Silberadler

Der Frühsommer brach an und hüllte das Land in seinen grünen Schleier. Noch mehr Blumen sorgten für einen verschwenderischen Schmuck.
Das Gesumme der Bienen erfüllte die warme Luft. Die Vögel sangen am frühen Morgen zur Ehre der Sonne, während Colette und Androgyna der S-Bahn entstiegen.


Eine abgelegene Gegend hier an der Haltestelle Buir. Kaum andere Menschen zu sehen. Das Dorf wirkte wie ausgestorben, kein Wunder, waren doch in der vergangenen Zeit schon eine ganze Reihe der Bewohner von hier abgesiedelt. Irgendwann, in naher Zukunft sollte das gesamte Dorf dem Braunkohletagebau weichen.


Nachdem beide die Unterführung passiert hatten und sich auf der Autobahnbrücke wiederfanden, wehte ihnen ein scharfer Wind entgegen und zerzauste Colettes Silberhaar.
Die Sonne kitzelte ihre Nase, so dass sie niesen musste.


„Alles in Ordnung Colette?“ Wollte Androgyna wissen, wie immer besorgt um das Wohl der Königin.
„Jaja! Alles in Ordnung!“ Erwiderte Colette, während sie sich ihre Baskenmütze auf dem Kopf zurechtrückte.
Sie setzten ihren Weg in Richtung Hambacher Forst fort.


Zu ihrer Linken erstreckte sich hinter einem Feld ein kleines Wäldchen, zu ihrer Rechten erhaschten sie einen ersten Blick auf das inzwischen vollständig abgesiedelte Dorf Manheim.
Die Spitze des Kirchturmes ragte anklagend in die Höhe, so als wolle sie schon von weiten auf den großen Frevel verweisen, der sich hier seit Jahren abspielte.
„Das Dorf müssen wir uns unbedingt noch ansehen.“ Fuhr Colette fort und wies mit dem Zeigefinge in dessen Richtung.


„Ja, aber nicht heute! Ich denke wir sind an diesem Tag vollends damit beschäftig den Wald zu erkunden und uns mit den Baumbesetzern auszutauschen.“ Entgegnete Androgyna.
„Natürlich! Sicher hast du recht.“


Der Weg zum Forst war lang und für Colette auch in gewisser Hinsicht beschwerlich. Sie war  nicht mehr die jüngste und verspürte auch Schmerzen im Rücken. Doch der Kontakt zu den Aktivistinnen war ihr sehr wichtig. Die hatten schon vor einigen Wochen Tuchfühlung zu den ungewöhnlichen Exilanten aufgenommen und verlauten lassen, dass sie sich über deren Besuch freuen würden.


Das alles war mit einem nicht unerheblichen Risiko verbunden. Colette, die gestürzte Königin von Akratasien im Hambacher Forst? Die deutschen Behörden wären nicht sehr glücklich über diese Tatsachen, sollten sie davon Wind bekommen.


Der Status, den die Exilgemeinde genoss, war noch immer nicht in allen Belangen festgelegt.
Der Verfassungsschutz hatte längst ein Auge auf die außergewöhnliche Gemeinschaft geworfen, die auf der einen Seite nach anarchistischen Grundsätzen lebte, an deren Spitze jedoch eine Königin stand. Offensichtlich überstieg diese Tatsache das Fassungsvermögen der deutschen Bürokratie erheblich.


Auch die Baumbesetzer konnten sich nicht so recht mit dem Begriff Anarchistische  Monarchie anfreunden und hatten aus diesem Grund den Vorschlag unterbreitet, das Colette  einen Workshop zu diesem Thema auf dem Wiesencamp halten sollte.


Die Königin und ihre Begleiterin waren sehr früh in Bensberg aufgebrochen und benutzten die S-Bahn in Richtung Düren. Selbstverständlich hatten sie für die Fahrt nicht bezahlt. Anarchistisch motivierte Aktivistinnen, die in den Hambacher Forst fahren tun das nun mal schwarz, das gehört zum Ehrenkodex.
Die Tatsache kontrolliert zu werden hatten sie einkalkuliert. Die Ex-Königin von Akratasien und ihre Begleiterin besaßen diplomatische Immunität.   
Doch welche entmachtete Königin im Exil käme andererseits auf die Idee schwarz mit der S-Bahn in den Hambacher Forst zu fahren?


Doch nun waren sie hier und näherten sich dem Wald. Zum Glück war es heute nicht so warm wie noch an den Vortagen.
So friedlich kam ihnen der Wald vor. Blaumeisen hüpften von Ast zu Ast und unterhielten sich. Eine Goldammer zwitscherte vor sich hin und hoch am Himmel krächzte ein Paar schwarzer Raben.
Inzwischen schmückte sich der Wald mit einem hellgrünen Blätterdach, das die Strahlen der Sonne nur noch gedämpft zu Boden gleiten lies.
Die Insekten summten um die Wette, ließen die beiden jedoch in Ruhe, ein Umstand den Colette mit Erleichterung zur Kenntnis nahm.


Schließlich erreichten sie die ersten aufgeschichteten Barrikaden. Da war so ziemlich alles vertreten was sich zur Verteidigung des Waldes verwenden lies. Von alten ausgedienten Möbeln, über Autoreifen und Schrott bis zu Ästen und Baumstümpfen. Ausgehobene Gräben mit eingemauerten Betonklötzen verstärken den Verteidigungswillen.
Colette und Androgyna setzten ihren Weg fort.
„Autsch!“


Als sich Androgyna umdrehte sah sie Colette auf dem Boden liegen, die dem Anschein nach gestürzt war.
Schnell lief die auf die Königin zu.


„Colette hast du dir wehgetan? Bist du wieder mal über deinen Wanderstab gestolpert?“
„Nein, bin an einer Baumwurzel hängen geblieben! Komm, hilf mir auf!“
Androgyna fasst Colettes Hände und zog sie nach oben. Im Anschluss begann sie diese abzuklopfen.
„Lass! Es geht schon! Das bisschen Dreck wird mich schon nicht umbringen.“


Sie setzten sich wieder in Bewegung und befanden sich bald auf dem Hauptweg der direkt zum Wiesencamp führte, so jedenfalls hatten sie es auf einem Wegweiser gelesen.
Bald konnten sie in den Baumkronen die ersten Baumhäuser entdecken, geschützt durch das sich immer weiter entwickelnde Blattwerk.

Aus der Ferne drang das leise Dröhnen der gewaltigen Schaufelbagger an ihre Ohren, die ständige Begleitmusik für die Umweltaktivisten. Tag und Nacht, die gleiche monotone Symphonie, pausenlos, gespenstisch und bedrohlich immer näherkommend.
Darin mischte sich das Brummen eines Polizeihelikopters, der am Himmel seine Kreise zog
„Wen die wohl suchen?“ Wunderte sich Androgyna.


„Na, dreimal darfst du raten!“ Antwortete Colette mit einem Seufzer in der Stimme.
„Uns?“
„Na, was dachtest du denn?“
„Kann ich mir nicht vorstellen! Woher sollen die denn wissen, dass wir hier sind? Hier ist doch ständig Polizei unterwegs. Das muss nicht notgedrungen mit uns zu tun haben.“ Glaubte Androgyna zu wissen.


„Da wäre ich mir nicht so sicher. Die sind über uns bestens informiert. Ich würde mich auch nicht wundern, wenn wir auf Pressefritzen stoßen. Ist doch ein gewaltiger Aufmacher.
Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir. Colette von Akratasien im Hambacher Forst verhaftet! Wann werden die ausländischen anarchistischen Unruhestifter endlich des Landes verwiesen? Die Zeitung mit den vier großen Buchstaben ist uns nicht sehr wohl gesonnen!“


Die Beiden waren so in ihr Gespräch vertieft, dass ihnen entgangen war, dass sie sich direkt unter einem Baumhaus befanden.
Colette hatte ihren Satz kaum beendet als sich eine vermummte und ganz in schwarz gekleidete Person in Windeseile von der großen, schlanken Eiche abseilte, deren Krone ein kunstvoll aus hellbraunen Brettern gefertigtes Häuschen trug, das wie ein Elsternest im Wind hin und herwogte.
Jabbadabbaduuuuuhh!“


Die Person kam abrupt neben Colette zum Stehen, die daraufhin vor Schreck zu Boden fiel, zum Glück weich gepolstert durch einen Haufen altes Laub, der wohl noch vom letzten Herbst liegen geblieben war.


„Jubiduwiedu!“ Jetzt fuchtelte die Person, deren Gesicht noch immer hinter der schützenden Sturmhaube verborgen war wild mit den Händen in der Luft herum, so als sei sie im Begriff Karateübungen vorzuführen.
Schließlich reichte sie Colette die Hand und half ihr gemeinsam mit Androgyna beim Aufstehen.


„Hallo, ich bin Fledermaus. Oberkundschafterin im Dienste der Gerechtigkeit und zum Schutze des Waldes und seiner Bewohnerinnen. Und mit wem habe ich die Ehre?“
Colette räusperte sich und klopfte sich den Staub von ihrer schwarzen Baumwollleggins.


„Also ich bin Colette von Akratasien und das ist Androgyna. Wir sind auf dem Weg zum Wiesencamp und werden dort erwartet. Zumindest hoffe ich es. Ihr habt uns selbst eingeladen!“
„Hmm, kann schon sein! Ja, jetzt erinnere ich mich langsam. Hab da so was läuten hören.
Akratasien? Du bist doch nicht etwa diese komische Königin, von der alle sprechen?“


„Genau die bin ich und das ist meine Reisebegleiterin!“
Colette wies mit dem Zeigefinger auf Androgyna.
„Komische Königin? Naja, womöglich bin ich das tatsächlich.“
Androgyna stellte sich kurz vor.


„Geht es in dieser Richtung zum Wiesencamp?“
„Ja, immer dem Weg entlang. Könnt ihr gar nicht verfehlen!“
„Kommst du nicht mit uns?“
„Findet ihr schon! Ich mach mich wieder auf den Baum. Fledermäuse scheuen üblicherweise das Tageslicht.“


Wie ein Äffchen kletterte Fledermaus wieder den Baumstamm nach oben. Die beiden sahen ihr noch so lange nach, bis sie im Blätterdach untergetaucht war.
„Hmm! Eigenartiges Empfangskomitee! Aber durchaus origineller Einfall, muss ich sagen. Wirklich sehr originell.“ Meinte Colette.
„Lass uns weitergehen.“ Androgyna folgte.


Die Wipfel über ihnen begannen sich rauschend zu wiegen. Es schien als gerate der Wald in Verzückung über die ungewöhnlichen Eindringlinge.
Die würzige Frühsommerluft verbreitete wohlige Zufriedenheit.
Die Sonne schien durch die Blätter und zeichnete goldenen Flecken auf dem Boden.


Schließlich erreichten sie das Wiesencamp, dass verschlafen auf die Besucher zu warten schien.
Die Siedlung aus Lehmhütten, Bretterbuden und vereinzelten Wohnwagen schienen auf den ersten Blick wie verlassen. An einem hohen Mast ganz am Eingang wehte eine schwarz-rote Fahne im leicht aufbrausenden Wind. Leises Stimmgewirr war in einiger Entfernung zu hören.


„Es scheint niemand da zu sein. Womöglich sind die alle im Wald unterwegs!“ Vermutete Androgyna.
„Lass uns alles erst einmal nachsehen!“ Schlug Colette vor. Darauf hin bewegten sie sich langsam über das Gelände.


„Hallo? Ist jemand zuhause?“ Rief Androgyna in die Weite.
Schließlich wurden sie doch noch fündig. Am anderen Ende der Siedlung hatten sich einige auf einer im Kreis aufgestellten Bankreihe versammelt.
Es war inzwischen später Vormittag. Der überwiegende Teil der Wiesenbewohner schien aus Langschläfern zu bestehen.


„Hey! Guten Morgen!“ Wurden die beiden begrüßt.
„Hallo!“
„Setzt euch!“ Bot ihnen ein junger Mann dessen lange Haare bis weit über die Schultern reichten, einen Platz an.


Dann trat eine junge Frau zu ihnen.
„Wir haben noch veganen Kuchen von gestern und veganen Kaffee! Bedient euch einfach. Hallo, ich bin Eichhörnchen. Ihr seid die Leute aus Akratasien? Oder?“
„Ganz recht! Ich bin Colette und das ist meine Begleiterin Androgyna. Wir wollten heute hier übernachten und morgen einen Workshop anbieten.“ Erwiderte Colette, während sie sich auf der Bank niederlies.


„Freut mich! Ich bin Hollunder!“ Stellte sich der junge  Mann vor. „Wir haben hier alle Wiesennamen. Aber das ist euch sicher bekannt.“
„Wir sind im Bilde!“ Antwortet Androgyna.


„Hey, ich bin Rabenfeder.“ Eine mit Sturmhabe vermummte Person lies sich neben ihnen auf der Bank nieder.
„Eichhörnchen und ich sind dafür eingeteilt uns um euch zu kümmern. Esst erst mal was und ruht euch aus, dann werden wir weitersehen.“
„Danke sehr freundlich von euch. Uns interessiert natürlich zunächst einmal das ganze Gelände. Wir möchten alles sehen. Die Baumhaussiedlungen, das Loch und alles was noch wichtig ist.“ Bekundete Androgyna gleich ihr Interesse.


„Wir können es uns gleich im Anschluss ansehen. Wir führen euch durch den Wald. Der ist zwar nicht mehr so groß wie früher, aber noch kann man sich verirren, wenn man nicht ortskundig ist.“ Bot Eichhörnchen an, während sie sich einen Kaffee einschenkte.
Der Name Eichhörnchen passte genau zu der jungen Frau etwa Anfang 20. Einmal wegen ihrer langen rot-braunen Lockenmähne, die sich für gewöhnlich zu einem Knoten auf dem Kopf zusammengebunden hatte. Zum anderen wegen ihrer Kletterkünste.


