Lebensmüde Kriegerin

 

Eine kalte Nadel der Furcht drang in Elenas Herz.

Der stechende Schmerz den sie in ihrem Inneren fühlte, war so total, so überwältigend,

dass sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte.
Schwere Depression. So ihre Selbstdiagnose. Das Bewusstsein um diese Tatsache drohte ihr endgültig den Verstand zu rauben. Dunkler Kerker der Hoffnungslosigkeit. Dicke, unüberwindbare Mauern aus härtestem Felsgestein, die einen Ausbruch verunmöglichten.

Zusammengekauert saß Akratasiens Ex-Kanzlerin auf dem Boden des Waldhauses unweit der  Abtei, in dessen schützende Umfriedung sie am gestrigen Abend nach langer Qdyssee zurückgekehrt war, und starrte nur aphatisch auf die mit heller Holzpanele abgeschlagene Decke.

Stürz doch endlich ein, begrab mich, hörte sie sich in ihrem Inneren flehen. Doch nichts dergleichen. Elena lebte und sie würde weiter leben, dabei leiden, unendlich leiden und nochmals leiden.

Hatte der Leidensweg nicht erst begonnen? Wohin würde er sie führen in der Zeit die noch kommen mochte?

Aus geröteten Augen bahnten sich Tränen ihren Weg über ihre kreidebleichen Wangen, ihr sonst stets gepflegtes Haar hing in wirren Strähnen herab und versuchte leidlich das Elend zu verdecken.

Sie zog die Beine noch näher an sich heran und lehnte sich an die Wand hinter ihr. Wie im Film zogen die Bilder aus den zurückliegenden Wochen und Monaten immer wieder an ihr vorüber. Bilder aus einem Leben das nicht mehr zu ihr gehörte, so fremdartig kam ihr die Person vor die ihr dort begegnete

Wie sollte es weitergehen? Diese eine alles entscheidende Frage hatte sie im Würgegriff und ließ sie nicht mehr los.

Sie wollte leben, doch sie konnte nicht. Andererseits wollte sie sterben, doch ihr fehlte der Mut, diesen endgültigen und unumkehrbaren Weg tatsächlich zu beschreiten.

Gefangen in einer Zwischenwelt endlos scheinender Pein. Sie, die Heilerin von Weltruf, die hunderten Verzweifelter Seelen von deren Qualen hatte erlösen können, stand mit dem Rücken zur Wand und vermochte nicht ihren eigenen Schmerz zu lindern. Ihre Gefängnistür ließ sich nur von außen öffnen. Eine andere Person musste ihr den Weg in die Freiheit bahnen.

Doch jene die es vermocht hätten, verweigerten ihr diese Gnade der Barmherzigkeit.

 

Wie um alles in der Welt konnte es soweit kommen? Welches Schicksal hatte die ehedem so aufrechte, furchtlose Kriegerin so gnadenlos zu Boden geworfen?

Um es nachvollziehen zu können, müssen wir die entscheidenden zurückliegenden Wochen noch einmal Revue passieren lassen.

 

Die Tatsache, dass Tessa zu Madleen gegangen war, hatte der ohnehin schon angeschlagenen Ex-Kanzlerin den Rest gegeben. Dieser Tag sollte sich entscheidend auf ihren weiteren Lebensweg auswirken. Schnurstracks hatte sie die Wohnung im Konventsgebäude der Abtei verlassen und sich in das Waldhaus außerhalb der schützenden Klostermauer begeben. Dort harrte sie zunächst eine Weile aus um sich zu orientieren. Ihr war bewusst, dass sie auf Dauer hier nicht  bleiben konnte. Sie ertrug die Nähe der anderen nicht mehr, wollte weg, weit, weit weg. Irgendwo hin, wo sie einfach nur ein Mensch unter vielen war und nicht Elena, Akratasiens Ex-Kanzlerin, die so vieles verloren hatte. In der Fremde Ruhe finden und ganz von vorne beginnen. Wenn das so einfach wäre. Akratasien war Geschichte. Sie musste dem von ihr geprägten Gemeinwesen den Rücken kehren. Im Ausland sah sie deshalb ihre einzige Chance.

Sie begab sich auf Reisen. Eine Flucht, dass war ihr von Anfang an bewusst. Das konnte nicht gut gehen.

Eine Flucht vor allem vor sich selbst. Ruhelos und ohne Frieden im Herzen besuchte sie nach einander Deutschland, Frankreich, Italien, später auch Großbritannien und Irland, schließlich landete sie in Schweden. Überall blieb sie eine Weile. Kaum hatte sie sich irgendwo häuslich niedergelassen, spürte sie schon wieder den Drang zum Aufbruch, wie gehetztes Wild. Die Depressionen ließen sich nicht verbannen, wo immer Elena sich auch niederließ, sie waren schon dort und harrten ihrer mit übergroßer Qual. Und mit jedem Mal wurde es schlimmer. Schließlich traute sie sich kaum noch unter Menschen, hielt sich immer deutlicher von allem verborgen. Der Stachel im Herzen schmerzte von Tag zu Tag heftiger. Ihr Körper wurde zusehend in Mitleidenschaft gezogen. Schmerzen an allen möglichen Stellen, Übelkeit.

Schlaflose Nächte und Tage voller quälender Müdigkeit wechselten einander ab. Sie begann an Gewicht zu verlieren und drohte abzumagern. Und der Tränenfluss wollte einfach kein Ende nehmen. Ein Weinkrampf folgte dem anderen. Die kleinste Unpässlichkeit drohte sie aus der Bahn zu werfen. Sie verlor nach und nach jegliche Motivation. Nein, so sah kein Neubeginn aus. Dieses Vorhaben konnte sie vergessen.

Akratasien ließ sich nicht abstreifen wie ein schmutziges Kleid. Ein beachtlicher Teil von ihr war dort zurückgeblieben, es verging kein Tag ohne dass sie sich in Gedanken dort aufhielt und sich der guten alten Zeiten erinnerte. Zeiten ohne Wiederkehr. Zeiten, die sich im Dunkel der Geschichte verloren. Es würde nie wieder sein wie es einmal war. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Diese Erkenntnis drohte sie nach und nach in den Wahnsinn zu treiben.

Stechende Schmerzen in der Herzgegend. Beklemmungsgefühle: Vor allem in der Nacht drohte sie zu ersticken, machte ihr Zimmer, in dass sie sich zurückzog, immer deutlicher zum Gefängnis.

