Licht am Ende des Tunnels

                      

Schöner frischer Morgen, Elena sog die Luft tief in ihre Lungen und fühlte sich befreit und fast wieder glücklich. Nachdem sie in den zurückliegenden Tagen die Gegend ausgiebig erkundet hatte und dabei die Feststellung machte, dass es hier ganz und gar nicht so trist und trostlos aussah wie von ihr lange Zeit befürchtet, setzte sie heute ihr Vorhaben in die Tat um, dem kleinen Dorf in der Nähe, von dem Neidhardt gesprochen hatte, einen Besuch abzustatten.

Erster Kontakt zu Menschen nach monatelanger Isolation im Bunker. Eine echte Herausforderung. Außer Neidhardt hatte sie in der langen, dunklen Zeit keine weitere Person zu Gesicht bekommen. Dies hätte sich durchaus einrichten lassen, denn Neidhardt empfing von Zeit zu Zeit Leute aus diesem Dorf, die ihn mit allem Möglichen versorgten. Doch Elena hatte bewusst darauf verzichtet. Immerhin war sie bekannt wie ein bunter Hund und wollte  Neidhardt nicht unnötigerweise in Verlegenheit bringen.

Würden die Leute sie erkennen? Wenn ja, wie würden sie auf ihre Anwesenheit reagieren? Elena beschloss sich nicht unnötige Gedanken zu machen, sondern alles auf sich zukommen zu lassen.

Da fiel ihr ein, dass sie ohnehin vor geraumer Zeit für tot erklärt wurde und die Medien der neuen Machthaber alles nur Erdenkliche taten um sie vergessen zu machen.

Um nach draußen zu gelangen standen ihr mehrere Ausgänge zur Verfügung. Auch heute hatte sie, wie schon an den Tagen zuvor, einen Notausstieg benutzt, um sich überraschen zu lassen, wo sie dieses Mal an die Oberfläche kam.

Nachdem sie den Deckel geöffnet hatte, befand sie sich in einem Wald wieder, genau gesagt an einem Waldrand, denn es bedurfte nur weniger Schritte bis sie sich auf freiem Feld wieder fand.

Sie nahm die Landschaft, die sich vor ihr ausbreitete, genau in Augenschein, benutzt auch das Fernglas, dass sie bei sich führte, um alles genauer unter die Lupe zu nehmen.

Tiefes Wohlergehen bemächtigte sich ihrer. Ein Gefühl inneren Friedens. Eines Friedens mit sich selbst, aber auch mit der Welt die sie hinter sich gelassen.  Wie schön es hier doch war. Sie konnte sich nicht erklären, warum diese Gegend im Allgemeinen als trostlos und abschreckend bezeichnet wurde.

Eine abwechslungsreiche Landschaft von bunter Vielfalt bot sich ihr dar.

Vor allem Heidelandschaft, Weiden, Wiesen, in weiterer Entfernung auch Getreidefelder. Unterbrochen immer wieder von kleinen und größeren Waldgebieten. Älterer Wald, aber auch Neuaufforstungen, die teilweise noch von Schutzzäunen umgeben waren.

Die Bäume präsentierten sich jetzt, Anfang April noch weitgehend blattlos und gaben somit eine gute Sicht ins Innere der Wälder frei.

Einzelne Insekten, vorzeitig aus dem Winterschlaf erwachte, begann in der Luft zu tanzen.

Eine Lerche stieg vom Boden auf und zwitscherte sich Stück für Stück gen Himmel. Zwei Hasen tummelten sich einige Meter vor Elena unbekümmert, bis sie ihrer ansichtig wurden und zwischen den Bäumen das Weite suchten und aus der Ferne drang der Ruf eines Kuckuck an ihr Ohr.

 

Andere Menschen waren nicht zu sehen.

Elena bewegte sich langsamen Schrittes vorwärts. Es gab keinen Grund zur Eile, sie hatte alle Zeit der Welt.

Gekleidet war sie in jene Kluft, die sie trug, seit sie im Bunker lebte. Schwarze Baumwollleggin, dazu ein ebenso farbiges Kapuzenshirt und weiße Lederturnschuhe. Ihre Haare hatte sie in ein weinrotes Kopftuch gebunden. Jene Haare, die die ganze Welt kannte und die sie sofort verraten hätten. Auf den Schultern einen mittelgroßen Treckingrucksack.

Um sicherer laufen zu können, stützte sie sich auf einen Nordic-Walking-Stab.

Immer wieder legte sie kurze Pausen ein, um ihren Blick über die Landschaft schweifen zu lassen.

Wieder einmal mehr kam ihr zum Bewusstsein, dass sie, die Weltenbummlerin, die schon die halbe Welt bereist hatte, kaum vertraut war mit dem, was sie vor ihrer Haustür fand.

Man muss nicht in die Ferne schweifen, um Frieden mit sich selbst zu finden, in exotische Länder und fremdartige Kulturen. Jener Frieden ließ sich auch in der unmittelbaren Umgebung finden. Diese Landschaft hier schien wie geschaffen dafür ihre verwundete Seele wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Sie war fest davon überzeugt, dass es ihr hier gelingen würde. In der Stille liegt die Kraft, im Schweigen und in der Zurückgezogenheit.

Hier in dieser Abgeschiedenheit glaubte sie jene Elena zu finden, die ihr bisher noch völlig unbekannt war.

Langsamen Schrittes bewegte sie sich vorwärts. Ihr gleichmäßiger Gang, schon fast eine Meditation.

Schließlich erreichte sie eine Betonstraße, die noch aus den Zeiten der militärischen Nutzung des Geländes zu stammen schien und beschloss ihr einfach zu folgen.

Schließlich näherte  sie sich dem Ortseingang.

Der kleine, aus roten Backsteinen bestehende Turm, den sie schon aus der Ferne gesichtet hatte, erwies sich bei genauerer Betrachtung aus Trafohäuschen, für die Stromversorgung, gleich daneben, umgeben von großen , alten Linden, der Friedhof des Dorfes mit dem Namen Vielstedt.

Elena begab sich langsam in den Ort, bog nach rechts die Hauptstraße ein. Kein Mensch zu sehen, auf den ersten Blick wie ausgestorben. Aber so war es nun mal auf dem Lande. Und immerhin war es noch früher Morgen.

Nachdem sie ein paar Meter gelaufen war befand sie sich vor einem großen, aus grauen Natursteinen gebauten Haus mit großer Toreinfahrt.  Eine Hauschlachterei mit Verkauf.

Gleich daneben, ein gepflegter, rustikaler Fachwerkbau, die Dorfschänke es Ortes.

Die schien schon noch geschlossen, klar, wer kehrt schon am frühen Morgen in eine Schänke ein.

Elena wandte ihren Blick zur gegenüberliegenden Straßenseite. Sie schien gefunden, was sie gesucht hatte. Ein kleiner Tante-Emma-Laden. Ein Geschäft, wo es scheinbar alles gab was für den täglichen Bedarf auf einem kleinen Dorf benötigt wurde.

Elena betrat den Laden und konnte sich davon überzeugen. Begrüßt wurde sie von einer netten älteren Dame, von etwa Ende 60.

„Guten Morgen immer herein spaziert in die gute Stube. Womit kann ich dienen?“

Elena fühlte sich, nach der langen Isolation im Bunker etwas überrumpelt und wusste nicht so recht was sie erwidern sollte.

„Ich….äam… ich  brauche einiges. Ich… ahm, muss mich erst mal sammeln. Wo… wo hab ich denn nur den Einkaufszettel versteckt?“

Elena begann nervös in ihrem Rucksack zu kramen.

„Immer mit der Ruhe! Es gibt keinen Grund zur Eile. Sieh dich erst mal in Ruhe um und überlege was du brauchst.“

„Danke! Genau das wird ich tun!“

Der Laden war zwar recht eng, aber doch nicht so klein wie Elena noch von draußen vermutet hatte. Es war Selbstbedienung. Man konnte durch ein etwas lang gezogenes Zimmer durch kleine verwinkelte Gänge laufen. Am Ende wurde an der Kasse an der Ladentheke bezahlt.

Lebensmittel waren hier ebenso zu finden wie Kurzwaren, mechanische Gebrauchswerkzeuge und sogar ein wenig Kleidung.

An der Ladentheke bekam man frische Brötchen, die täglich von einer Bäckerei des Nachbarortes geliefert wurden. Man konnte einen Kaffee trinken und an einem kleinen Tisch in einer Ecke vor Ort genießen. Ferne gab es auch die aktuellen Zeitungen zu kaufen.

Elena fühlte sich auf Anhieb wohl.

„Darf ich dir denn einen Kaffee anbieten?“ Lud die ältere Dame ein.

„Ja ,sehr gern!“

Da erinnerte sich Elena wieder, dass sie heute noch nicht gefrühstückt hatte, etwas das sie üblicherweise gemeinsam mit Neidhardt am Morgen zu tun pflegte. Heute jedoch wollte sie den Morgen so früh wie möglich beginnen und hatte sich den gesamten Vormittag frei genommen.

Elena schritt zu dem Tisch auf dem die Kaffeetasse schon vor sich hin dampfte und nahm Platz.

Die ältere Dame erschien erneut und servierte Elena einen Teller mit frischen Croissants.

„Oh danke, das wäre doch nicht nötig gewesen. Aber da ich noch nicht gefrühstückt habe kommt es mir sehr gelegen.“

„Das dachte ich mir!“ erwiderte die Dame und begab sich zurück zur Ladentheke.

„Du bist neu hier, nicht wahr? Ich habe dich noch nie gesehen.  Sicher auf Besuch, oder?“

Wollte sie nach einer Weile wissen, eine Tatsache, die Elena sichtlich in Verlegenheit brachte.

„Hm, ja! So könnte man es betrachten. Bin vorübergehend hier gelandet, sozusagen“ begann Elena mit vollem Mund zu erklären.

„Na ich will nicht so neugierig sein. Du musst dich nicht so genau erklären. Das braucht niemand der hier in diese Gegend kommt. Die Hauptsache ist, dass es dir hier gefällt und dass du dich wohl fühlst.“ Gab die Dame zu verstehen. 

„Oh ja sehr sogar! Eine schöne Gegend ist das hier, so abgelegen, so still und so friedlich, genau das was ich im Moment gebrauchten kann.“ Stimmte Elena sofort zu.

„Na, das ist doch schon mal was.“ Erhielt sie zur Antwort.

Mein Name ist übriges Erika! Und mit wem habe ich die Ehre?“

„Ich bin… Verena!“ Um ein Haar hätte Elena ihren wirklichen Namen genannt. Verena war eine Art Blitzeinfall. Ihrem eigenen sehr ähnlich und doch ganz anders.

„Ein schöner Name, passt irgendwie zu dir!“

Nachdem Elena ihren Kaffee getrunken hatte, erhob sie sich und ging noch einmal durch die Reihen, dann brachte sie die Artikel, die sie zu erwerben gedachte zur Ladetheke und bezahlte.

Im Anschluss steckte sie alles in ihren Rucksack und hob diesen auf ihre Schultern.

„War schön dich kenne gelernt zu haben. Also ich verabschiede mich mal. Bis demnächst.“

 

Zufrieden verließ Elena den Laden und begab sich weiter in den Ort hinein. Nach wenigen Schritten schon hatte sie den Dorfanger erreicht, dessen Mitte eine Art Pavillon zierte, mit ein paar Bänken, die zum Verweilen einluden. Elena beschloss der stummen Einladung zu folgen und nahm auf einer der Bänke Platz.

Die Sonne hatte sich in der Zwischenzeit weiter am Himmel emporgearbeitet und spendete eine sanfte angenehme Wärme.

Elena lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Sie atmete tief durch und genoss die Ruhe, die sich hier bot. Eine ganze Weile gab sie sich so ihren Gedanken hin, bis ein Traktor, der die Hauptstraße hinunterfuhr, sie aus ihrem Tagtraum holte.

Elenas Blick fiel auf die Kirche direkt gegenüber, auf der anderen Seite der Straße. Deren Glocke schlug einmal, es war genau halb zehn. Sie erhob sich und beschloss das Bauwerk genauer in Augenschein zu nehmen.

Auf ihrem Weg dorthin passierte sie die überdachte Bushaltestelle. Sie warf einen kurzen Blick auf den ausgehängten Fahrplan. Viel Verkehr schien es hier nicht zu geben. Womöglich bot sich zwei bis dreimal am Tag die Möglichkeit den Ort zu verlassen. Elena würde das später noch genauer auskundschaften.

Aber zunächst wollte sie die Kirche besuchen. Dort angekommen, umschritt sie das kleine aber sehr schön hergerichtet Bauwerk einige Male. Ein einfacher sandbrauner Sakralbau mit kurzem Kirchenschiff und einem, mit schwarzem Schiefer beschlagenen Zwiebelturm.

Die Turmspitze war offen, so dass man die Glocke  deutlich sehen konnte. Elena entdeckte dass sich hier offensichtlich ein Turmfalkenpärchen ein Netz gebaut hatte.

Elena schritt zur Tür an der Südseite und betätigte die Klinke. Zu ihrem großen Erstaunen fand sie die Kirche offen und betrat voller Andacht deren Inneres.

Am Türrahmen war ein Zertifikat angebracht, das darauf hinwies, dass das Gebäude erst kürzlich einer gründlichen Renovierung unterzogen wurde.

In der Tat war das Innere sehr geschmackvoll gestaltet. Statt unbequemer altertümlicher Kirchenbänke luden bequeme gepolsterte Stühle zum Platz nehmen ein.

