Zwei Welten

 

„Ich habe dich beobachtet und ich frage mich seit Tagen was wohl so ein feiner Pinkel wie du, der genügend Geld in der Tasche hat um sich in einem noblen Hotelzimmer einzumieten, hier im Bahnhofsviertel zu suchen hat, der sich stattdessen in dieser heruntergekommen Spelunke da drüben einquartiert? Was bist du für einer? Was hast du hier zu suchen? Das sieht doch ein Blinder dass du nicht hierher gehörst.“

Sprach Kyra den völlig überraschten Folko an, während dieser auf der Bank vor dem Nebeneingang des Hauptbahnhofes vergeblich auf sein Opfer Justin wartete.

Folko zuckte zusammen und griff instinktiv nach seinem Dolch den er in seiner Westentasche verborgen hatte als Kyra ihm etwas heftig ihre linke Hand auf seine Schulter drückte.

Sie fand den ansonsten stets schlagfertigen Folko zunächst sprachlos.

„Na was ist? Hat`s dir die Sprache verschlagen oder was?“ Fuhr Kyra mit ihrem Verhör fort.

„Dem scheint wohl offensichtlich so zu sein, wie du siehst. Du findest mich tatsächlich sprachlos. Denn soviel Dreistigkeit ist mir in der Tat noch nicht untergekommen.“ Konterte Folko der sich wieder gefunden schien.

„Findest du? Na das wollen wir erst mal sehen. Also was tust du hier?“

„Was ich hier tue willst du wissen? Hm, rate mal!“ Begann Folko nun seinerseits mit einer Art Verhör.

„Versuch mich nicht zu verscheißern, da bist du bei mir an der falschen Adresse.“

„Wir leben in einem freien Land, liebes Kind. Kann ich nicht hin gehen und mich nieder lassen wo ich will. Was geht es dich an? Erwidertet Folko während plötzlich weitere Mitglieder der berüchtigten Straßengang aus dem Dunkel der Seitenstraßen auftauchten und sich bedrohlich um den Spezialagenten des Blauen Orden postierten.

„Nenn mich nicht mein Kind! Und was das freie Land betrifft, nun das mag für dich und deinesgleichen gelten. Ich habe von einem freien Land bisher noch nicht viel mitbekommen.“ Entgegnete Kyra aufgebracht.

„Ach du fühlst dich unfrei? Wie kommt es dann das du hier am frühen Nachmittag herumlungerst, währenddessen anständige Leute noch dabei sind ihrer Arbeit nachzugehen. Du arbeitest nicht, deine Kumpane auch nicht und sprichst von Unfreiheit? Könnte ich dich ebenso fragen. Was du hier tust?“ Gab Folko zurück.

Doch damit konnte er Kyra nicht beeindrucken.

„Versuch doch nicht von Thema abzulenken. Damit kommst du bei mir nicht weit. Gut, ich will nicht um den heißen Brei reden. Ich habe dich schon seit Tagen im Auge. Wir sind gleich auf dich aufmerksam geworden und vermuteten das mit dir etwas nicht stimmt. Du wartest hier auf meinen Bruder Justin, nicht war? Da staunste was? Glaub ja nicht das du mich täuschen kannst. Versuche erst gar nicht dich rauszureden. Wir habe dich genau im Visier.“

Kyras Offenbarung schockte Folko zutiefst, doch verstand  er es geschickt sich nichts dergleichen anmerken zu lassen.

„Ja und? Wenn dem so wäre? Geht es dich etwas an?“

„Wenn es um meinen Bruder geht allemal! Der ist gerade 18 geworden. Sicher alt genug um alleine zu entscheiden. Das Problem  jedoch ist das er seit Tagen nicht mehr aufgetaucht ist und ich mich frage wo er abgeblieben ist. Könnte es nicht sein das du etwas mit seinem Verschwinden zu tun hast.“

„Würde ich dann hier sitzen und auf ihn warten?“

Da hatte er natürlich Recht, musste sich Kyra eingestehen.

„Hm, das ist wahr. Halt, ich habs. Du bist hier um dir ein neues Opfer auszusuchen. Genau. Aber du hast die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Diesmal spucken wir dir kräftig in die Suppe.“ Glaubte Kyra fest zustellen während sie sich direkt neben ihm auf der Bank nieder lies und sich ihm bedrohlich näherte.

„Opfer? Was für ein Opfer? Für was bitteschön soll ich mir denn ein Opfer aussuchen? Das musst du mir schon etwas genauer erklären!“

„Du weißt ganz genau wovon ich spreche. Du bist einer dieser Agenten aus der Wirtschaft,nein Pardon aus den Reihen der Wissenschaft. Jeder weiß dass die ständig auf der Suche  nach jungen Paria  sind um sie einzufangen. Die verschwinden auf nimmer wieder sehen. An denen werden perverse Experimente zu Forschungszwecken vorgenommen.

Versuch nicht zu leugnen, ich warne dich!“

Blitzschnell zückte Kyra ein Messer und hielt es ihm an die Kehle.

Folko gelang es die Haltung zu wahren und verzog keine Miene.

„Rede oder ich stoße zu! Sei gewiss das ist kein Scherz!“

„Was machst du denn für ein langes Federlesen mit dem Kyra. Mach ihn kalt. Der Dreckskerl  hat`s verdient.“ Schlug Adrian vor.

„Dann kann er uns ja nicht mehr sagen was mit Justin geschehen ist!“ Lehnte Kyra ab.

„Ich glaub nicht das der was mit Justins Verschwinden zu tun hat Kyra. Er hat Recht, sonst würde er hier nicht auf ihn warteten. Wir sollten uns nicht weiter um ihn kümmern. Lass ihn einfach ziehen oder mache ihn kalt!“ Warf nun auch noch Lisa ein.

„Also was sollen wir mit dir machen? Hm ich denke, wenn ich dich beseitige tue ich der Menschheit einen großen Gefallen, findest du nicht auch?“

„Ich denke dass ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden habe.“ Erwiderte Folko.

Plötzlich riss er in Sekundenbruchteilen Kyra das Messer aus der Hand, sprang auf drehte ihr den Arm auf den Rücken so dass sie mit Schmerz verzerrten Gesicht aufschrie. Die anderen standen wie gelähmt und begriffen erst langsam was sich gerade ereignet hatte.

