Im Goldenen Käfig

 

Madleen schaute aus dem Fenster, ihr Blick richtete sich auf das Konventsgebäude der Abtei genau gegenüber. Das tat sie regelmäßig jeden Morgen, nachdem sie aufgestanden war. Wie so oft war sie auch heute allein. Cassian war nicht da. Er war die ganze Nacht nicht nachhause gekommen. Auch das nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil, fast schon die Regel. Bei welcher Geliebten er wohl diesmal abgestiegen war?

 

Uninteressant, für Madleen nicht weiter von Bedeutung. So verlief nun mal ihr Leben. Sie hatte es sich ausgesucht. Nun hatte sie die Konsequenzen zu tragen. Immer deutlicher sickerte diese Erkenntnis in ihr Bewusstsein.

Der Enthusiasmus der ersten Tage hatte deutlich an Stärke verloren. Madleen begann langsam wieder zu sich selbst zu finden. Der Nebel begann sich  aufzulösen und sie sah die Welt so wie sie wirklich war. Dieser Ausblick war ernüchternd.

Noch immer hatte sie die Abtei im Visier, so wie sie es stets zu tun pflegte.

Doch heute war etwas anders. Sie spürte es genau. Sie hatte ein leeres Gebäude vor Augen.

Dort drüben lebten keine Menschen mehr. Colette, die anderen Schwestern und deren Anhang waren ausgezogen, vertrieben, ins Exil entschwunden, von dem es wohl in ansehbarer Zeit keine Wiederkehr mehr gab

Diese Tatsache verursachte einen tiefen Schmerz in ihrem Herzen.

Der Schlussakkord. Nun war es endgültig. Die letzte Zuflucht war ihr genommen. Noch bis vor wenigen Tagen hätte sie einfach jene ca. 1000 Meter laufen müssen, sich Colette zu Füßen  werfen und um Verzeihung  bitten, verbunden mit dem Wunsch wieder eine Schwester zu werden. Einfach wieder dazu gehören, dort wo sie zuhause war, wo ihr Platz war.

Sicher, es wäre nicht mehr so wie früher. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen.

Elena lebte nicht mehr dort. Die war verschwunden und niemand kannte deren Aufenthaltsort schlimmstenfalls lebte sie nicht mehr.

Die anderen würden sie zudem misstrauisch beäugen, kein Wunder, nach dem Husarenstück, dass sie sich geleistet hatte. Es würde wohl einige Zeit in Anspruch nehmen, um wieder das Vertrauen der anderen zu gewinnen, doch sie wäre endlich wieder daheim. Daheim im Schutz der starken Mauer von Anarchonopolis.

Wer war sie stattdessen? Was war sie? Diese Frage wagte sie sich gar nicht erst  zu stellen. Zu demütigend wäre deren Beantwortung.

Sie lebte an Cassians Seite, diese Tatsache ließ sich nicht verleugnen. Doch welchen Status nahm sie ein? Sie waren nicht verheiratet, entsprechend konnte sie keine Rechte geltend machen. Ohne seinen Schutz stand sie allein. Mutterseelenallein. Dachte Cassian daran sie zu ehelichen? Bisher machte er keinerlei Anstalten.

War sie seine Geliebte, seine Mätresse, wie man früher zu sagen pflegte. Oder war sie seine Hure? Letzteres schien wohl eher zu zutreffen.

Neben ihr gab es viele andere. Das war ihr schon lange bewusst und sie hatte sich damit abgefunden.

Was blieb ihr auch übrig?

Immerhin lebte Tessa bei ihr. Ein wenig Trost in all jener Trostlosigkeit die sie umgab. Cassian verhielt sich der Kleinen gegenüber höflich, ja fast liebevoll. Das musste sie sich der Fairness halber eingestehen.

Doch Tessas Status war ebenso unsicher wie ihr eigener. Es war Elenas leibliche Tochter und nicht die ihre, auch wenn sie Mama zu ihr sagte. Tessa war mit Madleen nicht einmal blutsverwandt. Mit Cassian hatte sie gleich gar nichts zu tun. Vielmehr trug Cassian die Verantwortung für den Tod von Tessas Vater Leander.

Madleen fiel ein, dass sie heute noch nicht nach ihr gesehen hatte und begab sich ins Kinderzimmer der großen Villa, die Cassian hier hatte errichten lassen. Kaum dass sie fertig gestellt war, genügte sie schon nicht mehr seinen Ansprüchen. Es war also davon auszugehen, dass sie alle demnächst in ein anders Domizil umziehen würden.

„Tessa? Tessa wo steckst du denn?“

Das Mädchen saß angezogen am Tisch und blätterte in einem Buch. Sie schien so beschäftigt damit dessen Seiten zu erkunden, dass sie Madleens Anwesenheit gar nicht bemerkte.

„Tessa?

Erst jetzt blickte das Mädchen nach oben.

„Hallo mein Spatz, das Buch gefällt dir?“

„Ja, es ist sehr schön.“ Kam die die Antwort.

„Du lernst schnell. Sehr schnell. Man könnte den Eindruck bekommen, dass du die Schule gar nicht nötig hast.“

Tessa blickt wieder auf die Buchseiten und vertiefte sich in dessen Inhalt.

„Ist es langweilig in der Schule für dich?“ Wollte Madleen wissen.

Seit dem Frühherbst besuchte Tessa die Schule. Eine auserwählte Privatschule, darauf hatte Cassian bestanden. Madleen musste sich dem fügen, sie hätte eine öffentliche vorgezogen.

Das wäre auch in Elenas Sinne. Ach Elena, könnte sie doch nur sehen wie prächtig sich ihre Tochter entwickelte. Sie hätte allen Grund mit Stolz auf das Kind zu blicken.

„Manchmal schon. Ich weiß eben schon viele Dinge. Ich sehe mir etwas nur einmal an und schon weiß ich wie es geht.“ Antwortete Tessa.

Sie war hochbegabt, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Auch in dieser Hinsicht schlug sie voll nach ihrer Mutter. Die ganze Art wie sie sich auszudrücken pflegte ließ auf einen hohen Intelligenzquotienten schließen. Oft hatte Madleen den Eindruck sich mit einer erwachsenen Frau zu unterhalten

„Aber das ist doch schön. Ja, da werde ich es mit dir sehr einfach haben. Probleme in der Schule? Du wirst keine haben.“ Glaubte Madleen zu wissen.

Tessa schwieg.

„Weißt du schon, wann Mutti wiederkommt? Oder hast du noch immer keine Nachricht von ihr?“

Die obligatorische Frage. In bestimmten Abständen wurde sie von Tessa in den Raum geworfen. Doch Madleen konnte immer nur ausweichend antworten.

„Ich habe leider noch immer keine Nachricht von Mutti. Sie ist wohl noch sehr beschäftigt auf ihrer langen Reise. Aber sobald ich etwas von ihr höre, sage ich es dir.“

Die Standartantwort. Tessa begnügte sich damit, zumindest dem Anschein nach. In Wirklichkeit schenkte sie dieser Aussage schon lange keinen Glauben mehr. Madleen lag richtig mit ihrer Vermutung, dass man dem Kind nichts vormachen konnte.

Tessa war mit Elenas Abwesenheit nur allzu gut vertraut. Es schien geradezu ein Normalzustand, dass sie ihre Mutter nur recht selten zu Gesicht bekam. Und wenn, dann reichte es gerade mal zum Austausch von Oberflächlichkeiten. Die Beziehung zu Madleen gestaltete sich  dagegen viel tiefer und emotionaler. Sie war es, die im Grunde für sie sorgte und stetes zur Stelle war, wenn sie gebraucht wurde. Kein Wunder, dass sich Tessa für Madleen entschieden hatte.

Doch immerhin trat Elena von Zeit zu Zeit in ihre kleine Welt. Dass sie nun gar nicht mehr erschien, wirkte sich in zunehmendem Maße negativ auf Tessas Seele aus.

„Aber irgendwann muss sie doch wiederkommen?“ Begehrte die verlassen Tochter auf.

Das war ein Novum. Ein erneuter Beweis dafür, dass Tessa zu begreifen schien was sich zugetragen hatte.

„ Ich weiß wie sehr du die Mutti vermisst. Mir geht es ebenso. Ich vermisse sie auch unendlich.“ Entgegnete Madleen.

„Wirklich?“ Bitterkeit sprach aus dieser Frage.

„Ja, wirklich!“ Madleens Antwort schien Tessa nicht zu befriedigen.

„Weißt du was ich glaube? Die Mutti kommt nie mehr wieder. Sie hat mich vergessen und dich auch!“

Tessa schloss heftig das Buch vor ihr. Dann verschränkte sie die Arme und blickte wie ein Trotzkopf auf die Tischplatte.

„Das darfst du nicht sagen, mein Spatz. Die Mutti hat uns nicht vergessen. Sie wird wieder kommen, auch wenn es noch eine Weile dauert. Sie hat uns beide noch immer lieb.“

Versuchte Madleen zu trösten.

„Das stimmt nicht! Du belügst mich! Das weiß ich ganz genau!“

Nun war es raus. Madleen traten nur die Tränen in die Augen, sie war außer Stande darauf zu antworten. Die Kleine hatte sie durchschaut und das schon seit geraumer Zeit.

Madleen trat zu ihr und schloss sie in die Arme.  Nach einer Weile riss sich das Mädchen los und rannte aus dem Zimmer. Sie stürmte durch das Treppenhaus in Richtung Dachboden. Das tat sie immer, wenn sie Kummer hatte. Madleen folgte, doch hielt sie plötzlich an. Es schien nicht angebracht ihr heute zu folgen.

Ein Blick aus dem Fenster auf die Straße vor dem Haus. Cassian war gerade im Begriff aus der Staatslimousine zu steigen, wie immer umgeben von einer Traube ihm treu ergebender Männer.

Er näherte sich der Haustür. Madleen öffnete spontan.

„Guten Morgen Cassian! So früh hatte ich dich gar nicht  zurück erwartet!“ Begrüßte ihn Madleen.

„So? Bin auch gleich wieder weg! Ich brauche für die Kabinettssitzung nur noch einige Dinge, außerdem muss ich mich umziehen!“ Lautete die Erklärung.

