heute. Wir werden im anschluss in Ruhe diskutieren. Ach, ist Kovacs schon aufgetaucht?“ meinte Cornelius, während er sich an einem großen Schreibtisch niederließ.

„Keine Ahnung! Also, ich hab ihn noch nicht gesehen!“ antwortete Alexandra, während sie alle möglichen Schreibutensilien auf den Tischen platzierte.

„Sieht ihm ähnlich, der kommt auch am liebsten, wenn er mal gerade Lust hat. Gerade jetzt bedürfen wir seines Zuspruches.“ mokierte sich Cornelius.

„Vielleicht zeigt mir mal eben einer, wo ich in Zukunft mein Lager auf schlagen soll?“ wollte Leander wissen.

„Einfach durch die Tür dort! Zumindest steht dein Name daran. Ich bin  wie gesagt auch das erste Mal hier.“ glaubte Alexandra zu wissen und deutete mit dem Finger in eine Richtung.

Leander schritt auf die Tür zu und konnte tatsächlich sein Namensschild entdecken.

„Ja richtig, da befindet sich ab sofort dein Büro, Leander! Mein eigenes hier drüben, gegenüberliegende Seite.“ Cornelius wies in die entgegengesetzte Richtung.

Leander öffnete die Tür und fand sich in einem kleinen etwa 20 qm großen Raum, äußerst spartanisch mit ausgedienten Büromöbeln ausgestattet. Die Bücherregale an den Wänden strahlten gähnende Leere aus. Mit welchen Kostbarkeiten sollte er diese wohl bestücken? Aber sie gaben der mit weißer Rauhfasertapete beklebten Wand wenigsten eine gewisse wohnliche Note. Ein schwarzer Lederdrehsessel wartete dort auf ihn und ein aus hellem Sperrholz gefertigter leerer Schreibtisch.

Leander nahm Platz und lies die ersten Eindrücke auf sich wirken. Was würde er hier wohl tun? Er hatte nicht die geringste Ahnung.

Elena betrat den Raum und blickte sich um.

„Hm, von hier aus wirst du also von nun an über die Geschicke Melancholaniens mitbestimmen. Ein wenig kahl wirkt das schon, würde ich sagen.“

„Das denke ich auch! Da kann einem ja der Schüttelfrost kommen!“ Leanders Begeisterung hielt sich weiter in Grenzen.

"ich werde in den nächsten Tagen mal überlegen auf welche Weise wir alles  ein wenig geschmackvoller gestalten können. Ein paar Gardinen ans Fenster, ein paar Bilder an die Wand und natürlich Bücher in die Regale, das wirkt immer, es soll ja so intellektuell wie möglich erscheinen. Vor allem immer einen Strauß frische Blumen auf den Tisch.“ bot sich Elena an.

„Ja, wenn es nur das wäre. Ich hab nicht die geringste Ahnung, was ich eigentlich tun soll, Elena. Was kann ich  denn schon ausrichten?“ seufzte Leander und stütze seinen Kopf auf die Handflächen.

"Mein erster Tag und gleich mit Neidhardt konfrontiert. Ich hätte mich nie darauf ein lassen dürfen. Der fährt uns alle an die Wand."

„Ich bin immer für dich da. Ich stehe dir mit Rat und Tat zur Seite. Hab keine Furcht, mit diesem Grobscheid werden wir fertig. Denke an Kovacs Worte, nur als Team sind wir wirklich stark.“ versuchte Elena ihm Mut zu zusprechen bevor sie sich auf einen mit braunem Plüsch bezogenen Stuhl niederließ, der sich auf der gegenüberliegenden Seite des Schreibtisches befand.

"Der kann sich seine Abfuhr heute persönlich abholen. Gut, wenn ihm das lieber ist. Da müssen wir durch. Danach nehmen wir alles ruhig und sachlich in Angriff. Ich stehe zu dir und unterstütze ich in allem was du tust."

„Ich werde wohl oder übel darauf zurückkommen müssen!“ akzeptierte Leander, was Elena außerordentlich erfreute, ließ er doch dadurch erkennen, das er nun bereit war, ihre Hilfe an zunehmen und ihr vor allem nicht mehr böse war.

„Apropos Kovacs! Mir wäre  auch wohler, wenn er endlich einträfe. Kovacs weiß immer was in solchen Situationen gefordert ist. er wird diesen Neidhardt in die Schranken weisen.“ hoffte Elena.

Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, da bemerkte sie, wie der Dichter mit seinem Fahrrad  am Fenster vorbeirollte.

„Da ist er schon! Ihr habt wohl telepathische Kräfte, oder hast du ihn gerade herbei gezaubert.“ meinte Leander.

„Wie du siehst! Komm, lass uns ihn begrüßen!“

Beide verließen das Büro und schritten durch das Sekretariat hinaus ins Freie.

Kovacs war gerade im Begriff, sein Fahrrad  anzuleinen.

Auch Cornelius erschien in der Tür.

„Na endlich! Wir dachten schon, du hättest uns vergessen! Gerade heute an so einem wichtigen Tag!“ Cornelius schien ein wenig ungehalten.

„Wieso? Dieser Tag ist genauso wichtig und unwichtig wie jeder andere. “ entgegnete Kovacs mit seiner saloppen Art, die Dinge an zugehen.

„Wir haben heute kaum Zeit für philosophische Phrasen. Es gibt noch eine Menge zu tun. Wir müssen uns überlegen, wie wir Neidhardt entgegentreten!“ bedrängte ihn Cornelius.

„Macht dir doch nicht schon im voraus so viele unnütze Gedanken. Also, was mich betrifft, ich kümmere mich äußerst ungern um ungelegte Eier. Wir werden ihm ganz locker begegnen, unsere Position ist bekannt. einen Kompromiss gibt es nicht. Wir hören ihn an, von mir aus, auch wenn es schwerfällt. Auf keinen Fall Schwäche zeigen. Soll er womöglich glauben, dass wir uns seinetwegen fast in die Hosen machen? Das fällt mir  nicht im Träume ein. " entfuhr es Kovacs, während er mit den anderen das Sekretariat betrat.

" Finde ich auch! Kovacs hat Recht!  Einfach hören was er zu sagen hat hat, dann teilen wir ihm unsere Meinungen mit, fertig. Dann ist auch für mich der Fall erledigt.“ pflichtet ihm Elena bei.

„Aber das ist doch nicht euer Ernst?“ entsetzte sich Cornelius

„Sagt mal, kennt eigentlich einer von euch  Neidhardt persönlich? Ich kenne nur die Gerüchte und Legenden, die über ihn in Umlauf sind und die sind ja bekanntlich meist negativer Natur.“ warf Leander in die Runde.