„Na meine kleine Parianutte, wie fühlt man sich wenn plötzlich der andere das Messer in der Hand hält.“

„Absolut Scheiße!“ Jammerte Kyra bevor sie erneut laut aufschrie.

„Scheiße, verflucht Kyra das hast du nun davon. Ich hab dir gesagt, lass den Typ in Ruhe, das bringt nichts als Ärger ein.Der ist ne Nummer zu groß für uns.“ Beschwerte sich Adrian.

„Weise gesprochen! Dein Kumpel hat`s erkannt.  Pech gehabt, den falschen ausgesucht würde ich sagen. Nun zeig mal was du so alles aushalten kannst.“ Gab Folko gelassen zu verstehen.

„Also ihr werde erst mal schon das Weite suchen, ist das klar?“

„Glasklar, machen wir doch glatt! Aber bitte tue Kyra nichts. Sie ist doch das einzige was ich habe. Lass sie  laufen, sie tut doch keinem was!“ Winselte Kim und begann sogleich zu heulen.

„Verdammt noch mal halt die Schnauze Kim. Hör auf zu heulen. Willst du dich vor so einem wie dem demütigen und um Gnade bettelt?“ Schollt Kyra ihre Freundin sogleich

„Deine Freunde haben bedeutend mehr Gribs im Hirn als du je besitzen wirst. Na, ich werd`s mir überlegen was ich mit ihr mache.`Bin recht guter Laune heute. Ich denke wenn ich meinen Spaß mit ihr hatte werde ich sie zu euch zurückschicken Die Finger mache ich mir jedenfalls nicht an ihr schmutzig, dafür ist sie mir viel zu unbedeutend.“ Bot Folko mit herrischer Geste an.

„Danke, danke! Wir tun auch ganz bestimmt was du sagst!“ sprach Kim überschwänglich ihren Dank aus.

„Kim es reicht!“ Brüllte Kyra, dann drückte Folko noch derber zu und sie drohte in Bewusstlosigkeit zu versinken.

„Lasst uns abhauen! Mir wird es langsam zu bunt! Der tut ihr schon nichts. Kyra ist ne harte Nummer die haut so leicht keiner um!“ Schlug Adrian vor, was Kim zum schärfsten Protest veranlasste.

„Du Schwein, dass sieht dir ähnlich, sie einfach im Stich zu lassen!“ Die Tränen kullerten nun wie Tautropfen über ihr hübsches Gesicht.

„Wir wollten doch zu Cornelius! Hast du das vergessen? Der hat was Wichtiges mitzuteilen. Da müssen wir unbedingt hin um unter Beweis zu stellen, das er auf uns setzen kann. Statt dessen stehen wir hier, das ist zu blöd!“ erinnerte sich Lisa.

Beim hören des Namens Cornelius leistete sich Folko einen kurzen Augenblick der Unvorsichtigkeit.

Die standen im Kontakt zu Cornelius? Dem musste er unbedingt näher auf den Grund gehen.

Kyra nutze den kurzen black out entwand sich seinem Würgegriff, versetzte ihm einen Schlag in den Unterbauch bevor sie sich zur Seite abrollte und in Sicherheit bringen konnte.

Plötzlich sah sich Folko von allen Seiten umzingelt.

„So nun haben wie das Gleichgewicht wieder hergestellt! Na was ist, du Großmaul? Stell dich uns gefälligst zum Kampf wenn du den Mut dazu aufbringst.“ Forderte ihn Kyra schon wieder heraus.

Adrian wagte als erster den Angriff, bekam aber so einen heftigen Tritt das er mit voller Wucht an der Mauer des alten einsturzgefährdeten Abbruchhaus landete, vor dem sich der Kampf gerade abspielte.

„Man sollte sich nicht mit einem geübten Karatekämpfer abgeben. Ich habe euch doch schon einmal gesagt, ihr habt euch den Falschen ausgesucht.“ Höhnte Folko mit einem hämischen Grinsen.

„Karate? Ach du Scheiße! Der ist uns in der Tat über! Komm lasst uns endlich verschwinden. Ich hab die Schnauze voll!“ Beschwerte sich Lisa.

„Hier geblieben ihr feigen Memmen. Erst beenden wir den Kampf, meinst du, ich mache vor dem einen Rückzieher?“ Hielt ihr Kyra entgegen.

„Na komm meine Raubkatze, wenn du`s drauf anlegst, gerne. Aber ich warne dich, glaub nur ja nicht dass ich dich schone nur weil du ein Mädchen bist. Du wolltest den Kampf, du sollst ihn bekommen.“ Folkos Warnung klang eindeutig.

„Auf deine Rücksicht kann ich verzichten, steck sie dir in den Arsch!“

Mit einem Satz sprang Kyra auf Folko und biss sich wie ein Hund an ihm fest, der wirbelte mit ihr herum und konnte sich recht schnell von ihr befreien. Äußerst unsanft landete Kyra auf dem harten Boden.

„Na immer noch nicht überzeugt?“ Provozierte Folko.

„Nee keineswegs!“

Erneut setzte Kyra an und fauchte dabei wie eine Katze. Nun lies sie ihrer Wut freien Lauf.

„Verflucht noch mal Kyra lass ihn endlich los oder willst du dass der dich am Ende doch noch kalt macht?“

Kims mahnende Wort drangen nicht mehr in Kyras Bewusstsein, sie befand sich bereits in einem Rausch. Ihr schien im Moment völlig egal was jetzt mit ihr geschah. Der Frust eines versauten Lebens bündelte sich und verschaffte sich auf diese Weise ein Ventil.

Folko hingegen schien an diesem Kampf seine wahre Freude gefunden. Mit einigen geübten Griffen hätte er, der geschulte Elitekämpfer, Kyra längst zur Strecke bringen können, wenn er es denn wollte. Doch aus irgendeinem ihm selbst nicht ersichtlichen Grund schonte er Kyra, entgegen seiner vorherigen Ankündigung.

Das machte seine Gegnerin nur noch umso wütender.

„Na ist dir die Puste ausgegangen? Bist wohl schon ein bisschen zu alt für so nen Kampf?“ Stänkerte Kyra. Doch das beeindruckte Folko nicht im Geringesten.