Auf der Stelle fühlte sich Elena heimisch. Unwillkürlich fühlte sie sich an die majestätische Basilika der Abtei erinnert und die vielen Stunden, die sie dort verbracht hatte.

Diese kleine Dorfkirche erreichte nicht einmal annähernd deren Dimensionen, trotzdem strahlte sie Würde und einen Hauch von Ewigkeit aus.

Der gesamte Innenraum war vor kurzen weiß getüncht worden, der Chorraum mit hell lackierter Holzpaneele abgeschlagen. Die ebenso farbige kunstvoll gedrechselte Kanzel erhob sich direkt an der Stirnseite und zog den Blick auf sich sobald man den Raum betrat. Auf dem kleinen Altartisch darunter lag eine aufgeschlagene Bibel, außerdem ein Strauch frischer Schnittblumen. 

Es handelte sich um eine protestantische Kirche. Zur Linken der Kanzel konnte sie ein großes Porträt des Reformators Martin Luther entdecken, dessen Namen die Kirche trug.

Klein aber voller Erhabenheit.

Dich werde ich sicherlich des Öfteren aufsuchen. Sprach Elena zu sich selbst.

Warum nicht eine kurze Meditation halten?  Es gab kaum einen  Ort der sich besser dafür eignete.

Elena schloss die Augen und versuche in sich zu gehen, ihre Innenschau der Seele zu betreiben, wie sie es zu nennen pflegte.

Sie versuchte sich zu konzentrieren und es gelang ihr erstaunlicherweise rasch. Dieser Ort schien tatsächlich außerordentlich positiv auf ihre Seele zu wirken.

Sie ließ die letzten Wochen und Monate noch einmal Revue passieren. Sie war eingetaucht in ein neues Leben. Ein Leben, ohne konkretes Ziel, dessen Ausgang völlig offen war. Einfach in den Tag leben. Jeden Tag neu planen und mit Sinnvollem ausfüllen.

Zum ersten Mal im Leben schien sie ihrer Persönlichkeit beraubt, da sie ganz offiziell gar nicht mehr existierte. Als Krönung hatte sie sich ganz nebenbei soeben einen neuen Namen gegeben. Den würde sie in Zukunft zu ihrem eigenen machen.

Kein Rampenlicht mehr, keine Paparazzi, die ihr auf Schritt und Tritt auflauerten. Keine Menschenmenge, die sich um sie scharte und wie gebannt an ihren Lippen hing, wo auch immer sie auftauchte.

Keine Kabinettsitzung, keine Schwesternschaft, keine Reden mehr vor tausenden von Menschen. Keine Titelseiten mit ihrem Konterfei. Sie war ein anderer Mensch, obgleich sie sich nicht verändert hatte.

Eine Nichtexistenz die ins Leben strebte. Ganz neu, ganz einfach, schlicht und authentisch nur sie selbst.

Ein Neuanfang ohne Wenn und Aber. Doch konnte sie in einer solchen Existenz wirklich glücklich werden, sie die doch stets das pralle Leben genossen hatte, ganz gleich auf welche Art auch immer?

Sie hatte Madleen verloren, dafür aber Neidhardt wieder gefunden. Ein guter Tausch?

Sollte sie nicht besser wieder in ihre alte Existenz zurückkehren und um Madleen kämpfen?

Fragen über Fragen, deren Antworten irgendwo im Dunkel der Zukunft verborgen schienen.

Elena öffnete die Augen und atmete tief durch. Es brachte nichts, ständig nur mit Grübeleien beschäftigt zu sein. Es war einfach ein zu schöner Tag um sich Gedanken zu machen. Sie beschloss nicht weiter darüber nachzudenken.

Sie erhob sich von ihrem Platz und schritt einige Male durch das kleine Kirchenschiff.

Danach trat sie durch die Pforte wieder nach draußen.

Elena hatte noch ein wenig Zeit und beschloss den Ort noch ein wenig mehr zu erkunden, bevor sie sich auf den Rückweg machte.

Sie folgte der Hauptstraße weiter, vorbei an schönen Häusern mit teils großen und gepflegten Gärten. Sie passierte einen weiteren kleinen Platz in dessen Zentrum eine große, alte Eiche in den Himmel ragte. In deren Schatten ein wuchtiger Gedenkstein für die Gefallenen des 1. Weltkrieges.*

Nach einer Weile befand sie sich vor einer Kfz-Werkstatt wieder. Ihr Blick fiel kurz in den Hof. Sie wollte schon weitergehen, als sie plötzlich wie vom Blitz getroffen schien.

Dort, in einer Ecke parkte ihr Auto. Große Verwunderung bemächtigte sich ihrer. Wie in aller Welt kam das hierher? Erst in diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie sich ja mit dem Auto in diese Gegend begeben hatte. Sie hatte überhaupt keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Sie war mit der Absicht gekommen zu sterben, was aus ihrem Auto wurde, war ihr verständlicherweise  egal. Auch danach hatte sie erst einmal mit sich zu tun.

Aber möglicherweise würde sie es hier gut gebrauchen können. Die nähere Umgebung konnte Elena natürlich zu Fuß erreichen, doch um in weiter entfernte Gebiete vorzudringen, bot sich ein fahrbarer Untersatz an.

Sie betrat den Hof und ging schnurstracks auf ihr Fahrzeug zu, betrachtet es von allen Seiten, es schien keine Schäden aufzuweisen.

Sie sprach den erstbesten Mitarbeiter an der zufällig des Wegs kam.

„Na das trifft sich gut. Wir warten schon seit einiger Zeit darauf dass sich der Besitzer meldet.

Wir erhielten im Winter, das muss so kurz vor Weihnachten gewesen sein, den Hinweis dieses Fahrzeug abzuschleppen und hier herzubringen. Wir haben eine gründliche Durchsicht gemacht und keine Schäden festgestellt. Von Zeit zu Zeit starten wir es und bewegen es ein wenig. Es funktioniert gut. Wenn es ihnen gehört könnten sie es gleich mitnehmen, wenn sie wollen.“ Erklärte der Mitarbeiter der Werkstatt den Sachverhalt.

„ Ja, es gehört mir tatsächlich!“ antwortetet Elena. „Was ist mit der Rechnung? Wie viel hat  die Wartung gekostet?“

„Oh, die Rechnung ist schon beglichen. Alles in Ordnung!“

Elena nahm diese Antwort mit Verwunderung zur Kenntnis.

„Hm, ich muss mir erst einen geeigneten Stellplatz suchen. Kann ich es noch eine Weile hier lassen, bis ich etwas  gefunden habe?“

„Ja sicher! So lange sie wollen. Wie gesagt, alles im Voraus beglichen!“ Danach entfernte sich der Mitarbeiter und bewegte sich eiligen Schrittes der Werkstatt entgegen.

Elena verweilte noch einen Moment, fuhr mit der Handfläche der rechten Hand kurz über den glatt polierten metallicfarbenen Lack.

Dann verließ sie den Hof. Kurz entschlossen bog sie in die andere Richtung. Sie würde für den Rückweg einige Zeit benötigen und wollte um die Mittagszeit wieder im Bunker sein. 

Sie kam an der Dorfschänke vorbei und beschloss kurzerhand auch dieser einen  Besuch abzustatten

Ein freundliches und gepflegtes Ambiente erwartete sie dort. Der Gastraum war im rustikalen Stil einer Bauernstube eingerichtet.

Der Wirt begrüßte sie ebenso freundlich wie die anderen Menschen, denen sie im Laufe des Vormittags begegnet war.

„Könnte ich bitte ein Glas Limonade bekommen?“ Fragte Elena, nachdem sie sich auf einen der Hocker niedergelassen hatte die an der Theke standen.

„Aber selbstverständlich doch.“ Schon im nächsten Augenblick wurde ihr Wunsch erfüllt.

Elena nahm einen großen Schluck. Im Anschluss blickte sie sich im Raum genauer um.

An den mit hellem Holz vertäfelten Wänden waren zahlreiche Szenen aus dem Bauernleben der Vergangenheit abgebildet. Auch Darstellungen der Jagd waren auf einigen verewigt.

Wie gut, dass sie keine Veganerin mehr war, sonst hätte sie aufs heftigste dagegen protestieren müssen. Auch ein paar Geweihe waren weiter oben zu entdecken, die einmal die Häupter kapitaler Hirsche zierten.

„Du bist neu hier? Ich habe dich jedenfalls noch nie gesehen?“ Wollte der Wirt auf einmal wissen. Schon die dritte Person die ihr diese Frage stellte.

„Stimmt! Bin für längere Zeit auf Besuch hier in der Nähe und wollte euer Dorf mal genauer auskundschaften.“ Gab Elena in ihrer gewohnt lässigen Art zur Antwort.

„Ja, dann nur zu. Also mit besonderen Sehenswürdigkeiten können wir hier nicht aufwarten. Aber unsere Natur kann sich schon mal sehen lassen.“ Glaubte der Wirt sich rechtfertigen zu müssen.

„Richtig! Davon konnte ich mich bereits überzeugen. Ich werde hier sehr viel wandern!“

Gab Elena zu verstehen.

„Du sagst, du seiest zu Besuch hier? Bist du also schon untergekommen? Wenn nicht können wir dir auch mit Zimmern aushelfen. Im zweiten Stock befinden sich einige Gästezimmer.“

Bot der Wirt spontan an.

„Vielen Dank für das Angebot, aber ich bin gut versorgt.“

Elena nippte wieder an ihrer Limonade.

„Du sagst, ihr hättet keine Sehenswürdigkeiten zu bieten? Aber was ist denn mit dem alten militärischen Sperrgebiet und der Bunkeranlage?“

„Hmm… eine heikle Frage. Sperrgebiet ist Sperrgebiet! Wir haben offiziell keinen Zutritt. Aber im Vertrauen gesagt, die Einheimischen halten sich nicht besonders daran, nachdem wir in Erfahrung brachten, dass es mit den Mienen nicht so ist wie es zu sein scheint.“ Letztgesagtes sprach er mit Flüsterstimme.

„Die Öffentlichkeit braucht davon nichts zu wissen. Das Dorf hält zusammen. Somit haben wir das große Gebiet ganz für uns allein.“

„Aber mich hast du gerade eingeweiht, obwohl ich doch auch nur eine Fremde bin.“

Wollte Elena wissen.

„Jedem würde ich es auch nicht auf die Nase binden. Bei dir ist es etwas anderes.“

„Wirklich? Aber warum denn?“

„Weil du vertrauenswürdig wirkst: Das habe ich schon erkannt als du zur Tür herein kamst. Da mache ich mir keine Gedanken!“

Elena vernahm diese Antwort mit tiefem Erstaunen. Hatte er sie erkannt? Damit musste sie immer rechnen. Schließlich lebten sie nicht mehr im Mittelalter, wo es von prominenten Personen nur schlecht gezeichnete Gemälde gab.

„Ich weiß zwar nicht, wie ich zu dieser Ehre komme, aber danke für das Vertrauen.“

„Gern geschehen!“

Der Wirt entfernte sich kurz und hantierte in einem Nebenzimmer herum. Elena genoss schweigend weiter ihre Limonade.

Sollte sie ihm weitere Fragen stellen, womöglich auch was Neidhardts Aufenthalt betraf?

Wer im Dorf wusste um dessen Präsens im Bunker?

„Sag mal ist der Bunker eigentlich bewohnt?“

Elenas Frage schien den Wirt nicht zu beunruhigen, nachdem er wieder an der Theke erschienen war.

„Nein, nicht das ich wüsste.  Zumindest nicht offiziell. Aber man weiß ja nie. Eine große Anlage, mit allem ausgestattet. Ist schon möglich, dass sich dort von Zeit zu Zeit Leute aufhalten. Das müssten aber dann Menschen sein, die genau mit seinen Geheimnissen vertraut sind.“

„Interessant! Sehr interessant!“ Erwiderte Elena.

„Solltest du vorhaben die Anlage zu erkunden, kann ich nur zur äußersten Vorsicht raten. Es kann gefährlich werden, dort allein einzudringen.“

„Danke für den Rat! Ich werde ihn mit Sicherheit beherzigen.“ Antwortete Elena, dann holte sie ihre Geldbörse hervor, um zu bezahlen.

„Darf ich mich mal kurz im Haus umsehen bevor ich mich wieder auf den Weg mache?“

„Ja gerne! Sieh dich in aller Ruhe um. Auch bevor ich es vergesse. An diesem Wochenende findet unser diesjähriges Frühlingsfest statt, wenn du Lust hast, kannst du gerne kommen. Wir beginnen Freitagabend mit einer Tanzparty oben im Saal. Samstagvormittag Bauernmarkt auf dem Anger, Nachmittag Kinderfest und Kaffeetafel. Am Abend ein Vortrag, ebenfalls im Saal. Später dann, so gegen Mitternacht ein großes Feuer auf dem Platz südlich des Dorfes.

Sonntag musikalisch Andacht in der Kirche, danach ein kleiner Umzug durch das Dorf. Schlussendlich noch mal ne Kaffeetafel aus Ausklang.“

„Danke für die Einladung! Hmm. Ja, ich denke ich werde mal vorbeischauen, wenn sich`s einrichten lässt. Auch ich bin übrigens Verena!“ Bedanket sich Elena.

„Ich bin Jürgen! Also, würde mich freuen wenn du kommst.“

Es gab außer dem Gastraum auch noch zwei kleinere Vereinszimmer gleich nebenan, sowie den großen Saal für größere Veranstaltungen ein Stockwerk darüber, von dem der Wirt eben gesprochen hatte.