„Ich nicht! Obgleich ich mit vielen eigenartigen Typen zu tun hatte. Aber der ist mir noch nie untergekommen!“ verneinte Elena die Frage.

„Flüchtig, ganz flüchtig!“ gab Cornelius zu verstehen.“ Ist schon ne Weile her, so etwa 10 Jahre. Damals gab es eine Diskussion an der Radung Universität, kurz bevor er in den Untergrund ging. Da ging es hoch her, sage ich euch, da flogen  die Fetzen. Thema lautete „Formen des Widerstandes“. Ihr könnt euch vorstellen, dass wir beide ziemlich konträre Ansichten vertraten. Wir schonten einander nicht. Womöglich nahm er mir das übel. Seit jenen Tagen verloren wir uns aus den Augen.“

„Ich erinnere mich! Auch ich war damals zugegen! Ging richtig zur Sache damals!“ bestätigte Kovacs.

„Du auch? Ich hab dich damals gar nicht wahrgenommen!“ bekannte Cornelius.

„Hab mich auch recht still verhalten, war damals mehr Zuhörer. Auf dem Flur hatte ich jedoch noch nen Disput mit ihm.“

„Nur Zuhörer? Kann ich mir gar  vorstellen, wenn ich da an unserer Libertären Lektionen denke!“ neckte ihn Leander.

„Tja, andere Zeiten, anderes Auftreten!“ Meinte der Dichter.

„Wir alle haben noch keine richtige Erfahrung mit Neidhardt und das ist es, was die Sache so kompliziert macht. Er lässt sich überhaupt nicht einschätzen. Es heißt, er ändert seine Taktik wie das Wetter.“ gab Cornelius weiter zu bedenken.

 

Unterdessen hatte sich Ronald, unbemerkt von den anderen, über den Hof des Fabrikgeländes auf das Außentor bewegt. Dort angekommen hielt er Ausschau. Auf dem direkt gegenüberliegenden großen nur notdürftig mit Schotter befestigten Platz hatten sich ein paar Baufahrzeuge eingefunden. Was in aller Welt wollten die hier? Ihm war nicht bekannt, dass heute Baumaßnahmen unternommen werden sollten. Er hatte Neidhardt schon seit Wochen nicht mehr gesehen, auch seine Berichte an ihn vernachlässigte er auf das Gröbste. Gestern nun erhielt er von Lars den Hinweis, dass der große Meister heute persönlich  erscheinen würde. Eine beklemmende Angst bemächtigte sich seiner. Wie würde Neidhardt reagieren? Wurde er etwa schon als Abtrünniger betrachtet?

In der Zwischenzeit bewegten sich auch einige Bauleute auf dem Platz, nahmen Aufstellung, blickten sich scheinbar um, besonders schienen diese das Fabriktor im Auge zu haben. Ronald beschloss der Sache auf den Grund zu gehen und schritt zu ihnen.

Er wollte gerade eine Frage stellen, als er Lars bei der vermeintlichen Bautruppe erkannte.

„Lars, du hier? Was soll denn in diese Maskerade?“

„Wir sind die Vorhut! Neidhardt müsste jede Minute  eintreffen. Wir sind schon mal vorgefahren, um die Lage zu erkunden.“ gab der  Angesprochene zu verstehen.

Da plötzlich bog ein weiteres Baufahrzeug auf den Platz ein, parkte schließlich direkt neben den anderen Wagen.

„Siehst du! Da ist er schon!“ fuhr Lars fort.

„Was denn, Neidhardt in einem Baufahrzeug? Was soll das?“ entgegnete Ronald ungläubig.

„Bist du so naiv oder tust du nur so? Wie sollen wir ihn denn sonst hierher befördern? Mit einer Staatskarosse, am besten mit der revolutionären Standarte vorne dran? Damit auch die letzten mitbekommen, dass es Neidhardt persönlich ist? Dann hätten wir  dem Staatsschutz gleich eine Einladung schicken können und den Typen vom Blauen Orden gleich mit. Sollte mich nicht wundern, wenn von denen schon einige in der Gegend rumlungern.“ klärte Lars weiter auf.

„Ja klar! Hätte ich auch selbst drauf kommen müssen. Ist ein origineller Einfall, muss ich wirklich sagen!“ versuchte sich Ronald herauszureden.

Dann bewegten sie sich auf das Fahrzeug zu und betrachten, wie die Plane Nach hinten gezogen wurde.

Eine große Mischmaschine kam zum Vorschein. Doch wo befand sich Neidhardt?

Plötzlich konnte Ronald aus dem Inneren des Laderaumes ein Stöhnen vernehmen. Kurz darauf bahnte sich Neidhardt seinen Weg von ganz hinten, an der Mischmaschine vorbei, dabei auf allen vieren kriechend. Er war wie ein Maurer gekleidet. Trug einen hellblauen einteiligen Arbeitsoverall, Arbeitsschuhe und eine braune Cordweste darüber. Endlich streckte sich die wuchtige Gestalt vor dem Fahrzeug.

„Ah, … war das eine Fahrt! Meine Bandscheiben! Es gibt bestimmte Grenzen der Zumutbarkeit, was den Einsatz für die Revolution betrifft!“ fluchte Neidhardt vor sich hin, während er die Arme in die Luft reckte.

„Alles zur Zufriedenheit. Neidhardt! Wir konnten nichts außergewöhnliches fest stellen!“ begrüßte ihn Lars.

„Bis jetzt!“ antwortet Neidhardt!

„Selbstverständlich! Bis jetzt!“ bestätigte Lars, während er ihm einen gelben Bauhelm in die Hände drückte.

„Gute Idee! Die stahlgrauen Haare kennt inzwischen jeder hier im Land!“ Neidhardt setzte den Helm auf den Kopf und wandte sich um und sein Blick fiel auf den sichtlich angespannten Ronald.

„Guten Tag Neidhardt! Ich begrüße dich auch!“

„Oh welche Ehre! Ich war der Ansicht, dass du mich gar nicht mehr kennst. Da es der Herr vorzieht, sich in dieser Müslikommune einzuleben und sich der Lust hinzugeben, obliegt es uns selbst, auszukundschaften, was hier vor sich geht. Wenn der Prophet nicht zum Berg geht, muss der Berg notgedrungen zum Propheten kommen.“ hielt ihm Neidhardt vor.

„Ich muss mich entschuldigen! Ich bin den mir aufgetragenen Pflichten nicht nachgekommen. Aber ich hatte einfach alle Hände voll zu tun und ich durfte ja auch nicht auffallen, deshalb dachte ich mir, wäre es besser wenn ich…“ versuchte Ronald eine Rechtfertigung. Doch Neidhardt wollte davon nichts wissen.