„Ich habe einen langen Atem! Ist für mich so eine Art von Training. Ein Training für die wirklichen Kämpfe, bei denen es um Leben und Tod geht. Ob es das für dich ist sei dahingestellt!“

Kyra begann nun wild um sich zu treten, einige Tritte verfehlten auch nicht ihr Ziel und Folko spürte den Schmerz an Schienbeinen und Hüfte.

Das setze sich noch eine ganze Weile fort bis es den anderen zu bunt wurde und sie schließlich mit Ausnahme von Kim die dem ungleichen Kampf weiter heulend beiwohnte das Weite suchten.

„So was hab ich gern, wenn`s brenzlig wird sich feige Verdünnisieren.“ Rief Kyra den Flüchtenden nach.

„Hast dir offensichtlich die falschen Freunde ausgesucht? Ich würde sagen, wer solche Freunde hat braucht keine Feinde?“

Folkos hämisches Grinsen brachte Kyra  vollständig aus der Fassung und sie begann sich langsam zu verausgaben. Nicht mehr lange bis die Kräfte schwanden. Auch Folko hatte jetzt genug und verpasste ihr einen Faustschlag, der sie außer Gefecht setzte.

Stöhnend wälze sich Kyra am Boden, Kim versuchte sie verzweifelt aufzuheben.

„Ich halte sie zurück Fremder, sie hat jetzt genug. Wir verschwinden. Lass uns einfach ziehen und alles geht seinen Gang.“ Bot Kim die Kapitulation an. Kyra war noch zu benommen um dagegen ihren Protest zu erheben.

„Keine Sorge! Ihr seid mir zu bedeutungslos als das ich hier einen Gang höher schalten müsste. Deine Freundin hat mehr Verstand als du Wildkatze. Auch wenn ich deinen Mut durchaus bewundere. Manchmal ist es aber eben angebracht den Verstand ins Spiel zu bringen, einfach um nur um zu überleben. Das solltest du dir hinter die Ohren schreiben für die Zukunft.“

„Belehr du mich nicht über die Kunst zu überleben. Seit ich denken kann bin ich darauf angewiesen mich durch zuschlagen. Bisher habe ich mich in den Kämpfen ganz ordentlich geschlagen!“ warf ihm Kyra vor, dabei immer noch den Schmerz in alle Gliedern spürend.

„Na um so besser! Dann lebst du möglicherweise ein paar Jahre länger auf unsren Planeten!“

Folko klopfte sich den Staub von seiner Montur, stellte dabei fest dass er auch einige Blessuren davon getragen hatte. Die Kleine Kratzbürste hatte es durchaus in sich.

Noch  immer mit diesem verletzenden Grinsen im Gesicht wandte er sich zum gehen.

„He, Glitzerfratze, glaub nur ja nicht dass du mich los bist. Wir werden uns wieder begegnen und dann fordere ich von dir Revanche.“ Rief ihm Kyra nach.

„Oh Hilfe ich fürchte mich! Na wenn du noch nicht genug hast gerne, stehe jederzeit zur Verfügung!“

Während Folko seines Weges ging versuchte Kim ihre Freundin auf die Beine zu bringen, was ihr unter Anstrengung schließlich auch gelang.

„Kyra, musst du dich immer wieder mit solchen Typen ein lassen? Der ist dir überlegen, akzeptiere es. Halt dich fern von ihm. Wir müssen an uns denken und daran wie wir überleben sollen.“

Kyra schubste Kim beiseite um sie gleich im Anschluss wieder in den Arm zu nehmen.

„Entschuldige! War nicht so gemeint! Kennst mich ja! Ich werde  Typen wie den niemals akzeptieren und schon gar nicht die Tatsache, dass wir denen auf ewig unterlegen sein sollen. Dieses dämliche Grinsen kotz mich einfach an.“

Sie versuchte mehr schlecht als recht ihre angeschmuddelten Klamotten in Stand zu bringen.

"Du bist mir wenigstens geblieben, wenigstens eine auf die ich mich verlassen kann. Wo sind die anderen?“

„Alle getürmte!“ Bestätigte Kim.

„Na prima! Konnte ich mir  denken. Wenn`s gefährlich wird einfach abhauen und den Bedrängten im Stich lassen. Na wartet, ihr könnt euch auf ne Standpauke gefasst machen.

Noch bin ich die Anführerin unserer Gang.“ Entgegnete Kyra mit Wut in der Stimme.

„Lass uns gehen, ich hab genug von diesem unheimlichen Ort! Das Bahnhofsviertel war mir noch nie geheuer!“ Forderte Kim.

Kyras Glieder schmerzen, es hämmerte an fast allen Stellen. Jeden einzelnen Schlag  wollte sie diesem Typen heimzahlen, wenn sie auch noch nicht wusste wie.

Sie legte ihren Arm um Kims Schulter während die ihr um die Taille griff, gemeinsam gingen sie ihren Weg.

 

Folko bewegte sich unterdessen über den Bahnhofsplatz um sein Quartier aufzusuchen, auch ihn hatte der Kampf belastet, wenn auch nicht annähernd mit der gleichen Anstrengung wie Kyra. Nur am Rand nahm er das quietschen der ein-und -ausfahrenden Züge war. Er bewegte sich durch die ihm unaufhörlich entgegenkommenden Menschenmassen, dabei stets und ständig angerempelt. Lautsprecheransagen verhallten als unverständliches Gelalle im Nirgendwo. Endlich hatte er die bescheidene Pension erreicht, schritt durch den Korridor mit den unaufhörlich flackernden Leuchtstoffröhren und schloss die Tür seines Zimmers auf.

Erst einmal zur Ruhe kommen. Er entledigte sich seiner Kleidung und betrachtete sich im Spiegel. Kyras Hinterlassenschaften bewegten sich in Grenzen, aber es waren schon einige Kratzer die ihrer Behandlung harrten. An einigen Stellen waren Kyras scharfe Fingernägel tief eingedrungen.

Folko griff in den Kleiderschrank und holte einen kleinen Verbandskasten hervor. Standardausrüstung jedes Elitekämpfer. Dann begann er die Wunden zu versorgen, dabei keine Miene verziehend, selbst wenn er allein war wusste er um den Ehrenkodex.

Dabei konnte er das Geschehen noch einmal Revue passieren lassen.