„Na, dann lass dich nur nicht aufhalten!“

„Wichtige Besprechung heute. Langsam aber sicher müssen wir Fahrt aufnehmen. Noch zu viel Akratasien in den Köpfen der Bewohner. Es wird Zeit damit aufzuräumen.“ Cassians Tonfall nahm eine Steigerung ins Bedrohliche, so als müsse er es Madleen auf besondere Weise nahe bringen.

„Ich hoffe ihr habt euch gute Besen besorgt für eure Säuberungsaktionen.“ Versuchte Madleen die Angelegenheit ins Lächerliche zu ziehen.

„Die haben wir! Keine Angst, die haben wir! Ach so ja, bevor ich es vergesse. Heute Abend Empfang in der Staatskanzlei. Ich möchte, dass du dabei bist. Kleide dich entsprechend. Du weißt, wie ich das meine.“
„Wie du befiehlst!“ Madleen salutierte.

„Es geht um nichts Geringeres als um die Frage ob wir in naher Zukunft unsere gute alte Republik in ein Kaiserreich verwandeln sollten!“ Klärte Cassian auf.

„Ein Kaiserreich??“ Madleen musste sich das Lachen verkneifen.

„Ja, richtige gehört. Ein Kaiserreich. Der logische Endpunkt einer Entwicklung, die sich schon lange abzeichnete.“

„Und wer soll der Kaiser werden? Ich gehe sicher recht in der Annahme, dass du dich dafür auserkoren hast?“ Hakte Madleen nach.

„Natürlich! Wer sonst! Es wird also einige gravierende Änderungen geben in Zukunft. Sowohl was unser Privatleben betrifft als auch die Zustände für das  ganze Land.“

Cassian schritt in den Flur. Tessa rannte die Treppe hinunter und stieß mit ihm zusammen.

„Hoppla! Nicht so eilig meine Prinzessin.“ Cassian ergriff das Mädchen und hob es in die Höhe.

Auch heute benahm er sich ihr gegenüber ausgesprochen liebevoll.

„Du musst lernen dich würdevoll zu betragen. Dann bald schon wirst du eine echte Prinzessin sein. Im wahrsten Sinne des Wortes.“ Danach setzte er sie wieder auf den Boden.

Sie war und ist eine Prinzessin, auch ohne dein Zutun. Dachte sich Madleen. Natürlich wagte sie es nicht diese Worte auszusprechen.

„Möchtest du sie etwa auch dabeihaben?“ Wollte Madleen wissen.

„Natürlich nicht! Wir wollen am Anfang nicht gleich übertreiben! Sie wird sich noch früh genug an den Rummel gewöhnen müssen, der bald um ihre Person entsteht“ Antwortet Cassian kurz und knapp bevor er die Treppe nach oben entschwand.

Was für ein Blödsinn, dachte Madleen. Tessa war seit ihrer Geburt an ein bewegtes Leben gewöhnt. Das ließe sich kam vermeiden, für ein Kind, das Elena zur Mutter hat.

Ein Kaiserreich? Natürlich, Madleen brauchte nicht sehr lange zu überlegen, um diesen gesteigerten Größenwahn zu begreifen.

Colette war Königin. Gibt es noch etwas Höheres Selbstverständlich, ein Kaiser musste es sein. Denn Papst schied ja aus verständlichen Gründen aus.

Mit dieser Gigantomanie hatte sich Madleen in Zukunft zu engagieren. Schon in diesem Moment wurde ihr bewusst was da alles auf sie zukam.

Cassian erschien an der Treppe und bewegte sich hinunter. Er war in seine Dienstuniform gekleidet. Die wirkte schon wie aus einer Operette. Welches Bild würde er erst in seiner Galauniform geben?

„Also gut mein Schatz, ich verschwinde dann erst mal. Es wird den ganzen Tag in Anspruch nehmen, wie so oft. Ich lasse dich heute Abend, sagen wir mal so gegen 20 Uhr abholen. Bis dahin vertreib dir die Zeit nach Belieben. Pass auf Tessa auf, damit sie keinen Unsinn macht.“

Er öffnete die Tür und draußen hatte sich schon wieder eine Traube an Bodyguards eingefunden.

Einer öffnete die Tür der lackschwarzen Staatskarosse.

Cassian, der sich schon am Auto befand, drehte sich herum und kam noch einmal zurück zur wartenden Madleen.

„Ach ja, das Wichtigste hätte ich bald vergessen. So ist das eben, wenn man ein viel beschäftigter Mann ist. Willst du mich heiraten?“

Madleen schien aus allen Wolken zu fallen und brachte kein Wort hervor.

„Ich denke, das liegt in der Natur der Sache. Ich werde Kaiser dieses Landes und das schon in absehbarer Zeit. Du bist die Frau an meiner Seite. Es gehört sich einfach dass wir unser Verhältnis regeln, vor der Öffentlichkeit. Immerhin, du wirst Kaiserin und das ist doch was.

Sie werden zu dir emporblicken und mich beneiden, wann immer wir auf der Bühne erscheinen.

Überlege es dir. Obgleich es da nicht viel zu überlegen gibt. Stimmst du zu, wirst du Colette weit in den Schatten stellen. Solltest du dich dagegen entscheiden? Ich glaube nicht, dass du so dumm sein wirst, nun ja, dann hätte ich kaum noch Verwendung für dich. Für dich und Tessa.

Also entscheide dich! Aber lass dir nicht allzu viel Zeit damit“

Cassian schwang sich auf den Rücksitz seines Automobils und einer der Lakaien schlug die Türe zu.

Dann setzte sich der Tross in Bewegung.

Madleen musste sich erst einmal sammeln.

Dass passte genau zu ihm. Ein Heiratsantrag zwischen Tür und Angel. Quasi im Vorübergehen. Es lag auf der Hand, er wollte sich mit ihrem Antlitz schmücken. Madleen als Sahnehäubchen auf der Festtagstorte.

Dafür war sie allemal gut genug. Als Mensch, als denkender, fühlender Mensch mit eigenen Wünschen, Zielen und Idealen zählte sie hingegen wenig. So würde sie ihr Leben in Zukunft gestalten. Ein Paradiesvogel im goldenen Käfig

Wie anders war es doch damals mit Elena, sie war noch immer mit ihr verheiratet. Sie hatten sich Liebe und Treue bis in den Tod geschworen. Damals in der Plantage mit den blühenden Kirschbäumen.* Es schien Ewigkeiten her. Gemeinsam hatten sie ein eigenes nichtpatriarchales Eheritual entwickelt. Selbstverständlich würde Cassian das niemals anerkennen, sollte sie sich darauf berufen. Des Weiteren war Elena von offizieller Seite ohnehin schon lange für Tod erklärt.

Madleen saß in der Falle.

Sicher, er hatte ihr großzügig die Entscheidung überlassen. Doch was hatte sie tatsächlich zu entscheiden? Wenig oder gar nichts. Lehnte sie ab, wäre ihr und Tessa eine allzu ungewisse Zukunft sicher. Möglicherweise zeigte er sich galant und stellte ihr eine Wohnung, vielleicht ein Haus zur Verfügung, dazu noch eine kleine Rente für den Lebensunterhalt. Dann verkam sie endgültig zu seiner Hure, gut genug, um seine animalischen Treibe zu befriedigen.

Doch selbst das war keineswegs gewiss.

Sie und Tessa schwebten in Gefahr, sollte sie sich negativ entscheiden.

Es gab also keine Alternative. Sie würde zustimmen und damit Kaiserin werden, Kaiserin von Melancholanien, dass doch eigentlich Akratasien war, geführt von Colette, der guten alten Colette, die sie doch so unendlich liebte und verehrte. Und Elena…..

Madleen schlug die Tür hinter sich zu und ging ins Haus zurück. Sie ließ sich auf einen der großen, mit grünem Samt bezogenen Sessel nieder, die hier standen, vergrub ihr Gesicht in den Handflächen und weinte bittere Tränen.

 

Es war früher Nachmittag als Tessa aus der Schule kam. Wie immer in einer eigens dafür bereitgestellten Limousine chauffiert.

Bis zum Abend war es noch eine Weile. Noch einige Stunden die Zeit vertreiben. Draußen war es noch hell.

Ein kleiner Spaziergang mit Tessa. Geredet wurde kaum. Doch ihr beiderseitiges Schweigen sprach Bände. Die Kleine begann immer deutlicher zu begreifen in welcher Welt sie zu leben hatte.

 

Die Zeit bis zum Abend verging schneller als gewünscht. Insgeheim hoffte Madleen, das der Kelch an ihr vorüberging. Doch nichts desto trotz erschien Cassians pünktlich gegen 19 Uhr mit der Botschaft sich rasch umzuziehen, um dann in einer Stunde mit ihm zur Residenz zu fahren. Dort würde ein Empfang anlässlich der Proklamation stattfinden.

„Du bist noch immer nicht umgezogen? Das ist enttäuschend. Wünsche mir deinerseits ein wenig mehr Begeisterung für unsere Sache. Dann musst du dich beeilen. Wenn du sofort beginnst, bleibt dir noch ein wenig Zeit. Ich werde mich in meine Galauniform kleiden? Ist die Kleine schon im Bett?“

„Noch nicht! Sie ist wie immer mit ihren Büchern beschäftigt. Die Kinderfrau ist da, sie wird sich um alles kümmern.“ Erwiderte Madleen.

„So? Ich weiß nicht ob ich da zustimmen soll. Gut, es ist schon wichtig für ein Mädchen gescheit zu sein. Übertreiben sollte sie es aber nicht damit. In der Gesellschaft die mir vorschwebt, sollten Frauen nur so viel Wissen anhäufen, wie unbedingt von Nöten.“ Gab Cassian zu verstehen.

„Das kann ich mir vorstellen! Dann darf sie später wohl nicht einmal studieren?“

„Das habe ich nicht gesagt. Natürlich darf sie das, welche Frage. Sie wird eine Prinzessin, da macht sich ein akademischer Abschluss natürlich ausgezeichnet. Doch sie sollte den Mann den sie später heiratet auf keinen Fall an Intelligenz übertreffen. So etwas ist widernatürlich und  kontraproduktiv.“ Erwiderte Cassian hart.

„Ich denke wir sollten nicht schon jetzt das Leben einer Sechsjährigen verplanen! Lass sie erst mal erwachsen werden.“ Schlug Madleen vor.