Elena nahm sich die Zeit alles in Ruhe zu besichtigen. Alles war sehr geschmackvoll eingerichtet. Das Vereinswesen schien in diesen Ort sehr ausgeprägt zu sein. So etwas konnte nur von Vorteil sein.

 

Mit gemischten Gefühlen verlies Elena die Schänke und machte sich auf den Rückweg.

Neidhardt würde sicher schon warten. Er machte sich stets Gedanken, wenn sie länger wegblieb. Hatte er Angst um sie? Glaubte er, dass sie sich erneut etwas antun könnte?

Doch Elena hatte es nicht eilig, sie ging gemächlichen Schrittes bis sie das Dorf hinter sich gelassen hatte und sich in der Weite der Prärie wieder fand.

In bestimmten Abständen drehte sie sich um, um festzustellen, dass ihr niemand folgte. Fühlte sie sich verfolgt? Warum? Welchen Grund konnte es dafür geben? Ein friedliches Dorf mit freundlichen Bewohnern. Trotzdem kamen sie ihr in irgendeiner Form merkwürdig vor.

Darüber wollte sie gleich mit Neidhardt sprechen, sobald sie zurück war.

Vor allem die Sache mit ihrem Auto und dessen merkwürdige Auffindung, ließ sie stutzen.

Vorher aber genoss sie die Weite der Landschaft, die sie umgab, die Sonne und die frische Luft. Mehrmals legte sie eine Rast ein, um in sich zu gehen oder einfach nur zu verweilen, um die Mystik des Augenblickes einzufangen.

Sie fand keine Erklärung dafür, aber sie fühlte sich angekommen, irgendwie daheim und das obwohl sie in dieser Gegend eine Fremde war.

Eine Reihe von Bussarden kreiste hoch am Himmel. Einer bewegte sich etwas abseits von den anderen und hielt langsam auf sie zu, bis er in unmittelbarer Umgebung über ihr seine Schwingen in der Luft gleiten ließ. Ein Bild das ihr vertraut war aus der Zeit der unbeschwerten Tage in der Abtei. Der Bussard, der immer in ihrer Nähe auftauchte und die Anwesenheit Anarchaphilias signalisierte.

Wo war die mysteriöse Wesenheit, die ihr in ihrem Leben schon so oft über den Weg gelaufen war. Lange schon hatte sie sich nicht mehr blicken lassen. Seit ihrer Ankunft im Bunker waren nun schon fast vier Monate vergangen und die Göttin, oder was immer sie auch sein mochte, ließ sich nicht sehen. Oder doch? War sie ihr erschienen, ohne dass Elena dies bemerkt hatte?

Das war durchaus möglich.

Elena fühlte sich nach wie vor im Stich gelassen, kam sich wie ein verwaistes Kind vor.

Vor allem in der dunklen Zeit im Bunker hätte sie ihrer Fürsorge dringend bedurft.

Doch andererseits hatte sie es vermocht auch ohne deren Hilfe die schwere Zeit zu überstehen und war ganz allein mit den lebensgefährlichen Depressionen fertig geworden.

Wenn man mal von Neidhardts Hilfestellung absah. Elena konnte mit Stolz auf diese Tatsache  blicken.

Nun war sie so gut wie genesen, wenn man mal von gelegentlichen depressiven Phasen absah, die sich von Zeit zu Zeit meldeten, vor allem immer dann, wenn sie von Madleen träumte, oder Tessa, die ihr so unendlich fehlten, von Colette und all den anderen.

Elena versuchte der Sinnlosigkeit einen Sinn zu geben. All das was ihr widerfahren war schien so sinnlos und bar jeglicher Logik. Sie saß hier in dieser Wildnis, fern ab der pulsierenden Zivilisation und war gezwungen ihrem Leben eine Daseinsberechtigung zu geben.

Sie war eine Frau die auf ein langes Leben zurückblicken konnte. Sie war die wiedererstandene Aradia. Welcher gewöhnliche Mensch konnte schon eine solche Präexistenz aufweisen?

Doch was hatte sie davon? Was nützte ihr diese Erkenntnis in dem Leben, das nun vor ihr lag?

Mit wem würde sie darüber sprechen können?  Selbst Neidhardt konnte ihr da nur schwer folgen. Diese Einsicht wog schwer auf ihrem Gemüt.

„Schluss mit der Grübelei!“

Elena schlug mit den Handflächen auf ihre Knie und erhob sich von der Holzbank, auf der sie sich niedergelassen hatte. Diese befand sich direkt vor einer umzäunten Schonung des Biosphärenreservates, dass sie passieren musste, wenn sie zum Bunker wollte.

Sie setzte ihren Weg fort, hatte noch ungefähr 20 min zu bewältigen.

Sie durchquerte wieder die Heidelandschaft und steuerte auf einen unscheinbaren Betonsockel zu, der hier kaum sichtbar etwa 30 cm aus dem Boden ragte.

Für eine nicht eingeweihte Person nichts weiter als ein gegossenes Fundament das noch seiner Bestimmung harrte.

Elena jedoch wusste, was sich darunter verbarg. Einer von etwa einem Dutzend Einstiege in den Bunker.

Sie griff nach ihrem Fernglas und durchforstete noch einmal die Umgebung, um sicher zu gehen, dass sie keinen Beobachter hatte. Dann öffnete sie die Luke und stieg ein.

Die Stufen einer Stahlleiter etwa 10 m in die Tiefe.

Dort wartet ein langer Stollen auf sie, denn sie durchschreiten musste, um in den bewohnten Teil der riesigen Anlage zu gelangen. Ein Labyrinth, ein zusätzlicher Schutz vor ungebetenen Besuchern.  Elena brauchte lange um sich alles einzuprägen, doch inzwischen, nach einigen Monaten, beherrschte sie alles aus dem FF.

 

„So da bin ich wieder!“ Begrüßte Elena Neidhardt, als sie diesen in der Küche traf.

„Es ist zwar schon spät, aber ich koche uns noch eine Kleinigkeit zum Mittag.“

„Ja, wenn du meinst, dann mach das. Aber extra wegen mir brauchst du dir keine Umstände zu machen.“

Erwiderte Neidhardt. Sie hatte sich schon vor einiger Zeit darauf geeinigt, dass jeder sein eigenes Leben führte und selbständig über die Zeit bestimmen konnte. Sie frühstückten gemeinsam, wenn es sich einrichten ließ, kamen dann am Abend wieder zusammen. Mittag gab es nur selten etwas Gemeinsames.

„Kein Problem. Mir ist heute danach. Wir waren beim Frühstück nicht zusammen, also dann eben beim Mittag.“ Antwortete Elena während sie dabei waren die Utensilien die sie mitgebracht hatte aus ihrem Rucksack zu nehmen und in den Schränken zu verstauen.

„Und? Wie war es im Vielstedt? Hat dir die Atmosphäre gefallen?“ Wollte Neidhardt wissen.

„Oh ja sehr sogar! Sehr angenehme Leute. Freundlich, wenn auch in manchen Dingen etwas eigenartig. Ich denke, ich werde dort öfters hingehen. Den Einkauf kann ich voll übernehmen. Ach ja. Ich heiße ab jetzt übriges Verena. Mit diesem Namen  habe ich mich vorgestellt.“

„Verena! Klingt gut! Fast so wie Elena. Ein schöner Name.“

„Findest du?“

„Ja auf jeden Fall.  Ich denke er passt irgendwie zu dir.“

Elena begann das Gemüse vorzubereiten. Es sollte einen Salat geben aus Gemüsepaprika, grünem Salat, Tomaten. Erbsen, Mais, Oliven, Champignons gemischt mit Schafskäse.

„Du musst nicht hier warten. Ich kann dich auch rufen, wenn das Essen fertig ist.“ Bot Elena an.

„Ok bis später!“ Neidhardt verabschiedete sich zurück in sein Arbeitszimmer.

Einige Zeit später ließen sich beide zu Tisch nieder. Zum Salat reichte Elena frische Brötchen.

„Sag mal Elena, du sprachst davon, dass dir die Leute ein wenig eigenartig vorkamen. Wie darf ich das verstehen.“

„ Gut dass du mich daran erinnerst. Ich habe da einige Fragen an dich. Da will mir so manches nicht in den Kopf.“

„Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel die Sache mit meinem Auto. Ich habe es ganz zufällig in der Kfz-Werkstatt gefunden. Ein Mitarbeiter sagte mir. Man habe es gefunden und dorthin bringen lassen. Es wurde runderneuert und steht abholbereit dort. Die Rechnung sei beglichen. Gehe ich recht in der Annahme, dass du dahinter steckst?“

„Sicher! Ich habe es veranlasst!“

„Ich kann mich nicht daran erinnern mit dir darüber gesprochen zu haben, dass ich mein Fahrzeug da draußen stehen habe. Ich hatte das schlicht und einfach vergessen. War ja auch lange mit anderen Dingen beschäftigt.“ Rief Elena in die Erinnerung zurück.

„Nun, ich wusste es einfach. Man teilte es mir mit. Ich habe dann alles veranlasst. Wieso?

War das etwa falsch?“

„Nein, nein, natürlich nicht! Im Gegenteil. Ich kann das Auto gut gebrauchen, wenn ich die etwas ferner liegende Umgebung auskundschaften will:“ Wehrte Elena ab.

„Das dachte ich mir.“

„Weißt du was ich denke Neidhardt?“

„Nein, aber du wirst es mir sicher gleich sagen.“

„Ich denke, dass deine Stellung hier bei den Leuten im Dorf deutlich über dem Maß liegt, dass du selbst zuzugeben bereit bist.“

„Inwiefern?“

„Nun, da kommen nicht einfach ein paar Leute, die dir von Zeit zu Zeit helfen und  dich mit Lebensmitteln versorgen.

Nein, das ganze Dorf weiß, dass du hier lebst und ist bereit dich zu unterstützen, ja viel mehr noch. Sie akzeptieren dich als ihren Anführer, wenn auch einem der im Verborgenen wirkt, sozusagen aus dem Dunkel heraus und weitgehend die Öffentlichkeit meidet, aus gutem Grund, wie wir beide wissen.“

„Meiner schlauen Elena kann man eben gar nichts verheimlichen. Gut, es ist so wie du es sagst. Wie soll ich es erklären? Ich will es versuchen. Die meisten hier, etwa 80% der Einwohner gehörten früher meiner politischen Partei an. Das tun sie noch heute, wenn auch diese Partei in diesem Ort inzwischen einen anderen Namen trägt, zur Tarnung und natürlich um sich an die neuen Bedingungen anzupassen.

Wir leben quasi auf einer Insel. Organisation und Verwaltung klappen wie am Schnürchen. Jeder und jede hat ihren Platz und bestimmte Aufgaben. Ich brauche gar nicht persönlich einzugreifen. Solidarität und gegenseitige Hilfe bestimmen das Handeln. Kommt dir sicherlich bekannt vor? Habe ich Recht?“

„Ja aber natürlich. Also ich fass es nicht. Da bin ich platt, würde Madleen jetzt sagen:“ Beim aussprechen dieses Namens stach es Elena gewaltig in der Herzgegend, doch schnell hatte sie die Fassung wiedererlangt.

„Du willst damit andeuten, dass ihr in Prinzip in diesem kleinen 300 Seelen Dorf das praktiziert, was wir zu errichten gedachten, die Akratie, verbunden mit der Natürlichen Autorität?“

„Nun wenn du es so nennen willst ja, auch wenn wir den Begriff nie verwendeten.“ Gab Neidhardt zur Antwort, so als sei es das selbstverständlichste auf der Welt.

„Also das haut mich wirklich um. Da sitzen wir jahrelang nebeneinander, sind uns feindlich gesinnt, bekämpfen uns bis aufs Messer, tun einander weh, nur um am Ende festzustellen, dass wir im Grunde stets das Gleiche wollten. Das ist doch Wahnsinn, oder?“

„Da kann ich dir nur beipflichten. Aber du musst bedenken, dass ich erst nach meiner Entmachtung damit begann, mich mit deinen, pardon, euren Ideen auseinanderzusetzen. Schon kurz nachdem ich damit begann, reifte in mir die Erkenntnis, dass das der richtige Weg sei. Ich kann euch nach wie vor nicht in allen zustimmen. Mit der Anarchie bzw. der Akratie, wie ihr es zu nennen pflegt, habe ich bis heute meinen Schwierigkeiten. Die natürliche Autorität hingegen, spricht mich sehr an. Wenn du es so willst, haben wir sie hier in die Tat umgesetzt und sie funktioniert, seit geraumer Zeit schon.“

„Die natürliche Autorität war gar nicht unsere ursprüngliche Absicht. Wir wollten die Akratie, doch schon bald gerieten wir damit an unsere Grenzen. Die natürliche Autorität entwickelte sich einfach spontan, eher beiläufig und sollte sich als gangbarer Weg erweisen. Doch als wir das erkannten war es schon zu spät. Wir haben uns zu sehr verzettelt und zudem abgeschirmt.

Wir lebten in der Abtei wie auf einer Wolke und erkannten die Nöte der Menschen nicht.