Das ständige herumreisen und die zahllosen damit verbundenen Kosten verbrauchten nach und nach ihr letztes Geld. Ihr gesamtes Vermögen hatte sie in den zurückliegenden Jahren in Anarchonopolis investiert. Das war ihr Lebensinhalt für den sie keine Kosten scheute.

Hier gedachte sie den Rest ihres Lebens zu verbringen, in Würde zu altern, gemeinsam mit den Menschen, die ihr ans Herz gewachsen. Hier wollte sie sterben und begraben werden.

Ein Ausstieg war nie vorgesehen. Aus diesem Grund hielt sie es auch nicht für nötig Rücklagen zu bilden auf die sie in der Not hätte zurückgreifen können.

Warum aber musste sie aussteigen? Niemand drängte sie zu diesem Schritt. Würde sie heute zu den Schwestern zurückkehren und ihnen ihr Herz ausschütten, wäre alles geregelt und sie konnte ihren Platz wieder einnehmen, den ihr keine streitig machte.

Doch dafür war es bereits zu spät. Akratasien befand sich in Auflösung.

Elena war in ein verändertes Land zurückgekehrt. Es musste damit gerechnet werden, dass Anachonopolis bald nicht mehr existierte.

Elena erhob sich und betätigte die Taste an ihrem Radiogerät. Die Berichterstattung hatte sich grundlegend geändert. Lobeshymnen auf den Wahlsieger Cassian drangen an ihr Ohr.

Schließlich vernahm sie die Stimme des Demagogen, der auf penetrante Weise seinen Wahlsieg als Zeichen für eine totale Wende pries.

„Von nun an herrscht wieder Recht und Ordnung in unserem Land. Akratasien, dieses Kunstgebilde ohne historische Grundlage existiert nicht mehr. Neu-Melancholanien wird leben und ich sehe mich berufen es nach meinem Ermessen zu gestalten. Schon bald werde ich damit beginnen. All jene, die diesem Vorhaben im Wege stehen, sollen sich vorsehen. Ich dulde keinen Widerspruch, ganz gleich aus welcher Richtung er auch kommen mag. Fügt euch der neuen Lage, oder verschwindet. Tut ihr beides nicht, werdet ihr bald die volle Wucht der neu zu schaffenden Gesetze zu spüren bekommen, dass verspreche ich euch. Dies gilt besonders für die Sekte von Anarchonopolis. Eure Tage sind gezählt. Macht euch bereit euch aus der Geschichte zu verabschieden. Wir brauchen euch nicht. Ihr seid überflüssig wie ein Kropf. Die Menschen haben lange genug eure Diktatur der Hochnäsigkeit erdulden müssen.

Von nun an weht ein neuer Wind, ich werde…“

Angeekelt schaltet Elena das Radio wieder aus. Das genügte. Sie wusste genau was sie davon zu halten hatte.

Elenas private Probleme verloren sich im Strudel der Ereignisse, dass die gesamte Schwesternschaft  mit sich zog. Die viel geliebte Heimat würde in Kürze nicht mehr existieren. All das Vertraute, der Schutz und die Sicherheit der schützenden Mauern, die Sinnlichkeit der erhabenen Natur, einfach nicht mehr vorhanden. Versperrt und ihrem Zugriff entzogen.

Es sollte bald schon kein Zuhause mehr geben wohin sie hätte zurückkehren können.

Es schien einfach alles in sich zusammen zu brechen. Die heile Welt in Anarchonopolis , das bunte, fröhliche Treiben, die innere Verbundenheit der Schwesternschaft, der sichere Hafen, den sie noch bis vor kurzen jederzeit hätte anlaufen können, bald schon würde es der Geschichte angehören.

Diese Erkenntnis zog sich wie eine lähmende Krankheit über ihr Gemüt und verdunkelte ihren Zustand, wie ein grauer Nebel das Licht der Sonne.

 

Politisch waren die Würfel gefallen. Cassian hatte einen großen Sieg errungen. Die Wahlentscheidung war eindeutig. Der Wille der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung ging in Richtung Veränderung, richtete sich gegen Akratasien. Zurück zu den alten vorrevolutionären Verhältnissen. Wiedererrichtung des Ständestaates mit all seinen Unzulänglichkeiten, nur noch viel krasser als in den alten Zeiten.

Gabriela hatte als Spitzekandidatin der Akratasischen Liga bis zuletzt gekämpft und dabei viel Würde und Erhabenheit an den Tag gelegt. Doch am Ende war alles vergebens. Die Niederlage zeichnete sich schon nach den ersten Hochrechnungen ab.

Sie waren gescheitert. Gescheitert auf ganzer Linie. Das war weitaus mehr als nur eine gewöhnliche Wahlniederlage. Eine komplette Welt war wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen. Eine Ära ging zu Ende.

Restauration lautete von nun an die Devise. Die Wiederherstellung alten, lange vergessenen Unrechts.

Elena begann sich bittere Vorwürfe zu machen, weil sie die Schwestern in der entscheidenden Phase im Stich gelassen hatte. Doch hätte sie tatsächlich das Ruder noch mal herumreißen können?  Diese Frage würde wohl sehr lange unbeantwortet im Raume stehen.

Es waren vor allem die bildungsfernen Bevölkerungsschichten, die diese Wahl entscheidend beeinflusst hatten. Sie glaubten den Regierenden einen Denkzettel verpassen zu müssen um auf ihre Probleme hinzuweisen. Sie triumphierten am lautesten und zogen mit den alten melancholanischen Fahnen auf die Straßen und feierten ein regelrechtes Freudenfest. Bald schon würde ihren das Lachen im Halse stecken bleiben. Schon in Kürze würden sie Cassians „Reformen“ zu spüren bekommen. Der hatte vor allem sie als Opfer auserkoren.       

 

Wie viel Leid erträgt eine menschliche Seele? Es schien kein Ende zu nehmen. Elena konnte all dem nichts entgegensetzen. Es gab keinen Ausweg. Am  Ende der Sackgasse . Wohin konnte sie noch fliehen? Jetzt war sie wieder hier. Hatte alles verloren, die Frau an ihrer Seite, die Tochter, die Schwestern, das zuhause, Akratasien, ihren Lebensinhalt . Damit wurde sie nicht mehr fertig.

Weg, einfach weg. Weg aus dieser unvollkommenen Welt. Weg aus diesem Leben das nicht mehr das ihre war.