Colette und Androgyna würden sich später noch davor überzeugen können und zusehen wie sie sich, flink wie ein echtes Eichhörnchen, von Ast zu Ast hangelte.
„Habt ihr im Moment viel Ärger mit den Sicherheitskräften?“ Versuchte Colette in Erfahrung zu bringen.
„Zurzeit ist es ruhig! Hin und wieder mal ne kleine Auseinandersetzung mit den Securitys. Von den Bullen haben wir schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen.“ Klärte Rabenfeder auf. Noch immer die Sturmhaube auf dem Kopf.
„Na ist schon mal beruhigend!“
Colette streckte die Beine aus, lehnte sich zurück, atmete tief ein und aus, den Blick dabei nach oben gerichtet, sah sie den am Himmel ziehenden Wolken nach.

Nachdem sie ausgiebig geruht hatten, lud Eichhörnchen zu einem Waldrundgang ein.
Die beiden Besucher erhoben sich und folgten ihr bereitwillig, eingehüllt in frohe Erwartung die Geheimnisse des umkämpften Forstes zu ergründen.


Schnell hatten sie das Wiesencamp hinter sich gelassen und befanden sich wieder unter dem schützenden Blätterdach des Waldes.
Unter ihren Füßen knirschten die dürren abgestorbenen Zweige vergangener Jahre.
Der Wind lies die Äste der Bäume über ihnen rhythmisch aneinander schlagen.


Der Weg führte an den Waldrand. Dort wo sich die Grenze befand, die Demarkationslinie zwischen den verfeindeten Parteien.  Eichhörnchen und Rabenfeder waren bemüht Auseinandersetzungen möglichst aus dem Weg zu gehen. Sie wollten ihren Besuchern keiner unnötigen Gefahr aussetzen, deshalb hielten sie sich weitgehend in Deckung.
Das monotone Surren der Schaufelbagger wurde beständig lauter, je näher sie dem Loch kamen.


Am Waldrand angekommen überfiel Colette das kalte Grausen, als sie ihren Blick zum Horizont richtete. Eine echte Mondlandschaft konnte kaum bedrohlicher wirken. Da wo vor noch nicht all zu langer Zeit ein dichter Wald erstreckte, ein tiefes ca. 500 m tiefes Loch.

Die beiden Akratasier suchten nach und nach auch die einzelnen Baumhaussiedlungen auf, die an verschiedenen strategisch wichtigen Orten errichtet waren. Es kam zu einzelnen Gesprächen mit den Bewohnern, verbunden mit der Einladung, am Folgetag den Workshop zu besuchen. Die Königin und ihre Begleiterin stauten nicht schlecht über die Meisterkonstruktionen, hoch oben in den Baumwipfeln. Colette bekam es allerdings auch mit der Angst zu tun, wenn sie daran dachte, die Nacht in einem dieser Bauten zu verbringen.


Liebevoll angelegte Wege, immer wieder selbst gezimmerte Bänke, Schautafeln und Wegweiser. Alles sehr einladend. Eigentlich konnte sich ein Mensch hier nicht verirren.
An bestimmten Stellen verweilte Colette länger, genoss einfach die Umgebung oder schob eine kurze Meditation ein.
Dabei vernetzte sie ihren Geist ganz mit jenem des Waldes.

Colette und Androgyna verzehrten den Proviant, den sie mitgenommen hatten. Schließlich vertiefte sich Colette in das Buch, das sie mit sich führte. Das Sonnenlicht fiel auf dessen Seiten und lies die Farben aufleuchten.
Die Zeit verging schnell auf diese Weise und schon war es später Nachmittag.
Sie kehrten zum Wiesencamp zurück trafen dort auf Eichhörnchen.


Nach einer kurzen Pause brachen sie wieder auf, in Richtung Baumhaussiedlung mit dem Namen Oaktown. Colette wollte sich dort ihren lang ersehnten Wunsch erfüllen. Eine Nacht auf einem der Baumhäuser verbringen, natürlich gemeinsam mit Androgyna, die nie von deren Seite wich.
Uralte Bäume säumten ihren Weg.  Von Naturgewalten eindrucksvoll geformte majestätische Skulpturen. Colette verspürte einen tiefen Stich im Herzen, in Anbetracht der Tatsache, dass auch diese Zeugen aus längst vergangenen Tagen bald Opfer der Motorsägen werden konnten.


An der Siedlung angelangt blickte Colette zu den Baumhäusern, es hatte den Anschein als schwebten sie schwerelos in der Höhe. Wie in aller Welt sollte sie nach oben gelangen?
Erst jetzt wurde sich die Königin der ganzen Tragweite ihres Ansinnens bewusst.
„Ja, Colette! Nun ist es soweit. Du wolltest ja unbedingt in einem Baumhaus nächtigen. Ich habe dich von Anfang an gewarnt.“
Androgynas mahnende Worte holten die Königin aus ihrem Tagtraum.


„Also nach oben klettern kann ich auf gar keinen Fall. Das schaffe ich keine zwei Meter. Ich denke, es war doch keine so gute Idee!“
„Der Meinung bin ich auch!“ Stimmte Androgyna zu.
„Hmm, und was machen wir jetzt?“


„Niemand verlangt von dir zu klettern!“ Schaltete sich Eichhörnchen ein. „Wir haben einen sicheren Aufstieg vorbereitet. Hey Stechpalme, bedien doch mal den Flaschenzug und lass die Trapezstange runter.“ Die letzten Worte rief sie dabei laut nach oben.
Mittels Seilwinden wurde eine eigens konstruierter Sitz nach unten gelassen, der einem Trapez, wie man es aus dem Zirkus kennt nicht unähnlich war.
„Also, du nimmst darauf Platz und wir ziehen dich nach oben, natürlich noch mit Sicherheitshaken versehen. Ist ganz einfach, wir haben es mehrmals getestet. Es kann nichts dabei schief gehen.“ Gab Eichhörnchen selbstsicher zu verstehen.


Colette schluckte den Klos im Hals hinunter.
„Na, ich weiß nicht. Schon beim Anblick wird mir übel.“
„Ach was! Hab keine Angst. Wir bekommen das hin! Ich mach mich schon mal auf dem Weg nach oben.“ Eichhörnchen griff nach dem Seil und schwang sich in die Höhe.
„Was ist mit dir?“ Fragte sie in Richtung Androgyna.


„Ich werde klettern! Kann ich ganz gut! Denke ich zumindest! Hab`s schon eine Zeit lang nicht mehr versucht.“ Erwiderte die Angesprochene.
Eichhörnchen war in Hand umdrehen oben und lies das Seil nach unten. Androgyna griff danach, testete kurz dessen Stärke, dann schwang auch sie sich in die Luft. Sie hatte es noch nicht verlernt, Ihr junger sportlicher Körper strebte Stück für Stück der Baumkrone entgegen.


Der aufkommende Wind zerzauset ihre lange, schwarz-glänzende Lockenmähne ein wenig.
Androgyna, jenes rätselhafte Wesen, männlich und weiblich in einer Person, war ein Hingucker in jeder Hinsicht. Ihre Aura zog jeden und jede in den Bann. Die perfekte non-binary. Hier im Forst konnte sie auf viele Gleichgesinnte treffen

Nun war es an Colette zu folgen.
Mit wackeligen Knien bestieg sie die Trapezstange , legte sich den Sicherheitsgurt um und befestigte den Karabinerhaken.
Noch einmal durchatmen, dann gab sie das Signal. Langsam zogen Eichhörnchen und Androgyna am Seil und Colette erhob sich in Schwindel erregende Höhen. Sie kniff die Augen zusammen und umfasste die Trapezstricke so fest, dass sie um ein Harr einen Krampf in die Hände bekam.


„Hey Colette? Alles in Ordnung? Du bist oben! Du hast es geschafft!“ Begrüßte Androgyna die Königin.
„Wirklich?“ Colette öffnete zaghaft die Augen. „Tatsächlich! Ich bin oben!“
Nun hieß es aussteigen alle drei halfen ihr dabei und sie befand sich auf dem kleinen Steg vor der Hütte wieder. Es folgte der erste zaghafte Blick in die Tiefe. Dessen Anblick lies wieder ihre Knie zittern.


„Das Baumhaus gehört euch! Kommt erst mal an! Lebt euch ein. Es ist inzwischen später Nachmittag. Bald ist es Abend. Ich denke ihr bleibt für heute oben?“ Erkundigte sich Eichhörnchen.
„Nicht um alles in der Welt werde ich die Trapezstange heute noch einmal benutzen. Aber morgen hilft du uns wieder beim Abstieg?“ Wollte Colette wissen.
„Aber klar doch! Ich bin zur Stelle, wenn ihr mich braucht. Mein Haus ist da drüben.“
Eichhörnchen wies mit dem Finger auf das benachbarte Haus, auf einer anderen Baumkrone, etwa 20 m zur Linken. Erreichbar über eine wackelige Hängebrücke, die alle Baumhäuser mit einander verband.


„Ihr könnt mich gerne besuchen, wenn ihr wollt!“ Lud Eichhörnchen ein.
„Danke für das Angebot! Aber ich glaube nicht, dass ich davon Gebrauch machen werde. Du Androgyna?“
„Ich weiß nicht! Mal sehen!“


Die Baumbesetzerin verschwand über die Brücke in ihr eigenes kleines Reich und lies die Besucher allein.
Colette betrat das Innere der Kammer, die sich bei näherer Betrachtung als durchaus geräumig präsentierte.
Stieleiche hatte es zur Verfügung gestellt. Dem Anlass entsprechend umgeräumt. Lichtdurchflutet, aufgrund des großen Fensters, das auf der Westseite eingelassen war. Zwei kleine Liegen, ein Tisch, sogar ein Ofen war vorhanden, den man zu dieser Jahreszeit natürlich nicht befeuern musste.


Drei Kanister an Wasservorrat, zum Trinken und für die Katzenwäsche. Morgens und abends.
Auf dem Dach gab es jede Menge Fähnchen, die unbeschwert im Winde flatterten.
„Ich muss mich erst mal ne Weile ausruhen.  Ganz schön anstrengend.“
Colette begutachtete die Liege und nahm vorsichtig darauf Platz.


„Ahhhhh! Das tut gut. Erst mal abschalten. Du kannst es mir gleichtun, oder die Gegend weiter erkunden, Androgyna. So wie du willst.“
Die Königin zog die Stiefel von den Füßen, lehnte sich an die dünne Holzwand streckte die Beine aus und schloss die Augen.
„Na gut! Ich seh mich mal um. Aber viel werde ich mit Sicherheit auch nicht mehr machen.“
Androgyna verschwand nach draußen. Colette glitt derweil in einen leichten Schlummer.


Nach einer gewissen Zeit lies die Abenddämmerung nur noch wenige kraftlose Strahlen durch die Äste sickern.
Bald schon senkte sich Dunkelheit über den Wald- Bäume wurden zu Schatten und Schatten zu Bäumen. Wolken, dünn wie schwarzer Rauch zogen an der Mondscheibe vorüber. Schwach nur leuchteten die Sterne.


Auf einmal war Colette wieder hellwach, die Kräfte schienen wiedergekehrt. Androgyna war von ihrem Erkundungsgang zurück.
„Oje! Ganz schön schwierig, so über die einzelnen Schwellen der Hängebrücke zu gleiten. Würde ich dir nicht unbedingt empfehlen. Aber hochinteressant ist das alles hier. Die Konstruktionen der Baumhäuser, das sind wahre Meister der Improvisation. Phantastisch, einfach nur phantastisch.“ Begeisterte sich Androgyna.
„Geht es dir gut, Colette?“


„Ja, durchaus! Ich war darauf vorbereitet, dass es anstrengend wird. Aber es hat sich allemal gelohnt. Ich möchte noch mal kurz einen Blick auf den Nachthimmel werfen.“
Colette trat nach draußen, dabei ´stets darauf bedacht, sich festzuhalten und keinen unüberlegten Schritt zu wagen.


Der Mond war inzwischen höher gestiegen und überflutet das ganze Haus mit seinem Licht. Die wenigen verbliebenen Wolken konnten seiner Kraft keinen Einhalt mehr bieten.
„Ahhhh! Was für ein Abend! Eine grandiose Aussicht ist das. Ich hätte mir niemals träumen lassen einmal so etwas zu erleben.“
Androgyna platzierte sich dicht hinter der Königin, um im Notfall nach ihr greifen zu können, sollte das nötig sein.
Colette breitete die Arme aus und blickte in Richtung Mond.


„Volle Mondin ich grüße dich. Ich bin der Silberadler, ich fliege dir entgegen. Ich tauche ein in dein Mysterium. Lass mich deine Kräfte spüren.“
„Du wirst gleich fliegen, 20 Meter in die Tiefe, wenn du nicht achtsam bis. Sei doch vorsichtig! Wenn du zum Fallen kommst, werde ich dich kaum halten können. Du bringst einige Kilo mehr auf die Waage als ich.“ Mahnte Androgyna ihr sanft ins Ohr.


„Ach, es wird schon nichts geschehen. Hab Vertrauen. Die Geister des Waldes meinen es gut mit uns.“ Entgegnete Colette.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ Androgyna umschlang Colettes Taille und zog sie ein Stück näher an sich.
„Hmm! So geht es natürlich auch! Du hast ja Recht! Es ist schon nicht ungefährlich was wir hier tun.“


„Silberadler? Hab ich von dir noch nie gehört! Wie kommst du denn darauf?“
„Das ist mein Wiesenname! Hab mich gerade dafür entschieden. Einige auf dem Wiesencamp nannten mich heute Morgen so.“
„Klingt gut! Passt zu dir. Colette die stolze Adlerin, mit dem silbergrauen Lockenhaar, die majestätisch über allem ihre Kreise dreht aus einer gewissen Distanz und doch stets präsent.“ Stimmte Androgyna zu.


Eine ganze Weile verharrten sie im Schweigen und genossen die Aura, die sie von allen Seiten umgab.
Das eintönig-gleichförmige Rauschen der Riesenbagger, das vom großen Loch an ihre Ohren drang wollte auch in der Nacht nicht verstummen. Ein fremdartiges Geräusch, das so ganz und gar nicht zur Ursprünglichkeit der Natur zu passen schien.