Justin schien verschwunden, sein vermeintliches Werkzeug also nicht mehr greifbar. Das war schade. Denn er glaubte den Jungen in der Zwischenzeit soweit, dass er ihm hörig schien. Es galt demzufolge sich eines neuen Werkzeuges zu bedienen. Doch hatte er Kyra kennen gelernt und die war dem Anschein nach gut mit Cornelius bekannt. Konnte ihm diese Bekanntschaft von Nutzen sein? Es müsste ihm gelingen zu Cornelius vorzudringen. Er konnte den Alten natürlich selbst liquidieren, für einen erfahrenen Kämpfer ein leichtes Unterfangen.  Cornelius Aufenthaltsort war ihm bekannt. Einfach bei Nacht und Nebel eindringen, sein schändliches Werk erledigen und sich wieder aus dem Staube machen. Doch das würde die gewünschte Wirkung nicht entfalten, im Gegenteil. Der Blauen Orden wäre schlagartig in der Schusslinie, dessen Ansehen in der Bevölkerung rapide sinken. immerhin entstammte Cornelius selbst der Privokaste und genoss noch immer bei viele hohes Ansehen.

Nein so konnte es nicht funktionieren.

Er musste alles daran setzen, dass der Anschlag auf Cornelius aus den Reihen der eigenen Gefolgsleuten verübt würde. Das würde für die erhoffe Verwirrung und Destabilisierung der ganzen Bürgerbewegung sorgen, wie man in Ordenskreisen hoffte. So jedenfalls war es es mit Thoralf abgesprochen. Günstigstenfalls könnte man den Anschlag sogar den Radikal-Revolutionären in die Schuhe schieben, somit die unteren sozialen Klassen noch weiter auseinander dividieren.

Könnte Kyra sein Werkzeug sein? Danach sah es im Moment nicht aus.

Aber immerhin, sie konnte ihm schon einmal Zugang verschaffen, ganz legal und ohne Verdacht zu schöpfen. Es galt weiter zu überlegen und im günstigsten Augenblick zu handeln.

Zeit und Geld hatte er, Grund zur Eile bestand momentan nicht.

 

In der Folgezeit lieferten sich Kyra und Folko ein Katz-und-Mausspiel, einer heftet sich an die Fersen des anderen. Die Rollen wechselten beständig. Mal war Folko die Maus, mal Kyra.

Der Elitekämpfer fühlte sich herausgefordert. Er, der mit allen Wassern gewaschene hätte sich doch glatt um ein Haar von diesem Parialuder vorführen lassen. Das konnte er unmöglich auf sich sitzen lassen.

Beständig bewegte er sich auf ihrer Spur, doch schien sie ihm beständig ein Schritt voraus.

Folko durchquerte die Wohngebiete der verachteten Paria lernte dabei deren Lebensgewohnheiten und Eigenheiten näher kennen. Dies half ihm dabei sich ein objektives Bild zu verschaffen.

Er studierte akribisch Kyras Gewohnheiten. Glaubte sich dabei unbeobachtet, ein Irrtum, denn Kyra schien ein Gespür für dessen Nähe zu besitzen und es gelang ihr immer wieder sich ihm im rechten Augenblick zu entwinden.

Vor allem dann, wenn  Kyra sich im undurchdringlichen Dickicht der Pariawelt verschanzte, schien sie wie vom Erdboden verschluckt.

Der alte Bauwagenplatz im Zentrum Manrovias bot dafür die ideale Bedingung. Kyra hatte diesen in den letzten Tagen des Öfteren aufgesucht, in der Hoffnung einen Hinweis auf Justins Verbleib zu erhaschen, vergeblich.

Alle Melancholanier die etwas auf sich hielten, ganz gleich ob Privo oder Preka machten um diesen Ort einen großen Bogen und mieden diesen wie der Teufel das Weihwasser. Der Platz galt ihnen als Hort des Verbrechens schlechthin. Alle Lichtscheuen Elemente des Landes kämen hier zusammen, hieß es.

In der Tat einen schlimmeren Untergrund konnte man sich kaum vorstellen.

Die Wohnwagen, alle in einem erbarmungswürdigen Zustand, dicht an dicht. Es gab weder Elektrizität, noch fließendes Wasser auf dem Gelände, von Sanitäranlagen ganz zu schweigen. Jeder schien seine Notdurft da zu verrichten wo es gerade beliebte. Eine stinkende Kloake. Ein penetranter Gestank haftete bleischwer wie ein unsichtbarer Nebel auf dem Platz.

Selbst dem ansonsten hartgesottenen Folko drehte sich der Magen um und ihm wurde übel, als er weiter in das innere des Labyrinthes vordrang.

Noch verwöhnte gutes Wetter die Bewohner. Wie trostlos musste es hier aber erst im Schmuddelherbst oder im Winter aussehen? Folko fand keine Erklärung dafür wie man es hier aushalten konnte.

Aus dem inneren der Wagen drange Stimmfesten nach draußen, vor allem Gebrüll und Gekreisch. Schon jetzt am frühen morgen torkelten Betrunkene lauf vor sich hin lallend über das Gelände. In einer Ecke konnte er eine Schlägerei wahrnehmen, instinktiv umfasste er den Knauf seine Dolches den er wie immer in der Westentasche zu tragen pflegte. Ständig  war mit einer Attacke rechnen.

Wo befand sich Kyra? Er hatte beobachtet wie sie das Gelände betreten hatte, doch längst verlor sich ihre Spur in dem undurchdringlichen Gewirr.

Nach ihr Ausschau zu halten kam der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen gleich.

Folko beschloss einfach seinem Gespür zu folgen. Sollte er sie heute nicht finden, dann eben nicht.  Ohnehin begann er sich die Frage zu stellen weshalb er eigentlich ihrer Spur folgte, konnte sie ihm nicht egal sein?

Endlich hatte er sie wieder, vor einem der Wagen stehend, sich dabei beständig nach allen Seiten drehend. So, als fürchte sie das herannahen einer Gefahr.

Die Tür eines Wagens öffnete sich und es erschien eine Frau mittleren Alters, erbärmlich gekleidet, die fettigen grauen Haare hingen ihr in langen Strähnen über die Schulter und als sie den Mund auftat bemerkte Folko das sie fast keinen Zahn mehr ihr eigen nennen konnte.

Ihre Stimme war der eines krächzenden Raben nicht unähnlich.