Bald würde sie die Grenze überwinden, die letzte Barriere die sie noch ein stückweit am Leben hängen ließ.

Nur noch ein winziger Schritt und sie hatte mit allem abgeschlossen. Jeden Tag konnte es soweit sein.

Eingehen ins Nirvana. Den Himmel. Das Paradies. Den Garten Allahs. Es gab so viele Bezeichnungen, die alle das Gleiche auszudrücken schienen. Ein uralter Menschheitstraum. Ewiger Frieden, ewige Harmonie mit sich selbst. Keine Hetze mehr, aber auch keine tödliche Langweile. Ein dauerhaftes Jetzt der Freude. Eine Glückseligkeit die nie vergeht. Wie sehr sehnte sie sich doch nach alle dem. Bald würde es in Erfüllung gehen. Leander wiedersehen, den viel zu früh verschiedenen Gefährten und Kovacs den Bruder, Cornelius und viele andere, die ihr einmal so nahe standen. Doch andere musste sie dafür zurücklassen. Abschied ist ein scharfes Schwert, das oft so tief ins Herz dir fährt. Doch es gab kein Entrinnen.

Elena trat ins Freie, ein eisiger Wind traf wie spitze Nadeln ihr Gesicht und zerzauste ihr Haar.

Heute? Nein! Noch nicht! Eine Weile musste sie sich noch gedulden, wollte sicher sein, ganz sicher und keine Fehler dabei begehen.

Sie tat ein paar Schritte nach vorn. Sie schien die Kälte kaum noch wahrzunehmen. Bald würde das zum Dauerzustand.

Sie konnte es kaum erwarten. Doch noch spürte sie ein wenig Angst, noch schien der Lebensfaden nicht zertrennt. Da war noch eine klitzeklitzekleine Wenigkeit, die sie am Leben hielt.

Sollte sie sich ihren Mantel holen, um ein Stück zu laufen? Doch wofür brauchte sie den?

Kam es jetzt noch darauf an, sich keine Erkältung zu holen?

Sie ging ins Haus zurück und holte das Kleidungsstück, die Wärme tat ihr gut. Kälte, nur noch Kälte. Ende November war es. Erster Wintereinbruch, wie so oft in dieser Zeit. Totensonntag stand bevor.

Sollte sie es an diesem Tage tun? Wäre das nicht eine letzte sinnliche Geste an die Welt die sie hinter sich lassen würde?

Ja! Genau das musste sie tun. Noch länger warten? Danach kam die Adventszeit und die wollte sie auf gar keinen Fall erleben. Zeit der frohen Erwartung. Zeit der Besinnlichkeit, Gemütlichkeit. Zeit für die  Familie. Früher! Ja! Da mochte sie diese Zeit, da genoss sie dass zusammenrücken mit den Menschen die ihr so nahe standen, da tauchte sie ganz bewusst ein in das Mysterium der Weihnacht.

Nun hatte sie keine Familie mehr und würde nie wieder eine besitzen. Wehe dem, der oder solche in jener Jahreszeit alleine blieb. Kein Wunder, dass die meisten Suizide in der Weihnachtszeit geschehen.

Elena lief ein Stück, doch bald fröstelte es ihr. Wieder umkehren? Zurück in ihr Gefängnis?

Dort würde ihr doch nur die Decke auf den Kopf fallen.

Sie setzte ihren Weg fort. Noch ein Stück und noch weiter, bis sie an eine Kreuzung des Waldweges kam.

Vertrautes Terrain. Wie oft schon war sie hier gelaufen. Doch plötzlich war es, als sähe sie die Gegend zum ersten Mal in ihrem Leben.

Sie blieb stehen und starrte wie gebannt zu Boden. Die Zeit schien still zu stehen. Dann schien sie von einer Woge erfasst, fühlte sich eingehüllt wie in einen schützenden Nebel.

Sie hatte unbemerkt die Schwelle überschritten.

„Lass sie los, die Welt die dich so sehr quält!“ Schien eine Stimme aus ihrem Inneren zu sprechen.

„Du gehörst nicht mehr hierher! Komm, tue es! Tue den letzten Schritt der dich befreien wird.“

Wer hatte da zu ihr gesprochen? Anarchaphilia? Nein! Mit Sicherheit nicht. Die hatte sie schon längst vergessen. All ihre Gebete zu dieser einst so tröstenden Kraft blieben unbeantwortet. Sie hatte Elena ihrem Schicksal überlassen.

Doch welch geheimnisvolle Macht  war es dann, die jene Aufforderung sprach? Die war ihr bisweilen völlig unbekannt.

Neuland, das es zu betreten galt. Sie fühlte sich gestärkt. Ein Zustand der sie ganz zu erfüllen schien.

„Ja! Ich tue es! Ich tue es! Ich bin frei, frei und für immer frei!“ Schrie Elena in die Höhe.

Auf einmal schien alle Furcht von ihr zu fallen. Nichts lähmendes mehr, dass sie aufhalten konnte.

Der Tod erschien ihr jetzt als Tor zum Eingang in ein verlorenes Paradies, als das Ende einer Welt der Plage und der Mühsal, als Anfang eines Zustands heiteren Friedens, innerer Gelassenheit und eines unveräußerlichen Glücks

Elena war bereit für den letzten  Schritt.

 

Als ein neu erwachtes Wesen kehrte sie in das Waldhaus zurück. Keine Beklommenheit mehr. Keine Mutlosigkeit und keine Verzweiflung.

Das innere Gleichgewicht schien wiederhergestellt.

Der Suizid war beschlossene Sache, Elena war in die letzte Phase eingetreten. Sie war fest entschlossen, sie würde es tun. Diese Erkenntnis verlieh ihr eine vollkommene innere Ruhe  und Ausgeglichenheit. Sie lebte wieder auf, konnte sogar wieder Freude empfinden. Nahm ihre Umwelt intensiv wahr. Ein Zustand , den viele Suizidentschlossene am Ende ihres Weges empfinden.

Das Wissen darum, diese Welt bald für immer zu verlassen, erfüllte sie mit Zufriedenheit und Dank, deshalb war sie auch imstande noch einmal dorthin zurückzukehren. Ein Umstand der ihr noch am Tag zuvor nicht in den Sinn gekommen wäre.

 

Der Trauermonat November verabschiedete sich mit einem heftigen Wintereinbruch. Eine Menge an Neuschnee war gefallen und kleidete das Gelände von Anarchonopolis in einen leuchtend weißen Mantel, verbannte die Dunkelheit für eine kurze Weile.