„Sicher hast du Recht!  Das entscheiden wir wenn es soweit ist! Jetzt wird es aber höchste Zeit sich umzukleiden.“

Cassian zog Madleen mit sich die Treppe hinauf.

„Eine halbe Stunde! Mehr Zeit ist nicht mehr drin. Sieh zu das du vorwärts kommst.“

Dann ließ er sie allein in ihrem Zimmer.

Lustlos begann sich Madleen anzukleiden. Sie brauchte nicht lange, hatte für solche Anlässe stets eine Standartausrüstung parat.

Sie war in der zurückliegenden Zeit von Cassian reich beschenkt worden, mit Kleidern aller Art. Die erste Zeit freuten ihr diese teuren Geschenke. Doch in zunehmendem Maße verlor sie nach und nach das Interesse daran.

Heute hatte sie sich für ein weinrotes Samtkleid entschieden, mit tiefen Ausschnitt, der ihre Proportionen deutlich zu Geltung brachte, dazu ein dunkelgrünes weites Seidentuch. Entsprechender Goldschmuck und Brillanten, ebenfalls nicht gerade billig. Ihr langes schwarzglänzendes Haar ließ sie offen, so wie sich es gewohnt war.

Schminke benötigte sie nicht. Eine Frau, die mit einer solchen natürlichen Schönheit gesegnet war, konnte getrost darauf verzichten.

Ihre leuchtend blauen Augen funkelten sinnlicher als jeder Diamant es vermochte.

Schwarze Nylonstrümpfe und Pumps in Goldton. Das würde seine Wirkung nicht verfehlen.

Schnell der Griff nach der schwarzen Lederhandtasche, dann eilte sie in den Flur. Unten an der Treppe wartet Cassian schon voller Ungeduld. War die halbe Stunde etwa schon vorbei? Ihr kam es eher wie fünf Minuten vor.

„Na endlich! Ich warte nicht gern! Das weißt du doch! Also dann los.“

Wie auf Befehl öffnete sich die Haustür, hinter der die Lakaien schon Stellung bezogen hatten.

Mit dem Erscheinen des erlauchten Paares nahmen alle Haltung an. Die Wagentür wurde geöffnet. Madleen stieg als erste ein, Cassian folgte. Dann brausten sie in den Abend.

 

Neidhardts altes ZK-Gebäude diente nun als Reichskanzlei. Vorübergehend, versteht sich, denn Cassian hegte große Bauvorhaben für die Zukunft. Demnächst sollten es die ersten Entwürfe geben.**

Das nüchterne Ambiente der Neidhardt-Ära passte nicht zu einem künftigen Kaiserpaar.

Für den heutigen Empfang war jedoch alles auf Hochglanz poliert. Neidhardt, für seine spartanische Lebensart bekannt, würde aus allen Wolken fallen.

Viele waren nicht geladen. Die Führungselite blieb weitgehend unter sich. Dazu einige geladene ausländische Gäste aus Ländern, die Neu-Melancholanien bereits anerkannt hatten. Deutschland zählte zu den übereifrigen und war mit seinem Botschafter vertreten.

Festlich gedeckte Tische, Diener in barockem Outfit bemühten sich um die Anwesenden.

Auf der Bühne hatte ein kleines Orchester Stellung bezogen.

Cassians Anhängerschaft bestand zum größten Teil aus jüngeren Männern. Die Kerntruppe eines neuen, wie auch immer gearteten Blauen Orden. Alle akademisch geschult, mit exzellenten Diplomen und aus wohlhabenden Häusern. Eine neue Elite zur Übernahme der Macht bereit.

Frauen waren deutlich in der Minderzahl, sie blickten zu Madleen mit einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid. Als Frau an Cassians Seite, das war eine große Herausforderung. Keine konnte mit Gewissheit sagen, ob sie sich an Madleens Stelle wünschte.

Rupert, ein etwas älterer Herr, dessen Karriere noch im vorrevolutionären Melancholanien lag und der dem neuen Kabinett angehörte, trat schließlich an das Rednerpult auf der Bühne.

Mit gespielter Höflichkeit begrüßte er die Anwesenden.

„Meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich freue mich sie heute Abend begrüßen zu dürfen, zu unserem kleinen Empfang. Ja, wir sind sicher alle stolz dabei zu sein, um diesem historischen Tag einen würdigen Abschluss zu geben. Heute wurde Geschichte geschrieben. Die Kabinettssitzung hat am Vormittag den Weg bereitet, um Melancholanien wieder zur alten Blüte zu verhelfen. Cassian wird in Kürze der Titel Kaiser verliehen. Eine Krone wird also unser Staatwesen zieren. Glanz und Würde werden wieder einziehen in die heiligen Hallen, dort wo Anarchie und Chaos solange für einen Verfall der Sitten und der Moral sorgten. Die neue Ordnung, die schon mit Cassians Wahl eingeleitet wurde, soll nun ein für alle Mal gefestigt werden. Triumph der Erhabenheit.“

Lauter Beifall wurde gespendet. Madleens Gesichtsausdruck war das Desinteresse deutlich anzumerken. Ihre Art Beifall sprach Bände, so dass es auch Cassian auffiel.

„Versuch doch wenigstens ein wenig Begeisterung zu zeigen! Was sollen denn die anderen von dir denken. Du bist die künftige Kaiserin.“

Wie auf Befehl setzte Madleen ein gestelztes Lächeln auf, ein Umstand, der die Komik nur noch umso mehr herausstellte.

„Zu jedem Kaiser gehört selbstverständlich auch eine Kaiserin. Und die haben wir. Und was für eine.“ Setzte Rupert seine Rede fort.

„Madleen ist eine Frau die wie keine andere glänzen wird in ihrer Rolle. Madleen ist wie geschaffen für diese Würde. Wir alle können uns glücklich schätzen. Ich darf zu unserer aller Freude die Mitteilung machen, dass es schon recht bald eine kaiserliche Hochzeit geben wird.“

Wieder Beifall, nur noch um sie stürmischer.

Alle Blicke richteten sich auf Madleen. Die aber war alles andere als angetan davon. Trotzdem schien es ein Gebot der Stunde, Haltung zu bewahren.

Ruperts holde Ehegattin Eleonore trat zu ihr und überreichte ihr ein mit reichlich Gold verziertes Diadem.

„Meine Liebe! Mir obliegt es dir dieses Wertvolle Geschenk des Tages zu überreichen. Eine, nun sagen wir mal vorweggenommene Krönung. Da wir auf das große Ereignis noch eine Weile warten müssen.  Heil dir, du unsere Neue Kaiserin!“

Eleonore versuchte das Diadem auf Madleens Haupt zu platzieren.

„Autsch!“ Stieß die auf diese Weise geehrte hervor. Cassians Blick verfinsterte sich schlagartig.

Alle umstehenden hielten den Atem an. Was würde wohl als Nächstes geschehen.

Madleen griff nach dem Prachtstück und zog es vom Kopf, wobei sich ein paar Haare darin verfingen.

„Verzeih! Habe ich dir wehgetan!“ Stieß Eleonore entsetzt hervor.

„Nein, nein, es geht schon! Hmm, nun ja. Ich danke dir für diese Ehre. Ich weiß sie sehr wohl zu schätzen. Aber es ist eben einfach ungewohnt. Ich, eine Kaiserin? Ich kann es mir nur sehr schwer vorstellen, das ist alles.“ Erwiderten Madleen, die sich ihr Lachen kaum noch verkneifen konnte.

„Ich danke selbstverständlich auch, für diese Ehre, die meiner zukünftigen Frau zuteil wurde. Sie wird sich sicher bald in ihre neue Würde fügen, davon bin ich überzeugt. Ich werde meinen Beitrag dazu leisten.“ Versuchte Cassian die Situation zu retten.

Doch die Stimmung hatte einen deutlichen Dämpfer bekommen. Das fing ja gut an, schienen viele in ihren Gedanken zu bewegen.

„Cassian, wir alle stehen fest an deiner Seite und natürlich auch an der deiner künftigen Gattin. Lange haben wir auf dieses Ziel hingearbeitet, nun liegt es zum Greifen nahe. Die neu formierte Mannschaft, des zukünftigen Blauen Ordens wird sich ausreichend auf ihre Aufgabe vorbereiten

Du kannst dich jederzeit auf uns verlassen. Wir sind zum Kampf bereit und warten nur noch auf das Startsignal.“

Trat nun Elert, ein smarter Jüngling, von etwa Mitte Zwanzig zu den Beiden. Einer der so genannten jungen Wilden, die es kaum erwarten konnten, dass in Melancholanien gründlich aufgeräumt würde.

Cassian nickte mit gespieltem Lächeln.

„Danke! Ich danke euch allen. Ich werde mich als würdig erweisen, die Ehre die mir auf Bitten der gesamten Bevölkerung angetragen wurde zu übernehmen. Melancholanien wird wieder groß und mächtig. Das war und das ist unser aller Ziel. Es ist an der Zeit jenes Ziel in die Tat umzusetzen. Ich werde mein Bestes dazu beitragen und meine Gattin auch. Nun lasst uns zum Festmahl schreiten. Ich hoffe es ist nach eurem Geschmack“

Schluss! Das war schon alles? Cassian, für seine langen ausgefeilten Reden bekannt, enttäuschte auf ganzer Linie. Aber alle schien es zu akzeptieren.

Der künftige Kaiser packte seine „Verlobte“ äußerst unsanft am Oberarm schritt unauffällig auffällig mit ihr aus dem Saal und drängte sie in einen kleinen, abgelegenen Nebenraum.

„Sag mal, was denkst du dir eigentlich. Mit dieser Komödie hast du mich der Lächerlichkeit preisgegeben. Glaub nur ja nicht, dass du mit mir spielen kannst. Das war ein unentschuldbares Benehmen.“

„Ach, hab dich nicht so. Was soll schon passieren? Du sitzt doch eh fest im Sattel. Tu doch nicht so, als ob mein Verhalten von Bedeutung wäre. Ich bin Dekoration an deiner Seite, sonst nichts?“ Wiegelte Madleen ab.

„Dekoration! Richtig! Das bist du! Du hast dort zu stehen, wo ich es für richtig erachte, weiter nichts. Das ist dir offensichtlich noch immer  nicht bewusst. Dann wird es höchste Zeit, dass ich dir deinen Platz zuweise.“ Brauste Cassian auf.