„Spar dir deine Entschuldigung! Es gibt keine! Lässt mich einfach im Dunkeln darüber, was hier vor sich geht. Ist es denn so schwierig, hin und wieder den Kontakt aufzunehmen? Naja, es scheinen ja noch weitere verrückt geworden zu sein.  Auch Ansgar hielt es für angebracht, sich hier nieder zu lassen. Du bist also nicht der einzige, der sich in Elenas Armen verfangen hat. Ist wohl so ne Art von Infektion ausgebrochen? Aus diesem Grunde bin ich hier, um mir vor Ort ein Bild zu machen.“ erwiderte Neidhardt aufgebracht. Danach blies er Ronald noch einmal ordentlich den Marsch, so dass sich dieser wie ein gescholtener Schuljunge vorkam. Doch was machte das schon. Im Anbetracht der Tatsache, dass er hier auf Alexandra gestoßen war und mit ihr ein Liebesabenteuer von gigantischem Ausmaß genießen durfte, schüttelte er das einfach von sich.

„Und das Bündnis? Was ist mit dem Bündnis, Neidhardt, willst es aufrechterhalten?“ erkundigte sich Lars.

„Das wird sich erweisen. Zunächst möchte ich mit Cornelius und den anderen sprechen, dann sehen wir weiter.“ .

Danach machten sie sich auf den Weg. 

 

Unterdessen blickte Kovacs gespannt aus dem Fenster des Bürokomplexes, dass die Sicht zum Außenportal freigab.

„Sagt mal, ist denn heute Bautag? Oder kann mir mal einer sagen was das für Leute sind, die gerade durch das Tor kommen?“

„Bauleute, nicht das ich wüsste! Zeig mal!“ Cornelius erhob sich und schritt ans Fenster.

„Nee, keine Ahnung was die wollen, aber wir werden es sicher gleich erfahren, wenn,…

Halt! Aber das ist doch…, ja das ist er, wenn mich nicht alles täuscht.“ glaubte Cornelius zu erkennen.

„Wer ist was?“ wollte Elena wissen.

„Na der Große da in der Mitte. Das ist Neidhardt, sollte ich mich nicht total verguckt haben!“ gab Cornelius zu verstehen.

Wie von der Tarantel gestochen, stürmten alle ans Fenster.

„Zeig mal! Das muss ich sehen. Wirklich? Der in der Mitte?“ erkundigte sich nun auch noch Leander.

„Wenn  ich euch`s sage. Hm, die lassen sich wirklich was einfallen, um ihren Anführer zu schützen, als Maurer verkleidet. Da muss man erst mal drauf kommen.“ staunte Cornelius.

„Aber was macht denn Ronald bei denen. Ist wohl so ne Art von Begrüßungskomitee, oder?“ meinte Kovacs.

„Ach ja, Ronald. Klar, der hat ihn als erster begrüßt, immerhin gehört er ja….“ Alexandra biss sich auf die Zunge. Um ein Haar hätte sie ihren Geliebten verraten. Aber niemand schien das in der Hektik bemerkt zu haben.

Elena entfernte sich vom Fenster, als die Herannahenden schon nicht mehr zu sehen waren. Eine ungewöhnliche Art von Aufregung schien sie erfasst. 

Sie beschloss nach draußen zu gehen und öffnete die Tür,  dabei stieß sie fast mit dem davor wartenden zusammen. Instinktiv zuckte sie zusammen und blickte an der wuchtigen Gestalt langsam nach oben. Neidhardt stand hier leibhaftig vor ihr.

„Gu…Guten Morgen! Ich…äh bin Elena! Herzlich willkommen! Du…du musst Neidhardt sein, wenn ich mich nicht irre?“ stotterte Elena eine Begrüßung.

„Guten Morgen! Du sagst es, ich bin Neidhardt! Ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen, Elena. Man hört ja so vieles von dir!“ brummte Neidhardt in einem solch tiefen Bass, dass es schon fast furcht ein flößend wirkte.

Zum ersten Male nun standen sie einander gegenüber. Elena lernte jenen Mann kennen, der später auf so dramatische Weise ihr Leben beeinflussen sollte, sowohl negativer als auch positiver Art.

Neidhardt musste sich ducken, als er den Raum betrat, wollte er nicht mit dem Kopf an die Decke stoßen, schob dabei Elena zur Seite. Beklemmendes Schweigen erfüllte die Szene.

„Sei mir gegrüßt, Cornelius! Lange nicht mehr gesehen. Ich freue mich, dass du dir die Zeit genommen hast“ Neidhardt schritt auf den Angesprochenen zu und schüttelte ihm ausgiebig die Hand.

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite! Endlich haben wir es geschafft, zusammen zu kommen. Ich denke, es wurde auch langsam Zeit!“ erwiderte dieser den Gruß.

„Elena hast du ja schon begrüßt! Kovacs kennst du sicher auch noch aus alten Tagen.“ begann Cornelius schließlich die Anwesenden vorzustellen.

„Klar, wer kennt den großen Dichter nicht!“ entgegnete Neidhardt kurz und knapp. Kovacs nickte diesem nur wortlos zu.

„Das hier ist Leander, hier ist Manuel, dann Linus, meine wichtigsten Mitarbeiter. Ja und  Alexandra, die seit kurzem als meine Sekretärin fungiert. Ich weiß nicht wer im Laufe des Gespräches noch hinzukommt.“ Alexandra blickte nur voller Spannung zu dem Koloss, als dieser sich anschickte, galant deren Hand zu küssen. Scheinbar doch nicht so ein Ungeheuer wie von der BLIND- Zeitung verbreitet, viel eher doch ein Kavalier der alten Schule.

Neidhardt begann nun seinerseits seine Begleiter vorzustellen. Es fiel auf, dass sich Ronald in der Zwischenzeit aus dem Staub gemacht hatte, schließlich weilte er nach wie vor inkognito hier.

Endlich hatten alle an der langen Tischreihe ihre Plätze eingenommen. Es wurde großen Wert darauf gelegt, dass sie sich dabei im Blick hatten.

„Ach so ja! Hätte ich fast vergessen, Neidhardt, kann ich dir und deinen Leuten denn etwas an bieten, eine Erfrischung vielleicht, oder so was von der Art?“ erkundigte sich Cornelius.

„Hmm, später! Später vielleicht! Ich bin der Ansicht, wir sollten jetzt schon mal ohne große Umschweife zur Sache kommen. Ich denke, es ist in unser aller Interesse, wenn wir so schnell wie möglich zu einem Ergebnis kommen.“ gab dieser zu verstehen.