Es war ein Donnerstag, genau jener vor Totensonntag, als Elena die Pforte zur Abtei durchschritt und sich langsam auf das Konventsgebäude zu bewegte, durchdrungen von dem Bewusstsein, es zu letzten Mal  zu tun.

Abschied nehmen, alles noch einmal mit ihren irdischen Augen wahrnehmen. Intensiv betastete sie die  alte Klostermauer und die wuchtigen Eichen im Innenhof. Das Leben das sich vor ihr auftat, kannte keinen Tastsinn, glaubte sie zu wissen.

Helle Freude im Kreis der Schwestern, als die schon verloren geglaubte in ihre Mitte erschien.

Keine von ihnen bemerkte etwas, so sicher spielte Elena ihre Rolle.

Colette war an jenem Morgen nicht zugegen. Zu sehr wurde sie in den letzten Tagen in Anspruch genommen. Das Exil stand unmittelbar bevor und die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Die Evakuierung der Bewohner war ein Mammutprojekt. Alles musste in Windeseile durchdacht und gehandhabt werden. Cassian hatte ihnen eine Frist von zwei Wochen gestellt. Sollten sie das Ultimatum verstreichen lassen, drohte die gewaltsame in Besitznahme.

Die Königin wollte Gewalt auf jeden Fall vermeiden und war bestrebt den Schwestern und den sonstigen Bewohnern einen würdevollen Abschied zu garantieren.

Später sollte sie sich schwere Vorwürfe machen. Die sensitive Königin blickte hinter die Kulissen, tief in die Seele der kleinen Schwester. Ihr hätte Elena nichts vormachen können.

Alexandra und Kyra besaßen diese Gabe nicht. Ihnen erschien Elena souverän und entschlossen, wie in den alten Zeiten.

„Elena! Bist du es wirklich? Oder sehe ich einen Geist? Oh, wie froh ich bin, dich wieder zusehen. Wo in aller Welt hast du gesteckt? Wir haben uns alle die größten Sorgen gemacht?“

Rief ihr Alexandra entgegen, um ihr danach um die Hals zu fallen.

Kyra schloss sich dem an.

„Typisch Elena! Du verstehst es immer wieder uns in Aufregung zu versetzen. Aber nun bist du wieder hier und das ist das Wichtigste! Aber sag schon, wo bist du die ganze Zeit gewesen?“

„Viel unterwegs. Hier und dort und überall. Bin gereist, auch im Ausland. Ich brauchte einfach die Zeit zum überlegen. Geht alles den Bach runter wie ich feststellen konnte. Ihr seid in Aufbruchstimmung?“

„Ja! Es ist vorbei! Die Heimat ist verloren. Wir müssen das Gelände räumen. Noch etwa einen Woche bleibt uns. Mein Gott wir wissen gar nicht recht was wir tun sollen. Was können wir mitnehmen, was nicht. Es gibt so vieles hier. Ich darf gar nicht daran denken.“

Erwiderte Alexandra.

„Die Sorgen einer echten Prinzessin. Ich habe im Leben nie viel besessen. Bin es noch gewohnt, mit leichtem Gepäck zu reisen. Aber schwer wird es allemal. Ein Leben ohne Anarchonopolis. Ich hätte nie gedacht, dass es einmal soweit kommt.“ Gab Kyra zu verstehen und entwand sich Elenas Umarmung.

„Du kommst zur rechten Zeit Elena. Du wirst uns wieder führen, auch aus dieser schweren Krise. Die schlimmste die wir je erleben. Du weißt immer was zu tun ist. Jetzt können wir alle wieder mit Zuversicht den Tag beginnen.“  Versuchte sich Alexandra selbst zu trösten.

„Was könnte ich besser tun? Ihr habt es auch ohne mich vollbracht. Ich geh doch sicher recht in der Annahme, dass Colette alles organisiert hat. Ja, auf sie müsst ihr blicken, sie wird euer Leitstern in der vor uns liegenden Nacht. Vertraut und folgt ihr. Dann seit ihr immer auf der rechten Bahn.“ Gab Elena zu verstehen. Doch die beiden konnten mit der Aussage nicht so recht etwas anfangen.

„Warum betonst du das? Wir wissen was wir an ihr haben. Aber mit dir an ihrer Seite kann es nur besser werden. Du hast uns wahnsinnig gefehlt.“ Rief Kyra noch einmal ins Gedächtnis.

„Weißt du noch als wir uns das erste Mal begegneten, Kyra? Damals vor so langer Zeit? Da warst du ganz und gar nicht von mir angetan:“

„Elena, wie kommst du darauf? Das ist doch Schnee von vorvorgestern. Schon gar nicht mehr wahr, solange liegt das zurück. Es kommt mir vor wie aus einem völlig anderen Leben.“

Entgegnete Kyra erstaunt.

„Ein anderes Leben! Das ist richtig. Ein völlig anderes Leben. Es ist alles ein für allemal dahin.“

„Elena was ist mit dir? Warum sprichst du so? Das macht mir Angst! Was ist denn nur geschehen in den letzten Wochen.“ Tiefe Sorge sprach aus Alexandras Worten.

„Mach dir um meinetwegen keine Gedanken. Ich hatte nur viel Zeit nachzudenken. Da kommt einem so manches in den Sinn. Es sind halt Zeiten der Veränderung. Da meldet sich die Erinnerung, das ist ganz normal.“ Versuchte Elena mit Erfolg zu verharmlosen.

„Jetzt aber möchte ich die anderen sehen.“

Gemeinsam strebten sie dem Eingang entgegen und  fanden die meisten im Kapitelsaal versammelt, die Erleichterung war allen Anwesenden deutlich anzumerken.

 

Etwas abseits hielt sich Gabriela auf. Sie wirkte krank und müde, die Anspannung der zurückliegenden Wochen war ihr all zu deutlich ins Gesicht geschrieben.

Elena schritt auf sie zu und umarmte sie lange. Noch einmal die Gefährtin aus den alten Tagen begrüßen, die am längsten an ihrer Seite ausgeharrt hatte.