Leichter Wind kam auf, die Plattform bewegte sich sanft in dessen Takt.
Nach einer ganzen Weile begaben sie sich wieder in den Schutz des Baumhauses.
„Nun dann werden wir uns zur Ruhe begeben. Ich hoffe nur das ich auch welche finden kann.“ Meinte Colette, während sie damit begann sich ein wenig Wasser ins Gesicht zu spritzen.
„Ist schon ein seltsames Gefühl, so hoch über dem Boden zu nächtigen. Ich hoffe das es keinen Sturm gibt in der Nacht.“

 „Laut Wetterbericht ist nicht damit zu rechnen. Uns erwartet eine ruhige laue Frühsommernacht.“ Erwiderte Androgyna.
Dann versuchten beide sich so gut es eben ging auf den schmalen Liegen zu betten.


„Viel Schlaf werde ich mit Sicherheit nicht finden. Meine Bandscheiben werden aus Protest gegen die harte Liege Zeder und Mordio schreien.“
Colette verspürte tiefe Sehnsucht nach ihrer dicken Federkernmatratze.
„Naja, versuchen wir`s! Gute Nacht Androgyna!“
„Gute Nacht Colette!“

„Androgyna?“
„Ja?“
„Hast du dir auch einen Wiesennamen ausgewählt?“ Wollte die Silberadlerin wissen.
„Nein bisher noch nicht! Sollte ich denn?“
„Nicht unbedingt! Du hast ja bereits einen extravaganten. Der passt auch gut in diese Umgebung. Wie angegossen. Ich hätte mir damals auch so einen ausgefallenen geben sollen. Was tue ich stattdessen? Nenne mich Colette! Klingt irgendwie wie Kotelett. Naja, nun ist der mein Markenzeichen. Habe mich dran gewöhnt. Gute Nacht Androgyna!“
„Gute Nacht Colette!


Stille erfüllte die kleine Hütte auf dem Baumwipfel. Doch wollte sich bei Colette wie nicht anders zu erwarten kein Schlaf einstellen. Sie drehte und wälze sich so lange bis es plötzlich heftig donnerte und schepperte.


„Aua! Uuuuuh!“
Androgyna schreckt aus dem leichten Schlummer, in den sie gerade gefallen.
„Colette? Ist alles in Ordnung?“
„“Alles bestens! Ich bin nur gerade aus dem Bett gefallen!“
„Hast du dir wehgetan?“
„Ich glaube ich werde es überleben! Also dann auf ein Neues!“ Colette platzierte sich erneut auf der Liege.
„Gute Nacht Androgyna!“
„Gute Nacht Colette!“

Endlich nach einer halben Ewigkeit obsiegte die Müdigkeit und beide versanken nacheinander in die Tiefen des Schlafes.

Etwa zur gleichen Zeit, als Colette aus ihrem Bett gefallen war, machte sich Eichhörnchen noch einmal auf den Weg. Geschickt wie immer seilte sie sich ab, bis sie festen Boden unter den Füßen spürte, betätigte die Taschenlampe und begab sich in die Dunkelheit des Waldes.
Sie strebte zu dieser späten Stunde einem Rendezvous entgegen, auf das sie sich schon den ganzen Tag gefreut hatte.


Außer der nicht enden wollenden Begleitmusik der Schaufelbagger, war kaum noch ein Laut zu hören.
In einigen Baumhäusern sah sie noch einen zarten Lichtschein, die meisten hatten sich jedoch längst zur Ruhe begeben.
Eichhörnchen beschleunigte ihren Gang, denn die Zeit, die sie mit ihrer neuen Liebe verbringen konnte, war kurz genug.

Ihre Gedanken glitten zurück in jene Zeit vor etwa einem halben Jahr. Es war im letzten Herbst, die Blätter begannen sich schon in Bronze und Goldtöne zu färben. Die letzte große Protestaktion des Jahres.
Einige Hundertschaften der Polizei hatten den Wald umstellt und schweres Geschütz aufgefahren. Die in mühsamer Arbeit erbauten Baumhäuser sollten weichen, um der geplante Rodung Platz zu machen.


Wie die meisten Aktivistinnen hatte auch Eichhörnchen vor, Stellung in der Spitze einer alten Stieleiche beziehen, um diese vor den Motorsägen zu schützen.
Es war früher Morgen, kaum das ein fahles Licht am Horizont die Ankunft des neuen Tages verriet.


Mit schweren Ketten bestückt rannte sie in den Wald, die Angst saß ihr im Nacken. Sie kannte die Gefahr, niemand vermochte zu sagen was sich im Laufe dieses Tages ereignen würde. Kam sie etwa zu spät? War das Rollkommando früher eingetroffen und die Aktion schon im vollen Gange? Bis zum Schluss hatte sie sich mit Zweifeln geplagt. Sollte sie sich lieber verstecken und abwarten. Nein! Das kam nicht in Frage. Sie wollte dabei sein, ihren Platz bei den anderen einnehmen. Ihr war kalt und sie zitterte am ganzen Körper.
Eine gespenstische Atmosphäre. Stimmengewirr von allen Seiten das sich ihr bedrohlich näherte.


Sie strebte dem Ziel entgegen, dass sie schon in den Vortagen ausgewählt und sich daran ausprobiert hatte.
Plötzlich tauchten vor ihr, in etwa 50 Entfernung, etwa ein dutzend Polizisten in ihrer Kampfmontur auf, offensichtlich mit dem Ziel die Lage auszukundschaften.


Wie vom Blitz getroffen lies sich Eichhörnchen in einen Hagebuttenstrauch fallen. Die spitzen Dornen bohren sich an verschiedenen Stellen durch ihre nicht sehr dicke Baumwollbekleidung. Mit schmerzverzerrtem Gesicht biss sie die Zähne zusammen. Mucksmäuschenstill harrte sie eine ganze Weile aus. Schließlich wähnte sie sich in Sicherheit, erhob sich und blickte geradeaus. Doch welch ein Schreck, sie schien umzingelt. Von Panik erfüllt ergriff Eichhörnchen die Flucht zurück in die Richtung aus ´der sie gerade gekommen. Die Dornen hatten sich derart in ihrer Sturmhaube verhakt das sie ihr vom Kopf gerissen wurde. Mit großer Mühe gelang es ihr die langen Harre aus der Hecke zu befreien. Sie lies alles fallen und lief, lief wie besessen. Die Trillerpfeifen nahm sie gar nicht mehr war. Es ging weiter durch dichtes Gestrüpp, je dichter, desto besser. Dorthin würde ihr kaum jemand folgen. Völlig außer Atem hielt sie an, sich dabei angsterfüllt umblickend.


Den Kopf noch leicht nach hinten gedreht stürmte sie wieder los, an einer besonders alten, dicken Eiche bog sie um die Ecke, dann rumpelte es gewaltig. Sie war frontal mit einer ihr entgegenkommenden Polizistin zusammengestoßen, die sich etwas abseits von den anderen befand und ihren Gegenverkehr ebenso wenig bemerkt hatte. Beide landeten äußerst unsanft auf dem Boden.

    
Die Frau trug keinen Helm, den hatte sie an ihrem Gürtel befestigt. Das bot beiden die Möglichkeit ihrem Gegenüber ins Gesicht zu blicken.
Würden die Frauen nun aufeinander losgehen? Nichts dergleichen! Es funkte, es funkte ganz heftig zwischen den beiden, aber auf ganz andere Art und Weise. Eichhörnchen blickte in das hübsche Gesicht ihrer vermeidlichen Gegnerin und war wie elektrisiert. Hellblondes Haar, kunstvoll zu einem Zopf geflochten und zwei blaue Augen, so blau wie ein kristallklarer Bergsee. Eichhörnchen konnte sich nicht erinnern jemals in ihrem Leben so etwas Schönes gesehen zu haben. Sie wollte sich erheben, um weiter zu fliehen, doch sie war dazu nicht imstande. Es schien als würde sie von einer großen Hand am Boden festhalten.


Auch die Person auf der anderen Seite war dem Anschein nach von Eichhörnchens Anblick fasziniert. Besonders die rotbraune Lockenpracht hatte es ihr angetan, die zerzaust über deren Schultern hing.
Ein Blitz hatte eingeschlagen und seine volle Wucht entfaltet. Es war Liebe auf den ersten Blick, auf beiden Seiten, daran bestand nicht der geringste Zweifel.

Sekunden vergingen, die beiden wie eine halbe Ewigkeit erschien. Der Polizeitruppe näherte sich von der linken Seite. Die Stimmen holten die Baumbesetzerin in die Realität zurück.
Plötzlich erhob sich die Frau auf der anderen Seite und machte einen Schritt auf Eichhörnchen zu.


Das war`s! Nun bin ich dran! Sie wird mich an Ort und Stelle festnehmen!  Ging es ihr durch den Kopf. Angst legte sich wie ein kalter Mantel auf ihr Herz.
Die Polizistin griff nach ihren Händen und zog sie nach oben.
„Komm!“
Rasch zog sie Eichhörnchen hinter einen dichten Haselnussstrauch.
„Duck dich ab und bleib unten! Ich bin gleich zurück!“
Eichhörnchen verstand nur Bahnhof. Was hatte das zu bedeuten? Die Frau schritt auf ihre Kollegen zu, die sich nun in unmittelbarer Nähe befanden.


„Hallo Olivia; bei dir alles klar?“ Vernahm sie die Stimme eines Beamten.
„Alles Ok!“
„Da muss eben eine Besetzerin vorbeigekommen sein. Hast du sie gesehen?“
„Ja, die ist in die Richtung gelaufen, war zu schnell. Konnte sie nicht mehr einholen.“
Noch ein paar Worte zum Abschluss, dann entfernten sich die anderen.
Eichhörnchen verstand die Welt nicht mehr. Olivia hieß sie also. Warum hatte sie das getan?
Schnell war sie zurück und platzierte sich an ihrer Seite.


„Warum hast du das gemacht? Ich verstehe nicht!“
„Hmm, das möchte ich auch gerne wissen! Bleib noch ein paar Minuten in Deckung, dann kannst du dich wieder auf den Weg machen. Versteck dich für den Rest des Tages. Heute wird`s bestimmt noch viel Ärger geben.“
Olivia erhob sich, um ihren Kollegen in den Wald zu folgen.


„Warte doch! Ich….ähm… ich möchte mich bedanken. Olivia heißt du. Ich bin… Eichhörnchen.“
Ein sanftes Lächeln bildete sich in Olivias Mundwinkeln. „Eichhörnchen? Ja, genau so wirkst du auf mich.“
„Bleib doch!“ Bat Eichhörnchen mit sehnsuchtsvollem Blick.


„Wenn du meinst!“ Olivia kam zurück. Plötzlich schien sie es gar nicht mehr eilig zu haben.
„Hey, du bist ja verletzt!“ Am linken Oberarm hatte sich die Waldaktivistin eine schmerzhafte  Wunde zugezogen, während sie sich aus den Hagebutten befreit hatte.
„Lass mich mal sehen! Mach den Oberarm frei!“


Die angesprochene tat wie ihr geheißen, als Olivias Blick auf die Tätowierung fiel, die sich Eichhörnchen etwa zwei cm unterhalb der Wunde hatten machen lassen, bildete sich ein leichtes Schmunzeln auf deren Mund.  Das Symbol der Labrys, die Doppelaxt.
Aus ihrem Rucksack holte die Polizistin Verbandszeug und machte sich daran Eichhörnchens Wunde zu versorgen. Die Nähe und die Berührung der anderen Frau ließen deren Gefühle in ungeahnte Höhen steigen.


Als das Pflaster richtig saß, lies sich Olivia einfach auf dem Boden nieder.
Es folgte ein aus der Spontanität geborenes Gespräch, das mit einer Vertrautheit geführt wurde, die beiden noch vor wenigen Augenblicken undenkbar erschienen wäre.
So verging der Vormittag. Irgendwann holte Olivia ihren Proviant, den sie mitgenommen hatten und teilte diesen mit Eichhörnchen.


„Nun muss ich aber wirklich gehen!“ Gab die Polizistin zu verstehen, während die Sonne inzwischen am Himmel ihren Höchststand erreicht hatte.
Mit traurigen Augen blickte ihr Eichhörnchen nach. Nach wenigen Schritten machte Olivia kehrt.
„Sag mal, besitzt du ein Handy?“
„Ja!“
Von tiefem Glück erfüllt nannte sie ihre Nummer ,die Olivia gleich auf ihren Display eingab. Wenig später piepste es in Eichhörnchens Hosentasche.
Geschafft! Der Kontakt hergestellt. Nun kam es darauf an welche den ersten Schritt tat.

Am Folgetag meldete sich Olivia tatsächlich und von an nahmen die Dinge ihren Lauf. Der Beginn einer Romanze von ganz besonderer Art. Allen Widrigkeiten zum Trotz fanden sie recht schnell zusammen, doch wie es auf Dauer weitergehen sollte, lag noch in einem dichten Nebel verborgen.

Gedankenversunken hatte Eichhörnchen schließlich den vereinbarten Treffpunkt erreicht. Die Herzdame wartete dort bereits voller Ungeduld.
Eichhörnchen entschleunigte ihren Gang und pirschte sich leise an die Geliebte heran und hielt ihr von hinten die Augen zu.
Natürlich wusste Olivia sogleich mit wem sie es zu tun hatte. Sie wandte um und Eichhörnchen fiel ihr um den Hals. Es folgte eine innige Umarmung und ein leidenschaftlicher Begrüßungskuss.
„Wartest du schon lange?“ Wollte Eichhörnchen wissen.


„Nicht lange, vielleicht 10 min. Ich hatte schon Angst du kommst nicht mehr. Du weißt doch das ich mir ständig Sorgen um dich mache.“
„Kein Grund! Alles ruhig! Alles bestens!“ Gab Eichhörnchen zu verstehen, die ihre Arme noch immer um Olivias Hals schlang und zum nächsten Kuss ansetzte, dabei musste sie auf den Zehenspitzen balancieren, denn Olivia war einen halben Kopf größer.


Olivia umfasst Eichhörnchens Taille und zog sie zu sich. Eine Streicheinheit folgte auf die andere.
„Wollen wir uns setzen? Schlug sie schließlich vor.
Eichhörnchen folgte der Einladung und beide nahmen auf der aus alten Holzpalletten gefertigten Bank Platz.
Olivia zog den prall gefüllten Tornister zu sich den sie bei sich trug, öffnete diesen und begann ihre Mitbringsel auszupacken.