„Na da laust mich doch der Affe, wenn das nicht die Kyra ist. Was willst du denn hier? Hast wohl Sehnsucht nach der alten Heimat, he? Hab da was läuten gehört. Du seiest was Besseres, wohnst bei diesem Cornelius oder wie der auch heißt.“

„Genau da wohne ich, zur Zeit, solange wie es mir gefällt!“ gab Kyra keck zur Antwort.

„Aha, wie es dir gefällt? Bist ne feine Dame, die sich aussuchen kann wo sie wohnen will. Hast`s wirklich weit gebracht. Aber die Klamotten die du auf dem Leibe trägst sehen nicht grad damenhaft aus?“

„Was stören dich meine Klamotten? Warum ich hier bin willst du wissen? Ich suche Justin!

Hat der sich hier die letzten Tage aufgehalten?“ Nun wurde Kyra konkret, denn man merkte ihr an das sie keine Lust verspürte, dieses Gespräch länger als  nötig fort zu setzen.

„Justin, keine Ahnung wo der steckt. Woher soll ich das wissen? Sieh dich um, hier herrscht ein Kommen und Gehen wie zu den Zeiten als du noch hier lebtest. Was weiß ich wer

hier alles auftaucht und wieder verschwindet. Interessiert mich auch einen Dreck.“

Bei jedem Wort pfiff die Alte durch die Zahnlücken.

„Schon gut schon gut, ich verstehe! Ich brauch nicht weiter zu fragen, muss ich eben alleine weiter suchen.“

 

„Kyra nimm dich in Acht! Also wenn ich du wäre, dann wüsste ich was ich zu tun hätte, nämlich so bald als möglich von hier verschwinden!“ Sprachs und schlug die Tür des Wohnwagens mit lautem Knall hinter sich zu.

Wieder mit sich allein setzte Kyra ihren Weg fort, Folko folgte ihr in einem sicheren Abstand.

Die junge Punkerin war auf diesem Platze aufgewachsen, es war ihr Zuhause. Das es darüber hinaus noch eine andere, womöglich bessere Welt gab, entzog sich langezeit ihrer Wahrnehmung.

Eines Tages hatte sie den Sprung gewagt, etwa zwei Jahre war das nun her. Die Clique war schnell gefunden und Kyra konnte dort erfolgreich ihre Führungsqualitäten unter Beweis stellen. Der alte Bahnhof wurde ihr Domizil und nun lebte sie also bei Cornelius.

Kyra war eine Privilegierte unter den Nichtprivilegierten, stand sich auf jeden Fall bedeutend besser als die Leute hier auf dem Platz. Die neideten ihr den kleinen sozialen Aufstieg und betrachteten sie nicht mehr als eine der Ihren. Mißtrauen und offene Feindseligkeit waren die Folgen.

Folko schlich und lies sich absichtlich etwas zurückfallen um nicht Kyras Aufmerksamkeit zu erlangen.

Da konnte er hinter einer verwilderten Lingusterhecke das Getuschel wahrnehmen.

„Also nicht lange überlegen, macht die Zicke kalt wenn ihr sie erwischt, aber mit möglichst wenig Lärm, verstanden? Die ist eine Verräterin und hat hier nichts mehr verloren. Vielleicht spioniert die sogar hier rum, für die Blauen etwa, man kann nie wissen. Geht auf Nummer Sicher. Also ihr seid euch darüber im Klaren was zu tun ist. Kalt machen, dann die Kleider von Leib und entsorgt ihren nackten Kadaver möglich weit draußen, das ihn so schnell keiner findet, so wie wir`s mit dem Jungen getan haben.“

Aha, die traurige Gewissheit, Justin lebte nicht mehr. Kyra würde ihren Bruder nie mehr wieder sehen. Den konnte keiner mehr retten.  Kyra hingegen schon.

Folko sinnierte über die Situation in der er sich befand. Ihr helfen? Warum? Sollten sich die Pariaschweine doch gegenseitig ins Jenseits befördern, jeder der auf diese Weise ging war einer weniger. Die Doktrin des Blauen Ordens war unumstößlich. Er brauchte sich für Kyra nicht die Hände schmutzig machen. Stand sie nicht mehr zur Verfügung würde er sich eben etwas anderes einfallen lassen. An Ideen mangelte es in Folge seines Verstandes zu keiner Zeit.

Leb wohl kleine Wildkatze, geht einem Ende entgegen wie es dir entsprich.

Er wandte sich zum gehen, doch kaum hatte er zwei Schritte getan kamen ihm erhebliche Zweifel. Es schien als hielt ihn eine überdimensional große Hand gefangen und hinderte ihn daran sich zu entfernen.

Es kam ihm so vor als streife ihn ein kalter Hauch, dann hörte er eine sanfte Frauenstimme.

„Hilf ihr! Hilf ihr und tausendfacher Lohn ist dir sicher!“

Tausendfacher Lohn? Für das Leben einer unbedeutenden Paria? Von wem sollte er diesen erhalten?

Er blickte in Richtung Kyra die sich in etwa 40 m Entfernung bewegte und ihren Beobachter noch nicht zu bemerkt hatte. Er hielt sich noch immer hinter der Hecke verborgen.

Etwa 10  Meter vor ihm näherte sich ein Typ im Schutze eines heruntergekommenen Wohnwagens, den wohl schon seit langer Zeit niemand mehr bewohnte. Ein gekonnter Tritt und das Ding würde in sich zusammenfallen. Kyra konnte ihn nicht erkennen.

Auf leisen Sohlen pirschte sich Folko heran. Kyra machte ein paar Schritt rückwärts blieb aber dann wie angewurzelt stehen, so als ahne sie eine Gefahr. Der Typ hatte lange verfilzte Haare, einen verlausten grauen Bart und der Parka, den er trug stand vor lauter Dreck. Aus der Jackentasche holte er ein Messer hervor, klappte es auf und drehte es in der Hand bis er die Klinge umfasste. Aha ein Messerwerfer, der sein Handwerk gut zu verstehen schien.

In dem Moment als er das Messer zum Wurf ansetzte spürte er den kalten Lauf von Folko`s Pistole an der Schläfe.