„Ach, dass tust du doch schon die ganze Zeit. Glaubst du, ich habe nicht längst vernommen, wohin die Reise geht.“

„Das hast du allem Anschein nach nicht, sonst würdest du dich nicht ständig danebenbenehmen und mich in der Öffentlichkeit blamieren. Damit ist Schluss, ein für allemal. Hast du mich verstanden:“

„Natürlich habe ich das. Du redest ja laut genug.“

„Du bist die künftige Kaiserin! Also benimm dich entsprechend. Das Volk von Melancholanien erwartet das von dir.“ Blechern klangen Cassians Worte.

„Das Volk von Melancholanien? Das ich nicht lache. Seit wann interessiert dich das Volk. Das sind ja ganz neue Seiten von dir. Das Volk ist dir doch piepegal. Du, nur du allein bist das Maß aller Dinge. Was will das Volk tatsächlich? Wollen wir es befragen? Was hat das Volk von einem Kaiserpaar an der Spitze?“ Hielt ihm Madleen entgegen.

„Genug! Ich will nichts mehr hören! Ich denke nicht daran mit dir über solche Dinge zu philosophieren. Du hast deinen Platz und den wirst du einnehmen, sonst werde ich andere Saiten aufziehen. Ist das Klar?“

Ohne auf eine Antwort zu warten zerrte Cassian Madleen wieder mit sich fort, schob sie in den Saal. Dort angelangt setzen beide wie auf Befehl ihr Sonntagsausgehlächeln auf die Lippen.

Kaum waren sie erschienen, standen sie schon wieder im Rampenlicht.

„Da seid ihr ja! Wir haben uns schon Gedanken gemacht, wohin ihr entschwunden seid. Wir wollen auf keinen Fall das Festmahl ohne euch genießen. Das geht gar nicht. Ein Kaiserpaar gehört an die Spitze.“ Bemerkte Lambert, einer der sich der Ehre rühmen konnte Cassians persönlicher Freund zu sein.

Cassian und Madleen schritten durch die Reihen und nahmen am oberen Ende der Tafel auf einem leicht erhöhten Podest ihren Platz ein.

Das Kammerorchester begann seine musikalische Darbietung. Georg Friedrich Händels Feuerwerksmusik. Grandios, bombastisch, dass passte genau zu Cassians Ansprüchen.

Die Unterhaltung wurde mit den gewohnten Oberflächlichkeiten fortgesetzt.

Zu Madleens Linken hatten sich einige ausgesuchte Damen platziert, die schienen sich eine Stange darauf einzubilden an der Seite der zukünftigen Kaiserin zu sitzen.

„Welche Romantik! Ich kann es kaum erwarten der Hochzeit beizuwohnen, na und der Krönung erst. Wer hätte das gedacht. Ach Madleen, ich beneide dich um diese Ehre.“ Hob Belinda an den Faden aufzunehmen. Eine Frau Anfang 40, topgestylt und mit einem Kabinettsmitglied verheiratet.

„Nun, da bist du nicht die einzige. Wir alle tun das. Alle Augen sehen auf dich Madleen. Was muss das für ein Gefühl sein.“ Pflichtete ihr Rosalie bei, die ihrer Vorrednerin wie ein Ei dem anderen glich.

„Nun stürmt doch nicht alle auf sie ein. Seht ihr denn nicht dass Madleen in sich gegangen ist. Sie ist dabei sich auf ihre große Aufgabe vorzubereiten. Wir alle sollte dabei an ihrer Seite stehen.“ Gab nun auch noch Eleonore ihren Senf dazu.

„Ach ist das aufregend! Ist das aufregend! Nun sag doch schon Madleen, wie fühlst du dich. Es muss doch ein umwerfendes Gefühl sein, einem solchen Mann versprochen zu sein?“

Schaltete sich Conchita ein, eine etwas durchgeknallte jüngere Dame aus reichem Haus, die sich dem Anschein nie um wirkliche Probleme Gedanken zu machen brauchte.

„Wie ihr so treffend festgestellt habt, werde ich die zukünftige Kaiserin dieses Landes sein“, Begann Madleen nach einer ganzen Weile zu antworten, die anderen hingen wie gebannt an ihren Lippen.

„Ich werde also etwas zu sagen haben, natürlich nur soweit es mir Cassian gestattet.“

„Selbstverständlich! Eine Frau sollte ihrem Ehegatten immer in allem untergeordnet sein. So wie es im guten alten Melancholanien Sitte war.“ Unterbrach Belinda.

„Im guten alten Melancholanien? Ja, so wird es wohl sein. Da hege ich schon jetzt die schlimmsten Befürchtungen.“ Fuhr Madleen weiter fort.

Die anderen begannen ihre Mundwinkel sinken zu lassen und harrten etwas irritiert den Worten die noch folgen würden.

Derweil wurden die Speisen aufgetragen. Natürlich nur vom Feinsten. Lustlos löffelte Madleen in ihrer Schildkrötensuppe. Der Appetit wollte sich auch bei essen nicht einstellen. Die gesamte Gesellschaft war ihr zutiefst zu wider.

Wie sehnte sie sich doch nach dem aufregenden Leben das sie in Anarchonopolis führen durfte. Dort wurde es nie langweilig, interessante Menschen, interessante Unternehmungen. Immer etwas los. Ständig gab es Neues zu entdecken. Und alle Menschen die sie umgaben waren so echt, so natürlich,  einfach authentisch

„Aber wir leben doch jetzt in Neu-Melancholanien, nicht wahr Cassian?“ Madleen knuffte Cassian mit ihrem Ellenbogen in die Seite.

„Wie? Äh…,was?“ Cassian in ein Gespräch mit den Männern zu seiner Rechten vertieft, wandte sich seiner Zukünftigen zu.

„Sag mal Cassian! Was ist der Unterschied zwischen dem alten Melancholanien und Neu-Melancholanien. Das will mir nicht  in den Kopf. Willst du nun das alte Melancholanien wieder auferstehen lassen oder etwas ganz Neues schaffen. Oder womöglich beides zugleich?“

„Oh Cassian, deine Verlobte ist entzückend! Immer mit einem Spaß aufwartend. So etwas lobe ich mir. Du hast wirklich eine ganz exzellente Wahl getroffen.“ Glaubte Rupert einwerfen zu müssen.

Eleonore setzte ihr kunstvolles Lächeln auf und nickte der künftigen Kaiserin zu.

„Nun meine Liebe, das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Ja, wir wollen beides, das ist schon richtig. Etwas ganz Neues, etwas noch nie da Gewesenes. Etwas, dessen Glanz alles überstrahlt , dass wir bisher kennen lernen durften. Aber es basiert auf den Fundamenten das Alten, des Bewährten der Vergangenheit.“ Schaltet sich Engelbert ein, ein durchaus kultivierter Endvierziger, mit grauen Strähnen im ansonsten noch pechschwarzen Lockenhaar. Die sanfte Art wie wer sprach, hob ihn deutlich von der übrigen Gesellschaft ab.

„Ist meine Umschreibung korrekt Cassian?“

„Absolut! Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können. Du hast den Sachverhalt genauestens erfasst. Nun, bist du zufrieden mit dieser Antwort, Madleen?“

„Einfach aber klar! Wir bekommen also beides, das Alte und das Neue. Komisch, darauf wäre ich nie gekommen.“ Versuchte Madleen erneute eine Aussage ins Lächerliche zu ziehen.

Wiederum verfinsterte sich Cassians Blick.

Er wandte sich seiner männlichen Gefolgschaft zu.

„Aber ganz zufrieden bin ich noch immer nicht!“ Holte ihn Madleen zurück.

„Was ist denn jetzt schon wieder?“ Fauchte Cassian ihr ins Ohr, in der Hoffnung, dass die anderen seinen Zorn nicht bemerkt hatten.

„Was ist mit Akratasien? Da komme ich nicht mit. Existiert das nun weiter oder nicht? Wären wir dann am Ende also Alt-Melancholanien, Neu-Melancholanien und Akratasien. Alle drei?“

Mit dem Klang des Wortes Akratasien erstarb auf einmal die gesamte Geräuschkulisse.

Alle blickten wie gebannt zu Madleen. Nun hatte sie es erreicht, die Stimmung tendierte gegen Null.

Wieder versuchte sich Engelbert als Retter in der Not.

„Ein schwerer Brocken, Madleen. Du hast soeben einen Tabubruch begangen und etwas ausgesprochen, was doch nie mehr über die Lippen eins Menschen kommen darf. Akratasien, ich bitte um Nachsicht, wenn nun auch ich diesen Namen gebrauche, ist ein Schandfleck der Geschichte, an dem wohl kein Mensch mehr erinnert werden möchte. Wir sollten es auch vergessen, es ausblenden. Es handelt sich um einen, sagen wir mal Verkehrsunfall oder etwas Ähnliches. Es ist geschehen, daran besteht kein Zweifel. Aber es ist vorbei, Gott sei Dank! Wir sollten nicht mehr daran denken. Ein weißer Fleck im Ablauf der Geschichte.“

„Akratasien ist tot! Ich sage es heute hier zum letzten Mal! Es hat kein Akratasien gegeben und es wird nicht wieder auferstehen.  Ich möchte diese Bezeichnung nie wieder hören. Ich hoffe ich habe mich deutlich genug ausgedrückt.“ Verkündete Cassian mit lauter Stimme.

„Das war deutlich! Der Kaiser hat gesprochen, so soll man es schreiben, so soll es geschehen.“

Madleen klatschte während sie das sagte in die Hände.

Der Abend war vollständig gelaufen.

 

 

Am darauf folgenden Morgen saßen Madleen, Cassian und Tessa beim Frühstück zusammen. Ein seltenes Ereignis. Meist stahl sich Cassian schon recht früh aus dem Haus um seinen Geschäften nachzugehen und überlies Madleen sich selbst.

Die Dienerschaft wirbelte um die drei herum, ständig von der Angst erfüllt etwas falsch zu machen.

Cassian hatte einen Stapel Zeitungen vor allem der ausländischen Presse neben sich und blätterte intensiv in deren Seiten, während er nebenbei sein Kaffee schlürfte.