„Also, hier ist deine Wäsche.“
Eichhörnchen griff nach dem Beutel und steckte ihre Nase hinein.
„Hmmm, das duftet aber gut!“


„Hier sind die gewünschten Batterien, ich habe verschiedene Größen dabei.“ Fuhr Olivia fort.
„Sehr gut! Da werden sich unsere Taschenlampen freuen.“
„Ein Leckerli für den kleinen Hunger habe ich auch dabei!“
„Hey, Pfannkuchen! Du bist ein echter Schatz!“ Begeisterte sich Eichhörnchen, griff in den Beutel, zog einen heraus, wickelte das Stanniolpapier ab und begann zu mampfen.
„So wie du sie am liebsten magst, gerollt und innen mit Kakao bestrichen. Ja und hier habe ich eine Salbe mitgebracht. Speziell für entzündete Insektenstiche. Nicht billig, aber das bist du mir wert. Sind deine Beine noch immer so doll zerstochen?“


„Ja, es juckt und brennt, manchmal echt zum verrückt werden!“ Antwortete Eichhörnchen mit vollem Mund. Dann zog sie die Hosenbeine nach oben und präsentierte die mit Quaddeln übersäten Knöchel und Schienbeine.
„Sieht gar nicht gut aus. Na wenigstens hast du Schuhe an und läufst nicht barfuß im Dunkel durch den Wald.“
Senkte Olivia den Blick auf die ausgelatschten Leinenturnschuhe an Eichhörnchens Füßen, die früher einmal die Farbe weiß hatten.
„Komm legt deine Füße auf meinen Schoß ich werde dir die Salbe auftragen.“
„Gerne!“ Kam Eichhörnchen Olivias Bitte nach.


Die zog  die Schuhe von den Füßen der Geliebten, begann die Salbe aufzutragen und einzumassieren. Schließlich endete alles in einer Fußmassage.
„Hmmmmmm!“
„Tut gut, nicht?“
„Wau, es ist himmlisch. Du hast echte Zauberhände.“ Stöhnte Eichhörnchen zufrieden.
„Und wann dürfen diese Zauberhände wieder deinen ganzen Körper beglücken?“ Wollte Olivia wissen.“Wann darf ich dich wieder in mein Reich entführen?“
„Am liebsten auf der Stelle. Aber du weißt doch um was es geht. Ich bin Teil einer Gemeinschaft. Ich kann nicht einfach so verschwinden und mich aus allem ausklinken!“
„Oh doch! Du könntest schon. Einmal hast du es getan. Und? Hat es dir nicht gefallen?“
In der Tat. Ein ganzes Wochenende hatte die Waldaktivistin in Olivias Dürener Wohnung verbracht. Dort waren sie sich zum ersten Mal richtig nahegekommen und hatte sich leidenschaftlich geliebt. Olivia hatte alles getan, um die Geliebte nach Strich und Faden zu verwöhnen.
Noch Tage danach fühlte sich Eichhörnchen auf Wolke sieben.   


„Ich sehne mich so nach einer Fortsetzung?“ Sprach Olivia mit Traurigkeit in den Augen.
„Ich doch auch! Ich kann kaum noch schlafen. Ich muss immerfort an dich denken.“ Pflichtete ihr Eichhörnchen bei.


„Dann komm! Wir brausen sofort los, ab in unser Paradies. Ich hab den Jeep am Waldrand geparkt. Ich weiß, meine kleine Ökoaktivistin mag keine Fahrten mit dem eigenen PKW, noch dazu mit einem Benzinfresser wie diesem. Aber einmal kannst du doch über deinen Schatten springen. Es merkt doch keiner. Zurück fährst du mit der S-Bahn, schwarz, versteht sich.“
„Versteht sich! Nein heute geht es nicht, wir haben morgen Plenum, wichtige Entscheidungen stehen an, für die nächsten Aktionen. Aber ich denke am Wochenende könnte ich mich frei machen.“ Versprach Eichhörnchen. „Ich müsste dringend mal wieder duschen. Wir haben hier so selten die Möglichkeit.“


„Bei mir kannst du sogar baden, wie du weißt. Von mir aus jeden Tag. Wenn du jetzt mitkommst, stecke ich dich zuerst in die Wanne, die bietet auch Platz für uns beide. Danach bekommst du eine Ganzkörpermassage mit duftenden Ölen und sanfter Begleitmusik. Im Anschluss schlüpfen wir unter die Decke und dann, und dann…“
„Hey du bist unfair! Du bringst mich tatsächlich noch dazu schwach zu werden.“


„Genau das!“ Also gut, dann aber wirklich am Wochenende. Versprochen?“
„Versprochen! Anderseits, du hast mich noch nie auf meinem Baumhaus besucht. Warum bleibst du nicht oder kommst morgen oder übermorgen vorbei?“ Hielt ihr Eichhörnchen entgegen.
„Ich möchte schon! Stell ich mir romantisch vor, so ganz oben über den Baumwipfeln. Aber ich bin Polizistin, eine Feindin sozusagen, deine Genossen und Genossinnen wären sicher nicht erbaut über diese Tatsache.“ Mahnte Olivia.


„Aber dich kennt doch keiner hier! Du könntest ja kommen, wenn es bereits dämmert. Ruf einfach vorher an. Ich erwartete dich. Wenn dir jemand dumm kommt, na mit dem werde ich schon fertig. Die vielen Sachen, die du besorgst und jedes Mal mitbringst, werden von den anderen ja auch benutzt.“
„Na gut! Ich werde es mir überlegen.“
Olivia packte die Mitbringsel zurück in den Rucksack.
„Warum packst du das wieder ein?“
„Na dann kannst es besser transportieren. Den Rucksack kannst du behalten!“


„Hey Danke! Aber der ist nagelneu?“ Wunderte sich Eichhörnchen.
„Na, du hast doch gesagt dass du dringend einen neuen brauchst.“  
„Hey toll! Ich freue mich. So, genug gequatscht. Las uns einfach noch ne Weile schmusen. Komm, nimm mich in deine Arme!“
Olivia schlang Arme und Beine um Eichhörnchen und wog sie wie sanft hin und her, streichelte deren Arme, die Brüste und den Bauch zwischendurch griff sie in deren Haar und ließ die langen Strähnen durch ihre Finger gleiten.
Wie auf Bestellung begann in nicht allzu weiter Entfernung eine Nachtigall zu zwitschern und der Silbermond goss sein Licht durch die Äste des Waldes und verlieh ihm einen märchenhaften Schimmer.
Schweren Herzens musste sie voneinander weichen und jede begab sich in die ihr eigene Welt. Das Herz dabei voller Sehnsucht und Hoffnung.
Da Eichhörnchen nach diesem Erlebnis lange nicht in den Schlaf fand, nahm sie, nachdem sie wieder ihr Baumhaus erklommen hatte, ein Buch zur Hand und lass bis in die tiefe Nacht. Olivias frische Batterien sorgten endlich wieder für eine ausreichende Beleuchtung.

Colette erwachte spät am Morgen, ein seltener Umstand.
Androgyna war bereits auf den Beinen und hantierte in der Nähe herum.
„Guten Morgen Colette! Wie fühlst du dich? Hast du gut geschlafen?“


„Guten Morgen Androgyna! Ja, es geht. Die Nacht war erstaunlich gut. Bis jetzt ist es gut gegangen. Aber ich muss mich erst mal erheben. Dann werden wir sehen. Ich fürchte, dass ich steif wie ein Brett bin.“
Gleichsam in Zeitlupe erhob sich die Königin von ihrer Liegestatt.
„Oooohhhh! Buuaahhh! Die Bandscheiben haben scheinbar ganz schön was abbekommen!“


Colette bewegte ihre Schultern in drehenden Bewegungen nach vorne , nach hinten und wieder zurück. Danach lies sie den Kopf kreisen. Schließlich wagte sie es aufzustehen.“
Androgyna hatte in der Zwischenzeit Schüsseln mit Wasser gefüllt damit die Königin sich ihrer Katzenwäsche unterziehen konnte.
„Soll ich dir beim Anziehen helfen?“ Erkundigte sich Androgyna.
„Es geht schon, denke ich zumindest!“
Colette befühlte ihr Gesicht.


„Zum Glück hat mich Betül vor unserem Aufbruch richtig epiliert. Das hält für ein paar Tage.“
Die typischen Sorgen einer Transfrau.
„Also ich bin soweit. Lass dir Zeit Colette. Ich seile mich schon mal ab und warte unten auf dich. Eichhörnchen und Stieleiche kommen gleich rüber und werden dich nach unten lassen. Ist das in Ordnung für dich?“


„Wir frühstücken dann mit den anderen auf dem Wiesencamp. So glaube ich war es ausgemacht.“ Wollte Colette wissen.
„Genau! Also dann bis gleich!“
Androgyna legte sich die Sicherung an und lies sich im Anschluss elegant zu Boden gleiten.
Wenig später erschienen Eichhörnchen und Stieleiche, wie vereinbart, platzierten und sicherten Colette auf der Trapezstange und ließen sie dann ganz langsam nach unten. Die furchtsame Königin kniff die Augen zusammen.


Plötzlich stockte die Seilwinde. Es hatte sich wohl etwas verhakt. Colette schwebte eine Weile in Schwindelerregender Höhe.
Auf einmal löste sich die Spannung und der Sitz rauschte mit voller Wucht in die Tiefe.
„Aaaaaandrogynaaaaa!“
Etwa ein Meter über dem Boden stoppte die Fahrt abrupt.
Schnell war die Gerufene zur Stelle.


„Colette hast du dir wehgetan?“
„Ja, ich hab mir vor Angst in die Hose gemacht!“
„Wirklich?“
„Ach was, aber es hätte nicht viel gefehlt. Komm, hilf mir runter.“
Anrogyna half der Königin beim Absteigen.
„Ahhhh! Festen Boden unter den Füßen!“
Colette hüpfte, während sprach, wie ein Rumpelstilzchen von einem Bein auf`s andere.


Währenddessen hatte Eichhörnchen den Rucksack der Königin nach unten gelassen.   
„Also dann wollen wir mal!“
Colette und Androgyna machte sich auf den Weg zum Wiesencamp. Heute nun sollte die entmachtete akratasische Königin ihren Workshop über die seltsam anmutende Staatform der anarchistischen Monarchie halten.


Die beiden gingen eine Weile schweigend nebeneinanderher und lauschten dabei dem Rauschen des leichten Windes in den Bäumen.
Es war später Vormittag. Es schien ein warmer Tag zu werden. Hellgrün fiel das Sonnenlicht durch die jungen Blätter und lies die Luft flimmern und tanzen.
Ein Falke schwebte über den Baumwipfeln, ein Stück Leben an der unendlichen Weite des Himmels.

Auf dem Wiesencamp herrschte schon reges Treiben. Viele hatten sich eingefunden. Das Interesse an der anarchistischen Königin und ihrer Botschaft schien groß. Einige waren eigens zu dieser Veranstaltung von weit außerhalb angereist.


Langsamen Schrittes schlenderte Colette und Androgyna über das Camp und wurden von den Anwesenden freundlich begrüßt.
Eine Stimmung nicht vergleichbar mit dem was Colette seit Beginn ihres Exils in Deutschland erlebt hatte. Das Geschlecht spielte hier keine Rolle. Selten konnte sie so viele queere Leute begrüßen.
„Hey, da seid ihr ja. Hmmm, wir müssen erst noch ein bisschen Platz schaffen, sind mehr Leute gekommen als erwartet, aber das bekommen wir schon hin.“ Begrüßte Fledermaus die Beiden.
„Wenn ihr was essen wollt, wie haben dort etwas aufgebaut, nehmt euch einfach was ihr wollt.“ Fledermaus wies mit dem Finger in Richtung einer kreisrunden Bankreihe in dessen Mitte ein kleines Feuer brannte.


„Danke, gleich! Erst mal setzen!“ Erwiderte Colette und bewegte sich auf einen großen Korbstuhl zu, der etwas abseits am Rande stand.
„Halt! Nicht auf diesen Stuhl!“ Rief Fledermaus.
Zu spät! Kaum das Colette sich darauf niedergelassen hatte, gaben die dünnen morschen Beine nach und der Stuhl krachte mit lautem Knall in sich zusammen. Die Königin fand sich auf dem Boden wieder.
„Na prima! Prost Neujahr!“


Schon war Androgyna zur Stelle.
„Colette hast du dir wehgetan?“
„Ja, wie du siehst, sitze ich in einer Blutlache. Kannst du mir aufhelfen?“
Androgyna packte Colette an der linken Hand, Fledermaus an der rechten.
„Zugleich!“
„Entschuldige! Den Stuhl haben wir schon lange ausrangiert, für Brennholz. Na das hat sich ja nun erledigt. Nee, wir haben was Besonderes für dich angeschafft, letzte Woche vom Sperrmüll besorgt.
Alter Ledersessel, schon ganz schön abgewetzt und durchgesessen aber noch immer bequem, wie ich finde.“
Fledermaus führte die Königin zu der erbeuteten Trophäe.


Colette probierte ihn umgehend aus.
„Ahhh, ja, der ist wirklich gut. Genau die richtige Entlastung für die Bandscheiben, ja und der
Ischias plagt mich auch noch zusätzlich. Ahhhh, schööööön!“
Colette machte es sich bequem und zog die Beine an.


„Wir bringen den später nach unten, da kannst du es dir auch bequem machen. Wir treffen uns unten auf der kleinen Lichtung am Waldrand, nicht weit von Camp. Da müssen wir erst mal ein wenig Platz schaffen. Bis später!“
Schon hatte sich Fledermaus verabschiedet.


Im Anschluss nahmen Colette und Androgyna ein improvisiertes Frühstück ein, während sich das Camp mit weiteren Besuchern füllte.
Die Luft war erfüllt von Gezwitscher der Singvögel und vom Duft süßer würziger Kräuter.