„Ich würde mir das gut überlegen. Du kannst selbstverständlich das Messer werfen, doch in diesem Moment puste ich dir eine Kugel in den Schädel, dann ist es aus. Ich denke es ist in unser beider Interesse wenn du es nicht tust. Du behältst dein Leben und ich saubere Klamotten, denn ein zerplatzender Schädel würde meine nagelneue Khakiweste versauen und das möchte ich unbedingt vermeiden.

Also, Flossen hoch, umdrehen und das Messer fallen lassen!“

Voller Angst tat der Typ wie ihm geheißen.

Ein kräftiger Hieb mit dem Pistolengriff, lies ihm Sternchen sehen und Kyras Leben war gerettet.

Blitzschnell entsorgte Folko den bewusstlosen Körper unter dem Wagen, dann begab er sich wieder in den Schutz der Hecke.

Die Gefahr war noch nicht gebannt denn schon näherte sich ein weiterer. Ein hünenhafter Glatzkopf mit breiten Schultern. In seinen Abortdeckelgroßen Pranken hielt er einen Lederriemen und war im Begriff die Enden um seine Hände zu wickeln. Offensichtlich hatte er vor Kyra damit zu erdrosseln. Als er kurz vor Folko zum stehen kam sprang dieser aus seinem Versteck und verpasst ihm einen derartigen Faustschlag ins Gesicht das er augenblicklich wie ein Brett zu Boden fiel.

Dem Anschein nach hatte Kyra etwas bemerkt und eilte Deckung suchend, hinter eine alte abgestorbene Eiche.

Folko verlor sie somit aus den Augen und begab sich in jene Richtung wohin sie seiner Meinung nach verschwunden war.

„He Glitzerfratze, brauchst dir gar keine Mühe zu geben dich zu verstecken, ich habe längst bemerkt dass du mir folgst und zwar schon seit geraumer Zeit.“

Erleichtert atmete der Angesprochene auf und steckte die Pistole in seine Westentasche.

Kyra verließ ihre Deckung und nahm ihm gegenüber Stellung.

„Ich weiß zwar nicht warum du mir hinter mir her bist aber es muss ja enorm wichtig sein?" Wollte Kyra wissen.

„Warum? Hm, ich denke mal aus dem gleichen Grund warum du hinter mir her spionierst. Auch ich hab das schon lange herausgefunden. Oder hältst du mich für so naiv dass mir das entgangen wäre."

„Revanche! Wollen wir kämpfen, oder hat dich der Mut inzwischen verlassen?“ Kyra ballte die Fäuste und begann wie ein Boxer vor ihm auf dem Boden zu hüpfen.

   

„Ich habe keinen Bock darauf mich mit dir zu messen, lass mich einfach in Ruhe!

Gestand Folko, eine Aussage auf die Kyra nur gewartet hatte.

„Ich hatte Recht! Du bist ein Feigling, du hast einfach nur Furcht davor das ich dir deine grinsende Visage zerkratzen könnte, stimmt`s?“

„Ach wenn du wüsstest, mit einem einzigen Schlag könnte sich dich außer Gefecht setzen und zwar so das du nie wieder imstande wärst alleine aufzustehen!“ Erwiderte Folko angewidert.

„Ach nein, was du nicht sagst! Und warum hast du es dann nicht schon längst getan?“

„Das möchte ich selber gerne wissen?“

Dass er ihr eben mal so nebenbei gleich zweimal das Leben gerettet hatte verschwieg er, was nütze es wenn er es ihr offenbarte, sie würde ihm eh nicht glauben.

„Ich habe im Moment einfach Wichtigeres zu tun, genügt die Antwort?“ gab Folko zu verstehen.

„In Ordnung! Da haben wir sogar etwas gemein. Denn auch ich muss mich um Wichtigeres kümmern, muss Justin finden. Wenn du es mir nicht sagen kannst, muss ich weiter im Dunkel suchen. Er kann sich nur hier aufhalten, wo sollte er denn sonst hin.“

`Dein Bruder ist tot! Du kannst ihn nicht mehr finden, zumindest nicht lebendig!

Folko formte die Worte auf seiner Zunge, doch er brachte sie nicht über seine Lippen. Er konnte ihr die traurige Wahrheit nicht so einfach ins Gesicht schleudern.

Sie gingen noch ein Stück schweigend miteinander. Als sie den Bauwagenplatz hinter sich gelassen, trennten sie sich ihre Wege.

„Also dann, gehab dich wohl? Wir sehen uns wieder!“ Verabschiedete sich Kyra.

„Ich denke doch! Ganz bestimmt!“ Stimmte Folko zu.

Danach begaben sie sich in ihre jeweilige Welt. Es waren Menschen aus zwei Dimensionen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten

Jene Welten waren ungefähr so weit von einander entfernt wie der Neandertaler vom Weltraumflug.

Als Folko seinen Jeep bestieg, den er in sicherer Entfernung des Bauwagenplatzes geparkt hatte, schossen ihm erneute die Gedanken durch den Kopf, bohrten sich wie lästige Pfeilspitzen in sein Hirn.

Er hatte etwas Ungeheuerliches getan, hatte Kyra gerettet und es wurde ihm nicht einmal dafür gedankt. Er kam sich ausgesprochen dämlich vor. Die Leute im Orden würden sich über ihn totlachen und das mit Recht.

Es gab Zeiten da hatte er gemeinsam mit den anderen Kommandeuren des Ordens Jagd auf  Leute aus den Pariakreisen gemacht und sich dabei köstlich amüsiert.

Einer aus jenen verachteten Kreisen das Leben retten entsprach so ganz und gar nicht dem Kodex dem er sich auf Gedeih und Verderb verpflichtet fühlte.

Er der smarte Schönling aus den besseren Kreisen, gebildet, kultiviert, welterfahren, der sein Wissen an der Humboldtuniversität in Berlin erlangt und dann die Offizierslaufbahn eingeschlagen hatte. Ein Mensch der die Welt kennen lernen durfte, ferne Länder, fremdartige Kulturen studierte. Zudem war er ausgesprochen gut aussehend, etwa eine Mischung aus Richard Gere und George Cloony, hatte bei Frauen leichtes Spiel mit seiner coolen besitzergreifenden Art. Und mit was für Frauen er verkehrte, Modells, Schauspielerinnen, Intellektuelle.  Jede konnte er haben, wenn er  nur wollte.

Und nun traf er auf Kyra, jene raue Kratzbürste in ihren schäbigen Klamotten und mit den noch viel schäbigeren Manieren und er musste sich eingestehen dass sie ihm in zunehmendem Maße faszinierte.