„Ich kann mich in dieser Hinsicht nur meinem Vorredner an schließen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, wie er immer zu sagen pflegt.“ gab nun auch Neidhardts Begleiter Dagobert seinen Senf hinzu. Neidhardt blickte darauf hin nur abschätzig zu seinem Stellvertreter, mochte er doch dessen Schmeicheleien überhaupt nicht.

„Äh ja äh! Wie ihr meint! Wie ihr meint! Dann laßt uns beginnen!“ antwortete Cornelius sichtlich nervös.

„Gibt es denn überhaupt so eine Art von Fahrplan, wie wir verfahren sollten. Ich meine, über was wollen wir eigentlich sprechen?“ wollte Elena wissen.

„Ich denke, wir überlassen es doch einfach unseren Gästen hier, einen Vorschlag zu unterbreiten. Das heißt natürlich nur, wenn diese einverstanden damit sind.“ schlug Kovacs vor.

Neidhardt räusperte sich kurz, bevor er begann.

„Also schön! Um gleich zur Sache zu kommen! Wir haben euch mehrere Male um ein Gespräch ersucht. Bisher aber habt ihr euch  beständig geweigert uns auch nur anzuhören, geschweige dem eine Zusammenarbeit zu akzeptieren. Völlig überraschend nahm ich nun eure positive Wende zur Kenntnis  Ihr seit einverstanden gemeinsam mit uns die Möglichkeit eines eventuellen Bündnisses ausloten.

Nach ausreichender innerparteilichen Diskussion sind wir zu dem Schluss gelangt, einem solches Bündnis zu zustimmen, unter ganz bestimmten Voraussetzungen, versteht sich!“

„ Versteht sich! Und was wären das für Voraussetzungen, wenn ich fragen darf!“ unterbrach Kovacs, eine Tatsache die Neidhardt nicht gefiel, aber er ließ sich seinen Unmut nicht anmerken.

„Nun, deshalb sind wir hier um die Bedingungen auszuhandeln!“ fuhr dieser schließlich fort.

„Die Situation, vor der wir heute stehen, unterscheidet sich wie ihr sicher schon bemerken konntet, deutlich von jenen Verhältnissen vor etwa einem halben Jahr. Dieser Umstand ist nicht zuletzt dir zu verdanken, Elena.“ Neidhardt wandte sich Elena direkt zu. „Dein Auftritt im TV hat zwar nicht bei allen, aber doch bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung zu einem Umdenken geführt. Wer es versteht, sein Ohr an Volkes Stimme zu hängen, wird unschwer feststellen, dass sich vielerorts großer Unmut seinen Weg bahnt. Es wäre verfrüht, jetzt schon von einer revolutionären Situation zu sprechen, aber es könnte sich mittelfristig in dieser Richtung bewegen.“

„Das heißt, wen ich dich recht verstehe, sollten wir uns langsam aber sicher auf eine Revolution vorbereiten?“ wollte Kovacs wissen.

„So in etwa könnte man es ausdrücken!“ bestätigte Neidhardt.

„Wie sollten wir uns vorbereiten? Ich meine, was wäre dein konkretes Anliegen an uns?“ erkundigte sich Elena.

„Wenn ich Neidhardt richtig verstanden habe, ist es unsere Aufgabe, ein Gremium ins Leben zu rufen, das sich nach dieser wie auch immer gearteten Revolution an die Spitze der Gesellschaft stellt.“ glaubte Cornelius zu wissen.

„Richtig! Es geht um die Machtfrage! Wer könnte im nachhinein die Regierungsgewalt übertragen bekommen. Das können wir nicht erst dann entscheiden, wenn die Würfel gefallen sind. Denn nichts verachtet eine Gesellschaft mehr als ein Machtvakuum.“ schaltete sich nun auch noch Dagobert ein.

Kovacs vernahm das alles mit äußerst gemischten Gefühlen, zog es aber vor, vorerst noch zu schweigen.

Dafür ergriff Leander das Wort: „Langsam, langsam! Ich komme nicht ganz mit. Wir sind hier, um über ein Bündnis zu sprechen, wenn ich mich nicht irre. Noch hat es gar keine Revolution gegeben. Meine Frage lautet, wie kommen wir dahin? Was tun wir in der Zwischenzeit? Sollten wir nicht lieber erst darauf eingehen?“

„Sehr richtig, Leander, der Meinung bin ich auch!“ stimmte ihm Elena zu, was dieser mit großem Stolz zur Kenntnis nahm.

Neidhardt atmete tief durch, das bedeutete, dass er mit dem Gesprächsverlauf äußerst unzufrieden war. Doch war er hier zu Gast, konnte also nicht, wie gewohnt, mit der Faust auf den Tisch hauen.

„Möglicherweise habe ich mich ein wenig missverständlich ausgedrückt,“ hob dieser nun ruhig und gefasst an. „Selbstverständlich müssen wir an das Naheliegende denken. Ich bin der Ansicht, wir sollten so bald als möglich ein Bündnis schmieden, eine Volksfront sozusagen. Gemeinsam auf treten, statt unserer Kräfte zu verzetteln, oder uns gar untereinander zu bekämpfen. Es gilt dem übermächtigen gemeinsamen Feind mit äußerster Geschlossenheit zu begegnen.“

„Also, ich hatte hier eher an eine Art gemeinsame Wahlplattform gedacht,“ gestand Cornelius.

„Zum ersten Mal seit vielen Jahren deutet alles auf vorgezogene Neuwahlen hin. Regierung und loyale Opposition sind sich einig, sich auf diese Weise legitimieren zu können und demzufolge alternative Bewegungen schon im Keim zu ersticken. Versteht ihr, wenn die noch zwei Jahre warten, sind wir so stark, das wir erstmals eine reelle Chance besitzen beide etablierten Parteien an den Rand zu drängen. Ziehen die aber die Wahl vor, wird es eng für uns, für unser beider Bewegungen. Dann haben wir keine Chance, kommen nicht ins Parlament und die haben wieder 5 Jahre Zeit. Fünf Jahre, die uns fehlen,  uns inhaltlich auszehren. Womöglich gar in Vergessenheit geraten lassen.“

„Sehr richtig! Der Meinung bin ich auch! Darüber sollten wir uns verständigen und nicht über eine Revolution reden, von der niemand weiß, wann und ob sie kommt. Melancholanier und Revolution machen, da glaube ich nicht dran.“ pflichtete ihm Leander bei.

„Aber gerade das hat doch Neidhardt eben vorgeschlagen. Ich denke, ihr habt einfach nicht richtig zugehört!“ Dagobert konnte es nicht lassen, sich wieder einzuschleimen.