Madleen blickte sich nur lustlos um, wieder einmal galt es einen Tag mit Inhalten zu füllen. Ein ausgesprochen schwieriges Unterfangen.

Tessa würde schon bald zur Schule gebracht und wurde erst um die Mittagszeit zurückerwartet.

„Ich werde für ein paar Tage auf Reisen sein. Du bist mich erst mal los und hast entsprechend Zeit zur Verfügung!“ Sprach Cassian ganz beiläufig, während er nach einer neue Zeitung griff.

„Ach und darf man erfahren wo es hingeht?“

„Man darf! Ich fahre in den Norden, dort gibt es eine Gedenkveranstaltung an der Ruine von Trugstein, dort wo unsere Kämpfer einst so heldenhaft ihr Leben ließen im Kampf gegen die Neidhardt-Terroristen. Wir werden dort unsere Beratungen weiterführen.

Klärte Cassian auf.

„Wirst du lange bleiben?“

„Kommt ganz darauf an, was wir zu entscheiden haben. Rechen nicht vor Ende der Woche mit mir!“

„Ich verstehe! Ich werde das Haus hüten, so wie immer und mich mit Tessa beschäftigen!“

 „Tue das! Und mache dich mit dem Gedanken vertraut, das wir hier bald ausziehen?“

„Ausziehen?“

„Ja ausziehen! Es ist an der Zeit sich eine neue Resident zu suchen die unseren zukünftigen Ansprüchen genüge tut. Ich sprach doch gestern erst davon.“

Madleen konnte sich denken was er damit meinte. Er hatte die Abtei im Blick.

„Du meist das wir in die Abtei umziehen?“

„Genau dorthin! So wie ich zurück bin, werden wir sie genauer in Augenschein nehmen und festlegen wann wir uns dort einquartieren. Sie ist ja seit ein paar Tagen geräumt und wartet auf neue Bewohner. Es wäre ein Jammer sie leer stehen zu lassen.“

„Bekomme ich denn dort mein altes Zimmer wieder?“ Wollte Tessa auf einmal wissen.

„Aber selbstverständlich, mein Engel, wenn du willst, sollst du es haben, ganz wie es dir beliebt!“

Antwortete Cassian wie immer ausgesprochen höflich.

„Aber Mama Madleen muss dort auch wohnen!“ Erwiderte Tessa mit bestimmendem Tonfall.

„Nun, über die Einzelheiten unterhalten wir uns wenn ich wieder zurück bin. Alles zu seiner Zeit.“ Wiegelte Cassian ab.

„Wir werden es uns dort gemütlich machen und wieder so leben wie früher.“ Glaubte Madleen zu wissen.

„Kommt denn Mutti auch dazu, wenn sie von ihrer langen Reise zurück ist.“ Tessas Frage drang wie in scharfes Schwert in Madleens Herz. Wieder einmal hatte sie die heikle Frage angesprochen.

„Darüber müsst ihr euch austauschen, Prinzessin, du und Mama Madleen. Sie wird dir alles erklären.“ Wies Cassian an.

Schweigen folgte. Es knisterte wieder mal in der Luft, die Spannung war deutlich zu spüren.

Alle nippten demonstrativ an ihren Tassen.

Nach einer Weile erschien der Chauffeur in der Tür, in demütiger Geste zog er die Mütze vom Kopf und machte einen Diener.

„Der Wagen steht bereit Fräulein Tessa zur Schule zu bringen. Soll ich noch warten oder können wir gleich fahren.“ Erkundigte sich dieser.

„Bist du bereit mein Schatz? Hast du deine Tasche gepackt und alles dabei.“ Wollte Madleen wissen.

„Oh ja, alles fertig! Wir können gleich los!“ Tessa sprang auf und eilte dem Fahrer entgegen. Auch heute konnte sie es kaum erwarten in die Schule zu kommen, um ihren Wissenstand zu erweitern, natürlich auch um von hier wegzukommen.

Schon waren die beiden dem Blickfeld entschwunden.

„Danke, ihr könnt euch auch entfernen!“ Wies Cassian die Dienerschaft an.

„Nun, da wir allein sind kann ich noch mal auf dein Verhalten gestern Abend zurückkommen!“

Fuhr er fort nach dem die Bedienstete sich entfernt hatten.

„Dein Benehmen ist in keiner Weise zu rechtfertigen. Du hast dich wieder einmal von deiner besten Seite gezeigt.

Gut, ich will es vergessen, vorerst zumindest. Noch bist du nicht meine Frau. Wenn du es aber einmal bist, werde ich so etwas unter gar keinen Umständen dulden. Lass dir das gesagt sein. Dann weht ein anderer Wind. Wir sind hier nicht mehr in Akratasien, wo sich jeder so benehmen konnte wie es ihm beliebte. Nun herrschen wieder Sitten und Gebräuche auf höherem kulturellem Niveau. Überlege es dir während ich weg bin, Zeit hast du ja.“

Das war deutlich. Cassian machte Anstalten sich zu erheben. Madleen blickte nur stumm auf die Tischplatte vor ihr.

Ein Diener erschien und reichte dem Diktator Hut und Mantel. Noch ein kurzer Blick zurück auf die Frau am Tisch, bevor er sie von seiner Anwesenheit befreite.

„Noch ein Wort zu Tessa und ihren Erwartungen. Du solltest mit ihr reden Madleen. Mache ihr klar dass ihre Mutter nie mehr zurückkehren wird. Elena ist tot! So tot wie diese Türklinke dort. Je eher sie das begreift, umso besser!“

Die Haustür wurde von außen geöffnet und Cassian entschwand auf unbestimmte Zeit.

Madleen saß wie versteinert am Tisch und ballte die Fäuste.

Cassians Worte verdeutlichen einmal mehr ihre Situation. Genau das würde sie nicht tun.

Ganz im Gegenteil, die Hoffnung aufrechterhalten so lange es noch möglich war.

Die Dienerschaft machte Anstalten den Tisch abzuräumen. Madleen erhob sich und verließ den Raum.

Wieder ein Tag den es zu füllen galt. Um jeden Preis der Langeweile entfliehen, nur ja keine Leerzeiten aufkommen lassen, das wäre tödlich.

Langeweile? So etwas kannte man in Anarchonopolis nicht. Dort war stets etwas zu tun. Der Tag gefüllt mit Aktionen und allen möglichen Tätigkeiten. Madleen stand mitten drin und hatte ihre Aufgaben die sie immer wieder von Neuen herausforderte. Oftmals wurde es ihr zu viel und sie sehnte sich nach Pausen und Ruhe. Die hatte sie jetzt zur Genüge. So viel davon, dass sie begannen ihre Seele auszutrocknen.

Madleen schritt die Treppe nach oben und begab sich in das große ausladende Wohnzimmer.

Ging zum Fenster und schob die Gardinen beiseite.

Und wieder der Blick zum Konventsgebäude. Die Sehnsucht legte sich wie ein kalter Mantel auf ihr Herz.

Heimatlos, ausgestoßen. Von allem abgeschnitten, so fühlte sie sich. Wie in aller Welt konnte ihr das passieren?  Tränen traten in ihre Augen.

Das Wetter hatte sich im Vergleich zu gestern deutlich gebessert. Der Sturm der vergangenen Nacht hatte sich gelegt und es hatte aufgehört zu schneien. Stattdessen bahnte sich die Sonne mühevoll ihren Weg über den Horizont. Jetzt, Anfang Dezember benötigte sie lange für diesen Akt.

Leichter Frost, die Wege gut passierbar, mit Schneematsch also nicht zu rechnen.

Sie konnte es wagen, heute würde sie rüber gehen, ausgestattet mit entsprechend warmer Kleidung, suchte sie die Vergangenheit auf.

Es war halb Neun, noch eine halbe Stunde warten, bis die Sonne endgültig aufgegangen war.

Sie hatte den ganzen Vormittag Zeit.

Madleen  begab sich in die untere Etage zurück und informierte die Bediensteten über ihre geplante kurzzeitige Abwesenheit, im Anschluss suchte sie Kleidung und Stiefel, die sie benötigte.

Nach einer Weile war es dann soweit, sie schloss die Haustür hinter sich. Kalter Wind fuhr ihr ins Gesicht. Kalte, aber frische und klare Luft. Der Atem fiel ihr leicht. Sie setzte sich in Bewegung, der frisch gefallenen Pulverschnee knirschte unter ihren Schürstiefelsohlen. Der lange schwarze Pelzmantel, der ihr bis weit über die Knie reichte, wärmte gut. Eines der viele teuren Geschenke die ihr Cassian gemacht hatte um ihre Gunst zu erringen, was ihm aber bis dato noch nicht gelungen war. Die teuren Lederhandschuhe an den Händen und die Pelzmütze auf dem Kopf, unter der ihr rabenschwarzes Haar deutlich hervorlugte und bis weit über ihre Schultern fiel taten das Übrige.

Bald hatte sie den Park erreicht, es war nicht weit, einem Katzensprunge gleich.

Sie hielt an und betrachtete das erhabene Hauptgebäude, danach umschritt sie es mehrfach ganz langsam, so als meditiere sie dabei.

Schließlich trat sie zur Eingangspforte. Die war geschlossen, doch sie besaß noch immer einen Schlüssel.

Zögernd betrat sie den Flur und fand sich im Foyer wieder. Es war nicht kalt, offensichtlich hatte man die Heizung noch nicht ausgestellt.  Das würde auch nicht geschehen, da Cassian ja vorhatte hier so bald als möglich einzuziehen.

Madleen schritt die Stufen der großen Treppe hinauf. Langsam, immer wieder innehaltend und ihren Gedanken nachhängend.

Sie begab sich in die dritte Etage, dort angekommen ging sie den Flur entlang, bevor sie sich vor jenen Zimmern wieder fand die sie vor noch gar nicht allzu langer Zeit gemeinsam mit Elena  und Tessa bewohnt hatte. Es schien als würde ihr jemand das Herz mit der Faust zusammendrücken. Sie wollte eintreten doch sie konnte nicht, noch nicht, doch sie hatte vor es an diesem Vormittag noch nach zu holen.

 Noch mal durch die Flure laufen, alles so vertraut und doch so fremd. Warum? Schnell hatte sie die Antwort gefunden. Es fehlte an Leben. Es fehlten die Menschen. Stimmen, Lachen, Musik.