Natürlich fehlte auch heute das monotone Rauschen der Schaufelbagger nicht das vom Horizont heran wehte und die Versammelten daran erinnerte, warum sie überhaupt hier waren.
Nachdem Colette und Androgyna ihr Frühstück genossen hatten begaben sie sich langsam in Richtung des vereinbarten Versammlungsplatzes.
Es ging ein Stück in den Wald. Aber noch immer mit Blickkontakt zum Wiesencamp. Eine schöne positive Aura ging von dieser Stelle aus. Auch war es schattig. Ein wichtiger Umstand, denn es versprach ein heißer Tag zu werden.


Der alte Ledersessel befand sich, für alle Anwesenden gut sichtbar, genau in der Mitte. Die gestürzte und außer Landes geflüchtete anarchistische Königin von Akratasien hatte doch tatsächlich ihren Thron wiedergefunden. Ausgerechnet im Hambacher Forst.
Colette platzierte sich schwungvoll darauf, lies den Kopf nach hinten fallen, schloss die Augen und atmete tief durch. Androgyna breitete eine alte Wolldecke am Boden aus und lies sich zu ihrer Linken nieder.


Auch Eichhörnchen und Rabenfeder trafen ein und gesellten sich gleich zu den beiden Gästen des Tages.
Eigentlich sollte der Workshop bereits um 12 Uhr beginnen, wurde jedoch verschoben, da immer mehr Interessenten eintrafen. Bald wimmelte das ganze Waldstück in der Nähe des Wiesencamp von Besuchern.


Auch die Polizei hatte Wind davon bekommen und mutmaßte schon wieder eine ungenehmigte Demonstration. Einige Einsatzfahrzeuge waren spontan in Richtung Hambacher Wald beordert, sollte aber nach Möglichkeit passiv bleiben.
Eine brisante Angelegenheit, da Colette immerhin diplomatische Immunität besaß.
Eberesche, einer der Altaktivisten traf ein.


„Hey, die Bullen sind unterwegs hierher. Hab etwa zwei Dutzend Leute unten am Jesus-Point gesehen. Wir müssen damit rechnen das die hier bald aufkreuzen.“ Eberesche war eine markante Erscheinung. Langer verfilzter Vollbart und ebensolche Haare. Wären da nicht ein paar modernen Accessoires, wie Armbanduhr oder Karabinerhaken an der Seite, hätte man ihn durchaus für einen wilden Krieger aus der Merowingerzeit halten können.


„Naja, ist doch nicht besonders! Die lungern doch ständig hier rum. Lass sie doch. Wir haben eine genehmigte Veranstaltung und wir bleiben friedlich, da können die gar nichts machen.“ Glaubte Rabenfeder zu wissen.
„Hmmm, ich ahnte das es Ärger gibt. Ganz wohl ist mir dabei nicht. Androgyna und ich leben im Exil in diesem Land. Wir sind geduldet. Mehr aber auch nicht. Die Bundesregierung hatte ja nichts Eiligeres zu tun als die neue Regierung in Akratasien, das jetzt wieder Melancholanien heißt anzuerkennen. Unser Status ist bisher nicht eindeutig geregelt.“
Colettes Einwand war nicht ganz von der Hand zu weisen.


„Das ist alles richtig. Aber wir sollten uns nicht einschüchtern lassen. Lasst uns einfach anfangen.“ Schlug Eichhörnchen vor. In Gedanken weilte sie bei ihrer Liebsten. Ob Olivia wohl auch beim heutigen Einsatzkommando war? Es wäre äußerst dumm, mit ihr auf diese Weise zusammenzutreffen.
„Hey Leute! Ich hab´s! Ich habe die Lösung!“


Kornblume stürmte auf die Versammlung zu. Mit ihren 18 Jahren war sie ein der jüngsten Baumbewohnerinnen. Ganz in schwarz gekleidet und barfuß. Die Haare im Punkerlock und jede Menge Piercings am Körper, hielt sie eine Bahn Stoff in der rechten Hand.


„Seht mal. Diese Stoffbahnen habe ich gestern zusammengenäht. Pink und helles grüne, diagonal zueinander. Schon haben wir die akratsische Fahne. Die hissen wir einfach.“
„Ein sehr origineller Einfall! Würde Akratasien noch bestehen, wäre das in Ordnung. Dann wären wir sozusagen exterritorial. Aber wie ich schon sagte. Akratasien existiert nicht mehr und heißt wieder Melancholanien. Dessen Diktator wünscht gute Beziehung zur BRD und vor allem gute Geschäfte. Androgyna und ich sind gewissermaßen Störenfriede.“
„Aber versuchen könnten wir`s! Ich bin auch dafür! Lass uns die Fahne befestigen, dort wo man sie schon von weitem sieht.“ Meldete sich Androgyna.
Dann erhob sie sich und stürmte gemeinsam mit Kornblume in den Wald, um die Fahne zu hissen.


Rabenfeder hatte es in die Hand genommen, das heutige Zusammentreffen zu moderieren.
„Also, ich bin auch dafür, dass wir beginnen. Ganz gleich was auch geschieht.


Wir freuen uns Colette und Androgyna zu begrüßen, wenn letztere im Moment auch nicht da ist, aber sie wird ja wiederkommen. Eine Königin im Hambacher Forst, wer hätte das gedacht. Aber sie ist tatsächlich gekommen. Das einzige genderqueere und transidente Staatsoberhaupt aller Zeiten und, jetzt wird es noch spannender, die Königin eines Staatswesens, dass sich anarchistisch nannte. Viele von uns fragen sich, wie das funktionieren konnte? Sind das nicht Gegensätze? Anarchie und Monarchie in einem, ein Antagonismus. Die schließen einander aus. Sollte man meinen. Aber ihr in Akratasien, dass es zurzeit nicht gibt, weil dort ein faschistoider Diktator sein Unwesen treibt, hat bewiesen, dass es klappt, wenn auch nur für kurze Zeit.


Viele von uns möchten einfach mehr darüber erfahren. Deshalb haben wir euch eingeladen, damit ihr uns berichtet. Ich denke, ich gebe dir, Colette, einfach mal das Wort.“
In der Zwischenzeit traf auch Androgyna, von Kornblume begleitet wieder ein.


„Ja, danke für eure Einladung. Wir freuen uns bei euch zu sein. Ich habe die Nacht auf dem Baumhaus ganz gut überstanden. Ein erhebendes Erlebnis.“
Diese Aussagen löste bei vielen Anwesenden ein Schmunzeln aus.
„Ja. Die Anarchistische Monarchie. Wie ist es dazu gekommen? Eine lange Geschichte. Da müsste ich unter Umständen weit ausholen und ich weiß nicht wieviel Zeit ihr alle eingeplant habt.“


„Leg einfach los. Wir haben alle Zeit der Welt! Wenn das Thema was hergibt, können wir unter Umständen bis zum Abend sitzen.“ Meldete sich Eberesche zu Wort.
„Na gut! Wenn das so ist! Oh Schreck! Androgyna, du doch hast mein Manuskript eingepackt, das ich mir gestern Abend zurechtgelegt habe?“
Die Angesprochene durchwühlte ihren Rucksack und wurde kreidebleich.


„Ich fürchte ich habe es vergessen! Ich werde mich auf den Weg machen , um es zu beschaffen, könnte aber etwas dauern.“
„Hmm, wär ne Möglichkeit. Aber es kann auch sein, dass es meine Schuld war und ich es gar nicht mitgenommen habe. Also überlegen. Am liebsten spreche ich ohnehin frei, so wie es mir in den Sinn kommt. Ich will es versuchen.“


„Bravo! Das denke ich auch. Die besten Gedanken kommen immer noch spontan.“ Freute sich Kornblume.
„Akratasien ist ein reines Zufallsprodukt!“ Setzte Colette noch einmal an.


„Wir hatten nie vor so etwas wie einen Staat zu gründen, nichts lag uns ferner als das. Also, wie ich schon sagte ich muss weit ausholen, um diese Problematik zu verdeutlichen. Es begann damit, dass der Staat, der damals Melancholanien hieß und heute wieder diesen Namen angenommen hat, begann sich langsam aufzulösen. Die Wirtschaftsordnung war ein Kapitalismus von besonders perfider Art. Langsam, aber sicher begann er seine Kinder zu fressen. Ein Sozialsystem, nicht vorhanden, die Umwelt wurde rücksichtslos ausgebeutet und zerstört. Die Demokratie nur noch dem Namen nach vorhanden, die Menschen hatte zwischen 2 Parteien zu wählen die sich programmatisch kaum voneinander unterschieden. Nur ca 5% aller Wahlberechtigen gaben ihre Stimme ab, ausnahmslos Vertreter der superreichen Oberschicht, die alle Macht in den Händen hielt. Zudem entwickelte sich ein menschen- verachtendes Polizei-und -Überwachungssystem.
Kurzum, eine durch und durch bedrückende Situation.


Es entstanden zahlreiche revolutionäre Gruppen, die einen Umsturz herbeisehnten. Was sie einte? Sie wollten das total Andere. Eine menschliche Gesellschaft. Ein Staatswesen das vom Gedanken an Frieden, Harmonie und Verständigung durchdrungen war, von Gerechtigkeit, ja auch von Liebe. Alle strebten diesem Ziel entgegen. Doch ihre Vorstellungen, wie sie dahin gelangen sollten, gingen zum Teil weit auseinander. Da gab es eine Bürgerbewegung, die auf der Grundlage des gewaltlosen Widerstandes ihre Konzepte entwickelten. Es gab aber auch militante Gruppen, die mit Waffengewalt vorzugehen gedachten. Ein fast undurchdringlicher Wirrwarr.


Und dann gab es eben jene Gruppe, die wir die Urkommune nennen, aus der später die Töchter der Freiheit hervorgingen. Frauen, später auch Männer aus verschiedenen sozialen und intellektuellen Milieus fanden sich spontan zusammen und bildeten eine Gemeinschaft. Wir lebten und arbeiteten zusammen, zunächst sehr beengt in einer Schrebergartensiedlung, später gelang es uns ein altes verlassenes Kloster zu erwerben, die berühmte Abtei, die Keimzelle von Anarchonopolis, dass später unsere Hauptstadt werden sollte.“


„Ja, das wissen wir schon! Ich denke die meisten haben sich mit der Geschichte Akratasiens  eingehend auseinander gesetzt. Es wäre doch besser endlich zum Wesentlichen zu kommen.“ Beklagte sich Waldkauz. Der junge Mann, Ende 20 wirkte sehr akademisch, und unterschied sich auch in seinem Habitus deutlich von den anderen, die ihn umgaben.
„Entschuldigt, wenn ich euch langweile, aber es ist wichtig, dass alles noch einmal vorzubringen, um sich ein objektives Bild zu machen Das sind unsere Wurzeln. Die Bäume hier wachsen ja auch nur deshalb in den Himmel, weil sie starke Wuzeln haben.“
Gab Colette zu verstehen.


„Ich habe mich auch mit der Geschichte Akratasiens beschäftigt, aber es aus deinem Mund zu hören ist etwas ganz anderes. Das klingt viel plastischer. Ich kann es mir richtig vorstellen. Ich denke es geht vielen so!“ Verteidigte Eichhörnchen, die Referentin und erntete dafür von den meisten nickende Zustimmung.
„Mach einfach weiter Colette! Du langweilst uns keineswegs.“


„Na gut! Also, ich versuche zu kürzen, um mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Also, Elena war unsere Anführerin. Ich denke ich brauche nicht viel zu ihr zu sagen, täte ich es würde das jeden Rahmen sprengen. Eine begnadete Fernsehmoderatorin in unserem Land, aber auch ein berüchtigtes Glamourgirl mutierte zur engagierten Streiterin für Gerechtigkeit und eine neue Weltordnung. Nach ihrer Bekehrung, ich denke wir können diesen Vorgang ohne weiteres so nennen, benutzte sie ihre große Popularität in der Bevölkerung und auch ihr Geld, um unsere Gemeinschaft aufzubauen. Um es ganz deutlich zu sagen: Ohne Elena gäbe es uns nicht. Durch sie sind wir geworden was wir sind. Auch ich verdanke ihr alles. Wenn ich mit ihr auch nicht blutsverwandt bin, sie ist und bleibt meine kleine Schwester.“


Colette musste unterbrechen, Tränen liefen über ihre Wangen und sie schnäuzte geräuschvoll in ihr Taschentuch. Noch immer keine Nachricht von Elena. Wo befand sich die kleine Schwester jetzt, in diesem Augenblick?  War sie überhaupt noch am Leben? Die Sorge über deren Verbleib, lies die Königin kaum noch in den Schlaf finden.


„Wie ihr seht, fällt es mir schwer darüber zu sprechen. Ich sage euch nun stichpunktartig wie es weiterging.
Irgendwann hatten wir Revolution im Land. Die alte Ordnung stürzte, wir bildeten mit allen revolutionären Gruppen eine Art Räteregierung. Wir nannten diese Regierung der nationalen Eintracht. Vielleicht ein blöder Name, aber uns viel damals nichts Besseres ein. Die erste Zeit lief alles noch ganz gut. Doch eine Gruppe von autoritären Dogmatikern unter der Führung des Altrevolutionäres Neidhardt beanspruchte bald die ganze Macht für sich allein. Als die anderen sich weigerten ihm zu folgen kam es zum Staatsstreich. Neidhardt übernahm die Macht und installierte bald eine autoritäre bürokratische Diktatur.“


„Also so eine Art von Stalin, oder wie kann ich das verstehen?“
Meldete sich Eberesche zu Wort.
„Genauso. Der Vergleich ist gut. Neidhardt regierte mir eiserner Faust. Unsere Kommune zog sich zurück auf das Gelände der Alten Abtei. Ein großes Gelände, dort bildeten wir eine Art Enklave. Innerhalb der schützenden Mauern probierten wir nun unserer neues Gesellschaftsmodel und siehe da es funktionierte. Eine Gesellschaft die auf Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit aufbaute.“


„Hört sich ganz nach französischer Revolution an. War das Zufall oder gewollt?“ erkundigte sich Rabenfeder.
„Sowohl als auch!“ Fuhr Colette weiter fort.
„Viele anarchistische Gruppen kämpfen unter der Losung >Freiheit und Gleichheit< die Geschwisterlichkeit behandeln sie dagegen ausgesprochen stiefmütterlich. Ohne die läuft aber nichts. Wir fügten sie an und lebten danach. Sie wurde ein wichtiges Fundament.