Ich war zudem mit der Regierungsarbeit ausgelastet. Nur Colette hatte zum Schluss noch den Durchblick, doch die ist nicht gesund und somit gehandicapt.“

„Nachdem ich hier ankam und erkannte, dass mich die Menschen als Autorität akzeptieren, konnte ich mich bald schon zurücknehmen. Ich treffe Entscheidungen, aber für die Umsetzung sorgen die Dorfbewohner und das in Eigenregie. Gibt es Konflikte werde ich des Öfteren noch zu Rate gezogen, aber selbst das läuft inzwischen in Eigendynamik. Ich bin da, ich stehe zur Verfügung, wenn man meinen Rat benötigt, doch ich dränge mich nicht auf, das wissen die Menschen zu würdigen, deshalb helfen sie mir gern. Sie wissen, dass von mir kein Druck zu erwarten ist. Warum auch?

„Es ist kaum zu glauben, der Diktator von einst als Verwirklicher von Akratie und Natürlicher Autorität. Das kann ich noch immer nicht ganz fassen.“ Elena wähnte sich fortwährend in einem Traum

„Ihr habt den Begriff von der Anarchistischen Monarchie geprägt. Sehr geistreich muss ich sagen. Viele sehen darin einen Widerspruch in sich selbst. Aber er scheint alles in würdiger Art zusammen zu fassen.  Eine Königin an der Spitze eines Gemeinwesens, dass sich in föderalistischer Manier selbst regiert.“

„Ja, aber letztendlich sorgte gerade dieser Begriff für einen Bruch in unserer Gemeinschaft.

Die radikalen Anhänger der Akratie konnten und wollten ihn nicht mittragen und liefen Sturm dagegen. Auch das führte letztendlich zu unserem Zusammenbruch. Aber die Tatsache, dass hier ein Stück davon lebendig ist, erfüllt mich zutiefst mit Freude.“

„Ich will nur hoffen dass es noch eine Weile so bleibt!“

"Was willst du damit sagen?" Erschrak Elena.

"Nun, wie du ja leidlich erfahren konntest, haben wir seit einigen Monaten andere Herrschaftsverhältnisse. Darauf müssen wir uns einstellen.

Zu Zeiten deiner, pardon, eurer Regierung, blieben wir völlig unbehelligt. Es kamen einmal zwei Agitatoren, die mit uns über die Akratie sprechen wollten. Nachdem denen bewusst wurde, das wir alles was sie uns lehren wollten bereits praktizierten, verschwanden sie wieder.

Das war schon alles. Wir konnten unseren Weg weiter fortsetzen ohne etwas von außen befürchten zu müssen.

Wie es sich unter Cassians Herrschaft entwickeln wird, kann niemand voraussagen. Bisher blieb es erstaunlicherweise ruhig. Möglicherweise liegt das am Sperrgebiet und der Angst vor Minen und atomarer Verseuchung. Im Bunker werden wir auch noch ne ganze Weile sicher sein. Aber das Dorf könnte in Mitleidenschaft gezogen werden."

"Also ist es doch keine Insel der Glückseligen."

"Nein, mit Sicherheit nicht. Wir müssen Vorkehrungen treffen. Aber wie? Darüber zerbreche ich mir andauernd den Kopf. Ich fühle mich den Dorfbewohnern gegenüber in der Pflicht."

"Nun denn! Dann werden wir uns demnächst gemeinsam unsere Köpfe zerbrechen. Wie du richtig bemerkt hast habe auch Gefallen an allem hier gefunden und werde mich ebenso dafür einsetzen.

Puuh, das war schon viel. Eine Menge an Informationen, die erst mal verarbeitet werden will. Ich tue das am besten wieder draußen. Ganz in Ruhe alles durchdenken." Gab Elena zu verstehen.

"Du meinst, darüber meditieren."

"Ja, kein schlechter Weg, sich in eine Situation einzuüben."

Elena erhob sich und Neidhardt tat es ihr gleich. Es war Zeit für sein Mittagschläfchen. Elena wusch das Geschirr ab, gleich danach verschwand sie in Richtung Erdoberfläche.

Hinaus in die Natur, so ihr Bestreben, seit sich das Wetter Ende März deutlich gebessert hatte.

Sie hatte unter der Dunkelheit und dem eingesperrt sein gelitten wie ein Hund. Aus diesem Grund hatte sie Nachholbedarf und verbrachte so viel Zeit wie nur möglich im Freien.

Ihr Weg führte sie erneut in die Heidelandschaft und den einzelnen Kirschbäumen, die sich hier in kleinen Gruppen verteilten.

Im Schatten eines besonders großen Exemplars breitete sie eine Decke aus, lies sich nieder und gab sich ihren Gedanken hin.

Was sollte sie von all dem halten? Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit, dass es ausgerechnet Neidhardt geschafft haben sollte, in einem Ort so etwas wie die perfekte Ordnung zu installieren. Während es ihr und der Schwesternschaft auch unter Aufbringung noch so großer Anstrengung nicht gelungen war. Was hatten sie nicht alles für Diskussionen geführt, am Ende war alles vergebens. Nun thronte Cassian wie ein Kaiser über den Trümmern von Akratasien und sie selbst war vergessen und mit ihr der Traum der  Freiheit.

Sie lehnte sich an dem Baumstumpf und schloss die Augen.

„Vergessen! Ich muss vergessen!“ Sprach sie immer wieder zu sich selbst.

Bald darauf versank sie in einen leichten Schlummer.

Nach einer gewissen Zeit erwachte sie wieder. Sie fühlte sich ausgeruht und mit neuen Kräften erfüllt.

Elena beschloss sofort zurückzugehen, tausende von Fragen harrten einer Antwort.

Sie fand Neidhardt in seinem Arbeitszimmer, auf seinem Sessel sitzend, dabei ein dickes Buch studierend.

Sie nahm zu seinen Füßen Platz und bettete ihren Kopf auf seine Knie.

„Oh, Elenas anrührende Geste!“ Sprach Neidhardt und legte das Buch beiseite.

„Da muss wohl etwas ganz Besonders dahinter stecken.“

Neidhardt begann ihr durch die kupferrote Lockenmähne zu streicheln.

„Ganz gewiss! Ich finde keine Antworten auf meine Fragen. Nur du kannst sie beantworten.“

„Nun, ich will es versuchen. Kommt darauf an was du wissen willst. Aber ich kann mir denken um was es geht. Du willst wissen, wie ich das alles erreichen konnte, mit den Dorfbewohner und so. Habe ich recht?“

„Du hast!“ Elena erhob sich und nahm auf dem Sessel direkt daneben Platz.

„Ich beginne einfach noch mal von vorn. Die Tatsache, dass wir uns so lange befehdeten, war purer Irrsinn. Was hätten wir uns nicht alles ersparen können. Womöglich hätten wir zusammenarbeiten können und der Lauf der Geschichte wäre deutlich anders verlaufen. Jetzt ist es zu spät. Wir sitzen hier, wir, zwei entmachtete Staatsoberhäupter, vereint in ihrem Schicksal und blicken beide auf den Scherbenhaufen den wir hinterlassen.“

„Gut gesprochen Elena. Das trifft genau den Kern der Sache. Das Schicksal hat uns hier zusammengeführt, damit wir gemeinsam unsere Wunden lecken. Unser Leben unter die Lupe nehmen und recherchieren wo es hapert. Ich tue das allein schon seit vielen Monaten und das Resultat konntest du heute erleben.“

„ Aber die Zeiten haben sich gewandelt, Neidhardt. Wir sind schon lange keine Feinde mehr, im Gegenteil. Nacheinander wurden wir unserer Funktionen, Ämter, Aufgaben, ja wenn du willst unseres ganzen Lebensinhaltes beraubt. Wir sitzen in einem Boot und sehen uns einem mächtigen Gegner gegenüber.

Wir stehen da mit leeren Händen, ohnmächtig der absoluten Macht ausgesetzt. Doch zarte Blüten sind im reifen.  Können wir etwas tun? Wie weit reicht unser Einfluss noch? Beide können  wir auf eine beachtliche  Zahl von Anhängern blicken. Gelingt es uns sie aufzuspüren, zu vereinen um gemeinsam Cassians Diktatur auszuhebeln?“

„Keine leichte Frage. Natürlich hast du recht mit deiner Einschätzung. Unsere Anhängerschaft ist enorm, wenn sie auch nicht die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert. Es gibt viele Gemeinsamkeiten, aber die Unterschiede darfst du auch nicht unter den Tisch kehren. Wir haben uns bekämpft, wie du richtig bemerktest. Da passierten viele unschöne Dinge, die noch lange nicht vergessen sind. Es bedarf einer gründlichen Analyse und zwar auf beiden Seiten.

Wir zwei verstehen uns, daran besteht kein Zweifel, aber unsere Parteigänger?“

„Du vergisst die Regierung, derer ich vorstand. Die wurde von deinen und meinen Leuten gebildet. Schon damals sind beide weit über ihren Schatten gesprungen, haben jede Menge alte Zöpfe abgeschnitten. Am Ende siegte die Einsicht in die Notwendigkeit. Es galt sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen, um Schaden abzuwenden.“

Widersprach Elena energisch.

„Aber es gab von Anfang an Opposition auf beiden Seiten. Mein Einfluss auf diese Regierung war gleich null. Die radikalen Kräfte beider Seiten wurden militanter. Schließlich stärkte das den Einfluss der Rechten, die stets und ständig auf die Schwachstellen hinwiesen und sie sich zu Nutze machten. Glaube mir, ich lebe hier nicht auf dem Mond. Ich habe alles genauestens beobachtet und analysiert.“

„Das ist mir schon bewusst. Aber wie du eben selber sagtest. Es sind völlig andere Verhältnisse.  Da müssen alle Zwistigkeiten vorerst zurückstecken und deren Klärung auf später verschoben.“ Schlug Elena vor.

„Das wäre logisch. Zumindest für uns beide. Wir wissen worauf es ankommt. Aber wissen dass all die Typen in unseren Reihen. Handeln die logisch? Ich würde doch eher das Gegenteil behaupten. Da spielen schon die Emotionen eine beachtliche Rolle.“

„Worauf willst du hinaus?“

„Sieh die Sache doch mal ganz pragmatisch Elena. Nehmen wir mal deine Rivalin Dagmar. Glaubst du die hat ein Interesse daran, dass du zurückkommst? Deinen alten Platz wieder einnimmst, während sie schon artig in die zweite Reihe zurücktritt? Ich glaube kaum, dass du so naiv bist. Die sieht sich doch schon lange als die zweite Elena, nein, als die bessere Elena. Während du dich in deinen Depressionen verfingst und immer tiefer sacktest, trat sie in den Untergrund und baute dort den militanten Flügel der Schwesternschaft weiter aus. Die wird Cassian mächtig zu schaffen machen, mit allen Konsequenzen. Ihr Prinzip: Alles oder nichts!

Geht sie dabei drauf, wird sie zur Märtyrerin. Trägt sie hingegen den Sieg davon, hat sie dich endgültig entthront. Sie hat dich längst zur Seite gedrängt, so wie es Dagobert vorzeiten mit mir tat.“

Elena senkte den Kopf. Sie musste sich geschlagen geben. Neidhardts Worte stellten eine klare, kaum zu widerlegende Analyse dar. Frust bemächtigte sich ihrer.

„Du bist wirklich gut informiert, über die Verhältnisse in diesem Land und bei den Töchtern der Freiheit. Ja, du magst richtig liegen. Auf diese Weise habe ich dass alles noch gar nicht betrachtet. Hoffnungslos? Ist es wirklich so hoffnungslos?“

Bitterkeit sprach aus ihren Worten.

„Ich weiß es nicht! Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt man. Wir können weiter hoffen. Auf ein Wunder? Nun, in solchen Dingen kennst du dich besser aus als ich.“

Elena erhob sich und ging langsamen Schrittes durch den Raum, immer wieder tiefe Seufzer von sich gebend, so als ringe sie  nach Luft.

„Aber es kann doch nicht einfach alles zu Ende sein. Alles für das wir jahrelang gekämpft haben, einfach so dahin? Ich kann und will mich nicht damit abfinden!“

„Das ist dein gutes Recht! Die Hoffnung gibt dir Kraft durchzuhalten und auf ein Wunder zu hoffen. Du bist noch jung. Klar, dann fällt es nicht leicht sich mit den Gegebenheiten abzufinden.“ Entgegnete Neidhardt.

„Ja aber du bist auch noch kein Greis. Was ist mit dir? Wo ist dein Kampfesgeist von einst geblieben? Ich erkenne dich nicht wieder. Der Neidhardt von einst gab niemals auf, der suchte und fand immer Möglichkeiten der Welt seinen Stempel aufzudrücken.“ Elenas Erwiderung klang schon fast wie eine Anklage.

„Ich habe es dir neulich erst gesagt. Meine Zeit ist vorüber. Ich weiß wo mein Platz ist. Ich dränge nicht mehr zur Macht. Nenne mich feige oder müde oder was auch immer. Es ist mir gleich. Ich gehöre einer anderen, längst vergangenen Zeitepoche an.“

„Ich kann das nicht akzeptieren! Ich.. ich möchte die Diskussion beenden.“ Elena fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. Eilenden Schrittes verließ sie das Zimmer.

Sie hatte das Bedürfnis sich auf irgendeine Art abzureagieren. Im Fitnessstudio sah sie eine Möglichkeit. Mit voller Kraft trat sie die Pedalen des Laufrades bis sie vor Schweiß triefte  Im Anschluss nahm sie eine Dusche, erst heiß dann kalt. Nun fühlte sie sich etwas befreiter. Ein wenig ruhen, bevor sie sich wieder in die Schlacht begab. Es widerstrebte ihr zutiefst sich in ihr Schicksal zu fügen. Es gefiel ihr in dieser Umgebung, keine Frage. Eine Zeit lang würde sie es hier noch aushalten, aber für immer? Nein! Warum nur stellte sich Neidhardt so stur? Es entsprach so ganz und gar nicht seiner Art sich mit den Verhältnissen abzufinden.  Er hatte sich verändert. Wieder einmal wurde sie sich dessen bewusst. Er war nicht mehr der Alte. Die Jahre hatten ihn reifen lassen. Trotzdem wollte sie sich noch nicht geschlagen geben.