„Schön dass du wieder bei uns  bist Elena. Die zurückliegende Zeit war eine Qual für mich. Es tut mir so leid ,dass ich dir kein besseres Ergebnis präsentieren kann. Ich habe es verpatzt. Es lag mir einfach nicht diese Rolle zu spielen. So derart im Rampenlicht zu stehen ist meine Sache nicht. Ich denke ich hatte nie wirklich eine reale Chance.“

„Verzeih mir, dass ich dich im Stich gelassen habe. Ich konnte den ganzen Vorgang nur aus der Ferne betrachten. Ich wollte eingreifen, doch ich konnte nicht. Jetzt mache ich mir Vorwürfe.“ Entgegnete Elena.

„Dafür ist es jetzt zu spät. Die ganze Zeit hoffte ich auf deine Rückkehr. Doch nichts geschah.

Ich redete mir ein , dass es mit dir an der Spitze einen anderen Verlauf genommen hätte. Doch heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Die ganzen Umstände sprachen einfach gegen uns. Es musste wohl so kommen.“ Bekannte Gabriela, dabei eine Träne vergießend.

Elena entwand sich der Umarmung und blickte zum Boden.

„Ja, dem wird wohl so sein. Unsere Zeit ist abgelaufen, unwiederbringlich. Cassian kostet seinen Sieg in vollen Zügen. Nun geht es also ins Exil, wie ich hörte. Ihr werdet alle zusammen gehen?“

„Es gibt keine andere Lösung. Wir sind alle schon dabei das nötigste zusammenzupacken. Ich kann mir gar nicht vorstellen wie das funktionieren soll. Alles zurücklassen, das wir so mühsam aufgebaut. Ich hoffte bis zum Schluss auf einen Ausgleich. So wie damals unter Neidhardt. Das wir wenigstens hier wohnen bleiben könnten. Doch das war wohl eine Illusion.“

Bedauerte Gabriela.

„Cassian ist nicht Neidhardt. Der ist aus einem ganz anderen Holz. Für den zählt allein die Macht, seine Macht, uneingeschränkt. Gnadenlos. Ich denke, wir tun gut daran fortzugehen.

Bauen wir Akratasien an anderer Stelle wieder auf. Lernen wir aus den Fehlern der Vergangenheit.“

„Genauso hat es Colette formuliert. Ja, ihr seid Schwestern. Jetzt da du wieder hier bist, können wir Hoffnung schöpfen. Mit euch beiden an der Spitze werden wir einen Ausweg finden.“ Glaubte Gabriela zu wissen. Sie konnte ja nicht ahnen, was wirklich in Elenas Kopf vor sich ging. Die spielte ihre Rolle perfekt und lies sich nicht das Geringste anmerken.

„Das werden wir. Eine Tür schließt sich, eine andere wird geöffnet. Weiß man schon wo es hingehen soll?“

„Nach Deutschland. Wo genau wissen wir noch nicht. Colette ist noch in den Verhandlungen. Leicht wird es sicher nicht etwas zu finden. Wie gut, dass sie in der zurückliegenden Zeit schon ihre Beziehungen hat spielen lassen.“

„Verlasst euch stets auf eure Königin. Sie weiß genau was zu tun ist. Folgt ihr in allem und es wird euch gut ergehen. Lasst nie ab von ihr und ihrer Kraft.“

Elena küsste Gabriela nach Schwesternart, dann schritt sie noch mal durch die Reihen, dabei immer wieder in Gespräche verwickelt.  

 

Kurze Zeit später klinkte sie sich aus und entschwand unbemerkt in den weiten Korridoren des Konventsgebäudes.

Nun fand sie sogar wieder die Kraft ihre Wohnung aufzusuchen. Keine Veränderung festzustellen. Es kam ihr vor als habe sie die Räumlichkeiten gerade erst verlassen.

Sie schritt zum Schreibtisch, zog den Stuhl zurück und nahm wenig später darauf Platz.

Mit den Handflächen fuhr sie über die glatt polierte Oberfläche. Alles genau wahrnehmen und in Erinnerung behalten. Würden sie diese Gedanken in die neue Welt begleiten?

Aus ihrer Umhängetasche holte sie ein in der letzten Nacht verfasstes Manuskript hervor und legte es auf den Tisch. Ihre Abschiedsgedanken. Sie ging davon aus, dass eine der Schwestern noch kurz vor dem Aufbruch zum Nachsehen kam und alles wie gewünscht vorfand.

Eine ganze Weile saß Elena hier und verharrte im tiefen Schweigen. Zweifel bahnten sich ihren Weg.

Tat sie recht? Konnte sie die Schwestern einfach so alleine lassen, sie ihrem Schicksal überantworten?  War es feige von ihr, sich einfach so aus der Verantwortung zu stehlen?

Jetzt, wo nach ihrem Auftauchen wieder Hoffnung keimte?

Nein! Der Entschluss stand fest. Machte sie jetzt einen Rückzieher würde sie es schon wenig später  tief bereuen.

Mit einem Satz erhob sie sich und schritt durch die Wohnung, kam am Fenster zum stehen und blickte auf das gegenüberliegende Grauhhaargebirge.

Auch diesen Anblick genoss sie heute wohl zum letzten Male.

Erst jetzt schien sie zu spüren, wie sehr ihr diese raue Natur ans Herz gewachsen war und wie wohl sie sich hier stets gefühlt hatte.

Ein seltsames , ein gespenstisches Gefühl um die Tatsache zu wissen, dass das Leben schon bald beendet sein würde. Sie selbst hatte es in der Hand, sie und kein anderer.

Sie blickte sich noch einmal um, nahm alles tief in sich auf. Dann verließ sie die Wohnung, nun ein für allemal. Sie wollte den Schlüssel betätigen, lies es aber. Wozu? All das gehörte ihr nicht mehr. Es war nicht mehr ihre Angelegenheit. Im Anschluss haschte sie durch den Flur nach draußen, der einen oder andern begegnend. Dabei stets ein sanftes Lächeln auf den Lippen.

„Lebt wohl, Schwestern. Ich weiß ihr werdet mich vermissen und mich in der besten Erinnerung behalten.“

Erneuter Schneesturm. Eisige Winde. Elena duckte sich um ihnen zu entgehen. Die rechte Zeit zum sterben.

Sie erreichte das Waldhaus und war wieder allein. Allein mit sich selbst und  dem Bewusstsein um die grauenvolle Tat die sie zu begehen gedachte

 

Die letzte Nacht vor ihrem Tod. Was geht wohl in einem Menschen vor der so etwas im Schilde führt. Es lässt sich nur erahnen. Schon morgen um diese Zeit wäre sie auf der anderen Seite. Im Paradies, im Himmel oder im Nirvana? Was glaubte sie dort zu erwarten?