Viele die der Diktatur überdrüssig waren, flüchteten zu uns. Bald wurde es eng und wir mussten expandieren. Überall im Land bildeten sich Zellen und schlossen sich uns an.“
„Also diesen Umstand habe ich nie verstanden. Das musst du uns genau erklären. Euer stahlharter Diktator sieht seelenruhig zu wie Menschen zu euch flüchten und wie sich ganze Landstriche seiner Macht entziehen? Wie geht das?“ Wunderte sich Fledermaus.


„Oh jetzt wird es kompliziert! Also Neidhardt war zwar Parteiführer, aber nie Staatsoberhaupt, dieses Amt hatte Cornelius, ein alter Professor inne. Er liebte Elena wie seine Tochter und auch ich war mit ihm befreundet. Er hielt seine Hände schützend über uns. Es gab sogar eine Klausel, wonach wir unser Leben innerhalb der schützenden Mauern der Abtei frei gestalten konnten, ohne Übergriffe zu befürchten. Neidhardt versuchte natürlich alles um diesen Zustand auszuhebeln und verhängte schließlich eine Blockade. Ja und jetzt wird es richtig spannend. Die Geburtsstunde der Anarchistischen Monarchie. Als Reaktion auf die Blockade beschlossen wir einen eigenen Staat zu gründen. Ohne die repressiven Maßnahmen der Neidhardt-Regierung wären wir nie auf diese Idee gekommen.


Lange überlegten wir wie wir uns unter dieser schwierigen und außergewöhnlichen Situation organisieren sollten. Basisdemokratisch, nach innen, das war klar. Doch nach außen? Dort wollten wir geschlossen auftreten und der Diktatur entgegentreten. So kamen wir auf eine Idee die auf den ersten Blick antagonistisch anmutet. Zunächst schlossen sich die Frauen der Gemeinschaft noch enger zusammen und bildeten eine Schwesternschaft. Die Frauen sollten in Zukunft das Heft in der Hand haben.“


„Hört sich ganz nach einer Art Amazonenstaat an, würde ich sagen? Oder liege ich da falsch?“ Erkundigte sich Kornblume.
Colette nahm einen großen Schluck Wasser, um ihre raue Kehle zu befeuchten. Dann setzte sie ihren Vortrag fort.


„So könnten wir es durchaus betrachten. Zumindest knüpften wir an historische Vorbilder an. Die Männer wurden aber keineswegs ausgegrenzt oder unterdrückt. Sie traten einfach zeitweise ins zweite Glied zurück. Nach über 3000 Jahren Patriarchat auch mal an der Zeit. Einfach mal ne Pause machen, ausspannen, Kräfte sammeln, um später wieder mitmischen zu können.
Um vor allem die Aufmerksamkeit des Auslandes zu erreichen, wollten wir etwas ganz Kurioses anbieten. Warum nicht eine Königin ausrufen? Wir taten es und hatten Erfolg damit. Zumindest in dieser Phase.


Alle gingen davon aus, dass Elena, unsere charismatische Anführerin, diesen Posten übernehmen würde, doch sie lehnte ab und trug überraschenderweise mir diese Funktion an.
Ich war die älteste der Schwestern, quasi die Seniorin.


Elena selbst wurde Kanzlerin, viele der Schwestern übernahmen Ministerposten, so wie in einer richtigen Regierung.
Die unteren Strukturen wurden weiter basisdemokratisch ausgebaut und erweitert und konnten sich gut entwickeln.
 Wie eine Glucke breitete die Anarchistische Monarchien darüber ihre Flügel aus und fungierte als Schutzmechanismus.“


„Ja, aber am Ende seid ihr doch gescheitert. Ein Beleg dafür, dass Anarchie und Monarchie eben doch nicht zusammenpassen. So sehe ich das.“ Widersprach Waldkauz.
„Ja wir sind gescheitert, aber aus ganz anderen Gründen. Aber zunächst weiter der Reihe nach.
Irgendwann begann sich Neidhardts Diktatur abzunutzen, während unsere Kommune immer deutlicher an Zustimmung gewann. Neidhardt geriet in die Defensive. Elena suchte den Kontakt zu ihm, mit Erfolg. Es gelang ihr schließlich, ihn zu überzeugen.  Er gab sein Amt freiwillig auf und es lag an uns die Macht zu übernehmen.“
„Aber in der Anarchie gibt es keine Macht.“ Rief Stieleiche in Erinnerung.


„Genau ab diesem Zeitpunkt begannen die Probleme. Nun wurde es ernst. Wir hatten die Verantwortung für ein ganzes Land. Zunächst galt es eine Übergangsphase einzubauen, bis sich die Anarchie, bzw Akratie wie wir es bezeichneten voll entfalten konnte. Aus diesem Grund benannten wir unser Land in Akratasien um. Nicht wenige waren unzufrieden und wollten die Akratie sofort. Doch das war kaum durchführbar. Wir beschlossen die Anarchomonarchie beizubehalten und glauben auch unter den neuen Bedingungen so verfahren zu können. Doch das war ein Irrtum.“
„Aber warum? Warum konntet ihr nicht an eure Erfolge anknüpfen? Das will mir nicht in den Kopf.“ Bedauerte Eichhörnchen.


„Die Menschen, die zu Zeiten der Diktatur zu uns kamen, waren allesamt Idealisten, so wie die Leute, die in den Hambacher Forst kommen und auf Baumhäusern leben. Zu solch einem Leben ist nicht jeder, nicht jede geeignet. Ihr hier seid fest von eurer Aufgabe erfüllt und überzeugt. Es ist eine Art heilige Mission. Die Durchschnittsmenschen aber können so nicht leben. Die stellen aber nun mal die Mehrheit der Bevölkerung dar.


So war es bei uns. Wir haben die Lage falsch eingeschätzt. Bald machte sich unter der Bevölkerung Unzufriedenheit bemerkbar. Wir reagierten zu spät, auch weil wir uns in der Abtei, die wir nun Anarchonopolis nannten, einigelten und von der Außenwelt abschotteten.


Das war unser größter Fehler. Die Gesellschaft begann sich wieder zu spalten, viele Gruppen bildeten sich neu heraus. Auch die Intoleranten, die gewannen bald an Einfluss. Auch jene die politisch von ganz rechts kamen. Sie machten unsere Kommune für alle Misserfolge verantwortlich und hatten Erfolg mit ihrer Agitation. Der Ruf nach einem starken Mann wurde wieder laut. Ja und den haben sie bekommen. Es wurden Wahlen durchgeführt und die Menschen entschieden sich für die patriotischen Kräfte um Cassian. Auf diese Weise konnte er die Macht an sich reißen.


Den Rest kennt ihr. Binnen kurzer Zeit wurde das Land wieder Diktatur. Die Töchter der Freiheit und die gesamte Kommune wurden des Landes verwiesen. Nun leben wir hier seit geraumer Zeit im Exil.“


Schweigen senkte sich herab. Es war eine ganze Menge, die es erst einmal zu verdauen galt.
„War es das? Oder möchtest du noch etwas hinzufügen, Colette?“ erkundiget sich.
 Rabenfeder.
„Das soll erst mal genügen. Ich brauche erst einmal ne Pause. Wenn ihr Fragen habt, im Anschluss? Einfach raus damit.“

Colette erhob sich und streckte ihre Glieder. Dann schritt sie einige Male Platz auf und ab, schließlich nahm sie auf dem Ledersessel Platz und döste eine Weile vor sich hin.


Nach der Pause entwickelte sich eine lebhafte Diskussion. Die Frage der Autorität stand dabei wie nicht anders zu erwarten im Vordergrund. Anarchisten waren in der Regel gegen jede Form der von Autorität.
Colette klärte darüber auf, dass nicht alle Autoritäten negativ seien. Es müsse unterschieden werden zwischen einer natürlichen, positiven Autorität und einer künstlichen, zumeist negativen Autorität.


„Autoritäten hat es immer gegeben. Die müssen nicht unbedingt mit Herrschaft verbunden sein. Schon in grauer Vorzeit war das so. In ur-und-frühgeschichtlicher Zeit gab es da z. B. den Dorfältesten, oder die Dorfälteste, das Geschlecht spielte dabei kaum eine Rolle, diese Tatsache bildet die Grundlage für unser Konzept der Anarchistischen Monarchie. Unser Bestreben geht dahin, eben jene natürliche Autorität wieder herzustellen.


Es gibt viele falsche Vorstellungen über die Anarchie oder Akratie. Akratie bedeutet Ordnung ohne Herrschaft. Es ist die höchst entwickelte Form der Ordnung überhaupt, eben weil sie ohne Herrschaft auskommen muss. Aber auch diese Ordnung braucht ein gewisses Maß an Autorität, sonst droht alles auseinanderzulaufen. Eine Gesellschaft, die aus lauter frei vor sich hin schwebenden Individuen besteht, ist keine lange Lebensdauer beschieden. Akratasien ist dafür ein trauriges Beispiel. Wir versäumten dort eben jene Menschen anzusprechen, die einer gewissen Leitung und Führung bedurften. Als wir es erkannten war es leider schon zu spät.“
Eine Aussage die sowohl Zustimmung als auch Ablehnung erntete. Die Zuhörerschaft schien in zwei Lager gespalten.

Eine Frage von Fledermaus betraf die Formen der Diktaturen die Colette angesprochen hatte.
„Also ihr hattet eine Diktatur und konntet sie überwinden, unter diesem Neidhardt oder wie dieser Typ auch hieß. Du hast ihn als eine Art Stalin bezeichnet. Nun habt ihr einen neuen Diktator. Welcher Unterschied besteht denn zwischen denen?“


„Neidhardt begann als Revolutionär. Elena und ich saßen gemeinsam mit ihm in der ersten Räteregierung nach der Revolution. Wir hatten ein distanziertes Verhältnis zu ihm und seinen Leuten, aber es funktionierte. Doch der Wille zur Macht hatte ihn korrumpiert. Er strebte die Alleinherrschaft an und mutierte schnell zum Tyrannen, doch tief im Inneren blieb er Revolutionär. Ein Ansatzpunkt. Nachdem wir uns lange Zeit einen heftigen Schlagabtausch geliefert hatten, beschloss Elena das Gespräch zu suchen, ging zu ihm und siehe da, es gelang ihr, ihn zu beeinflussen. Freiwillig trat er die Macht an Elena ab. Unser neuer Diktator Cassian war nie Revolutionär. Er ist der geborene Autokrat. Mit wem kann ich ihn vergleichen, eine Art Mussolini, oder naja wir sind hier in Deutschland, da gab es ja auch mal einen, dem mit Schnurbart. Ihr wisst von wem ich spreche. Mit Cassian gibt es keine Verständigung, er ist unfähig zum Dialog. Die Töchter der Freiheit und die gesamte Kommune sind für ihn nur Unrat, den es zu beseitigen gilt.


Cassian gelangte durch eine freie Wahl an die Macht, doch er hat seine Wähler betrogen. Statt, wie versprochen, den Weg zu bereiten für die Rückkehr zur Demokratie, führte er das Volk binnen kurzer Zeit in die totalitäre Diktatur.“

Es versteht sich fast von selbst, dass auch die Frage nach der Polyamoren Lebensweise innerhalb der Kommune und dem Konzept, die Spaltung der Gesellschaft durch Liebesbeziehungen zu überwinden aufgeworfen wurde.
Grasmücke, eine junge Aktivistin im schwarzen Anarcholook und langen blonden Rastalocken brachte sie ins Spiel.
„Wie läuft das mit euren Mehrfachbeziehungen? Die werden in den Medien ja ordentlich ausgeschlachtet. Stimmt das Gerücht mit euren wilden Orgien, oder haben die mal wieder dick aufgetragen?“


„Das haben die in der Tat. Die Boulevardpresse stürzt sich darauf, ist doch nichts neues, interpretiert völlig falsch, weil sie den Sinn dahinter nicht versteht.
Es hat sich einfach mit der Zeit entwickelt und glaubt nur ja nicht, dass das ohne Blessuren abging. Es gab am Anfang heftige Auseinandersetzungen für und wider.
Doch wir ließen uns darauf ein. Die Liebe hilft Gegensätze und Unterschiede zu überwinden.


Menschen aus unterschiedlichen sozialen oder intellektuellen Milieus finden zueinander, Menschen ,die außerhalb der Kommune einander nie begegnet wären, weil aus absolut gegensätzlichen Lebensentwürfen stammend, fanden eine gemeinsame Plattform um auf Augenhöhe zu kommunizieren.


Bestes Beispiel ist Elena selbst, hochgebildet, mit einem Intellekt ausgestattet, der sich ohne weiteres mit jenem von Albert Einstein vergleichen lässt, von Beruf Ärztin, bevor sie in den Journalismus wechselte. Prominent und auch übermäßig reich, verliebte sich in den einfachen Fabrikarbeiter Leander. Sie gab alles auf um ihm gleich zu werden. Das war alles andere als einfach. Sie arbeiteten ständig daran. Leider war ihnen nur wenig Zeit vergönnt. Leander starb in den Wirren der Revolution, das stürzte Elena in ein tiefes Trauma, von dem sie sich nur ganz langsam erholte. Später traf sie auf Madleen, auch sie von einfacher Herkunft, auf einem Bauernhof aufgewachsen und von Kindheit an die harte Arbeit gewohnt. Die beiden wurden ein Paar. Allseits beliebt, die Leitfiguren der Kommune entwickelten sie sich bald zum berühmtesten Frauenpaar der Zeitgeschichte. Leider trennten sie sich, ein Umstand der entscheidend zum Zerfall unserer Gemeinschaft führte.“


Wieder traten Colette die Tränen in die Augen. Doch sie fand die Kraft weiterzusprechen.
„Viele andere Beispiele könnte ich euch aufzeigen, doch das würde jeden Rahmen sprengen.