Die altehrwürdigen Hallen waren ansonsten ausgefüllt mit Aktionen und sie war ein entscheidender Teil dessen, was sich hier abgespielt hatte.

Noch eine Treppe höher bis sie sich im Allerheiligsten wieder fand. Der ausgebaute Dachboden, dort wo die geheimen Zusammenkünfte der Schwesternschaft stattfanden. Auch hier nur gähnende Leere, hier wo doch üblicherweise das Leben zuhause war.

Das war nicht wirklich! Ein böser Traum, ein Alptraum, aus dem es bald schon ein Erwachen gab, versuchte sie sich einzureden. Nein, es war real. Trauriger kalter Realismus eines neuen Alltags.

Madleen zog die Stiefel von den Füßen, entledigte sich ihres Mantels und schritt in die Mitte des Raumes.

Nach wie vor mit den Tränen im Auge zu kämpfen, lies sie sich auf dem Boden nieder, streckte sich aus und blickte zur Decke.

Sie atmete schwer, der Druck den sie auf der Brust verspürte war enorm.

Hier, in diesem Raum war einst die Erkenntnis zu Hause, hier fanden in der Vergangenheit die tief schürfenden Meditationen und Belehrungen statt, über die wesentlichen Dinge des Lebens.

Hier wurden den Schwestern der Erkenntnisweg gewiesen auf den sie sich zu begeben hatten, wollten sie im Leben weiterkommen.

Madleen war dabei, so viele Male. Warum nur hatte sie den sicheren Pfad verlassen und sich auf Abwege begeben, dabei war ihr doch von Anfang an bewusst, dass sie ins Verderben führten.

Lass es raus, Madleen, glaubte sie plötzlich eine Stimme zu vernehmen. Befreie dich von dem Schmerz der in deinem Inneren wohnt, wo, wenn nicht hier wäre der geeignete Platz dafür?

„Ich habe es verschuldet! Alles meine Schuld! Durch mein Tun und Handeln habe ich die Schwesternschaft und damit ganz Akratasien aufs Spiel gesetzt. Hätte ich weiter zu Elena gehalten, wäre sie nie in so tiefe Depressionen versunken und in Folge dessen hätten wir gemeinsam den Sturm durchstanden. Dann wäre es nie so weit gekommen. Anarchonopolis wäre noch am Leben und damit die große Hoffnung die uns alle leitete.“

Nun war es raus, das was sie schon so lange quälte.

Sie hatte es ausgesprochen! Doch was würde jetzt geschehen? Was hatte sie von diesem Bekenntnis?

„Ich bin schuld! Ich bin schuld! Ich bin schuld! Ja, ich sage es immer wieder. Was willst du denn noch von mir hören? Es tut mir alles so unendlich leid und noch in diesem Augenblick würde ich alles ungeschehen machen, wenn ich nur könnte. Doch ich kann es nicht! Wie sollte ich auch?

Kann ich die Zeit zurückdrehen?“

Die klagende Anfrage durchdrang die erhabene Stille des Ortes, doch ließ die Antwort weiter auf sich warten.

Unruhig wälzte sich Madleen auf dem Boden hin und her. Sie hatte nie jene mystischen Gaben besessen, mit denen Elena und Colette aufwarten konnten. Das gereichte ihr nun zum Nachteil. Wie viele Male hatte Elena ihr empfohlen sich eingehender damit zu beschäftigen, doch sie hatte es nicht getan. Sie brachte einfach zu wenig Geduld dafür auf. Konnte es daran liegen? Wahrscheinlich!

Doch es gab andererseits so viel zu tun. Sie hatte den ganzen Haushalt zu führen, Elena war ja ständig unterwegs, hatte sich um Tessa gekümmert und schließlich noch die Verwaltung der ganzen Abtei übernommen, nur damit sich Elena ihren politischen Aufgaben widmen konnte und zudem noch ungestört ihrer mystischen Veranlagung nachgehen konnte.

Madleen fühlte sich vernachlässigt und hatte aufgrund dessen einen schweren Fehler begangen, für den sie nun zu büßen hatte.

„Ist dass der Dank für all die Arbeit die ich geleistet habe? Antworte mir, wenn es dich gibt. Verbirgt dich nicht vor mir, du unbekannte Göttin der Freiheit, von der Elena und Colette immer in so glühenden Farben gesprochen haben. Mich hast du stets ignoriert, links liegen gelassen. Wer ist denn schon Madleen? Die, die immer im Schatten stand. Madleen die treu Ergebene, immer zur Stelle um den anderen den Alltag zu erleichtern. Den anderen ja, aber was ist mit mir? Bin ich denn gar nichts? Bedeute ich dir so wenig? Ich habe einen Fehler begangen. Ich will ihn wieder gut machen. Ich will doch nur zurück! Ich will nach Hause! Verstehst du? Nach Hause!“

Madleen schlug wild mit den Fäusten auf die dicke Federkernmatratze unter ihr, die hier mit vielen anderen ihrer Art auf dem Boden ausgelegt war. Dann bahnten sich die Tränen ihren Weg.

Laut schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in der weichen Tiefe.

Dann, nach einer Weile, die ihr erneut wie eine halbe Ewigkeit erschien, spürte sie wie ihr Körper von einem sanften Strom durchflutet wurde. Es war so, als ob jemand einen lindernden Balsam auf eine schmerzenden wunde goss.

Einen Moment kam er ihr so vor als ob ihr jemand zärtlich über ihr Haar strich. Rasch hob sie den Kopf, doch da war keiner. Sie ließ den Kopf wieder fallen. Der Atem fiel ihr plötzlich leichter und ihr Herzschlag beruhigte sich.

„Lass die Hoffnung nicht sinken, Madleen! Bald hast du es überstanden! Bald bist du befreit! Du wirst wieder ein zuhause haben, eines das dich glücklich macht. Noch aber ist es nicht soweit. Bedenke! Jegliches hat seine Zeit. Es gibt Zeit für Tränen und es gibt Zeit für Freude. Jetzt befindest du noch in der Zeit der Tränen, doch die wird vergehend und der Zeit der Freude weichen, dann wenn es Zeit dafür ist.“

Drang es ganz langsam in Madleens Bewusstsein und auf einmal gewann sie wie aus dem Nichts eine neue Art von Zuversicht.

Ja, jegliches hat seine Zeit! In dieser Aussage steckte wahre Erkenntnis! Man kann einer Entwicklung nicht vorgreifen. Noch bevor Elena in ihrem Exil diese Erleuchtung überkam, wurde sie Madleen geschenkt, in diesem Fall war sie ihr also voraus.

Gestärkt erhob sie sich. Es schien, als sei eine übergroße Last von ihren Schultern genommen.  

Nun besaß sie auch die Kraft nach unten zu gehen, ein Stockwerk tiefer und ihrer alten Wohnung einen Besuch abzustatten. Plötzlich hatte sie es sehr eilig. Nahm die Stiefel, die für ihre Schnürung viel Zeit beanspruchten einfach in die Hand und schritt auf Strümpfen die Treppe hinab, den langen Flur entlang und schon öffnete sie die Tür. Sie fand alles vor, wie sie es in Erinnerung hatte. Es kam ihr so vor, als habe sie die Räumlichkeiten erst vor wenigen Minuten verlassen, so vertraut war der Anblick. Sie ging durch die Räume, zum Fenster des Wohnzimmers, schob die Gardinen beiseite und blickt auf das Massiv der Berge gegenüber.

Sie war zuhause. In absehbarer Zeit würde sie wieder hier leben, davon war sie nun fest überzeugt.

Sie nahm auf dem alten Sofa Platz und schloss sie Augen.

Noch eine Zeit verweilen. Sie hatte noch immer genug davon. Im Anschluss würde sie noch die Basilika besuchen und andere Orte, die sie in den zurückliegenden Wochen so sehr vermisst hatte.

Zum Abschluss noch mal eine Runde im Park machen. Stille, wo sie auch hinkam Stille. Jetzt, Anfang Dezember würde unter normalen Umständen ringsum die Abtei geschäftiges Treiben herrschen. Der Weihnachtsmarkt mit all seinen Buden und Ständen, mit wohlriechenden Düften.

Festlicher Choralmusik und frohem Kinderlachen.

Nichts von alledem. Dieses Jahresende unterschied sich deutlich von den vergangenen.

Doch mit einiger Kraftanstrengung würde sie auch das überstehen, wenn es ihr auch unendlich schwer fiel.

Langsam aber sicher wurde ihr kalt, wenn auch die frische klare Luft gut bekam. Es war Zeit den Rückweg anzutreten. Tessa würde bald eintreffen.

Über ihr kreisen einige Raben, die sich laut krächzend in den kahlen Bäumen niederließen. Die Sonne hatte ihren Höchststand erreicht und blendete in den Augen.

Kurz nachdem sie die Villa betreten hatte und sich von ihren Stiefeln befreit hatte, hörte sie auch schon das Auto einfahren. Tessa stürmte in das Haus und warf ihre Tasche zu Boden.

„Was ist denn meine Kleine? Hast du schlechte Laune?“ Begrüßte sie Madleen.

„Ach nichts! Habe mich gelangweilt, die ganze Zeit. Weis doch schon alles, was die erzählen:“

„Na das ist wirklich schlimm. Kann ich mir vorstellen!“ Erwiderte Madleen im Bewusstsein dass sie nicht die Wahrheit sprach, denn sie konnte es sich nicht wirklich vorstellen, wenn sie an ihre Schulzeit zurückdachte. Sie war keineswegs dumm, trotzdem musste sie sich stets ordentlich ins Zeug legen um all das Erlernte tatsächlich zu kapieren.

Kaum hatte Tessa auf der Couch Platz genommen, kramte sie schon wieder in ihrer Schultasche, holte eines der Bücher hervor und begann darin zu blättern.

„Aber nicht schon wieder lernen, Tessa. Weißt du, manchmal wirst du mir direkt unheimlich mit deiner grenzenlosen Wissbegier.“ Sprach Madleen eher zu sich selbst als zur Tochter.

„Wissbegier? Ein komisches Wort. Aber interessant.“

„Komm lass uns essen. Es steht alles schon bereit und wartet nur auf uns!“ forderte Madleen auf und Tessa folgte willig.