„Dann scheinen wir wohl alle einen kollektiven Hörfehler zu haben, denn ich habe in Neidhardts Worten nicht ein Wort von Wahlen vernehmen können!“ wunderte sich auch Elena.

„Man muss nicht immer die Dinge beim Namen nennen. Selbstverständlich stimme ich Cornelius zu.  Wir sollten diese Wahlplattform schmieden, unsere Kräfte bündeln und wenn die Zeit gekommen ist gemeinsam zu agieren. Wie es sich danach entwickelt, klären wir  zu gegebener Zeit.“ wiegelte Neidhardt ab.

„Dann wäre doch alles in Butter! Das ging ja bedeutend schneller als erhofft. Laßt uns zur Tat schreiten. Es müssen  noch einige Formalitäten erledigt werden, aber wenn wir uns schon geeinigt haben, wären das reine Formsachen:“ meinte Lars in seiner flapsigen Art.

„Nein! Nein, wir haben uns auf gar nichts geeinigt! Da muss ich entschieden widersprechen.“ meldete sich Kovacs wieder zurück.

„Was mich im Besonderen interessiert, ist die Frage wie sich die Radikalrevolutionäre in Zukunft verhalten. Wie werden eure Aktionen aussehen? Setzt ihr weiter auf Gewalt, oder seit ihr bereit euch zur Gewaltlosigkeit zu bekennen. Das ist außerordentlich wichtig. Erst müssen wir uns in dieser Angelegenheit einigen, sonst brauchen wir über ein Bündnis gar nicht nachzudenken.“

„Unsere Strategie ist einfach umrissen. Wir haben eine Partei ins Leben gerufen, deren Vorsitzenden du hier siehst!“ Neidhardt deutete auf Lars. „Diese Partei wird sich nur legaler Mittel bedienen. Sie wird sich organisieren und dem Wähler stellen. Sie wird nach außen hin keine gewaltsamen Methoden gut heißen. Mehr noch, sie wird jedwede Form der Gewaltanwendung auf schärfste verurteilen. Ihr braucht euch also nicht zu schämen, wenn ihr gemeinsam mit uns in der Öffentlichkeit auftretet.“

„Ich verstehe, eine Doppelstrategie. Eine legale Wahlpartei, die nach außen agiert. Eine illegale, die sich weiter der altbewährten Mittel bedient. Und zu diesen Mittel gehört eben auch manchmal Gewalt:“ hielt ihm Kovacs entgegen.

„Nenne es einfach wie du willst! Es ist, wie es ist!“ schleuderte Dagobert zurück.

„Ruhe Leute! Ich will hier keinen Streit, Kovacs, den können wir uns  in Anbetracht des übermächtigen Gegeners nicht leisten. Ich stimme Kovacs zu, was die Wahl der Methoden betrifft. Auch ich befürworte keine Gewaltanwendung. Neidhardt, wir verlassen uns auf dein Wort. Trage dafür Sorge, dass es umgesetzt wird. Demokratisiere deine Bewegung! Das muss ich verlangen, sonst gibt es kein Bündnis.“ forderte Cornelius.

„Ich pflege meine Versprechen gewöhnlich einzuhalten. Wenn ich sage, es geht von dieser Partei keine Gewalt aus, dann ist es so. Es liegt an euch,  darauf einzugehen. Ihr könnt natürlich weiter wursteln wie bisher. Euch mit Nichtigkeiten verzetteln, statt auf das Wesentliche zu achten. Dann dürft ihr euch aber nicht beschweren, wenn ihr zu ewigen Verlieren werdet.“ Neidhardts Tonfall wurde bestimmender.

„Nun gut! Dann werden wir uns auf dein Wort verlassen. Ich muss gestehen, dass mir zwar auch nicht ganz wohl ist bei der Sache, denn ich habe eure Aktionen noch in guter Erinnerung. Auch weite Teile der Bevölkerung haben das noch nicht vergessen. Es ist vor allem ein Risiko für uns. Ihr hingegen könnt nur davon profitieren.“

Hier legte Cornelius den Finger in die offene Wunde. Neidhardts Strategie bestand vor allem darin, sich mit dem positiven Ansehen zu schmücken, das sich die Bürgerbewegung in weiten Teilen der Bevölkerung erworben hatte. Eben jenes Ansehen stand auf dem Spiel, sollten sie in ein Bündnis mit ehemaligen Terroristen treten.

„Also, was mich betrifft, seht mich doch an! Kann so einer etwa einer Fliege was zuleide tun!“ warf Lars in die Runde, was ein wenig zur Heiterkeit anregte.

„Von dir spricht auch keiner, Lars! Dich hatten wir nicht im Blick! Aber da gibt es andere.“ antwortete Leander.

„Und das wären zum Beispiel? Sprich nur weiter!“ grummelte Dagobert.

„Genug! Ich kann es noch einmal wiederholen! Es liegt an euch den Ball aufzuheben den wir euch zugespielt. Unser Angebot steht. Entscheidet! Jetzt oder später! Auf ein paar Tage mehr oder weniger  kommt es auch nicht an. Aber wartet nicht zulange, ansonsten lauft ihr Gefahr, von der Lokomotive der Revolution überrollt zu werden.“ gab Neidhardt zu verstehen.

„Wir werden uns entscheiden, Neidhardt, da kannst du sicher sein. Trotz aller Bedenken kann ich versichern, wird es eine positive Entscheidung sein, soviel steht jetzt schon fest, alles andere wäre unverantwortlich.“ erwiderte Cornelius mit einen Seufzer.

„Also wir werden uns entscheiden, Cornelius? Wer ist wir? Ich würde doch wohl eher behaupten, du fällst die Entscheidung, mit einem kleinen Gremium wenn nötig? Oder wie stellst du dir das vor?“ warf Kovacs in die Runde.

Linus, der sich bisher noch gar nicht an der Diskussion beteiligt hatte, meldete sich zu Wort.

„Also, wir tun, was wir in solchen Situationen immer machen. Es wird gründlich beraten und danach werden wir eine Abstimmung durchführen. Die Mehrheit entscheidet, was als nächster Schritt zu tun ist. Alles geschieht auf demokratische Weise.“

„Eine Mehrheitsentscheidung, aha! Nun, ich dachte da eigentlich eher an eine Art von Konsens!“ schlug Kovacs statt dessen vor.