Kyras Erfahrungsschatz reichte allemal bis zum Horizont, vielleicht nicht einmal soweit. Noch nie hatte sie Manrovia verlassen, kannte nur den Bauwagenplatz, das Bahnhofsviertel, den alten Vorstadtbahnhof und nun auch noch Cornelius Fabrik. Zu mehr hatte es nie gereicht. In ihrem Leben gab es nur Schmutz, Elend und Tränen.

Doch da war etwas, das ihn nachdenklich stimmte. Die ganze Art wie sie sich auszudrücken pflegte lies darauf schließen, dass sie über einen gewissen Grad an Bildung verfügte. Auf welche Weise sie sich diese verschaffen konnte, bliebt zunächst Rätsel. Hatte sie je eine Schule besucht? Wenn ja, war sie nie über die 4.Klasse Hauptschule hinausgekommen, denn mehr billigte das Gesetz Pariakindern nicht zu.

Das Leben hatte sie frühzeitig gezeichnet und mit dem Brandmal der Verliererin stigmatisiert.

Doch hatte sie offensichtlich beschlossen dem Rad des Schicksals in die Speichen zu greifen um das harte Brot der Armut mit Speck zu belegen.

Aus eigener Kraft konnte sie sich nicht befreien, denn die Tür zum Gefängnis lässt sich nun mal nur von außen öffnen. Niemand kann sie von innen aufmachen. Ein anderer musste sie öffnen und ihr zur Freiheit verhelfen. Und in der Tat dieser Jemand schien gefunden. Cornelius bot ihr eine Chance. Sie durfte von nun an mit samt ihrer Clique bei ihm wohnen und sah sich dem Traum ihres Lebens ein Stück näher, eine Sängerin werden, Musik machen, ihren Frust und ihre Hoffnung in den Wind schreien.

Als sie ihr Lied auf der Propagandaveranstaltung von Cornelius Neuer Liga zum Besten gegeben hatte, stand sie zum ersten Mal im Rampenlicht. Doch keiner nahm Notiz davon. Niemand schien sich dafür zu interessieren. Talent allein reicht eben nicht aus um die Treppe zum Erfolg zu erklimmen. Und eine Paria hatte es ganz besonders schwer. Melancholaniens Augen, vor allem an Glanz und Glimmer gewöhnt, hatten schlichtweg keinen Bedarf für eine vom Bauwagenplatz. Leichte verdauliche Kost wurde gewünscht Schlager und Pop von der Stange

Aber keineswegs jener aggressive Punk mit seinen provozierenden Texten.

Was sie auch unternahm, sie wurde einfach totgeschwiegen. Aber in Cornelius Umfeld hatte sie zumindest die Gewissheit nicht auch noch totgeschlagen zu werden.

 

Leichfüßig näherte sich Kyra dem alten Vorstadtbahnhof. Heute sollte er endgültig geräumt werden. Die Gang hatte beschlossen Cornelius Angebot anzunehmen und dauerhaft in die Fabrik umzusiedeln. Alles was sie mit zu nehmen gedachte lies sich auf einen Lieferwagen packen. Zu diesem Zweck sollten sich alle an diesem Nachmittag am Bahnhof einfinden.

Als das Gebäude in ihr Blickfeld rückte packte sie das kalte Grausen. Dicke Rauchschwaden hüllten es wie in einen schwarzen Todesmantel. Der Qual trieb ihr entgegen und löste einen Hustenschauer aus, schon von Jugend an litt sie an Asthma.

Panik bemächtigte sich ihrer. Wo waren die anderen? Was um Himmelswillen war hier geschehen?

Sie rannte und rannte, da kam ihr plötzlich Jean entgegen.

„Jean, was ist hier los? Wo sind die anderen?“

„Die Blauen, Die Blauen, die kommen uns zu holen! Haben alles zerstört , alles nieder gemacht. Wahnsinn! Wir alle sind verloren! Die Blauen, Die Blauen….“

„Komm zu dir! Wer war hier?“

„Die Blauen, Die Blauen, alles zerstört, alles kaputt….“

Es machte wenig Sinn mit Jean weiter zu reden, der hatte wieder mal, wie so oft, völlig abgeschaltet.

Kyra rannte weiter auf das brennende Gebäude zu. Wer auch immer für die Brandstiftung verantwortlich war, sie hatten ganze Arbeit geleistet.

Kyra kam vor dem Eingang zum stehen. Eine stechende Hitzewelle trieb ihr entgegen. Sie glaubte sich in der glutroten Hölle wieder zu finden. Sollte sie sich hineinwagen. Waren da noch Leute ihrer Gang gefangen und harrten der Befreiung?

Resignierend lies sich Kyra auf den Boden fallen.

„Verfluchte Scheiße! Wo seid ihr? Hört mich jemand?“

Plötzlich spürte sie eine Berührung auf ihrem Rücken wandte sich um und stellte zu ihrer großen Erleichterung fest, das es Kim war, die sie berührte.

„Was ist das? Wer hat das getan? Wo…wo sind die anderen? Etwa noch da drin?“ Erkundigte sich Kyra voller  Angst .

„Es waren die Patrioten, die tauchten hier plötzlich auf mit ihren Motorrädern, umkreisten erst das Gelände, dann begannen sie alles kurz und klein zu schlagen. Schließlich warfen sie Brandflaschen in das Haus.“ Klärte Kim auf.

„Wo sind die anderen? Hat es einen von uns erwischt? Nun rede schon?“ Kyra packte Kim an den Armen und schüttelte diese.

„Wir haben es alle überlebt! Da ist keiner mehr von uns drin. Wir konnten uns in Sicherheit bringen bevor das Feuer richtig ausbrach. Alle, außer…. Außer Lisa…“

„Was ist mit Lisa? Ist sie tot?“ Unterbrach Kyra.

„Nein, nein das nicht. Sie… sie haben sie mitgenommen!“

„Entführt?“

„Ja, entführt! Die hatten auch so einen Leichttransporter dabei. Dort haben sie Lisa draufgeschmissen und brausten auf und davon.“

„Verflucht! Also noch einer von uns verschwunden. Erst Justin jetzt Lisa, was wollen die?