 

Während sie gemeinsam zu Abend aßen, sah Elena eine Möglichkeit, auf dezente Art noch einmal nachzufühlen.

„Was ist mit dir Elena? Was geht in deinem Schönen Köpfchen vor? Mir kannst du nichts vormachen! Wenn du Fragen hast, dann stelle sie!“ schätzte Neidhardt den Sachverhalt vollkommen richtig ein.

„Ich kann mich nicht damit abfinden, dass du so einfach aufgegeben hast. Den Neidhardt den ich kannte und schätzte, auch damals, als wir noch nicht befreundet waren, der war ein Überzeugungstäter, der nie aufgab. Auch die aussichtsloseste Sache konnte dich nicht aufhalten.

Sag mir doch was ist geschehen? Geschehen in der langen Zeit die du hier allein hast verbringen müssen?“ Elenas direkte Frage traf ins Schwarze doch war Neidhardt gut vorbreitet.

„Sagen wir einfach die Einsicht in die Notwendigkeit!“

„Nein, so leicht kommst du mir nicht davon, da musst du schon schweres Geschütz auffahren.“

„Also gut! Dich kann man nicht mit Oberflächlichkeiten abspeisen. Ich möchte es dir an einem Bespiel verdeutlichen. Wie dir ja nur allzu bekannt sein dürfte, vergleicht man mich immer wieder mit Napoleon und nennt mich Neidhardt Bonaparte. Sag mal hast du mir damals diesen Namen verpasst?“

„Nein, das war Colette! Ich war bei deinem Staatsstreich ja verhindert. Colette kam die Aufgabe zu sich dir entgegen zustellen. Damit  legte sie den Grundstein zu ihrem Mythos.“

„Na gut, dann eben Colette. Passt auch gut zu ihr. Äh… ja …äh. Wo war ich stehen geblieben.

Ach ja, Napoleon.

Mag sein, dass es zwischen uns durchaus Parallelen gibt, eines jedoch habe ich nicht mit ihm gemein. Ich weiß wann es Zeit ist aufzuhören, Zeit sich umzuorientieren und  Gegebenheiten zu akzeptieren.“

„Kannst du das genauer erklären?“

„Ja, gern. Also, nach seiner ersten Entmachtung reagieren die Siegermächte überaus gnädig.

Napoleon behält seinen Rang und alles was damit zusammenhängt. Er bekommt eine Insel, Elba im Mittelmeer. Er nimmt seine gesamte Dienerschaft mit, seinen Hofstaat, seine Berater und sogar eine Armee von Tausend Mann die für seine Sicherheit sorgen. Auf Elba kann er sich ein Minikaiserreich nach seinem Geschmack errichten und ist dabei völlig unabhängig. Dort könnte er das Leben genießen bis zum Ende seiner Tage. Eine Insel im Mittelmeer, das klingt doch fast paradiesisch.“

„Kann ich bestätigen! Ich bin schon dort gewesen. Ist sehr schön dort. Toll Landschaft, mildes angenehmes Klima und nette Menschen.“ Stimmte Elena zu.

„Eben! Und? Was tut dieser Idiot. Nach nicht einmal einem Jahr verlässt er das schöne Eiland wieder, um auf dem Festland erneut nach der Macht zu greifen. Er bekommt den Hals einfach nicht voll. Es gelingt ihm auch, aber nur für 100 Tage. Und dann kommt….“

„Waterloo!“ Kam es bei Elena wie aus der Pistole geschossen.

„Richtig! Waterloo! Nun ist er am Ende. Es folgt die zweite Entmachtung und nun kommt es wie es kommen musste. Die Strafe! Er ist in den Händen der Engländer, seiner Erzfeinde. Es folgt die Verbannung, nach St.Helena, weit weg vom Geschehen. In den Kerker muss er auch diesmal nicht. Er bekommt ein Haus mitten in der Pampa. Ist unter ständiger Bewachung der Engländer.

Das bleibt er bis zu seinem Tod.**

Aufgestiegen wie ein Komet, mit 25 ist er General, mit 30 Erster Konsul der Republik und damit uneingeschränkter Herrscher, mit 35 setzt er sich die Kaiserkrone auf. Mit 46 ist seine Karriere jäh zu Ende, Absturz wie ein Asteroid.“

„Eine einleuchtende Geschichte. Ein abschreckendes Beispiel für jene die an die Schalthebel der Macht gelangen und den Zeitpunkt für einen würdevollen Abgang verpassen.“ Glaubte Elena zu wissen.

„Ich werde mit Sicherheit kein Waterloo riskieren. Ich habe die Zeichen der Zeit erkannt und danach gehandelt. Ich bin deutlich älter, schon über 60. Das machte mir die Entscheidung leichter. Wäre ich jetzt jünger. Ich weiß nicht wie ich mich verhalten würde. Womöglich ähnlich wie Napoleon. Aber es ist nicht an dem und somit stellt sich diese Frage nicht. Punkt.“

„Ein Argument, dass ich akzeptieren kann. Du hast dein Leben lang gekämpft und nun  bist du müde. Du hast dir einen ehrenvollen Ruhestand verdient. Ich habe nicht das Recht diese Entscheidung zu kritisieren.“

„Nun, ich habe keine Insel zur Verfügung. Auch kein Schloss und keine Dienerschaft. Es ist nur ein Bunker, dazu ein Dorf in der Nähe das mir wohl gesonnen ist und mich unterstützt. Aber immerhin, es hätte wesentlich schlimmer kommen können.

Ich bin die Einsamkeit gewöhnt, aber manchmal war es schon hart, hier unten so ganz allein.“

Gab Neidhardt offen zu.

„Ich bin gesagt nicht mehr der Jüngste und da macht man sich so seine Gedanken, wie es einmal weitergehen soll.“

„Du bist nicht mehr allein. Jetzt bin ich hier. Irgendwann werde ich gehen müssen, um den Kampf wieder aufzunehmen. Aber bis es soweit ist, wird noch einige Zeit vergehen.

Sag mal, gehst du eigentlich in das Dorf?“

„Selten! Sehr selten! Die letzte Zeit gar nicht mehr.“

„Du meinst, seit Cassians Machtergreifung?“ Wollte Elena wissen.

„Ungefähr seit jener Zeit. Ich halte es einfach für zu riskant. Ich will die Menschen dort nicht unnötig in Gefahr bringen. Es ist ja doch möglich, dass Fremde dort auftauchen, die mich womöglich erkennen.“

Das Gespräch wurde weitergeführt. Auch während Elena sich in der Küche zu schaffen machte.

Später bereiteten sich beide für die Nacht vor und betteten sich eng aneinander.

Neidhardt hatte den Arm um Elena gelegt und sie an sich gezogen.

„Ich habe übrigens eine Einladung zu dem Frühlingsfest am Wochenende. Ich denke ich werde hingehen. Mal sehn wie das alles so abläuft. War schon lange nicht mehr auf einer Festlichkeit.“

Klärte Elena auf.

„Ja, sicher! Das ist gut! Du musst unter Menschen. Ich denke schon, dass es dir gefallen wird.“

„Und was ist mit dir? Komm doch einfach mit! Was soll denn schon passieren?“

„Lieber nicht! Der ganze Rummel, das ist nichts für mich. Das ist etwas für euch jüngere. Ich würde mich da sicher nicht wohl fühlen.“

„Schade! Sehr schade! Bedauerte Elena.

„Und? Willst du dir dort jemand anlachen? Ich denke, du wirst dort mächtig Eindruck machen!“

Glaubte Neidhardt zu wissen.

„Das wäre dann doch wohl eher Zufall. Also was Männer betrifft kann ich dich beruhigen. Da habe ich keinen Bedarf. Ich hatte Leander, der ist tot, auch wenn er in meinem Herzen weiterlebt. Jetzt habe ich dich und das genügt mir vollkommen. Was Frauen angeht, nun, da könnte ich durchaus schwach werden, sollte mir eine geeignete über den Weg laufen. Meine Sehnsucht in diese Richtung ist tief und verlang nach Erfüllung.“

„Du vermisst Madleen noch immer?“

„Es vergeht kein Tag ohne einen Gedanken an sie. Es ist manchmal zum verrückt werden. Ich kann mich einfach nicht mir der Tatsache abfinden, sie verloren zu haben.“ Bekannte Elena.

„Du wirst sie wieder bekommen. Glaub mir, du wirst sie wieder bekommen. Davon bin ich überzeugt.“

„Danke Neidhardt! Danke dir. Du bist sehr lieb!“ Elena kuschelte sich noch näher an ihn.

„Naja, vielleicht überlegst du dir`s ja noch und kommst am Wochenende doch noch  mit. Ich würde mich freuen.“

Irgendwann im Laufe der Nacht fielen beide in den Schlaf.

 

Die Tage bis zum Wochenende vergingen rasch. Schon war es Freitag und Elena machte sich auf den Weg nach Vielstedt zur Tanzveranstaltung, die auf dem Saal der Gemeindeschänke steigen sollte.

Salopp gekleidet in Jeanshose und Lederjacke, die sie sich vor einigen Tagen aus der Kleiderkammer besorgt hatte. Es tat ihr gut, nach langer Zeit wieder einmal etwas anders auf dem Leibe zu tragen als immer nur Kapuzenshirt und Sportleggins.

Ihre Haare hatte sie wie immer in ein Tuch gebunden. Die Frage warum sie das tat, konnte sie  sich selbst nicht beantworten. Denn sollte man sie erkannt haben, würde das auch nichts bringen.

Auf den Schultern ihren Rucksack, den sie hier ständig bei sich führte. Sie hatte eine Taschenlampe mitgenommen, um sich in der Dunkelheit besser orientieren zu können. Jetzt in der Dämmerung konnte sie noch die Konturen der Häuser erkennen, die spärliche Straßenbeleuchtung war bereits eingestellt. Draußen in der Weite der offenen Landschaft herrsche hingegen finsteres Dunkel.

Im Dorf war es ruhig, erst als sie sich der Schänke näherte konnte sie Musik und Stimmen hören.

Sie traf den Wirt auf der Straße vor dem Gasthaus an und wurde von ihm freundlich in Empfang genommen.

„Schön dass du gekommen bist. Sind schon einige da. Ich denke es wir dir sicher gefallen!“

„Ja, ich freue mich auch!“

Elena betrat das Gebäude und bewegte sich gemächlichen Schrittes die Treppe hinauf. Dort herrschte schon angenehme Stimmung. Sie Legte den Rucksack  an der Garderobe ab, bewegte sich in den Saal um sogleich mit einigen Besuchern ins Gespräch zu kommen. Nein, sie brauchte sich hier nicht als Fremde oder gar Ausgestoßenen zu fühlen. Ihr einnehmendes Wesen machte es ihr leicht, Kontakt zu knüpfen

Währenddessen wurde vorn auf der Bühne, die Musikanlage in Gang  gesetzt. Bald ertönte ein Musikmix aus verschieden Zeitepochen und erfüllte den ganzen Saal.

Elena war froh über diese Tatsache, denn der Lärmpegel übertönte die Gespräche. In der Zwischenzeit hatten sich viele um sie versammelt um etwas über sie in Erfahrung zu bringen.

Elena hatte das befürchtet und sich vorsorglich schon einmal eine Geschichte ausgedacht, in der Hoffnung damit anzukommen.

Doch noch brauchte sie damit nicht aufzuwarten, denn schon sah sich auf der Tanzfläche, inmitten des ausgelassenen Treibens.

Erinnerungen wurden auf einmal wieder wach, an die wilden Partys ihrer Glanz-und Glimmerzeit, aber auch an die ausgelassene Stimmung bei den Festen in Anarchonopolis.

Für eine kurze Zeit dem Einerlei des Alltags entfliehen, dass wollte sie und es gelang ihr auch.  

Der Abend begann bald eine eigene Struktur zu entwickeln. Einen Tanz, dann ab an die Theke und sich einen Drink genehmigen. Elena bevorzugte dabei alkoholfreie Getränke. Es schien ratsam stets einen klaren Kopf zu behalten.

Die Annäherungsversuche hielten sich in Grenzen. Die Leute hier wussten sich wohl zu benehmen, stellte sie mit großer Genugtuung fest.

So ging es auch eine ganze Zeitlang weiter und es wäre sicher auch so geblieben, wäre nicht jene junge Frau in der Türe erschienen, die Elenas Blick wie gebannt gefangen hielt.

„Madleen!“ Entfuhr es ihr. Voller Hast bewegte sie sich über den Saal. Die Frau wandte sich um und ihre Blicke kreuzten sich. Doch die Schönheit mit der langen schwarzen Lockenmähne, den leuchtend blauen Augen und der Venusfigur war  nicht die ersehnte Gefährtin.

„Oh entschuldige! Ich… ich habe dich wohl verwechselt.“

„Kein Problem! Tut mir leid, wenn ich nicht jene bin, für die du mich gehalten.“ Erwiderte die Fremde mit zärtlicher Stimme.

Sie sah Madleen zum Verwechseln ähnlich. Nach schmerzlicher Enttäuschung hatte sich Elena recht schnell gefangen.