„Konsens! Was für ein Unfug! Konsens ist Nonsens! Das ist etwas für Phantasten. Wir haben gar nicht die Zeit für solche aufwändigen Verfahren. Es muss eine möglichst schnelle Entscheidung getroffen werden. Stell dir ein Schiff vor, ein Schiff in Seenot. Eine schnelle Entscheidung ist gefragt. Es kann  nur einen Kapitän geben, der entscheidet. Man kann doch nicht erst eine Versammlung ein berufen, um im Konsens vorsichtig abzuwägen. In der Zwischenzeit ist das Schiff längst gekentert.“

Dagobert führte ein beliebtes Argument an das immer dann von den Kritikern des Konsensprinzips eingeflochten wird, wenn es darum ging, eine diktatorische Vorgehensweise zu rechtfertigen.

„Ach, und dieser Kapitän heißt nicht zufällig Neidhardt?“ stachelte Kovacs weiter.

„Ich wüsste nicht welchen Namen er sonst tragen sollte!“ provozierte Dagobert.

„Und du glaubst nicht, dass es unter Umständen Platz für zwei Kapitäne gebe, oder möglicher weise auch für noch mehr?“ wandte nun Elena ein.

„Ich muss  ausnahmsweise beipflichten. Wir können uns in diesen Detailfragen nicht auf einen allgemeinen Konsens stützen. Eine Abstimmung unter allen Mitgliedern ist hier das äußerste, das wir bieten können. Ich würde eher sogar eine Abstimmung im kleinen Kreise vorziehen.“ glaubte Linus Vorschlagen zu müssen.

„Ach, und wer gehört zu so einem kleinen Kreis, wenn die Frage erlaubt ist? Oder gibt es den etwa schon?“ wollte Leander wissen.

„Nun, es gibt den Vorstand unserer Bürgerbewegung, Leander! Der Vorstand einer politischen Organisation ist befugt, solche Dinge im eigenen Ermessen zu regeln. So handhaben wir das gewöhnlich. So könnte es auch bei dieser Angelegenheit geschehen.“ erinnerte sich Cornelius.

„Aber wer hat den Vorstand ermächtigt, in solchen Fragen zu entscheiden?“ wollte Elena wissen.

„Das tut in der Regel die Mitgliederversammlung. Gut, wir könnten aufgrund der Brisanz eine solche ein berufen. Delegierte aus allen Landesteilen müssen dann entscheiden, das wäre natürlich auch eine Möglichkeit.“ gab Cornelius zu verstehen.

„Aber das würde sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Zu viel Zeit. Und wie wir gerade feststellen konnten, haben wir diese Zeit  nicht?“  schaltet sich Lars ein.

Neidhardt hatte sich vorübergehend aus dem Gespräch zurückgezogen, ließ den Adjutanten seine Sichtweise verbreiten. Das war eine seiner bevorzugten Taktiken. Im entscheidenden Moment pflegte er dann auf seine bestimmende Art zu intervenieren.

Elena hatte ihn genau im Blick. Sie konnte ihre Augen einfach nicht von ihm wenden. Irgend etwas schien sie magisch in den Bann zu ziehen.

„Dann müssen wir uns diese Zeit nehmen. Wo ein Wille, da ist stets ein Weg. Ich halte überhaupt nichts von diktatorischen Beschlüssen:“ lehnte Kovacs mit Nachdruck ab.

„Wer ist hier diktatorisch? Ich verbitte mir das, Kovacs. Wir entscheiden demokratisch. Klar, dir geht  alles gegen den Strich, was nicht deiner Sicht der Dinge entspricht. Du favorisierst die Akratie, oder wie du das zu nennen pflegst. Eine schöne Utopie, mehr nicht.

Wir hingegen müssen uns der Realpolitik stellen, da bleibt kein Platz für Träume.“ wies Linus die Anschuldigung vehement zurück.

„Also, ich stehe auf Kovacs Seite. Sein Standpunkt leuchtet mir ein. Wir müssen einfach so viele wie möglich in den Entscheidungsprozess einbeziehen.“ unterstützte Leander Kovacs Ansichten.

In der Zwischenzeit war auch Gabriela eingetroffen und hatte sich neben Elena platziert.

„Die Diskussion ist schon im vollen Gange. Tut mir leid, ich wurde aufgehalten. Hab ich etwas Interessantes versäumt?“ flüsterte sie dieser ins Ohr.

„Es geht hoch her! Ich habe mich bisher weitgehend zurückgehalten. Aber Kovacs und Leander sind in Fahrt. Ich bin stolz auf beide, die verteidigen unsere Ansichten.“ antwortete Elena, während Neidhardt nun ebenfalls seine Augen auf sie richtete, sie geradezu zu fesseln schien. Elena fühlte sich dabei höchst unwohl.

„Also! Ihr solltet zunächst einmal eure innerparteilichen Zwistigkeiten aus der Welt schaffen. Klärt das  unter euch. Wie ich sehe, sind wir aber davon noch ein ganzes Stück entfernt.

Zu viel Pluralismus ist einfach kontraproduktiv, das ist meine Ansicht. Eine Meinung, die sich immer wieder zu bestätigen scheint, wenn ich mich hier so umsehe. Was unsere Partei betrifft, so konnten wir diese Denkweise schon lange überwinden. Konsens? Ich kann Kovacs in dieser Hinsicht sogar zustimmen. Der ist wichtig, geradezu eine Voraussetzung für ein Gelingen. Die Radikalrevolutionäre haben diesen Konsens längst gefunden. Wir benötigen aufgrund dessen auch gar keine Abstimmungen mehr, reine Zeitverschwendung. Wir haben einen Dauerkonsens. Alle Belange werden bei uns schon seit geraumer Zeit einstimmig beschlossen. Wir ersparen uns dadurch eine Menge Zeit, eine Menge Ärger und nicht zuletzt auch immense finanzielle Investitionen.“ glaubte Neidhardt nun aufklären zu müssen.

Im ersten Moment konnte kaum einer widersprechen, so unerhört klang das. Allen war bewusst, was Neidhardt damit ausdrücken wollte. Was er anstrebte, wenn er erst die Macht in seinen Händen hielt. Nichts Geringeres als die Diktatur. Den Dauerkonsens gab es bei den Radikalrevolutionären in der Tat. Neidhardt entschied, die anderen hatte lediglich zu zuzustimmen. So stellte er sich die Arbeit des neuen Bündnisses vor, wenn auch nicht so direkt wie in seiner eigenen Organisation. Zum Schein würde er sich auch auf Kompromisse einlassen. Aber er ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass ihm am Ende die alleinige Macht zukam.