Die Köchin  hatte alles zubereitet und der Tischdiener aufgetragen. Sogar die Stühle wurden zurechtgerückt als die beiden sich platzierten. Alles Dinge die Madleen nur schwer in ihr Leben integrieren  konnte. War sie doch von Kindesbeinen an daran gewöhnt bei der täglichen Hausarbeit zu helfen. Und noch bis vor Kurzen steckte sie bis zum Hals in Arbeit,  selten eine freie Minute für sich allein. Diener, Köche, Hausangestellte in Anarchonopolis ein Unding, alles wurde selbst erledigt, wenn sie natürlich von Seiten der Schwestern Hilfe bekam, doch das waren gleichwertige Partnerinnen, keines Untergebene.

„Sieh mal, es gibt Fischstäbchen und Kartoffelpüree, dass esse ich besonders gern.“ Begeistertet sich Tessa.

„Ich auch, meine Kleine, dann lass es dir schmecken.“

Beide begannen sich zu stärken. Endlich hatte sich der Tischdiener entfernt. Zeit um ein paar Worte mit Tessa zu reden, bevor die sich wieder in ihre Bücher vergrub.

„Ich war heute in der Abtei drüben, den ganzen Vormittag. Ist mächtig still dort. Alle ausgeflogen. Traurig, sehr traurig. Aber alles ist noch so wie früher, als wir noch dort wohnten.“

„Hast du Mutti gesehen? Ist sie zurückgekehrt.“ Schon wieder die altbekannte Frage. Konnte sie ihr je ausweichen?

„Nein, habe ich leider nicht mein Schatz. Sie ist noch immer fort. Ich weiß nicht wo sie steckt. Habe nichts von ihr gehört. Ich wollte nur mal nachsehen ob da drüben alles in Ordnung ist.“

Versuchte Madleen die Sache zu erklären.

„Wenn wir demnächst umziehen, muss ja alles seine Ordnung haben.“

„Ja, das muss es wohl!“ Sprach Tessa während sie ihren Kartoffelbrei löffelte.

„Weißt du was ich mir überlegt habe?“ Wollte Madleen wissen.

„Nein, aber du wirst es mir sicher gleich sagen!“

„Wollen wir irgendwann Tante Colette und die andern besuchen. Würde dich das freuen?“ Lautete der spontane Vorschlag.

„Oh ja! Am besten sofort! Wann brechen wir auf!“ Tessa strahlte übers ganze Gesicht.

„Sofort? Nun daraus wird wohl nichts. Eine Weile müssen wir schon noch warten!“

„Ach schade!“ Gab Tessa betrübt zur Antwort.

„Nun, es ist Winter. Sehr kalt draußen, der Wind pfeift und es schneit immer wieder. Keine gute Zeit um auf Reisen zu gehen. Aber im Frühling, wenn es wieder wärmer wird, dann könnten wir es wagen.“

„Warten ist blöd!“ trotzte die Prinzessin.

„Ja, das ist es! Da hast du vollkommen Recht. Aber es ist nun mal so. Im Frühling, da ist es viel schöner, da werden wir unseren Spaß haben. Es wird dir sicher gefallen, dort wo sie jetzt leben.“

„Ja, so wird es wohl sein!“ Stimmte Tessa schließlich zu. Sie war für ihr Alter schon ausgesprochen verständig und begriff sehr schnell, wenn eine Entscheidung sich als richtig oder falsch erwies.

„Glaubst du dass wir dort Mutti wieder sehen?“ Könnte es sein dass sie dort schon auf uns wartet?“

Was konnte Madleen antworten? Eine direkte Frage, die eine direkte Antwort herausforderte.

„Ja, das glaube ich! Ich bin fest davon überzeugt dass sie im Frühjahr auch dorthin kommt.

Auch die Mutti muss erst mal überwintern, genauso wie wir es tun!“

Madleen erschrak selbst über diese Antwort. Hatte sie das Recht dem Kind so etwas vorzugaukeln? Woher nahm sie die Gewissheit? Doch da war etwas, dass sie bisher noch nie erlebt hatte und von dem Colette stets zu sprechen pflegte. Sie spürte auf einmal eine bisher unbekannte Kraft, die unaufhörlich in ihr Bewusstsein drang. Elena lebte, sie war wohl auf und hielt sich nur an einen unbekannten Ort verborgen. Auch die hatte vom Exodus der Gemeinschaft erfahren und würde irgendwann aufbrechen um wieder bei den Schwestern zu sein.

Es war also ganz logisch ebenfalls nach Köln zu gehen.

Doch das musste gut vorbereitet werden und daher war es richtig noch abzuwarten und gründlich zu überlegen. Auf den richtigen Zeitpunkt kam es an.  Cassian war ein sehr gefährlicher Mann, sein Hass kannte keine Grenzen. Unüberlegte Aktionen konnten alle in Gefahr bringen. Zunächst würde sie zum Schein auf alles eingehen, was er von ihr erwartete

Es war eigenartig, wie sehr das Erlebnis in der Abtei Madleen verändert hatte. Noch bis vor wenigen Stunden wäre ihr der Gedanken an Flucht niemals in den Sinn gekommen. Sie fühlte sich als Verräterin und glaubte ihre Heimat für immer verloren, war breit sich in ihr Schicksal zu fügen, so schlimm es sich aus erweisen konnte. Doch die neue Kraft ließ sie ihr inneres Selbst neu entdecken. Hoffnung keimte auf. Hoffnung auf Rückkehr in den Schoß der Gemeinschaft.

Es lag an ihr den entscheidenden Schritt zu tun.

„Nun, was wollen wir heute unternehmen. Hast du einen Wunsch? Denn immer nur in den Büchern zu blättern ist auf Dauer auch nicht gut.“ Wollte Madleen von Tessa wissen.

„Eine Schneeballschlacht?“ Kam der spontane Einwurf.

„Ja, gern, da mache ich mit!“

„Wollen wir noch mal rüber gegen. In die Abtei? Ich möchte sie auch wieder sehen?“

„Ja, das können wir tun! Aber!“

„Aber?“

„Es ist sehr still dort! Ich habe Angst du könntest dich fürchten. Es sind im Moment keine Menschen dort. Das ist schon unheimlich sage ich dir!“

„Ich habe keine Angst! Tessa fürchtet sich niemals! Die Königin der Amazonen kennt keinen Schmerz!“

Hier sprach bereits die künftige Anführerin. Es war nicht zu leugnen, sie war die Tochter ihrer Mutter.

„Richtig! Was eine echte Amazone ist, trotzt jeder Gefahr. Wir werden uns unsere Burg zurückerobern.“ Stimmte Madleen mit wahrer Begeisterung zu.

Nach einer Weile erhoben sie sich und stürmten nach draußen, tollten im Schnee herum und hatten ihren Spaß.

Fast den gesamten Tag, bis zum Einbruch der frühen Dunkelheit, verbrachten sie im Freien, die Kälte schien ihnen nichts anzuhaben.

 

So hätte es noch eine lange Zeit weitergehen können. Doch nach einigen Tagen stand Cassian wieder vor der Tür. Nun nahte die Stunde der Wahrheit.

Die Inbesitznahme der Abtei war nur noch eine Frage der Zeit. Madleen wollte gar nicht daran denken. Ihr allerheiligstes Zuhause, geschändet, verunstaltet, besudelt durch einen Mann dem der Größenwahn immer deutlicher zu Kopfe stieg.

Die Gespräche beschränkten sich zunächst auf den Austausch von Belanglosigkeiten. Am dritten Tag nach seiner Rückkehr stellte Cassian Madleen vor vollendetet Tatsachen.

„Heute Nachmittag werden wir die Abtei besichtigen. Ich habe das gesamte Kabinett hierher beordert. Die sollen uns in Detailfragen beraten. Ansonsten ist alles geklärt. Es werden umfangreiche Baumaßnahmen  eingeleitet um unseren Bedürfnissen zu genügen. Je früher wir damit beginnen, desto besser.“

„Baumaßnahmen?“ Madleens Stimmung sank auf den Nullpunkt.

„Ja, natürlich! Baumaßnahmen! Hast du geglaubt ich belasse alles so? Dort drüben wird eine Residenz entstehen. Die Räumlichkeiten müssen dafür verändert werden. Ist doch logisch!“

Klärte Cassian auf während er mit dem Finger auf das Konventsgebäude wies.

„Ich verstehe! Du willst reinen Tisch machen. Aufräumen mit der Vergangenheit. Nichts soll mehr an die alten Zeiten erinnern!“

„Du hast es erfasst! Schön dass wir einer Meinung sind. Die alten Zeiten sind vorüber und sie werden nicht wiederkehren. Ich werde der ganzen Stadt eine völlig neue Prägung verleihen.** Die Abtei ist nur ein Teil davon. Die Wiedererrichtung der Ordensburg geht gut voran. Auch sie wird unseren Vorstellungen  dienen.  Eigentlich müsste ich Elena dankbar sein, für den Umstand dass sie die Anweisung für deren Wiederaufbau gab. Somit brauchte ich nicht bei null zu beginnen.“

Madleen wollte etwas erwidern, lies es aber dabei.

Die Schwesternschaft hatte gleich nach der Gründung Akratasiens  beschlossen die Ruine der Ordensburg wieder aufzubauen. Sie sollte als Mahnmal dienen, als Gedenkstätte für alle Opfer von Gewaltherrschaft und Terror. Damit sollten die Opfer der Revolution geehrte werden und gleichzeitig jegliche Vorstellung von Diktatur in die Schranken gewiesen werden

Der Bau war in der Tat gut vorangekommen. Cassians Vorhaben verkehrte diese Absicht in ihr Gegenteil. Für ihn stellte die Ordensburg ein Symbol des Triumphes dar. Seines Triumphes über Elena und die Töchter der Freiheit. Er wollten dem ganzen Land vor Augen führen, dass der Gedanke an Freiheit ein für alle Mal ausgeträumt war.

Eine negative Entwicklung, doch die schien im Moment zweitrangig. Sollte Cassian doch mit der Ordensburg machen was er wollte, es war ihr egal. Ihr ging es um die Abtei. Die Hoffnung der letzten Tage begann sich schlagartig zu verflüchtigen.