„Du erinnerst mich sehr stark an einen Menschen, der mir vorzeiten sehr nahe stand. Was rede ich, noch immer nahe steht.“ Glaubte sich Elena erneut entschuldigen zu müssen.

„ Schon in Ordnung! Darf ich dich zum Trost zu einem Getränk einladen?“

„Ja gerne!“

Die beiden schritten zur Theke und nahmen auf den dort befindlichen Hockern Platz. Nun gönnte sich Elena, so wie die andere auch, ein Bier. Beide stießen an und tranken einen Schluck.

„Madleen!“

„Wie?“

„Deine Freundin? Ihr Name ist also Madleen?“

„Äh… ja.. äh. Das ist ihr Name. Wie darf ich dich nennen?“

„Ich bin Andrea!“

 „Freue mich dich kennen zu lernen Andrea. Ich bin E… äh… Verena!“

Um ein Haar hätte sich Elena verraten. Aufgrund der Tatsache, dass sie sich nun einmal bei mehreren Menschen als Verena vorgestellt hatte, musste sie auch bei diesem Namen bleiben.

„Ich scheine dich ja ganz schön in Verwirrung gebracht zu haben?“

„Verzeihung! Ich bin im Moment ein wenig durcheinander. Aber das gibt sich wieder.“

„Das dritte Mal!“

„ Was meinst du damit?“

„Nun , das dritte Mal dass du dich bei mir entschuldigst. Dabei gibt es doch gar keinen Grund dafür.“ Stellte Andrea fest.

„Da hast du Recht. Ist eben so eine Art von mir. Ich entschuldige mich andauernd. Wohl aus der Angst andere zu verletzen.“

„Du bist nicht von hier? Ich habe dich jedenfalls noch nie gesehen. Zu Besuch hier, wenn ich mich nicht irre?“

„So ist es!“

„Für kurze Zeit oder länger?“

„Hmm, kommt ganz darauf an. Ich denke für länger.“

„Hört sich gut an!“ Begeisterte sich  Andrea.

Elena spürte ein Gribbeln im Bauch, so als ob ein Schwarm Schmetterlinge zum Flug ansetzte.

Hatte die Fremde, die ihr noch vor 10 min völlig unbekannt war, etwa ganz bewusste Absichten?

Das wäre zu ideal um wahr zu sein. Elena versuchte schnell wieder auf den Boden der Realitäten zurückzufinden. Hier war doch sicher nur der Wunsch der Vater des Gedankens.

„Würde es dich freuen, wenn ich länger bliebe?“ Wagte sich Elena klar aus der Deckung.

„Ja, natürlich! Weißt du, die Menschen leben hier sehr zurückgezogen. Es kommen wenig Fremde ins Dorf. Es ist schön mal mit anderen zu plaudern, als immer nur mit den allzu vertrauten Gesichtern.“

Der Wirt hatte in der Zwischenzeit die leer getrunkenen Biergläser durch volle ersetzt.

„Ja, dem kann ich gerne abhelfen, wenn du magst. Stehe jederzeit für ein Plauderstündchen zur Verfügung. Es könne auch gern mehrere Stunden sein.“ Bot sich Elena sogleich an.

„Na fein! Dann kann ja nichts mehr schief gehen.“ Lachte ihr die neue Freundin entgegen. Ein Lachen dass ihr auf ganz unheimliche Weise vertraut war.

Das Gespräch ging weiter. Dabei kamen sie vom Hundertsten ins Tausendste. Wie zwei alte Bekannte, die sich lange nicht mehr gesehen hatten.  Dabei schien Elena jegliches Zeitgefühl verloren.

Erst als der Wirt mit freundlichem Ton darauf hinwies, dass in absehbarer Zeit geschlossen wurde, kam es ihr in den Sinn.

„Schade! Da wollen wir wohl oder übel die Rechnung begleichen.“ Schlug Andrea vor.

„Ja, müssen wir wohl! Hey, ich hab ja gar keine Striche auf dem Bierdeckel.“

„Ich dafür umso mehr!“ erwiderte Andrea und hob den Deckel in die Höhe.

„Aber das geht doch nicht!“

„Warum nicht? Du warst mein Gast, ich habe dich eingeladen. Hat schon alles seine Ordnung.“

In Null Komma nix war die Zeche bezahlt und beide bewegten sich, leicht beschwipst aber noch bei klarem Verstand dem Ausgang entgegen.

„Ja, dann wollen wir mal. Kommst du morgen zum Fest?“ Wollte Andrea wissen.

„Ja, das hatte ich zumindest vor.“

„Toll, dann sehen wir uns. Keine Angst, wir können uns nicht verfehlen. In einem 300 Seelendorf ist das kaum machbar.“

Plötzlich zog sie Elena zu sich heran, presste ihre Lippen auf deren. Ein leidenschaftlicher Kuss.

Sekunden mutierten zur Ewigkeit.

Schließlich entwand sich Andrea.

„Tschüß! Bis morgen!“

Elena taumelte zur Wand. Was in aller Welt war das? Träumte sie? Nein! Es war ein reales Erlebnis.

Sie hastete zur Tür.

„Andrea?“

Doch die war nicht mehr zu sehen.

Die Straßen menschenleer. Ruhe, Stille von allen Seiten. Elena trat den Heimweg an. Die gut funktionierende Taschenlampe erleuchtete ihr das Gelände. Ein recht weiter Weg, doch Elena kannte keine Furcht. Was sollte ihr hier auch passieren? Sie fand den Einstieg und drang in das Innere des Bunkers und schon bald befand sie sich auf gewohntem Terrain. Sie fand Neidhardt schlafend vor, kein Wunder, der Radiowecker zeigte 2.15 Uhr.

Schnell bette sie sich an dessen Seite doch wollte sich der Schlaf lange Zeit nicht einstellen, so aufgewühlt fühlte sie sich.

 

Am Folgetag ließ sich Elena Zeit mit dem Aufstehen. Neidhardt war wie immer frühzeitig auf den Beinen. Sie hatte es nicht eilig. Obgleich der Markt schon gegen 10 Uhr begann. Elena würde aber erst am frühen Nachmittag, etwa gegen 14 Uhr nach Vielstedt gehen. Sie konnte es nicht erwarten die geheimnisvolle Fremde, die sich Andrea nannte, wieder zu sehen. Die hatte bei ihr einen gewaltigen Eindruck hinterlassen. Die Ähnlichkeit mit Madleen war frappierend Alles an ihr erinnerte an die verlorene Geliebte.

Des Weiteren haftete ihr etwas Mysteriöses an. Es schien, als sei sie nicht so recht von dieser Welt.

Lange hatte Elena mit ihr an der Theke gestanden und sie hatten viel erzählt, richtig schlau wurde sie nicht aus ihr. Würde sie heute tiefer dringen? Sie hoffte es zumindest.

Zunächst versuchte sie erneut Neidhardt zu überreden mit ihr auf das Fest zu gehen.

„Komm doch mit, Neidhardt. Es ist mal ne Abwechslung und ich denke es wird dir sicher gefallen.“

„Ach, das ist nichts für mich. Ich würde mich dort deplatziert vorkommen. Geh du nur. Du brauchst dich um meinetwegen keine Gedanken zu machen. Ich habe monatelang alleine hier verbracht, da wird mir ein halber Tag nicht viel ausmachen.“

„Schade! Dann eben nicht. Verstehen tue ich es trotzdem nicht.“ Erwiderte Elena enttäuscht.

„Ich wünsche dir viel Spaß und gutes Gelingen. Also dann bis heute Abend.“

„Na, es könnte spät werden. Womöglich sehen wir uns auch erst morgen früh wieder.“ Glaubte sich Elena rechtfertigen zu müssen.

„Oh, ich verstehe! Du hast schon Bekanntschaft geschlossen. Wie ich es dir gesagt habe. Ein Grund mehr für mich nicht mitzukommen.“

„Ach was. Es ist nicht so wie du denkst. Vielleicht eine neue Freundin. Mal wieder mit jungen Leuten zusammen sein.“

„Wenn du erst morgen Vormittag zurückkommst ist es für mich auch in Ordnung.“ Gab Neidhardt zu verstehen.

„Hey, langsam! Soweit bin ich noch lange nicht.“ Auch wenn ich es mir wünsche. Fügte sie in Gedanken noch hinzu.

Elena verweilte noch einen Augenblick, dann machte sie sich auf den Weg.

Das Wetter hielt was es versprach. Frühlingshaft warm, trocken und sonnig. Ein ungewöhnlich warmer und trockener April. Für die Natur nicht gut, denn der Regen wurde dringend gebraucht, doch für Elena allemal ein Segen. Jeden Tag konnte sie stundenlang im Freien verbringen und die Natur in vollen Zügen genießen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie das Erwachen der Natur, die langsam einsetzende Vegetation und die damit verbundenen Veränderungen in der Landschaft so intensiv wahrgenommen.

Sie begann langsam aber sicher, Teil dieser Umgebung zu werden indem sie mit ihr verschmolz.

Auch am heutigen Tag konnten die Menschen im Ort trockenes Wetter gut gebrauchen. Ein Jammer, wenn das Fest ins Wasser fallen würde.

Schon hatte Elena den Ortseingang erreicht und bewegte sich auf den Anger zu.  Von dort drangen Stimmengewirr und Musik an ihre Ohren

Der Platz wimmelt vor Menschen, trotzdem war  er überschaubar. Weit reckte Elena den Kopf in die Höhe um nach jener Frau zu suchen, die sie so in den Bann gezogen hatte, doch konnte sie sie nirgendwo erblicken. Auch nachdem sie mehrmals auf und ab geschritten war, Andrea blieb verborgen. Wehmut sickerte in Elenas Herz.

„Verena! Schön, dass ich dich treffe!“ Rief ihr plötzlich jemand zu.

Elena drehte ihren Kopf und blickte zum Platz vor der Dorfkirche. Dort gab es einen Kuchenbasar.

Die ältere Dame aus dem Dorfladen, Erika, winkte ihr zu.

Elena ging auf sie zu.

„Gut dass du da bist. Viel zu tun hier. Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll. Sag mal, darf ich dich um einen Gefallen bitten?“ Begrüßte Erika sie.

„Ja natürlich! Worum geht es denn?“

„Hier werden gleich viele Leute aufkreuzen und wie es aussieht haben sich meine Helferinnen verspätet. Würde es dir viel ausmachen mir ein wenig zur Hand zu gehen? Natürlich nur so lange bis die anderen kommen, versteht sich?“

„Nein keineswegs! Mache ich gern! Es ist immer gut etwas zu tun zu haben. Ich denke auf diese Weise wird ein Fest erst richtig interessant.“ Stimmte Elena zu.

„Richtig! Das finde ich auch! Aber setz dich doch erst mal. Nimm dir Kaffee und suche dir Kuchen aus. Wir haben, wie du siehst mehr als genug davon. Du hast freie Auswahl.

Elena nahm Platz und goss sich Kaffee in eine Tasse, danach bediente sie sich an der Kuchentheke.

„Ich hoffe ich verfüge nicht so freizügig über deine Zeit, es sah so aus, als ob du jemand suchtest, oder irre ich mich da?“

„Nein! Es stimmt! Ich suche tatsächlich jemanden. Kennst du zufällig eine Andrea? Mit der war ich verabredet. Aber dem Anschein nach ist sie nicht gekommen.“

„Andrea? Andrea? Lass mich überlegen!“

„Etwa Mitte 30. Langes schwarzes Haar, blaue Augen, tolle Figur. Etwa einen halben Kopf kleiner als ich.“

„Ach ja, die! Jetzt erinnere ich mich. Die wohnt auch erst kurze Zeit in der Gegend. Ein Stück außerhalb des Dorfes in einer ehemaligen Mühle. Die lebt dort ganz allein. Sie sei wohl Malerin, Bildhauerin oder so was. Jedenfalls Künstlerin. Sie ist hier so was wie die Exotin vom Dienst. Einen Mann habe ich bei ihr noch nie gesehen, dafür immer wieder Freundinnen.“

Bei den letzten Worten lebte Elena innerlich auf. Das war gut zu wissen. Ein Umstand der ihr sehr gelegen kam.

„Wenn du sie besuchen willst, kannst du es gerne tun. Später wenn ich Hilfe bekomme. Ist nicht zu verfehlen das Gehöft. Komisch, dass sie noch nicht aufgekreuzt ist.“ Fuhr Erika weiter fort.

Mit Sicherheit würde Elena dort einen Besuch machen. Doch vorerst war sie beschäftigt. Bald drängten sich die Besucher an der Kaffeetafel und Elena hatte alle Hände voll zu tun. Nach einer Weile gab sich das aber wieder und es wurde ein wenig ruhiger. Elena fühlte sich rundum wohl. Sie hoffte immer noch, Andrea zu begegnen, doch die blieb weiter verschwunden.

Stattdessen kam ein anderer Besucher über dessen Erscheinen sie sich nicht minder freute.

„Ich hätte gern ein Stück von diesem Schwarzwälder Kirsch und ein Stück Bienenstich gleich mit und ein Kaffee natürlich.“

Elena horchte auf und ihr wurde warm ums Herz.

„Neidhardt! Ach, ist das schön, dass du dich noch entschlossen hast. Komm setz dich, ich bringe dir gleich etwas. Ich stehe hier und amüsiere mich und du hockst allein im Bunker. Nein, so geht das nicht.“

„Wie ich sehe hat man dich gleich in Beschlag genommen.“

„Ist schon in Ordnung! Es macht mir Spaß. So lerne ich die Leute auch gleich viel besser kennen.“ Entgegnete Elena.