Unruhig wälze sie sich hin und her.  Kein Wunder dass sie von Alpträumen heimgesucht wurde.

Schließlich fiel sie in einen leichten Schlummer.

 

Schmerz, unendlich tiefer Schmerz durchfuhr Aradia, als sie Leylas leblosen Körper in ihren Armen hielt. Steh auf Geliebte, du bist nicht tot. Das Leben ist noch nicht aus dir gewichen. Du bist noch zu jung zum sterben. Du stehst doch noch am Anfang.

Hörte sie sich selber flehen. Doch es half nicht. Eine unumstößliche Tatsache. Die Geliebte war nicht mehr am Leben.

Es war früher Abend, die Sonne war im Begriff sich langsam zu verabschieden.

Am Morgen des Tages schien alles noch in bester Ordnung, als sie ihren Pferden das Zaumzeug überstreiften und sich zum Ausritt rüsteten. Da waren sie froher Dinge und bester Zuversicht.

Nichts schien ihre Freude einzuschränken.

Es war eine Routinepatroullie. Die Gegend auskundschaften. Gefahren lauerten überall, dessen waren sie sich bewusst. Doch dass das Schicksal so erbarmungslos zuschlagen würde, damit rechnete wohl keine.

Der Hinterhalt in den sie gerieten war nicht abzusehen, obgleich ihnen bewusst war, dass sich feindliche Krieger in der Nähe aufhielten. Als der Hagel von Pfeilen auf sie niederging war es schon zu spät.

Der Pfeil der Leyla traf und tief in ihr Herz drang, galt Aradia. Die Gefährtin hatte sich im letzten Moment  vor deren Brust geworfen. Sie hatte der Königin ihres Herzens das Leben gerettet und ihr eigenes dafür geopfert.

Der Schock saß tief. Langsam nur ganz langsam schien die Realität wieder an Konturen zu gewinnen.

Wie geistesabwesend saß Aradia am Boden und streichelte der toten Geliebten durch das Haar.

„Aradia! Wir sollten uns zum Aufbruch rüsten. Der Feind ist noch in der Nähe, wir müssen ständig mit einem Angriff rechnen.“ Mahnte Daraya mit eindringlicher Stimme.

„Und wenn schon! Sollen sie doch wiederkommen. Mir ist es gleich. Sie sollen nur besser zielen und mir ein schnelles Ende bereiten. Ich folge der Gefährtin, je früher desto besser.

Das Leben hat für mich jeden Sinn verloren.“

„Wir verstehen deinen Schmerz. Leyla war uns allen lieb und teuer. Wir werden sie mitnehmen und würdig bestatten. Aber du musst an die ganze Gemeinschaft denken. Du darfst dein Leben nicht in Gefahr bringen, sonst sind wir alle verloren.“ Redete ihr nun auch Hatifa zu.

„Reitet weg! Bringt euch in Sicherheit! Lasst mich hier! Ich bin Schuld an ihrem Tod , ich habe es zu verantworten.“

Nie und nimmer lassen wir dich zurück! Wir reiten alle oder keine!“ Bestimmte Daraya und ihren Tonfall war zu entnehmen, dass sie keinen Widerspruch duldete.

Auf den umliegenden Hügeln konnte man die Soldaten erkennen. Es waren nicht viele, etwa ein dutzend, doch ihre Deckung gereichte ihnen zum Vorteil Nun war es für einen Ausbruch bereits zu spät. Es musste damit gerechnet werden, dass es weitere Opfer gab.

Hatte das Schicksal entschieden? Bahnte sich hier etwa der Anfang vom Ende der Kriegerischen Schwesternschaft an. Ohne Aradia an der Spitze war die Gemeinschaft verloren. Offensichtlich hatten es die Gegner auf der anderen Seite von Anfang an darauf abgesehen.

In naher Entfernung wurde plötzlich eine Staubwolke sichtbar und bald konnten sie deren Auslöser erkennen.

Es war Ajana, die einen weitern Trupp Kriegerinnen anführte und wie besessen auf die Anhöhe zustürmte. Geschickt wichen sie den Geschossen aus und schon waren sie in der Lage die völlig überraschten  feindlichen Krieger in die Flucht zu schlagen.

Aus der Senke hallten ihnen Jubelrufe entgegen.

„Ajana, die Retterin! Du bist eine Heldin!“ Nach einer Weile waren die Befreierinnen bei den in Bedrängnis geratenen Schwestern eingetroffen.

„Ihr kommt zur rechten Zeit. Lange hätten wir es nicht mehr durch gestanden. Ein Ausbruch voller Gefahren, trotzdem hätten wir ihn wagen müssen.“ Begrüßte Daraya die eintreffenden.

„Wie ich sehe konnten wir nicht alle retten!“ Ajana blickte auf die tote Leyla.

Sie zog Daraya ein wenig zur Seite, damit Aradias Ohren sie nicht hören konnten.

„Das ist ja entsetzlich! Wie ich hat es Aradia verkraftet?“

„Na, das siehst du ja. Sie ist völlig am Boden. Sie wollte dass wir sie hier zurücklassen. Sie wünscht sich nichts sehnlicher als den Tod.“ Antwortet Daraya flüsternd.

Langsam schritt Ajana auf die Königin zu und legte sanft ihre Hand auf deren Schulter.

„Dein Schmerz ist tief, Schwester. Ich kann mir denken, was du jetzt empfindest.

Komm! Komm nach hause! Du musst sehr stark sein. Wir alle müssen stark sein in dieser Stunde des Schicksals.“

Wortlos blickte ihr Aradia mit geröteten Augen entgegen. Ein ungewohnter Anblick. Viele Jahre waren vergangen das Ajana die Königin hatte weinen sehen. So schlimm war es also.

Ardadia erhob sich langsam vom Boden, taumelte und wäre beinahe gestürzt. Ajana fing sie auf und schloss sie in ihre Arme. So verharrten sie eine ganze Weile. Arm in Arm schritten sie  davon, während einige andere  Leylas Körper auf den Rücken eines Pferdes betteten.

Langsam setzte sich der Zug in Bewegung.

Aradia starrte teilnahmslos vor sich hin, so als sei sie nicht mehr Teil der Umwelt die sie umgab.