„Neidhardt, ich denke, das sich unser beider Vorstellungen von einem Konsens grundlegend unterscheiden. Wir sprechen von zwei völlig verschiedenen Dingen. Diktatur und Akratie sind wie Feuer und Wasser. Sie schließen einander aus. Wo die eine existiert, bleibt für die andere kein Platz. Der Konsens in deiner Partei wird von dir bestimmt. Der von mir angestrebte Konsens soll hingegen von allen getragen werden. Das ist ein feiner Unterschied.“ widersprach Kovacs furchtlos.

Die Luft schien so elektrisiert, das man es förmlich knistern hörten konnte. Hier trafen in der Tat Welten aufeinander. Das machte es allen so schwer, eine Lösung zu finden.

Dagobert erhob sich, um auf Kovacs ein Donnerwetter niedergehen zu lassen, doch Neidhardt hielt ihn fest und bedeutete ihm,  wieder Platz zu nehmen.

„Ja! Ja, ich kann dir auch diesmal zustimmen, großer Dichter. Es stimmt, was du sagst. In der von mir angestrebten Ordnung ist für eine Akratie, Anarchie, oder wie du es auch zu bezeichnen pflegst, kein Platz.  Ich strebe eine straffe Ordnung an, du hingegen unkontrolliertes Chaos. Du bist ein hochintelligenter Mensch. Dir muss doch einleuchten, dass deine Vorstellungen nur Seifenblasen im Winde sind. Deine Beweggründe mögen durchaus lauter sein, das streite ich gar nicht ab, aber leider sind sie unerfüllbar. Reine Utopie!“

„Das sind sie! Na und? Ohne Utopien kein Leben. Utopien bedeuten zu atmen und nach vorne zu schauen. Es sind die Utopien, die uns zu neuen Taten anspornen. Ohne diese müssten wir verkümmern, in Beliebigkeit ersticken. Arme graue triste Welt, die ohne Utopien leben muss. Haben nicht unsere derzeitigen Machthaber gerade das Ende der Geschichte proklamiert? Haben sie nicht die marktkonforme Demokratie zum Maß aller Dinge erklärt, die keine Alternative neben sich duldet? Wollen wir diesen Zustand überwinden, nur um einem neuen Dogma zu huldigen, einem Dogma der Unfehlbarkeit?“ wetterte Elena plötzlich in die Runde.

Selbst Neidhardt schien nicht in der Lage, dem etwas entgegenzusetzen.

„Wir sollten einfach einen Kompromiss finden, mit dem alle leben können. Mehr können wir nicht tun im Moment.“ schlug daraufhin Cornelius vor.

„Also nichts weniger als einen faulen Kompromiss?“ gab Kovacs zu bedenken.

„Prinzipienreiterei bringt uns aber auch keinen Schritt weiter!“ hielt ihm Linus entgegen.   

„Nun, wie ich sehe, habt ihr euch hinter den Kulissen schon längst geeinigt. Jeder auf seine Art. Da helfen wohl auch die besten Argumente nicht weiter. Dem will ich nicht im Wege stehen. Einigt euch, es soll wohl so sein. Aber bedenkt was ihr damit unter Umständen anrichtet. Meine Bedenken bleiben.“ gab sich Kovacs wohl geschlagen.

Komisch, das schien so ganz und gar nicht seiner Art, grübelte Elena. Was führte er wirklich im Schilde. War es auch nur eine Taktik. Oder meinte er es am Ende ehrlich?

„Auch ich habe weiter Bedenken! Stimme aber ebenfalls zu! Wir müssen mit einer Stimme sprechen und danach handeln. Es bleibt wohl kein anderer Weg!“ stimmte Leander ihm zu.

Elena horchte auf. Leander hatte so ganz nebenbei seine erste Bewährungsprobe bestanden. Er war alles andere als ein Prolet, er war ein kühner Geist, feinfühlig und rein.

„Es gibt noch eine Menge an Diskussionsbedarf. Ich kann mir nicht vorstellen dass wir heute schon etwas Konkretes beschließen. Mir geht das einfach viel zu schnell. Wir sollten dem heutigen Treffen einfach weitere folgen lassen, uns zunächst erst einmal kennen lernen, uns näher kommen, bevor wir uns endgültig festlegen.“ führte Elena an.

„Ich habe nichts dagegen einzuwenden. Ich halte es für einen klugen Vorschlag. Gut, laßt uns wieder und wieder zusammenkommen. Möglicherweise räumen wir gegenseitige Bedenken schneller als erwartet  aus. Aber zu viel an Zeit dürfen wir nicht ungenutzt verstreichen lassen.“ bekundete Neidhardt seine Zustimmung und sein Tonfall klang jetzt plötzlich viel sanfter und verständiger. Hatte Elena etwa zu diesem Sinneswandel beigetragen?

„Dann versuchen wir es doch auf diese Weise. Wir treffen uns regelmäßig und sehen was dabei heraus kommt. Ich würde vorschlagen wieder hier? Es wäre uns aber auch möglich, zu euch zu kommen.“ bot Cornelius an.

„Nicht bei uns! Wir kommen wieder zu euch, damit sind wir einverstanden!“ erklärte sich Neidhardt bereit. Es war einleuchtend, warum er ein Treffen im Hauptquartier der Radikalrevolutionäre ablehnte, durfte doch dessen Lokalisierung nicht aufgedeckt werden.

„Schön! Ich freue mich, dass der Anfang gesetzt ist. Das ist mehr, als ich anfangs erwartete. Von nun an arbeiten wir daran.“ frohlockte Cornelius. Es trat erst einmal eine Pause ein. Neidhardt begab sich zu Cornelius und sprach unter vier Augen mit ihm weiter.

Elena setzte sich zu Kovacs und Leander.

„Und? Was habt ihr für ein Gefühl?“ wollte sie von den beiden wissen.

„Kein Gutes! Ich habe mit dieser Gruppe erhebliche Schwierigkeiten. Wie ich schon sagte, das sind Feuer und Wasser, die bringt man nicht zusammen. Ich kann mir nicht vorstellen,auf welche Weise wir mit denen zu einer Einigung kommen sollen. Neidhardt und seine Leute wollen im Grund das Gegenteil dessen, was ich, was wir anstreben. Für mich bedeutete es schon eine Überwindung Cornelius Ansinnen zu unterstützen, aber Neidhardt? Da ist einfach zu viel.“

„Der Meinung bin ich auch. Ich traue denen nicht über den Weg. Am Ende wird nur eine Diktatur die andere ablösen.“ pflichtete ihm Leander bei.

„Das könnte sein, das ist zu befürchten. Wir retten Melancholanien vor einer möglichen Machtübernahme des Blauen Ordens, indem wir Neidhardt zum Diktator machen. Aber hätten wir eine andere Wahl?“ bedauerte Elena.

Alexandra und Gabriela gesellten sich ihnen zu.