„Und deine Verabredung. Ist sie da oder lässt sie auf sich warten?“ Wollte Neidhardt neugierig wissen.

„Letztere trifft zu. Aber sie wird noch kommen, davon bin ich überzeugt. Wenn nicht, gut, damit  kann ich auch leben.“

Immer wieder reckte Elena den Hals in die Höhe, während Neidhardt sich dem Kuchen hingab.

In der Zwischenzeit waren mehrere ältere Damen gekommen und halfen nun mit aus.

„Also ich mach mich mal auf den Weg. Mit ein paar Leuten treffen, etwas quatschen. Alles Dinge die ich schon lange nicht mehr tat.“ Sprach Neidhardt und erhob sich.

„Du solltest dein Rendezvous nicht allzu lange warten lassen.“

„Das werde ich bestimmt!“ Antwortete Elena. „ich möchte mich nur noch von Erika verabschieden.

Neidhardt machte sich auf den Weg. Er hatte eine Schirmmütze tief in sein Gesicht gezogen, offensichtlich wollte er auch nicht erkannt werden.

„Erika?“ Elena suchte vergeblich, die ältere Dame war nicht aufzufinden.

Eigenartig. Heute lassen sich wohl alle suchen?

Immerhin wusste Elena, wo Andrea zu finden war. Dorthin wollte sie sich begeben.

Sie war kaum ein paar Schritte gelaufen, als ihr das Objekt der Begierde plötzlich über den Weg lief.

„Hey, da bist du ja! Schön dich zu sehen. Dachte schon, du würdest es dir noch anders überlegen.“ Wurde sie von Andrea begrüßt.

„Ich habe dich gesucht! Bin schon eine ganze Weile hier. Habe beim Kuchenbasar ausgeholfen.“

„Ist doch toll. Dann hattest du Beschäftigung. Komm lass uns gehen!“

Besitzergreifend hakte sich Andrea bei Elena unter und zog sie förmlich mit sich. Sie schlenderten ein paar Mal über den Markt. Da dieser nicht sonderlich groß war, hatten sie bald alles gesehen.

„So jetzt möchte ich dir mein Domizil zeigen, da wo ich wohne. Hast du Lust?“

„Ich brenne darauf deine Behausung kenne zu lernen. Ich folge dir gern:“ begeisterte sich Elena.

„Na ist doch wunderbar. Da gibt es nur ein kleines Problem. Ich wohne ein Stück außerhalb des Dorfes, sind so ca. 2 -3 km Wenn wir das laufen wollen sind wir lange unterwegs. Es wäre günstiger ein Fahrrad zu benutzen. Ein gut ausgebauter Fahrradweg führt uns bis fast vor die Haustür.“

„Leider habe ich keins dabei. Du kannst mir nicht zufällig sagen, wo ich eines herbekomme?“

„Es gibt hier einen Fahrradverleih, gehört zur Dorfschänke. Ich habe dir dort schon eins bereitstellen lassen.“

„So? Du scheinst aber auch an alles zu denken.“ Antwortete Elena verblüfft.

Sie begaben sich zur Schänke und fanden es dort schon bereitgestellt.

Beide schwangen sich in die Sättel und radelten los. Schnell hatten sie den Ortsausgang hinter sich gelassen und bogen auf den betonierten Fahrradweg ein. Es ging durch eine liebliche Landschaft. Getreidefelder und Weiden säumten ihren Weg, unterbrochen von Pappelhainen, am Horizont zur ihrer Linken, erstreckte sich ein mittelgroßes Waldstück, dass Elena in der Zwischenzeit schon aus einer anderen Perspektive hatte kennen lernen können.

Plötzlich erschien zur rechten ein weiterer kleiner Ort

Sie verließen dort den Radweg und bogen nach links ein, rollten einen kleinen Abhang hinunter und fanden sich vor einem mit hohen Pappeln und Buchen umgebenen Gehöft wieder.

Es wirkte einsam und verlassen.

Beide betraten, ihre Räder schiebend den Innenhof. Ein Wohnhaus und zwei größere Nebengelasse bildeten das Ensemble, das sich bei näherer Betrachtung als ehemalige Wassermühle zu erkennen gab. Ein kleiner Bach plätscherte direkt daneben vor sich hin, unberührt von all den Geschehnissen der Zeit.

Beide lehnten ihre Räder an die Wand und begaben sich in das Innere des Wohnhauses

 

„Sieh dich nicht so genau um, ist alles recht unordentlich. Ich bin gerade dabei alles umzubauen.“

Versuchte Andrea ihren Gast einzustimmen.

In der Tat wirkte alles recht improvisiert, aber trotzdem irgendwie einladend und gemütlich. Elena fühlte sich auf Anhieb wohl.

„Zu diesem Zweck habe ich alle nicht tragenden Wände entfernen lassen.“ Fuhr Andrea fort.

Ein großes Wohnzimmer mit großen Fenstern an der Vorderseite ließ ein Gefühl von Erhabenheit aufkommen.

„Im oberen Bereich habe ich noch alles belassen wie es ist.“ Können wir uns noch später ansehen. Nimm doch erst mal Platz. Darf ich dir einen Kaffee oder ein Tee anbieten?“

„Oh ich habe schon genug Kaffee getrunken heute, ein Wasser wäre jetzt angebracht.“ Gab Elena zu verstehen.

„Kein Problem!“ Andrea verschwand kurz in der Küche nebenan, um dann sogleich wieder mit einer Flasche Mineralwasser und zwei Gläsern zu erscheinen.

Elena blickte durch die große Glastür, die den Blick in den umgebenden Garten freigab an den sich eine Streuobstwiese anschloss.

Hier ließ es sich leben. Mit Sicherheit besser als im Bunker.

„Wohnst du ganz alleine hier?“ Wollte Elena plötzlich wissen.

„Ja, ganz allein!“

„Wie lange bist du schon hier? Ich gehe doch mal davon aus, dass du auch nicht von hier stammst.“

„Erraten! Bin vor etwa einem dreiviertel Jahr hierher gekommen. Das Gehöft habe ich gekauft, war preiswert zu ersteigern.“

Die Antwort versetzte Elena ins Staunen. Ein dreiviertel Jahr erst? Damit war Andrea nur wenig früher in diese Gegend gekommen als sie selbst.

„Du bist Künstlerin?“ Stieg Elena weiter vor.

„Wenn du willst können wir es so bezeichnen. Ich versuche mich zumindest in verschiedenen Künsten. Ob daraus was wird, kann ich im Moment noch nicht sagen.“

„Kann man deine Kunstwerke betrachten?“

„Ja, wenn du magst können wir sie uns ansehen. Die sind drüben in der alten Scheune, dort habe ich so eine Art Atelier eingerichtet. Das meiste davon improvisiert. Lege also keine zu hohen Maßstäbe daran.“

Elena blickte sich weiter um.

„Ein schöner Garten!“

„Wir können auch nach draußen gehen!“ Bot Andrea an.

„Oh ja, das wäre mir recht!“

Beide erhoben sich und schritten nach draußen und nahmen auf einer Gartenbank Platz die sich direkt an der Umfriedungsmauer befand.

„So, nun weißt du also wie ich wohne. Ich hingegen weiß so gut wie gar nichts über dich, außer, dass du Verena heißt und auch erst vor kurzem zugezogen bist.“

Das brachte Elena wieder in Verlegenheit. Was sollte sie darauf erwidern? Die Wahrheit? Das schien ihr im Moment nicht sehr klug. Doch immer wieder neue Geschichten erfinden? Das konnte und wollte sie nicht mehr. Diese neue Bekanntschaft bedeutet ihr viel. Das wollte sie nicht gefährden indem sie unglaubwürdiges Zeug von sich gab.

„Darf ich dir ein Geheimnis anvertrauen?“

„Jedes! Bei mir ist es gut aufgehoben.“ Antwortete Andrea in gefühlvollem Ton.

„Also, ja…ähm. Wo fange ich an?“ Begann Elena zu stottern.

„Also, ich wohne in der Bunkeranlage.“

„Im Bunker? Wie interessant!“ Erwiderte Andrea, die von dieser Aussage keineswegs geschockt zu sein schien.

„Aber da bist du nicht allein. Der alte Eremit ist schon ne ganze Weile dort unten, wie ich in Erfahrung bringen konnte. Stimmt es eigentlich, dass es sich bei ihm um Neidhardt, den früheren Machthaber des alten Melancholaniens handelt, der im Allgemeinen als verschollen gilt?“

Elena konnte einer direkten Antwort nicht mehr ausweichen und entschied sich alles offen zu legen.

„Ja! Es ist Neidhardt.“

„Stehst du in einer Beziehung zu ihm? Bist du mit ihm verwand oder so?“

Andreas Frage treib sie weiter in die Enge. Sollte sie sich gänzlich offenbaren?

„Ich bin seine Nichte!“ Lautete die Antwort und kaum war sie ihren Lippen entsprungen bereute Elena sie schon. Etwas Dümmeres konnte ihr wohl nicht einfallen.

„Sie einer an. So eine sinnliche und hübsche Nichte hat der alte Holzkopf also. Entschuldige, ich wollte ihn damit keineswegs kränken. Aber ihr seid so verschieden, dass niemand auf die Idee käme, dass ihr miteinander verwandt sein könntet.“

„Kennst du ihn denn näher?“ Wollte Elena wissen.

„Flüchtig, rein flüchtig, habe ihn zwei-bis dreimal gesehen, seit ich hier wohne. Er lebt ja sehr zurückgezogen. Eine interessante Person. Bemerkenswert, wie er es geschafft hat, die Lebensweise in seinem Dorf so positiv zu gestalten. Das ist der Grund warum es mich dorthin zieht, obgleich der Ort weiter entfernt liegt als das Dorf oberhalb des Radweges.“

„Ja, das hat mich auch tief beeindruckt. Eine richtige kleine Welt für sich. Ich fühlte mich schon bei meiner ersten Begegnung richtig heimisch.“ Gab Elena zu verstehen.

„Natürlich hast du Recht! Er ist manchmal schon ein schwieriger Charakter. Es ist nicht immer einfach mit ihm, aber ich mag ihn trotzdem.“

„Ist das nicht sehr anstrengend in dem Bunker dort? Wie lebt es sich dort? Puuh, da wird mir ganz unheimlich bei dem Gedanken, so im Dunkel, unter der Erde zu leben.

Du sagtest, dass du im Winter dort angekommen bist. Muss doch furchtbar kalt gewesen sein?“

„Ach was, wir haben doch Zentralheizung. Der Bunker ist gut eingerichtet. Ich habe dort alles was ich brauche. Nur ein wenig mehr Gesellschaft wäre nicht schlecht.“ Bekannte Elena.

„Na, die hast du ja jetzt gefunden.“ Meinte Andrea.

„Ja und darüber bin ich auch sehr glücklich. Schön dich kennen gelernt zu haben. Aber im Bunker bin ich ganz zufrieden. Wo sollte ich auch sonst leben?“

„Na hier zum Beispiel! Ich habe mehr als genug Platz auf dem Gelände.“ Andrea wies mit der Hand auf das Wohnhaus.

War das wirklich ernst gemeint? Wenn ja, war das ein sehr verlockendes Angebot.

„Das ist sehr lieb von dir! Es gefällt mir hier. Schönes Anwesen. Aber ich möchte den alten Neidhardt nur ungern alleine lassen. Aber besuchen kann ich dich, wann immer es dir passt.“

„Mir passt es immer. Komm wann immer dir danach ist.“ Lud Andrea ein.

„Ich könnte natürlich auch mal bei dir übernachten, wenn es spät wird zum Beispiel.“ Flocht Elena schnell noch ein. Bei dem Gedanken wurde ihr immer wärmer ums Herz.

„Das würde mich sehr freuen!“

„Ich fragte dich vorhin schon, ob du hier allein lebst. Wie ist es mit Beziehungen. Gibt es einen Mann in deinem Leben?“ Wollte Elena nun in Erfahrung bringen. Andreas Gesicht lies Verwunderung erkennen.

„Einen Mann? Sehe ich so aus, als ob ich Verlangen nach Männerbekanntschaften hätte?“

„Ich weiß nicht. War wohl ne blöde Frage?“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Diese Frage bekomme ich oft gestellt. Bin schon dran gewöhnt. Du kennst das sicher auch. So eine hübsche junge Frau und keinen Mann an der Seite.

Als ob das eine etwas mit dem andern zu tun hätte.

Nein, es gibt keinen Mann und es wird auch nie einen geben.“

Andreas Antwort schmeckte wie süßer Honig. Nun war der Weg frei über die wesentlichen Dinge des Lebens zu sprechen.

„Es geht mich zwar nichts an, aber sag mal dieses Kopftuch, das du da trägst. Hat es eine besondere Bewandtnis? Willst du etwas damit verbergen?“

Ohne auf die Frage einzugehen begann Elena das Tuch von ihrem Kopf zu ziehen und entblößte ihre prächtige kupferrote Lockenmähne. Die langen Strähnen fielen sanft auf ihre Schultern und veränderten ihr Antlitz erheblich.

Andreas Blick ließ unverblümtes Begehren erkennen.

Ohne etwas zu sagen fuhr sie mit der rechten Hand langsam durch Elena Haar, die ließ das eine ganze Zeitlang geschehen.

„Gefällt es dir? Wollte Elena wissen.