Was haben die für einen Grund?“ Kyras Augen brannten und in ihrem Schädel rumorte es gewaltig. Für heute hatte sie genug.

„Los komm, wie suchen die anderen. Dann lass uns hier augenblicklich verschwinden. Ich glaube dass wir bei dem alten Professor bedeutend sicherer leben. Nur weg hier. Wir haben hier nichts mehr verloren.“

Kyra und Kim begaben sich auf die Suche nach dem Rest der Clique.

Aus sicherer Entfernung wohnte Folko dem dramatischen Geschehen bei. Mittels Feldstecher hatte er Kyra genau im Visier.

Sollte er eingreifen? Sollte er ihr erneut beistehen? Warum? Nein, genug der guten Taten.

Heute hatte er sich wahrlich selbst übertroffen und das alles einer Paria wegen. Noch vor Tagen hätte er nicht im Traum daran gedacht auch nur einen Gedankenan so etwas zu  verschwenden.

Trotzdem fieberte er mit den beiden als sie sich langsam vom Tatort entfernten. Er wünschte ihnen  Sicherheit.

Es bestand die Gefahr, dass sich noch immer Patrioten in der Nähe aufhielten. Und die kannten keine Gnade.

Die Patrioten, das war eine sehr unheimliche Gruppe die sich vor wenigen Monaten spontan zusammengefunden hatte. "Patrioten für Melancholanien, so ihre vollständige Bezeichnung.

Es handelte sich dabei um eine bunt zusammen gewürfelte Truppe von Männern die allesamt der Prekakaste entstammten. Alle einte die zunehmende Angst vor einem sozialen Abstieg.

Sie suchten und fanden ihr Feindbild in der Pariakaste. Sie machten diese für die zunehmende desolate Wirtschaftsituation in Melancholanien verantwortlich. In der Tat, die soziale Durchlässigkeit nach unten nahm in letzter Zeit beständig zu. In den Reihen der Preka grassierte die Angst, selbst in die Pariakaste abzurutschen. Von der Politik fühlten sie sich im Stich gelassen. Das politische Personal bot immer weniger Identifikationsmöglichkeiten.

So bildete sich dieser außerparlamentarische Protest als Form der Selbstermächtigung.

Ihre politischen Ziele waren allesamt extrem antidemokratisch, wurden zudem von einem reaktionären Frauen-und Familienbild geprägt und von einer dominanten Maskulinität.

Kameradschaftssinn, Opferbereitschaft, Rückgriff auf das Nationale, Ausgrenzung alles Fremden, Unbekannten und Unüblichen.

Es bildete sich ein neues Wirgefühl . Wir und die Anderen. Jene anderen waren die schlechten und das Wir stand demnach für das Gute.

Es war keine Massenbewegung, noch nicht. Aber ständig bekamen sie Zulauf.

Der Patriotismus als letzte Zuflucht für den Verlierer, diese alte Weisheit bewahrheitete sich wieder einmal an einem exakten Beispiel.

Der Blaue Orden unterstützte diese Gruppierung aus dem Hintergrund massiv, vor allem finanzierte er diese. Vor der Öffentlichkeit wurde das selbstverständlich vehement zurückgewiesen.

Um das zu verschleiern wurde sogar eine weitere Bewegung ins Leben gerufen, die so genannte BÜGEPA, das stand für „Bürger gegen Paria“.

Hier organisierte sich der friedliche Protest gegen die angeblich zunehmende Parianisierung der Bevölkerung.

Cornelius Bürgerbewegung bekam somit eine gefährliche Konkurrenz von rechts. Auch Neidhardts Revolutionäre standen diesem Phänomen zunächst recht hilflos gegenüber. Drohte es doch dessen Propaganda massiv zu untergraben.

Die Menschen brauchen Leitbilder um sich zu orientieren. Diese griffen vor allem, wenn sie leicht verständlich, unkompliziert und volksnahe erschienen. Neidhardts wissenschaftliche Deutung des politischen und ökonomischen Desasters in Melancholanien konnte  nur schwer in den einfach gestrickten Gemütern Fuß fassen.

 

Am Abend hatte sich die Gang um Kyra wieder gefunden.

Lisa blieb verschwunden. Niemand vermochte im Augenblick zu sagen was mit der geschehen war. Denken konnte sich das alle. Immer wieder verschwanden junge hübsche Pariafrauen, eine solche war Lisa zweifelsohne, um in Bordellen zwangsweise ihre Dienste an zu bieten. Waren sie nicht willig half man nach ,indem man sie unter Drogen setzte bis sie parierten.

Auch Justin würde nie wieder zurückkehren. Kyra ahnte schon warum, auch wenn sie es vermied darüber zu sprechen.

Aber immerhin waren die anderen zunächst sicher.

 In einem eigens dafür bereitgestellten Bereich auf dem Gelände der Fabrik hatte sie  schon vor Wochen begonnen sich häuslich niederzulassen.

Kyra hatte es jedoch vorgezogen den alten Bahnhof weiterhin als Ausweichquartier zu halten, für alle Fälle, sollte es hier möglicherweise doch einmal zu eng werden. Dieser Möglichkeit sah sie sich nun beraubt. Es war sicher hier aber es galten strengere Regel. Kyra musste lernen damit klar zu kommen. 

Aber in diesen unruhigen Zeiten hatte die Sicherheit oberste Priorität.

Niemand käme auf die Idee Cornelius Zentrale anzugreifen. Die „friedlichen Protestierer“ zogen zwar regelmäßig mit ihren Transparenten und Fahnen vor das Tor, mehr war jedoch nicht zu befürchten.

In den folgenden Tagen kam es immer wieder zu Gewaltexzessen, so wurde wenig später auch der Bauwagenplatz von den Patrioten angegriffen und zahlreiche Opfer waren zu beklagen.

 

Folko und Kyras Wege kreuzten sich in der Folgezeit immer wieder. Es blieb allerdings bei eher flüchtigen Kontakten. Das Bedürfnis gegen einander zu kämpfen hatte bei beiden merklich nachgelassen. Warum, konnten beide in dieser Zeit noch nicht in Erfahrung bringen.

Folkos Auftrag bestand weiter, doch er lies sich erstaunlicher Weise viel Zeit damit dessen Erfüllung voran zu treiben.

Vieles hing auch maßgeblich davon ab, wie sich die Dinge im Lande weiterentwickelten.