„Also, ich erwarte dich kurz nach dem Mittag. Wir fahren gemeinsam rüber!“

„Soll ich Tessa mitnehmen?“ Wollte Madleen wissen.

„Ja! Tu das! So etwas macht immer einen guten Eindruck!“

Cassian zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und lies Madleen allein mit ihrem Schmerz.

Die Würfel waren gefallen.

   

Der Himmel hatte sich im Laufe des Vormittags zugezogen. Es schien als wolle er seine ablehnende Haltung damit zum Ausdruck bringen. Zum Glück fiel kein Schnee, dass hätte Madleens Stimmung noch tiefer gedrückt. Es war auch so schon schlimm genug.

Das Kabinett hatte sich vollständig eingefunden um der Besichtigung beizuwohnen. Cassians Staatskarosse fuhr in den Hof und kam vor der Pforte des Konventsgebäudes zum Stehen. Ein Lakai öffnete die Tür und lies den Diktator aussteigen. Im Anschluss tollte Tessa heraus, wie immer schien sie im Geiste nicht ganz anwesend, so als ginge ihr die ganze Angelegenheit nichts an. Madleen folgte und blickte leidvoll auf das Portal.

Cassian reichte ihr den Arm und sie hakte sich bei ihm unter.

Dann schritten sie die Treppe hinauf.

„Meine Herren! Lassen sie uns zur Tat schreiten, die neue Residenz wartet bereits voller Ungeduld darauf von ihren neuen Nutzer in Besitz genommen zu werden. Sie werden mir sicher alle zustimmen, dass dieses Gebäude wie geschaffen ist für die repräsentativen Aufgaben.“

Begrüßte Cassian die Umstehenden und erntete sofort nickende Zustimmung.

„Folgen sie uns  und machen sie sich selbst ein Bild von allem.“

Es ging in den Flur der unteren Etage. Nach wie vor war die Heizung eingeschaltet und gab eine angenehme Wärme von sich.

Zunächst nahmen die Besucher die Gemeinschaftsräume in Augenschein. Allen voran das Refektorium. Dort, wo sich ein erheblicher Teil des Lebens abgespielt hatte. Wann würden die Schwestern erscheinen um die ungebetenen Gästen nach draußen zu befördern. Doch Madleens Hoffnung blieb unerfüllt.

„Ein repräsentativer Raum! Ich denke, den könnten wir so belassen. Bis auf ein paar kleine unbedeutende Veränderungen in der Einrichtung. Was sagst du dazu meine liebe.“ Sprach Cassian in Madleens Richtung.

„Ja, wie du meinst. Der Raum war immer gut und er wird auch weiterhin seine Aufgabe erfüllen.“

Einige Kabinettsmitglieder betraten den Raum. Madleen nutze das um sich ein wenig zu entfernen. Sie nahm Tessa an die Hand  und zog sich in den Flur zurück, während Cassian sich vor seinen Leuten weiter über seine Vorhaben äußerte.

Nach einer Weile leerte sich das Refektorium wieder.

Cassian und Madleen betraten die Treppe und begaben sich in das nächste Stockwerk. Tessa eilte den beiden hinterher.

Die Menschenansammlung begann sich in den Räumlichkeiten zu verteilen. Aus verschiedenen Richtungen hallte ihnen Stimmengewirr entgegen.

Madleen spürte wie sich ihre Brust immer deutlicher verkrampfte. Sie wollte schreien, doch sie biss sich auf die Zunge. Jetzt nur keine Schwäche offenbaren.

Es waren nun bereits drei Wochen seit dem Exodus vergangen. Staubpartikel tanzten in der Luft.

Die Flure waren schon seit einiger Zeit nicht mehr gesäubert wurden.

Vor allem die hohen Wände hatte schon lange keinen Besen mehr gesehen. Spinnweben hatten sich in einigen Winkeln über die Zeit gehalten.

Frohgemutes schlenderte Cassian den weiten Flur entlang und zog Madleen mit sich, die nur widerwillig folgte.

Bald würde sie ihre alte Wohnung erreichen. Madleen bebte innerlich. Nicht um alles in der Welt wollte sie mit Cassian ihr ehemaliges Liebesnest betreten.

Blieb ihr denn gar nichts erspart heute? Sie verlangsamte ihren Schritt und löste sich von ihrem Begleiter.

„Was ist denn los mit dir? Keine Lust mehr? Na, das hatte ich erwartet. Dann bleib eben hier.

Ich gehe alleine weiter.“ Cassians Worte gruben sich tief in ihr Herz.

Er wollte weitergehen und richtet einen kurzen Blick zur Decke. Plötzlich blieb er wie versteinert stehen. Das Gesicht kreidebleich, sein Ausdruck erfüllt von tiefen Entsetzen.

Madleen konnte sich keinen Reim darauf machen und blickte nur verwundert auf den zukünftigen Kaiser.

Jeder Mensch, auch der größte Diktator, vor dem die ganze Welt auf die Knie sink, hat irgendwo eine Achillesferse, einen wunden Punkt, ihn vollständig aus der Fassung zu bringen. Auch Cassian bildete da keine Ausnahme. Bei ihm war es eine Spinnenphobie.*** Der Ekel vor diesen Tieren war so stark, dass es bei ihm unter Umständen zu einer völligen Lähmung führen konnte.

Genau eine solche hatte er gerade über der Tür zum Eingang in Madleens ehemalige Wohnung entdeckt. Eine kleine Spinne in ihrem Nest. Sie lebte nicht mehr, in dieser Jahreszeit nicht verwunderlich, trotzdem bildete sie für Cassian eine unüberwindliche Barriere. In seiner Wahrnehmung wirkte sie um das 20fache vergrößert.

Der Diktator griff mit beiden Händen an seine Hals. Die Luft schien ihm auszugehen. Es gab nur eine Lösung, er musste diesen Ort so bald als möglich verlassen.

Hastig drehte er sich weg. Tessa kam auf ihn zu, doch er wich ihr aus und bewegte sich eiligen Schrittes in die Gegenrichtung bis zu Treppe.

„Was ist denn mit dir? Möchtest du die Wohnung nun doch nicht besichtigen?“ Wollte Madleen wissen.

„Nein! Nein! Ich….ich habe es mir anders überlegt. Plötzlich überkam mich die Erkenntnis. Das ist kein guter Ort für das zukünftige Kaiserpaar. Wir…wir werden die Abtei nicht bewohnen!“

Sprach er im hastigen Tonfall, dabei wild mit den  Händen gestikulierend. Immer deutlicher trat ihm der Schweiß auf die Stirn. Es war ihm unmöglich den Blick noch einmal in Richtung Spinnennetz zu richten.

„Aber warum denn? Du warst doch so überzeugt von deinem Vorhaben. Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr.“ Bekundete Madleen.

Sie war zwar daran gewöhnt, dass er oft innerhalb kurzer Zeit abrupt seine Meinung änderte und völlig neue Pläne offenbarte, doch dass hier schien ihr nicht geheuer.

„Ist nicht nötig! Ich habe einfach spontan entschieden. Wir ziehen in die Ordensburg, die ist ein würdigerer Platz. Dort gehöre ich hin, dort begann ich meine Karriere. Und wo mein Platz ist, ist auch der deine. Los raus hier aber sofort.“ Schnellen Schrittes bewegte er sich die Treppe hinunter. Madleen hob Tessa auf ihren Arm und folgte, hatte große Mühe ihn einzuholen.

Vor der Pforte angekommen atmen Cassian mehrmals tief ein und aus. Langsam schien er die Fassung wieder zu erlangen.

„Ist dir nicht gut?“ erkundigte sich Madleen.

„Nein! Aber sei ohne Sorge es geht schon wieder. Einen Cassian haut auch ein leichter Schwindel nicht um.

Er winkte einem seiner Wachleute der daraufhin sofort Haltung annahm.

„Trommel alle zusammen! Die Besichtigung ist zu Ende. Die Abtei wird nicht von mir in Besitz genommen. Ich habe mich dagegen entschieden. Die Leute sollen sich von hier entfernen.“

Der Wachmann salutierte und ging sofort daran den Auftrag auszuführen.

„Du willst nicht hier residieren? Ich verstehe noch immer nicht. Woher der plötzliche Sinneswandel? Ich erkenne dich nicht wieder?“ Lies Madleen noch einmal ihrer Verwunderung freien Lauf.

„Das ist auch nicht nötig! Ich habe entschieden und damit basta! Soll hier daraus werden was will.

Ein schlechter Ort. Möge die Abtei zu Staub zerfallen, von mir aus. Oder wenn du willst kannst du sie haben. Bitte, sie gehört dir! Mach damit was du willst!“

„Mir???? Mir ganz allein?“

„Ja dir! Verdammt noch mal! Spiel hier das Burgfräulein, die Fee aus der Anderwelt oder was auch immer. Genügend Platz hast du ja. Aber wir werden ein Paar, drüben auf der Ordensburg.

Dort werden wir residieren. Los komm jetzt. Ich habe keine Lust mehr auf diesen schäbigen Ort.“

„Fahr du schon vor! Ich bleibe mit Tessa noch eine kleine Weile. Ich muss das alles erst mal verdauen.“ Erwiderte Madleen, die neue Situation noch immer nicht ganz begreifend..

„Meinetwegen! Aber nicht zu lange.“ Cassian bestieg seine Staatskarosse und schon brauste die davon.

Ungläubig blickte ihr Madleen nach. War es Traum oder Wirklichkeit, was sich hier eben hatte abgespielt. Plötzlich löste sich der Krampf in ihrer Brust. Die Befreiung, die sie so sehr ersehnt hatte, war eingetreten. Die Abtei würde nicht geschändet. Anarchaphilia hatte schützend ihren Mantel darüber ausgebreitet. Anarchonopolis war ihr anvertraut. Sie war dessen Hüterin, solange bis die anderen wiederkehrten. Sie würde ihren Einfluss als zukünftige Kaiserin ausnutzen, um hier alles zu bewahren und instand zu halten und sie hatte einen Flucht -und Rückzugsort, den schönsten den es geben konnte.

 

 

 

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* siehe Teil II Kapitel     Die Kirschblütenhochzeit

 

 

** Albert Speers Germania lässt grüßen

 

 

*** Die Autorin weiß wovon sie spricht, sie leidet ebenfalls unter dieser Phobie