Auch in der Siedlung kannte das Entsetzen keine Grenzen. Leyla war bei den Schwestern allseits beliebt. Die Anteilname war aufrichtig. Aradia konnte sich in der Stunde des Schmerzes auf die Ihren verlassen.

Inanna war fassungslos. Die Hoffnung die jüngere Schwester in guten Händen zu wissen war mit einem Mal dahin. Die Sorgen waren berechtigt, denn Aradia schien dadurch aus dem Gleichgewicht geraten und das konnte sich negativ auf die ganze Gemeinschaft auswirken.

Eine Bestätigung fand sie schon am Abend, nachdem eine offizielle Trauerzeremonie abgehalten wurde. Aradia folgte dem Geschehen zunächst teilnahmslos, so als sei ihr Geist schon im Reich der namenlosen Göttin. Später verrichtete sie die ihr als Königin zukommenden Rituale.

Leylas Körper wurde dem Brauche entsprechend inmitten der Siedlung unter einem dafür hergerichteten Haus bestattet. Damit wollte man bekunden, dass sie immer Teil der Gemeinschaft blieb. Auch der Tod konnte an der Verbundenheit der Schwestern nichts ändern.

Als die sich die meisten Amazonen schon zurückgezogen hatten, verharrte Aradia noch lange an dem kleinen Hügel der Leylas Grabstätte bedeckte.

Wut, grenzenlose Wut löste schließlich die Trauer ab und bahnte sich ihren Weg nach draußen. Sie ballte die Fäuste und stemmte sie auf den Boden. Gift und Galle schien sich in ihr aufzustauen.

Sie musste einfach schreien um all den Unrat, der ihr Herz zu erdrücken drohte loszuwerden.

„Warum? Warum Leyla? Sie war noch lange nicht an der Reihe. Ich hätte an ihrer statt sterben sollen. Ich, die unbesiegte Königin der Schwertschwestern. Ich wäre einen ehrenhaften Tod gestorben. Ein Tod während einer Kampfhandlung, so wie es sich für eine Königin geziemt. Stattdessen muss ich weiterleben mit einem Schmerz der nicht mehr zu lindern ist.

Ich bin verwundet, tief im Herzen und werde dadurch immer schwächer.

Leyla, meine Leyla, leuchtender Stern in tiefster Finsternis. So jung warst du noch. Meine Schülerin, noch kaum im Kampf bewährt. Ich werde dich betrauern bis an meines Lebens Ende. Möge es recht bald kommen, denn ohne dich wird es nur noch wüst und leer.“

Sie zog ihr Kurzschwert drehte es und hielt es sich gegen die Brust. Jetzt einfach zustoßen und sie wäre im Handumdrehen wieder mit der Geliebten vereint. Für alle Ewigkeit, denn auf der anderen Seite brauchten sie den Tod nicht mehr zu fürchten.

Doch sie tat es nicht. Noch hatte sie das Verantwortungsbewusstsein nicht verloren und wusste was diese Tat zur Folge hätte.

Mit einem Ruck richtete sie sich auf, sie taumelte, so benommen schien sie.

Dann rannte sie nach draußen, kletterte auf die Dachterrassen und blickte gen Himmel, dessen Sternenpracht sie so oft gemeinsam mit Leyla bewundert hatte, sank auf die Knie. Jetzt wurde sie vom Schmerz übermannt. Die Tränen bahnten sich ihren Weg über ihre Wangen. Sie gab sich ihrem Schmerze hin. Dann rollte sie zur Seite und blieb einfach regungslos liegen.

Später fanden sie die anderen Schwestern. Ajana und Uratha nahmen sie in der Nacht zu sich und versuchten sie zu trösten. Inanna erschien, Daraya und Gomela, Hatifa und Tiriki. Ihre Anteilnahme lies sie wieder zu Kräften kommen, zumindest dem Anschein nach.

Nichts würde mehr so sein wie früher. Die Seele der Königin war unheilbar verwundet. Der Anfang vom Ende und es sollte noch schlimmer kommen.

 

Schweißgebadet schreckte Elena aus dem Traum. Die Vision war furchtbar und quälend.

Nicht einmal im Angesicht ihres sicheren Todes ließen sie von ihr ab. Oder kam sie gerade um deretwegen?

Leylas Tod, wie passte der zum derzeitigen Status? Vision und Wirklichkeit wichen hier stark voneinander ab. Leyla war Madleen. Doch die war nicht gestorben und erfreute sich bester Gesundheit. Aber sie schien verloren, für alle Zeit des Lebens. Sie lebte an der Seite eines Mannes, eines gefährlichen Feindes. War der Tod nur symbolisch zu verstehen? Oder wäre es gar besser für  Madleen dass sie gestorben wäre. Das hätte Elena die Möglichkeit gegeben echte Trauer zu zeigen und nach einer angemessenen Wartezeit loszulassen, sich neu zu orientieren.

Schnell verwarf Elena dieses Gedankenspiel.

Es war eh zu spät. In diesem Leben sollte sie es sein, die den Weg alles Irdischen ging und zwar freiwillig und durch eigene Hand.  

Trauer würde folgen um ihretwillen. Die Schwesternschaft blieb verwaist zurück und würde ihre Tat nicht nachvollziehen können.

Elena warf sich auf ihr Bett zurück, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Warum auch, schon in absehbarer Zeit würde sie für immer schlafen. Gab es Träume im Schattenreich? Glich ihr Leben dort gar einem endlosen Traumgeschehen? Sollte sich das als von positiver Art erweisen, wäre es mehr als willkommen. Doch wehe ihr, wenn dort etwas Negatives auf sie lauerte. Endlose Qual, die dann nicht einmal der Tod beenden könnte.

Elena versuchte diese Gedanken zu bannen, doch es gelang ihr nicht.

So blieb wach bis zum Morgengrauen.

Sie erhob sich und schritt ins Badezimmer. Warum noch auf Äußerlichkeiten achten, heute an ihren selbstbestimmten Todestag. Andererseits wollte sie sich gerade im Angesicht des Todes auf besondere Art herrichten. 

Was für Gedanken. Die Gedanken einer die mit allem abgeschlossen hatte.

Zweifel kamen auf, immer wieder diese Zweifel. Sollte sie es lieber doch nicht tun? War sie sich wirklich sicher? Ja! Es gab kein Zurück, heute musste es geschehen.

 

Eisige Kälte senkte sich herab. Der frühe Wintereinbruch würde es Elena leicht machen.

Sie hatte genau überlegt, wie sie ihren Übergang vollziehen wollte.