„Ob es mir gefällt fragst du? Es ist das Antlitz einer Göttin. Und das verbirgst du vor der Welt? Warum tust du das?“

„Sagen wir mal, um aufdringliche Blicke abzuwehren und alles was darüber hinausgeht.“

„Das ist ein Argument das ich akzeptieren kann. Wie ist es mit mir? Komme ich dir aufdringlich vor?“

„Nein! Überhaupt nicht!“

Du kannst mir nicht aufdringlich genug sein. Fügte Elena in Gedanken an.

Eine kurze Zeit des Schweigens folgte, die Elena wie eine halbe Ewigkeit erschien.

„Du vermisst sie sehr, nicht wahr?“

„Wen?“

„Na die Geliebte die du zurückgelassen. Sie sieht mir sehr ähnlich. Du hast mich bei unserer ersten Begegnung mit ihr verwechselt. Madleen war ihr Name, wenn ich mich nicht irre.“

„Ja! Sehr! Jeden Tag 24 Stunden lang. Es vergeht kein Augenblick ohne ihr Bild vor meinen Augen. Mein Herz ist tief verwundet, auch wenn unsere erzwungene Trennung schon Monate zurückliegt.“ Offenbarte sich Elena. War das ein Fehler? Hatte sie einen zu tiefen Einblick in ihre Seele zugelassen?

„Mein Herz sehnt sich nach Heilung, nach Linderung. Ich will vergessen, aber es gelingt mir nicht. Ich bin eingetreten in ein neues, unkalkulierbares Leben. Was soll nur werden? Was hat die Zukunft im Gepäck? Diese Fragen suchen mich tagtäglich heim. Loslassen, du musst loslassen. Neidhardt gibt mir ständig diesen Rat, viele andere auch. Aber ich kann nicht. Ich schaffe es einfach nicht.“ Fügte Elena hastig hinzu.

„Glaubst du, dass dir das Vergessen in den Armen eines anderen Menschen besser gelänge?“

Die Frage traf direkt ins Herz. Nein, Elena konnte und wollte Madleen nicht vergessen, das kam überhaupt nicht in Frage. Linderung, sie suchte nach Linderung, das würde ihr schon genügen. Die Depression durfte keine Wiederauferstehung feiern.

„Das kommt darauf an in wessen Armen ich liege.“

Andrea zog Elena zu sich und schlang ihre Arme um sie. Die lies es geschehen. Sanft streichelte Andrea Elenas Kopf, fuhr dann mit den Handflächen an deren Körper entlang.

„Wären diese Hände recht?“

„Ich glaube nicht, dass es bessere gäbe.“

So verging die Zeit. Worte waren in diesem Moment überflüssig, die konnten sich in einer solchen Situation nur als störend erweisen.

Was würde wohl als nächstes geschehen? Wie weit gedachte Elena zu gehen? Nein, es war eben nicht Madleen in deren Armen sie jetzt lag, auch wenn sie ihr zum Verwechseln ähnlich sah.

Doch je mehr Zeit verging, desto weiter entfernten sich die Dämonen der Vergangenheit.

Es wurde später Nachmittag, es wurde Abend. Schließlich senkte sich die Dämmerung herab und bald war es zu kühl. um noch draußen zu sitzen, so dass sie sich ins Wohnzimmer begaben.

Hier bleiben oder einen Schnitt machen und sich in den Bunker zurückbegeben? Das war jetzt die Frage.

Elena betrachtete die Gemälde an der Wand. Landschaftsaufnahmen, Porträts und Akte in Hülle und Fülle.

„Hast du die Bilder gemalt?“

„Ja! Und es gibt noch viel mehr davon. Sag mal hättest du Lust mir Modell zu stehen, zu sitzen zu liegen, wie auch immer? Für Bilder für Skulpturen und was ich sonst noch so mache?“

„Ja! Mit dem größten Vergnügen?“ Stimmte Elena diesem Angebot ohne weitere Überlegung zu.

„Toll! Das wird ein großes Erlebnis für uns beide. Aber heute fangen wir nicht mehr damit an. In den nächsten Tagen, dann wenn es Zeit dafür ist. Jetzt wollen wir uns den bequemen Dingen des Lebens widmen. Wie wäre es mit einem guten Wein?“

„Da sage ich nicht nein.“

Andrea entfernte sich und kam bald darauf zurück. Der Wein konnte die Stimmung weiter lockern. Bleiben oder gehen? Diese Frage stand weiterhin im Raum und begehrte eine Antwort.  Elena war zutiefst unentschlossen.

Es entwickelte sich ein vertrauensvolles Gespräch.  Wann würde die Maske fallen? Mit Sicherheit war sich Andrea längst darüber im Klaren, mit wem sie es hier zu tun hatte, so wie die meisten anderen Dorfbewohner auch. Solange es aber nicht offensichtlich war, blieb Elena noch Verena.

Ihre Gespräche kreisten um alles Mögliche. Elena versuchte soweit als möglich Tiefgang zu vermeiden. Doch lange würde sie damit nicht mehr durchhalten. Alles in ihr begehrte auf und verlangte danach sich dieser ungewöhnlichen Person hinzugeben. Ein bisher kaum gekannter Zustand, war Elena doch im Allgemeinen in jeder ihrer Beziehungen die Gebende, die Aktive, selbst was ihre Männerbekanntschaften anging, wenn man Neidhardt einmal außer Acht ließ.

Hier war es völlig anders. Das was sich hier anbahnte, lies sich mit nichts vergleichen, was sie je hatte erleben können.

In der Zwischenzeit hatte die Dunkelheit über den Tag gesiegt. Ein heller klarer Vollmond goss sein Licht über die ruhende Landschaft und spendete dem Geschehen eine mystische Aura.

Elena hatte jede Widerstandskraft verloren und gab sich der neuen Freundin hin, ein sinnlicher Akt, der den rundum positiven Geschehnissen des Tages die Krone aufsetzte. Wildes Verlangen bei beiden Akteuren. Elena versank in den Fluten der Liebe, schwebte wie auf einer Wolke der Ekstase entgegen.

So ging es eine halbe Ewigkeit.

Doch ganz abrupt setzte sie einen Schlusspunkt.

„Ich.. ich muss nach Hause, es ist spät. Ich..ich möchte Neidhardt nicht zulange warten lassen.“

„Alles ok. Du musst dich nicht entschuldigen. Ich verstehe dich total. Wir müssen nicht schon beim ersten Mal die Hüllen fallen lassen. Dafür wird es beim nächsten Male umso sinnlicher.“

Erwiderte Andrea verständnisvoll.

„Nicht enttäuscht sein, ich komme wieder, immer wieder. Ich will es ebenso wie du.“

„Ich weiß, dass du wiederkommst. Ich weiß auch dass du das nächste Mal bei mir bleiben wirst.

Alles geschieht zu seiner Zeit. Ich wünsche dir einen sicheren Nachhauseweg. Der helle Mond wird dir sicheres Geleit spenden.“ Ein letzter Kuss und schon war Elena entschwunden.

Sie legte sich in die Pedalen und rauschte wie ein Sturmwind durch die Nacht.

War es Dummheit, das verlockende Angebot auszuschlagen? Elena kannte sich selbst nicht mehr wieder. Früher, in der guten alten Zeit, wäre ihr das nie passiert. Was in aller Welt war mit ihr los. Lag es womöglich daran, dass auch sie älter wurde und somit reifer, besonnener? War sie im Begriff eine andere zu werden?

Wie dem auch sei.

 

 

Noch stark berührt von dem Ereignis des vergangenen Abends begab sich Elena am Sonntagvormittag erneut in das Dorf. Positive Gedanken reihten sich aneinander und versetzten sie in eine ausgesprochen gute Stimmung.

Das Fest würde heute zu Ende gehen. Sie wollte der feierlichen Andacht in der Dorfkirche beiwohnen, die gegen 10 Uhr beginnen sollte. Sie war früher als gewohnt aufgestanden, um nicht zu spät einzutreffen. Endlich hatte sie die Betonstraße erreicht  und konnte sich auf das Fahrrad schwingen und den Rest der Strecke fahren. Sie würde sich das Gefährt heute für längere Zeit ausborgen, um somit besser zu Andrea gelangen zu können.

Als sie in den kleinen Park vor der Kirche einbog stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass Neidhardt dort schon auf sie wartete.

„Du bist auch da? Das freut mich außerordentlich. Sag mal, wann bist du aufgebrochen? Ich habe es gar nicht bemerkt?“

„Frühzeitig, wie immer. Ich war eine Zeitlang in Zweifel ob ich tatsächlich kommen soll. Habe mich kurz entschlossen dazu durchgerungen.“ Lautet die Antwort.

„Ein weiser Entschluss! Es gehört einfach dazu. Ein würdevoller Abschluss des Festes.“ Meinte Elena während sie ihr Fahrrad sicherte.

„Ich habe dich gar nicht nachhause  kommen hören, gestern Nacht. War spät, oder sollte ich lieber sagen früh?“ Erkundigte sich Neidhardt.

„Ja! Viel Schlaf hatte ich nicht Aber ich wollte das hier auch nicht versäumen.“

Neidhardt fragte nicht weiter nach Einzelheiten, worüber Elena sehr erleichtert war. Sie würde ihm ihre Erlebnisse haargenau berichten, doch jetzt war sie dafür noch nicht in Stimmung.

„Wollen wir reingehen?“ Frage Neidhardt.

Elena nickte, hakte sich dann bei ihm unter und gemeinsam betraten sie den Chorraum.

Sie schienen die ersten Besucher zu sein die gekommen waren

Festlicher Blumenschmuck zierte den Altar und alle Kerzen waren bereits entzündet, der kleine Posaunenchor probte nochmals die Lieder, die erklingen sollten.

Nach und nach füllte sich der Raum mit weiteren Besuchern.

Dann setzte das Glockenspiel ein, schließlich begann der Posaunenchor mit seinem Konzert.

Erhabene Klänge in einer würdevollen Umgebung.

Der Pastor hatte auf einem Stuhl neben dem Altar Platz genommen.

Alles schien im Gleichgewicht. Elena, die Jüngerin der Göttin Anarchaphilia, fühlte sich in einer christlichen Kirche keineswegs deplatziert, ebenso der Mann an ihrer Seite, Neidhardt, der sich lange Zeit als Marxist bezeichnet hatte.

Nach einer Weile betrat der Pastor die kleine Kanzel und verlas den Predigttext dieses Sonntags.

 

„Alles, was auf der Erde geschieht, hat seine von Gott bestimmte Zeit.

Geboren werden und sterben,

einpflanzen und ausreißen,

töten und Leben retten,

niederreißen und aufbauen,

weinen und lachen,

wehklagen und tanzen,

Steine werfen und Steine aufsammeln,

sich umarmen und sich aus der Umarmung lösen,

finden und verlieren,

aufbewahren und wegwerfen,

zerreißen und zusammennähen,

schweigen und reden,

das Lieben hat seine Zeit und auch das Hassen,

der Krieg und auch der Frieden.

Gott hat für alles eine Zeit vorherbestimmt, zu der er etwas tut und alles was er tut ist vollkommen.

Dem Menschen hat er ein Bewusstsein von der Unendlichkeit der Zeit gegeben, doch von dem, was Gott in dieser unendlichen Zeit tut, kann der einzelne Mensch nur ein winziges Stück erkennen.

Ich war zu der Erkenntnis gekommen: Das einzige was der Mensch zu seiner Freude tun kann, ist, dass er sein Leben genießt, solange er es hat.“***

 

Elena wurde von einem lange nicht mehr erlebten Wohlgefühl erfasst. Sie fühlte sich frei und geborgen. Ja, zuhause, wenn man von so etwas in ihrem Leben überhaupt sprechen konnte.

Die soeben gehörten Worte saßen. Sie hatten ihre Wirkung voll entfaltet. Elena fühlte sich angesprochen. Alles traf genau auf ihr Leben zu. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen.

Alles was sie erlebt hatte, musste so geschehen. Es war ein Bestandteil ihres Lebens. Endlich schien sie es begriffen.

Warum war sie früher nie darauf gekommen? Alle möglichen Situationen hatten stets darauf hingedeutet.

Genieße das Leben so wie es sich dir darbietet. Diese Botschaft gedachte sie umzusetzen. Sie genoss in diesem Moment die feierliche Atmosphäre der Andacht, die Posaunenchoräle und das Zusammensein mit Neidhardt.

Ebenso freute sie sich Andrea wieder zu sehen, um das zu vollenden, was sie in der vergangenen Nacht begonnen hatte. Das alles geschah zu seiner Zeit. Die Reihenfolge spielte keine Rolle. Alles hatte seine Richtigkeit, alles seinen Sinn. Selbst der Suizidversuch und die lange Zeit der Depressionen die sich hinter sich gelassen.

Eine Prüfung, wie schon so oft in ihrem Leben und sie hatte sie bestanden. 

Anarchaphilia hatte sie nicht verlassen, zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens.

 

  

 

 

*Melancholanien kämpfte im 1. Weltkrieg auf der Seite der Mittelmächte, danach erklärte sich  das Land für neutral. Am 2 .Weltkrieg nahm es nicht teil. 

  

 

**Über Napoleons frühen Tod mit 52 Jahren gibt es verschiedene Erklärungen. Offiziell erlag er einem Magenkrebsleiden. Es gibt aber auch Spekulationen darüber, ob er womöglich von den Engländern vergiftet wurde, da diese befürchten mussten, bei noch längerer Gefangenschaft einen Märtyrer aus ihm zu machen.

 

 

***Text aus dem Alten Testament Buch Kohelet Kapitel 3