„Was glaubst du? Wie lange wird das wohl noch dauern?“ erkundigte sich Alexandra, dann erhob sie sich und öffnete das Fenster, zur Hofseite hin.

„Schlechte Luft hier! Mal ordentlich durchlüften. Ich wäre doch um ein Haar eingeschlafen eben.“

„Echt? Jaja, Alexandra die unpolitische! War doch Hochspannung pur, eben?“ neckte Gabriela.

„Die haben im Grunde das Wichtigste besprochen. Es muss noch gar nichts bedeuten. Ich kann mir nicht vorstellen das Cornelius Neidhardts Ansinnen entgegen kommt.“ mutmaßte Elena.

„Na, unter Neidhardts Leuten dürfte alles geklärt sein. Bei denen bestimmt nur einer. Die haben sich schon lange festgelegt. Die streben ein Bündnis mit uns an, weil sie uns im Moment brauchen. Sobald sie an der Macht sind, wollen die davon nichts mehr wissen. So läuft das, ich hab das alles schon im Gespür.“ erwiderte Kovacs mit resignierendem Unterton.

„Sei doch nicht immer so pessimistisch. Womöglich ändert sich  Neidhardt auch mit der Zeit. Sie Elena an, sieh uns alle an. Haben wir nicht auch den großen Sprung geschafft und du selbst auch lange vor uns. Warum sollte so etwas nicht auch bei Neidhardt möglich sein.“ gab Gabriela zu bedenken.

„Das kann man schwerlich miteinander vergleichen. Ich hege bei Neidhardt keine großen Hoffnungen. Es gibt nun einmal Menschen, denen ist es nicht gegeben, sich zum Positiven zu wandeln.“ wiegelte Kovacs ab.

„Ich muss mal kurz raus an die Luft! Wer kommt mit? Keiner? Na gut, dann geh ich eben alleine.“ sprach Alexandra erhob sich und war sogleich aus der Tür entschwunden.

Draußen streckte sie sich und atmete tief durch. An diese Art von Politik musste sie sich erst noch gewöhnen. Früher spielte das keine Rolle in ihrem Leben. Früher, das schien Ewigkeiten her zu sein.

„Hey, Alex, hier bin ich. Komm doch mal rüber?“ Ronald hatte sich in einer dunklen Ecke verschanzt.

„Ronald, was machst du denn hier? rief ihm Alexandra zu.

„Psst, nicht so laut! Komm doch her!“

Alexandra tat, wie ihr geheißen.

„Was ist denn los? Was tust du so geheimnisvoll? Ist wohl einer hinter dir her, oder?“

„Noch nicht! Aber was nicht ist, kann  noch werden. Sag mal, wie ist es denn gelaufen da drinnen? Haben die schon etwas beschlossen. Ich meine, was die Zusammenarbeit betrifft, das Bündnis, du weißt schon?“ forschte Ronald.

„Warum bist du nicht mit rein gekommen?  Hast dich vorhin schnell verdrückt. Jetzt soll ich dir Bericht erstatten?“ hielt ihm Alexandra entgegen.

„Muss ich dir das wirklich erklären? Du weißt doch, dass ich mich zurückhalten muss! Neidhardt hat mir vorhin schon ne ordentliche Standpauke gehalten, weil ich solange nichts von mir hören ließ. Ich kam ursprünglich nicht zum Spaße her.“

„Natürlich weiß ich das! Ich bin kein Blödchen! Nee, die haben nur Grundsätzliches, Allgemeines vereinbart, nichts Konkretes. Die wollen sich in regelmäßigen Abständen treffen und weiter alles ausloten.“

„Hmm, na gut. Ist wohl das Beste im Moment!“

„Hattest du was Bestimmtes erwartet?“ hakte Alexandra weiter nach.

„Das nicht! Aber bedenke doch! Wenn die sich einigen, alles in geregelten Bahnen verläuft, ganz offiziell, dann ist unter Umständen meine Aufgabe hier erfüllt. Es könnte durchaus sein, dass mich Neidhardt zurückbeordert in seinen Stab. Was dann? Dann ist es aus, das schöne Leben hier. Wie geht es dann mit uns weiter?“

„Richtig! Daran habe ich gar nicht gedacht! Das wäre in der Tat megablöd. Was machen wir  dann?“ sorgte sich nun auch Alexandra.

„Siehst du! Von solchen Kleinigkeit kann viel abhängen. Eines geht ins andere über.“

„Dann steht eben eine Entscheidung  bei dir an. Hier bleiben, dich von Neidhardt trennen, oder wieder zurück. Da musst du eine Entscheidung treffen, denke ich!“ schlug Alexandra vor.

„Ha, wenn das so einfach wäre!  Natürlich würde ich gerne bleiben, mir gefällt das Leben in diesem Kreis immer besser. Vor allem deinetwegen, Schatz. Aber andererseits, an Neidhardts Seite habe ich womöglich eine glänzende Zukunft vor mir. Stell dir vor, es ist Revolution und ich bin nicht dabei, wäre doch ärgerlich. Vor allem, wenn dann die lukrativen Posten verteilt werden.“ meinte Ronald etwas ironisch.

„Aber wenn sich Kovacs und seine Lehre durchsetzt, soll es gar keine Posten mehr geben, weil der die Ansicht vertritt,das es gar keiner Regierung bedarf. Was dann?“

„Davon brauchen wir kaum auszugehen. Glaub mir, die Menschen wollen immer eine Regierung. Eine vernünftige, eine, die wirklich was bewirkt. Denen brauchst du nicht mit der Akratie zu kommen, die wissen nicht mal was das ist.“

„Ach, lass uns jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Wir sollten uns nicht um ungelegte Eier kümmern. Wie gesagt, es steht noch gar nichts fest. Bis es soweit ist, haben wir noch ne Menge Zeit, die lass uns lieber so intensiv wie möglich nutzennutzen!“ bestimmte Alexandra.

„Mit dem allergrößten Vergnügen!“ Ronald zog sie an sich und es folgte ein leidenschaftlicher Kuss.

 

Drinnen wurde in der Zwischenzeit weiter diskutiert. Detailfragen zumeist. Eine Einigung konnte wie erwartet nicht gefunden werden. Weitere Treffen sollten folgen. Die Mehrheit der Bürgerbewegung würde dem mit Sicherheit zustimmen. Glücklich waren sie nicht, es gab kaum einen Grund zum Frohlocken. Mit Neidhardt im Gefolge würden sich jede Menge Komplikationen ergeben.

Kovacs Warnung hallte in den Köpfen nach. Doch keinem war in jener Stunde bewusst, wie recht er damit haben sollte.