Zunächst weit mit dem Auto fahren, in eine abgelegene Gegend.  Im Anschluss eine Weile laufen, eine Flasche Kognak und Schlaftablette im Gepäck. In ihrer Eigenschaft als Ärztin wusste sie um deren Wirkung. Sie wollte beides zu sich nehmen und dann langsam in einen Schlafzustand treten. Im Schlaf würde sie dann erfrieren, so ihre Berechnung, die frostige Nacht würde ihren Beitrag dazu leisten.

Dann hätte sie es geschafft. Eine angenehme Art zu sterben? Elena konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Aber sie hoffte darauf. Ob man sie schnell finden würde war ihr im Grunde egal.

So egal wie alles andere in diesem Moment des Schicksals.

Der Tag näherte sich langsam seinem Höhepunkt. Um die Mittagsstunde brach sie auf. Neuschnee behinderte ihre Sicht. Nur langsam kam sie voran. Immer wieder von Zweifeln gepeinigt, hoffte sie ihr Ziel schnell zu erreichen. Doch wo lag das? Sie fuhr einfach wahllos die erstbesten Wege die sich vor ihr auftaten.

Schließlich schien sie vollständig die Orientierung verloren.

Als sie schon eine ganze Weile gefahren war, stoppte sie abrupt und sah sich um. Ja hier schien sie richtig zu sein. Ein guter Platz zum Sterben. Eine Gegend, die im Allgemeinen als „Graue Zone“ bezeichnet wurde. Hier sollten sich militärische Einrichtungen befinden, durch Minen gesichert und hermetisch von der Außenwelt abgeschirmt. Zum Teil stammten die noch aus dem vorrevolutionären Melacholanien und aus der Neidhardt-Ära. Immer wieder wurde auf den Kabinettssitzungen darüber gesprochen was man damit zu tun gedachte, in absehbarer Zeit. Doch bislang konnte keine Einigung gefunden werden.  Es gab einfach Wichtigeres. Dazu die Gefahren. Aufgeschoben, immer wieder aufgeschoben, bis ein jegliches Interesse daran verloren ging.

Elena konnte sich nicht erinnern jemals in dieser Gegend gewesen zu sein. Warum auch hätte sie hierherkommen sollen? Es war eine trostlose Einöde, jetzt im heranziehenden Winter gleich gar.

Hier war der Tod zuhause, das spürte sie sofort als sie den Wagen verlassen hatte. Ihr war entsetzlich kalt, doch den warmen Mantel ließ sie zurück, den würde sie nicht mehr brauchen.

Eine Weile war sie vorangekommen, dann glaubte sie die ideale Stelle gefunden.

Jede einzelne Tablette spülte sie mit einem Schluck aus der Flasche hinunter, solange bis ihr übel davon wurde. So also schmeckte der Tod. Bitter, Sauer und Ekelerregend. Von Süßigkeit keine Spur. Nach einer gewissen Zeit begann sie zu taumeln und landete schließlich auf dem mit Schnee überzogenen Boden.

Bald schon spürte sie die Bodenkälte nicht mehr. Ein Zeichen dafür dass die Empfindungen in ihr langsam aber sicher starben.

Wie ein Film zog ihr bisheriges Leben noch einmal an ihr vorbei. All die vielen Erlebnisse, positive, wie negative. Sie sah sich noch einmal in ihrem alten Leben als Glamourgirl, in Saus und Braus lebend und nur den Sinnesfreuden zugetan. Dann ihre Wende, Leander, der in ihr Leben trat, Kovacs, Cornelius und all die vielen anderen. Das bunte Leben in der Kommune, den Schmerz und die Leere nach Leanders Tod

Das Wiedererwachen, die langsam wieder wachsenden Gemeinschaft in der Abtei. Tessa, die Tochter, Freude und Schmerz zugleich. Und Madleen. Immer wieder Madleen und das herrliche Leben mit ihr. Colette und all die anderen Schwestern, die ihr soviel  gegeben hatten. Natürlich tauchte auch Neidhardt auf, erst als Gegner, dann die Annäherung und das wachsende Verhältnis, das sich immer so kompliziert präsentiert hatte.

Dann wurde es immer grauer, immer negativer. All die Zustände die ihr jüngstes Leben bestimmten.

Es hatte aufgehört zu schneien. Auch der Wind schien sich nach und nach zu legen. Stille, beklemmende Stille überall, bis zum Horizont. Sie blickte auf einen Wald der sich in einiger Entfernung zu ihrer Linken erstreckte.

Derweil wurde sie immer schläfriger. Langsam aber sicher begannen ihr die Augen zuzufallen.

Sie streckte sich am Boden nieder und bette den Kopf in den Schnee. Die wenigen Geräusche  begannen sich immer deutlicher zu entfernen. Ihr Atem langsam und gleichmäßig, aber die Aussetzer nahmen zu.

Schließlich bahnte sich der Schlaf seinen Weg. Schritte drangen an ihr Ohr, sie schienen von weit her zu kommen und näherten sich. Erst langsam, dann immer schneller, so als ob da jemand durch den Schnee auf sie zu rannte.

Ihr Geist schien sich vom Körper zu trennen. Freiheit, unendliche Freiheit, an nichts irdisches mehr gebunden.

Völlig losgelöst und bereit für das Unbekannte.

Dann vernahm sie plötzlich gar nichts mehr. Langsam glitt sie in den Schlaf, in den Schlaf der nie mehr enden würde. Starre. Die Zeit war zum Stillstand gekommen. Ihr Bewusstsein begann sich aufzulösen. Nun war es  soweit. Sie befand sich an der Schwelle. Würde sie die überschreiten?

Grelles Blitzlicht und dann Dunkel. Wann würde sie das Licht am Ende des Tunnels erkennen?

 

Im gleichen Augenblick schreckte Colette, die sich gerade in ihrem Nachmittagsschlaf befand nach oben. Sie fühlte sich wie von einem Schlag getroffen und wusste sofort was es zu bedeuten hatte.

Elena: Ihr war etwas zugestoßen. Aber was? Ihr war nur bewusst dass es sich um etwas Schlimmes, etwas Entsetzliches handelte.

War der Lebensfaden durchgeschnitten? Das konnte sie im Moment nicht mit Gewissheit sagen. Sie spürte die Gegenwart der kleinen Schwester. Doch im Moment war der Ausgang völlig offen.

 

 

 

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