Auch Altersunterschiede konnten in den Hintergrund treten, wir nennen das Generationsübergreifende Liebe. Mich erreichte das Glück, als ich schon lange nicht mehr daran glaubte, da hatte ich die 50 längst überschritten. Meine Frau Betül ist halb so alt wie ich, unsere gemeinsame Tochter Aisha wird in wenigen Wochen zwei Jahre alt. Betül ist wunderschön, sie stammt aus einer wohlhabenden, streng muslimisch orientierten Familie aus der Türkei.
Sie hat mit der Familie gebrochen, um zu mir zu kommen. Stellt euch das vor! Zu mir! Einer alternden, nicht mehr ganz gesunden Transfrau!“


„Wau, dass nenne ich Liebe!“ Begeisterte sich Eichhörnchen.
„Ja, das ist es! Doch damit nicht genug. Später trat auch noch Androgyna in mein Leben. Auch wir sind uns sehr zugetan. Selbstverständlich hat auch Betül eine Nebenbeziehung zu einer jungen Frau aus unserer Gemeinschaft. Die gehen zusammen tanzen, schwimmen, Rad fahren und tun vieles wozu die olle Colette nicht mehr ganz zu gebrauchen ist und stattdessen lieber im Sessel sitz, die Beine hochlegt und ein gutes Buch in den Händen hält.


Warum sollen die beiden sich nicht auch lieben. Ich verstehe mich mit Betüls Gefährtin ausgezeichnet.
Auf diese Weise können Spannungen gelöst werden. Betül hat es mit mir nicht immer leicht.
Sie hat ein Recht auf einen Ausgleich.


Alles ist möglich, wenn? Ja, wenn wir auf ein ganz wichtiges Prinzip achten und es niemals aus den Augen verlieren.“
„Aha, ein Prinzip! Und das wäre?“ Wollte Rabenfeder wissen.


„ Es darf keine Verlierer geben!“ Bekundete Colette den Grundsatz.“ Eifersucht ist eine giftige Schlange, die uns jederzeit zu beißen sucht.“
„Freie Liebe! Ist doch ein alter Hut! „ Glaubte Waldkauz zu wissen. „ Wer zweimal mit der gleichen pennt und so weiter und so fort. Wurde immer wieder versucht. Viele WG`s und Kommunen praktizierten das. War nie von langer Dauer. Endete stets in Frust und Ärger. Eifersucht lässt sich nicht ausschließen. Und dann gibt es Verlierer, und zwar am laufenden Band.“
Ein stichhaltiges Argument, dass sich nicht so leicht von der Hand zu weisen lies.


„Wie ich schon sagte. Auch bei uns sorgt dieser Umstand immer wieder für Diskussionen und Frust lässt sich auch in unserer Gemeinschaft nicht ausschließen. Eine ständige Baustelle, stets offen für Änderungen und Verbesserungsvorschläge. Bisher konnten wir in den meisten Fällen vermitteln und den Frieden wahren.“
Versuchte sich Colette in einer Erklärung.


„Na wir tun das bei uns doch auch gelegentlich. Da wollen wir mal ganz ehrlich sein. Auch bei uns gibt es für-und wider-Diskussionen.“
Gab Kornblume zu.


„Und das ist gut so. Ich will einen der möglichen Gründe verraten. Ihr seid queer, mit großer Freude stellte ich fest das mir hier viele genderqueere, non-binary Menschen über den Weg liefen. Es tut ungeheuer gut so viele lesbische Pärchen zu sehen und auch Schwulenpaare.


Die Kommunen früherer Tage waren stockhetero und patriarchal ausgerichtet. Keine gute Ausgangsposition für polyamory. Ist die Grundlage hingegen queer und von patriarchaler
Dominanz befreit, sieht es deutlich anders aus. Eine Garantie gibt freilich nicht. Es ist und bleibt eine Baustelle, die ständig erweitert werden muss. Schließt niemanden aus, nehmt alle mit ins Boot. Es gibt keine geborenen Verlierer. Verlierer werden geschaffen, in jeder Hinsicht.“

Die Diskussion zog sich bis weit in die späten Nachmittagsstunden. Es gab viele weitere Fragen, die erörtert werden mussten. Das Interesse war groß und steigerte sich ständig.
Eine lange Pause folgte. Colette war geschafft. Lange war es her da sie so intensiv hatte diskutieren müssen. Sie brauchte jetzt eine Pause und das gute Wetter lies es zu diese im Freien einzulegen. Androgyna breitete am Waldrand eine Decke aus. Colette lies sich darauf nieder und glitt schon bald ins Reich der Träume.


Sie erwachte als sich die Dämmerung bereits auf die Landschaft legte.
Nun folgte der gemütliche Tagesausklang am Lagerfeuer.
Das Feuer war bereits entfacht und die Flammen loderten in die nächtlichen Himmel.
Gitarrenklänge drangen an Colettes Ohr, die Stimmung schien ausgelassen und heiter.
Sie raffte sich auf und ging auf den zentralen Platz zu.


Androgyna hatte sich schon in der Runde niedergelassen und das Gespräch übernommen.
„Also, ich denke, ihr solltet auch versuchen, so eine Art eigenen Staat zu gründen. Versucht es doch einfach. Mehr als schief gehen kann es nicht. Gab es hierzulande nicht schon einmal ähnliche Versuche?“
„Ach du meinst die „Freie Republik Wendland“. Ja, ist schon ne Weile her. Hat aber auch nichts gebracht. Die Bagger machten vor dem Hüttendorf  keinen Halt  Heute alles vergessen. Erinnert sich doch kaum noch einer dran! Hier würde das nicht anders sein.“
Widersprach Waldkauz.


„Ja aber es gibt Akratasien, hisst einfach unsere Fahne, erklärt euch zu Akratasiern und stellt euch unter unseren Schutz. Mal sehen was dann geschieht!“ Schlug Androgyna vor.
„Aber Akratasien existiert nicht mehr. Bestünde es noch würde ich sehr gern meinen schützenden Mantel über euch breiten.“ Schaltete sich Colette ein und lies sich neben Androgyna nieder.
„Ich könnte euch alle zu Bürgern Akratasiens erklären. Aber auch das gäbe mit Sicherheit viel Ärger, würden wir damit doch symbolisch einen Teil Deutschlands annektieren.“


„Hey, warum nennen wir die neue Baumhaussiedlung nicht nach euch, wäre doch eine coole Idee?  Ein symbolischer Akt, dagegen hätte sicher keine was. Du hast doch gesagt, dass einige von eurer Kommune Interesse hätten, hier für ne Weile zu wohnen. Also, fünf Häuser, fünf Plätze. Was haltet ihr davon.“ Lautete Stieleiches Vorschlag.
Spontan bekundeten die meisten ihre Zustimmung.


„Ja, das wäre toll von euch. Also ich könnte mir vorstellen eine gewisse Zeit so zu leben. Und mir fallen einige ein die ähnliches schon geäußert haben. Ja, wir werden eurer Angebot annehmen.“ Begeisterte sich Androgyna.


„Wir müssen noch im Plenum darüber abstimmen. Aber ich rechne kaum mit Widerstand. Ist so gut wie geritzt“ Gab Rabenfeder zu verstehen.
„Akratasien ist überall! Über dort, wo Menschen gegen Unrecht aufbegehren. Warum also nicht auch hier? Auch unsere Gemeinschaft muss noch darüber abstimmen, aber auch hier sehe ich kein Problem. Der Anfang ist gesetzt. Ich freue mich über die neue Freundschaft.“
Bekundete nun auch Colette ihre Zustimmung, auch wenn sie nicht ganz frei von Zweifeln bleib.


Würde sie etwa die Exilgemeinde in Gefahr bringen, wenn sie sich all zu sehr in die Angelegenheiten der deutschen Politik mischte?
Doch andererseits, wenn, wie sie selbst feststellte, Akratasien überall existierte, konnte es nicht gerade hier seinen Ausgang nehmen.


Der Abend setzte sich fort und ging schließlich in eine feucht-fröhliche Stimmung über.
Eine Konfrontation mit der Polizei gab es an diesem Tag zur Erleichterung aller Anwesenden nicht.
 
Der Mond war schon lange aufgegangen und segelte nun auf einer wohltuenden Brise, sein silbriges Licht über das Land ausgießend, während sich Colette langsam auf dem Hauptweg begab. Sie war müde. Der Tag hatte sie angestrengt und sie wollte nur noch ruhen. Androgyna war bereits vorausgegangen. Die Taschenlampe spendete zusätzliches Licht, wenn auch die Wege noch gut sichtbar waren. Noch einmal die nächtliche Stille genießen, bevor sie sich in ihrem Bett hoch oben über den Baumwipfeln vergrub. Androgyna würde sie per Flaschenzug nach oben befördern.


Sie hatte es nicht eilig. Näherte sich Schritt für Schritt der Siedlung mit dem Namen Oaktown. Die Silberadlerin lies die Atmosphäre tief in ihr Inneres sickern. Ein ereignisreicher Tag. Viele Kontakte wurden geknüpft. Der Grundstein für neue Freundschaften gelegt. Ein Stück Akratasien mitten im Hambacher Wald. Wenn das kein Grund zur Hoffnung war.


An der Baumsiedlung angekommen, lies sich die Königin auf einer der Holzbänke nieder und blickte nach oben. Eichhörnchen stand auf der Plattform vor ihrem Baumhaus und leuchtete mit der Taschenlampe nach unten. Eine mystische Aura umgab deren Behausung, ausgelöst durch zahlreiche flackernde Windlichter, die im leichten Sommerwind baumelten.
Plötzlich tauchte aus dem Dunkel des Waldes eine Person auf und schritt zielstrebig auf den Baum zu, dessen Krone Eichhörnchens Haus zierte. Ein schwerer Tornister war auf deren Rücken angebracht.


„Hey, da bist du ja. Ich habe dich schon voller Sehnsucht erwartet. Bis zum Schluss war ich mir nicht sicher, ob du tatsächlich kommst. Jetzt bist du da. Jippijey.“ Jubilierte Eichhörnchen.
„Na was dachtest du denn. Ich möchte endlich dein Baumhaus kennen lernen. Versprochen ist versprochen.“ Antwortete Olivia und hob den Rucksack von ihrer Schulter. Eichhörnchen lies das Tau mit dem Karabinerhaken nach unten und beförderte zunächst das schweren Gepäckstück nach oben.
„Hey hast du Bleibarren da drinnen? Mensch ist der Rucksack schwer.“


„Ein paar Kleinigkeiten. Alles was der Mensch zum Campen benötigt.“ Erwiderte Olivia und erwartete das Seil, um sich den Sicherheitsgurt umzulegen. Schließlich begann sie den Baum zu erklimmen, das mit außerordentlicher Geschicklichkeit geschah. Olivia war eine ausgezeichnete Kletterin.


Oben angekommen wurde sie voller Freude von Eichhörnchen in Empfang genommen. Sie fielen sich in die Arme, berührten sich intensiv und küssten sich leidenschaftlich.
„Willkommen in meinem Reich. Darf ich bitten meine verehrte Dame.“ Eichhörnchen nahm Olivia bei der Hand und führte sie in das Haus.
„Meine kleine Welt. Ich hoffe sie gefällt dir?“
„Wau! Das…das ist toll! So schön hatte ich es mir gar nicht vorgestellt!“


„Naja, hab ein wenig aufgeräumt und sauber gemacht. Alles hergerichtet, damit es uns beiden Platz bietet. Ist halt ein wenig eng hier. Aber ich denke das macht dir nichts aus:“
„Mit dir zusammen kann es gar nicht eng genug sein.“
„Komm setz dich, mach es dir bequem, so gut es eben geht. Wasservorräte hab ich reichlich nach oben gebracht, für die Katzenwäsche. Eine Dusche kann ich leider nicht bieten.“ Lud Eichhörnchen ein.


Olivia nahm auf der Matratze Platz, löste ihre Turnschuhe von den Füßen und streckte die Beine aus. Danach begann sie in ihrem Rucksack zu kramen.
„Meine erste Nacht auf einem Baumhaus. Wer hätte das gedacht. Als ich zum ersten Mal in den Forst kam, machten die auf mich keinen guten Eindruck. Was mögen das für Leute sein, die so hausen, ging es mir durch den Kopf. Ich hielt euch für durchgeknallte Spinner. Für Kriminelle, die es galt dingfest zu machen. Eine Gefahr für die allgemeine Sicherheit. Ist noch gar nicht lange her, aber es kommt mir schon wie eine kleine Ewigkeit vor.“


„Und heute? Für wen hältst du uns heute?“ Erkundigte sich Eichhörnchen.
„Für Menschen! Einfach nur für Menschen! Und den wunderbarsten von allem darf ich lieben.
 Komm, das muss gefeiert werden. Ich habe einen gute Prosecco dabei.“
Olivia zauberte die Flasche aus dem Rucksack.


„Wau, ist ja grandios: Sektgläser habe ich leider nicht. Dafür zwei recht hübsche Tonbecher.“
Begeisterte sich Eichhörnchen.


„Klingt romantisch. Ich hoffe du darfst den Prosecco trinken. Ich hab nicht darauf geachtet ob der vegan ist. Setz dich doch zu mir!“
Eichhörnchen lies sich neben ihrer Traumfrau nieder und schmiegte sich eng an deren Schulter.
„Wenn mir einer vor einem halben Jahr gesagt hätte, das ich mal ne echte Polizistin auf meinem Baum zu Gast habe, den hätte ich glatt für verrückt erklärt. Jetzt hab ich eine hier und was für ein Prachtexemplar.“


Eichhörnchen lies ihre Handfläche sanft über Olivias Rücken gleiten.
„Sag mal wie bezeichnet ihr  weibliche Polizisten? Ihr sagt Bullen, bin ich für dich eine Bullin, oder vielleicht eine Kuh?“ Spöttelte Olivia während sie die Tonbecher füllte.
„Hmmm, weder noch. Wenn wir schon bei Tieren sind, dann bist du meine süße Schatzimaus.“


„Klingt besser! Also dann Prost!“
Sie nahmen einen kräftigen Schluck. Dann kicherten sie vergnügt vor sich hin.
„Ich hab auch was für den Hunger dabei. Dein Leibgericht!“
„Pfannkuchen!  Du hast auch diesmal daran gedacht. Aber später, oder morgen früh zum Frühstück. Die Zeit ist weit vorgeschritten. Sieh mal den Mond. Ist das nicht zauberhaft, wie er sein Licht durch das Fenster gießt Wie wär`s mit einem kleinen Ringkampf als Einstimmung für unsere Nacht?“


„Da sag ich nicht nein!“
Die beiden streckten sich auf der Matratze aus und begannen einander mit Armen und Beinen zu umschlingen. Es dauerte nicht lange bis sie sich Stück für Stück ihrer Kleidung entledigten, bis sie nichts mehr auf dem Leibe trugen.


Sie küssten sich wie ertrinkende, ihre Hände tasteten sich mit zunehmender Gier über ihre Körper. Sie bebten unter dem erregenden Schauer ihres Verlangens.
Olivia bette Eichhörnchen behutsam auf das Lager, beugte sich mit tränenglänzenden Augen über die Geliebte und badete deren Körper in einer Flut von Küssen.
Eichhörnchen bebte unter Olivias Händen, stöhnte ihren Namen, fühlte sie überall, auf sich , unter sich, in sich. Wurde fortgetragen von dieser Welle der Erregung, verlor sich in der Jagd ihrer Herzschläge. Immer heftige umklammerte Olivia die Geliebte, immer näher drängte sie, tief und tiefer grub sie sich in sie und schmolz dahin.
Sie galoppierten durch Raum und Zeit und waren doch jenseits davon. Was auch immer geschehen sollte, sie würden immer wieder zueinanderfinden in der Erinnerung an diese Nacht.


Nach der Liebe lagen sie einander in den Armen und lauschten den Liedern, die der Nachtwind leise zu ihnen hinüber wehte.
Eichhörnchens dunkle Rehaugen verloren sich im Licht des Silbermondes. Sie spürte die Wärme von Olivias Körper, tiefe Sehnsucht erfüllt ihr Herz.
Die leichte Bewegung des Baumhauses lies sie bald in einen sanften Schlummer gleiten.


Doch so Recht mochte Eichhörnchen nicht in den Schlaf finden. Immer wieder erwachte sie aus ihren Träumen, die sich kaum von der Realität unterschieden, die sie gerade erlebt hatte. Zu aufgewühlt war ihr Inneres. Gedanken surrten wie ein Bienenschwarm durch ihren Kopf.
Die Frau, die hier an ihrer Seite ruhig ein und ausatmete, stellte das genaue Gegenteil ihrer selbst dar.  Sie kam aus einer völlig anderen Welt. Aus einer Welt jenseits dessen, was  Eichhörnchen bisher hatte kennen lernen können.


Sie war 23 Jahre alt, Olivia 10 Jahre älter, erfahrener, beständiger und im Begriff in ihrem Beruf Karriere zu machen, fuhr einen dicken Jeep und gönnte sich exklusive Auslandsreisen.
Vor kurzem erst hatte sie eine mehrjährige Beziehung mit ihrer Partnerin beendet.


Eichhörnchen war keineswegs ein naives Dummchen, sie war sogar sehr klug, aber sie hatte das Gymnasium abgebrochen. Kein Abitur, kein Studium, sie war ohne Ausbildung und verfügte über keinerlei Einkommen. Schon als Kind hatte sie den Wald entdeckt, das war ihre Bestimmung. Sie liebte die Tiere und begann mit ihnen zu sprechen. Die fanden auch erstaunliches zutrauen zu dem ungewöhnlichen Mädchen. 

Eichhörnchen verfügte über eine ausgesprochen sensitive Begabung, die ihr nicht nur die Nähe der Tiere, sondern auch der Pflanzenwelt sicherte. Vor allem die Bäume wurden ihre Freunde. Stunde um Stunde verbrachte sie im Wald und kommunizierte mit ihnen, umarmte und liebkoste sie, kletterte auf die Kronen verweilte hier und tauchte ab in die mystische Aura die sie wie in einen grünen Mantel hüllte.

  Die Eltern verstanden es nicht und schleiften sie von einem Psychotherapeuten zum anderen, die ihr jenes abnorme Verhalten mit teils brachialen Methoden auszutreiben gedachten. Doch sie widerstand dererlei Gehirnwäsche tapfer und lies sich nicht einschüchtern. Ihre rebellische, anarchistische Art zu denken, ihre aufblühende lesbische Art zu lieben, ihre sensitive Art zu fühlen ,all das passte hervorragend um ihr eine gestörte Persönlichkeit zu attestieren und sie als schwer erziehbar einzustufen.  Kaum das sie 18 wurde lief sie von zuhause weg, wohnte in verschiedenen WG`s, schlug sich so recht und schlecht durch, kam auf diversen Demos des Öfteren mit dem Gesetz in Konflikt. Seit zweieinhalb Jahre lebte sie nun hier. Der Forst war ihr zuhause, sie hatte kein anders mehr.

Auch körperlich unterschieden sich die beiden deutlich. Die kräftige, athletische Extremsportlerin Olivia wirkte geradezu wuchtig gegen Eichhörnchens zierliche, fast zerbrechlich wirkende Gestalt. Immer etwas blass im Gesicht, trotz der unbändigen natürlichen Lebensfreude, die von ihren großen klaren Augen ausging.
Sie trug nur schwarze Kleidung, meist etwas schmuddelig und löchrig, ein Umstand, der ihre Blässe noch weiter verstärkte. Ihr wunderschönes, langes kastanienbraunes Haar versteckte sie unter einem Kopftuch, oder einer Sturmhaube, es war ihr bei den Aktionen oft hinderlich.

Aber sie konnte sich nicht dazu durchringen sich davon zu trennen , so wie das hier viele andere Mädchen taten. Es war Teil ihrer selbst. Sie war Eichhörnchen, das sie mit Vornamen ganz nebenbei noch Anja hieß, hatte sie schon fast vergessen.

 
Die Zukunft, in die sie blickte, war ein großes schwarzes Loch, das sie jederzeit zu verschlingen drohte. Sollte der Forst geräumt werden, eine Gefahr die ständig in der Luft lag, würde das unweigerlich zum Zusammenbruch ihrer kleinen Welt führen, die sie sich hier so mühsam aufgebaut hatte.


So war ihr Leben und nun lag sie hier, war bis über beide Ohren in eine Polizistin verliebt. und genoss deren Zärtlichkeit, Wärme und Liebe.
Musste es ausgerechnet eine Polizistin sein?
Eine von der anderen Seite der Roten Linie. Eine Linie die es nicht zu überschreiten galt.

Die da drüben waren doch die Gegner, die Feinde.
Eichhörnchen und Olivia, ein ungleiches Paar. Wenn es stimmt das sich Gegensätze anziehen, waren sie ein Paradebeispiel.

Beide hatten die Linie überschritten. Es gab kein Zurück, sie hatten sich gesucht und gefunden. Der Forst hatte sie zusammengeführt, er war ihr Schicksal.
Doch eine gemeinsame Zukunft, ein ständiges Zusammenleben, so wie beide es sich von Herzen wünschten lag in weiter Ferne. Beide konnten nicht in der Welt der anderen leben. Getreu der alten Weisheit: „Die Amsel und der Goldfisch können durchaus ein Paar werden, doch wo bauen sie ihr Nest?“


In Akratasien stünden ihnen beste Bedingungen zur Verfügung um als Paar dauerhaft zusammenzuleben. Beide hätten sich dort mit ihren Fähigkeiten gut einbringen können. Ihre unterschiedliche Herkunft, ohne Belang.
Doch Akratasien existierte nicht mehr, die genderqueere Friedenskönigin Colette entmachtet, ins Exil getrieben und an ihrer statt regierte der finstere Diktator Cassian.

Im Osten färbte sich der Himmel im ersten Licht des frühen Morgens, die Strahlen der Sonne drangen durch das Fenster des Baumhauses und füllten es mit Licht.
Olivia lag schon längere Zeit wach und hielt ihre Liebste eng umschlungen. Die döste noch im leichten Schlummer vor sich hin.
Nach einer Weile erwachte auch Eichhörnchen, reckte und streckte sich und schnurrte dabei wie eine Katze.


„Hmmm, na schon wach? Hast du die Nacht gut überstanden?“
„Ja, ein tolles Gefühl. So ruhig und allem enthoben:“ Meinte Olivia, während sie die Geliebte sanft zu sich zog.
„War ne ruhige Nacht, nur leichter Wind. Du solltest erst mal einen richtigen Sturm erleben. Da fühlst du dich wie auf hohen Welle mitten im Ozean.“
„Kann ich mir vorstellen. Ne echter Herausforderung, würde ich sagen. Ich frage mich nur wie du das aushältst, so die ganze Zeit, bei Wind und Wetter.“ Forschte Olivia nach.
„Ist manchmal echt hart, da hast du recht. Aber es ist mein Leben. 

Niemand zwingt mich dazu. Ich habe es mir ausgesucht. Nein, das Leben hat mich ausgesucht. Ich kann ihm nicht entfliehen.“
Toller Spruch dachte Olivia.
Plötzlich schreckte die Waldaktivistin in die Höhe und griff nach ihrer Armbanduhr.
„Wau, schon spät. Aber zum Glück noch nicht zu spät. Ich muss mich langsam erheben.“
„Warum hast du einen Termin?“


„Colette und Androgyna wollen heute Morgen aufbrechen, ich möchte die beiden verabschieden. Sind leider Frühaufsteher. Lieber würde ich den ganzen Tag hier mit dir verbringen.“
„Nun, ich muss auch weg. Ist auch noch ein wenig Zeit, aber im Laufe des Vormittags muss ich mich zum Aufbruch rüsten.“ Erwiderte Olivia, während sie sich aufrichtete.
„Da wäre ja alles klar. Hektik brauchen wir aber deshalb nicht zu machen.“
Eichhörnchen erhob sich und schritt vor die Tür auf die kleine Plattform vor dem Haus, die Tatsache, dass sie völlig nackt war, störte hier niemanden.

Sie nahm einen Krug mit Wasser und begann sich damit zu übergießen. Sie spürte die Kälte kaum noch, das dauerhafte Leben im Wald hatte sie abgehärtet. Sie trocknete sich ab und betrat wieder das Häuschen.
„Muss ja ne interessante Person sein, diese Colette. Habe sie nur von Weiten beobachtet gestern. War das wirklich mal ne echte Königin?“ Erkundigte sich Olivia.
„Ja, tatsächlich! Ich konnte es auch nicht glauben als sie zum ersten Male sah. Die ist total  lieb, so schlicht und einfach, aber absolut authentisch. Muss ein aufregendes Leben gewesen sein, dort in ihrer Kommune.“


„Aufregender als hier?“ Wollte Olivia wissen.
„Naja, aufregend auf eine ganz anderen Art und Weise. Die hätte es doch fast geschafft die perfekte Harmonie herzustellen. Stell dir vor, keine Herrscher mehr, alles gerecht und sozial ausgewogen. Alle Menschen gleichwertig, leben im Einklang mit der Natur und mit sich selbst. Und sie lieben sich auf so echte und natürliche Weise. Wären alle Könige, die es je auf Erden gab, so gewesen wie Colette, es hätte nie einer Revolution bedurft. Ein wundervoller Gedanken:“ Eichhörnchen kam ins Schwärmen.


„Ja, zu schön um war zu sein.“ Antwortete Olivia mit einem Seufzer in der Stimme.
Die Waldaktivistin begann sich langsam anzukleiden.
„Wird die Verabschiedung länger dauern?“ Erkundigte sich Olivia nach einer kurzen Weile des Schweigens.
„Kann ich nicht sagen. Ja, möglicherweise. Wir begleiten die beiden noch bis nach Buir zur S-Bahn.“
„Nun, es könnte sein, dass ich schon weg bin, wenn du zurück bist.“
„Kein Problem, mach einfach wie du denkst. Wir sehen uns ja bald wieder. Bis zum Wochenende sind`s ja nur noch drei Tage.“
„Du kommst wirklich?“


„Na sicher! Ich beginne schon jetzt die Stunden zu zählen. Da haben wir deutlich mehr Zeit füreinander.“ Gab Eichhörnchen zu verstehen.  
„Sag mal, du hast doch mein Gästezimmer gesehen, da steht nur altes Gerümpel drin. Wir könnten dort ein wenig aufräumen.“ Schlug Olivia vor.
„Klar doch! Wenn du Hilfe brauchst, mache ich doch gern.“
„Ich meine damit, dass du das Zimmer nutzen kannst, es dir nach eigenem Geschmack einrichten, so wie du magst. Dann hast du eine feste Bleibe bei mir. Das ist einfach wichtig. Mein Vorschlag: Du wirst offiziell meine Untermieterin, selbstverständlich brauchst du keine Miete zu bezahlen.

Wir setzen pro forma einen Betrag ein und machen einen richtigen Mietvertrag. Auf diese Weise bekommst du eine Meldeadresse und eine Postanschrift. Dann bist du nicht mehr Wohnsitzlos.“
„Hey danke! Meinst du, dass ich das wirklich brauche.“
„Natürlich! Du sollst bei mir einen Hafen bekommen, den du jederzeit anlaufen kannst. Schutz und Sicherheit, wenn es hart auf hart kommen sollte.“ Besorgnis sprach aus Olivias Worten.
„Na gut, ich werde darüber nachdenken!“


„Sehr vernünftig! Mach dir keine Sorgen. Ich werde alles für dich regeln. Ich würde nur deinen Personalausweis benötigen. Da bist du zwar ein paar Tage ohne, ist nicht so gut, aber lässt sich nicht ändern.“  
„Oh, ich bin schon lange ohne. Hab den Ausweis verloren, ist schon ein paar Monate her.“
Gestand Eichhörnchen, während sie sich ihre löchrige Baumwollleggins überzog.
„Du…du bist ohne Personalausweis?! Ich glaub es nicht!“ Entrüstete sich Olivia.
„Ach ist doch nicht so schlimm. Mach dir keine Gedanken!“


„Das tue ich aber! Mensch, weiß du denn nicht was das bedeutet? Nimm das nicht auf die leichte Schulter. Komm her!“
Olivia zog Eichhörnchen zu sich, schlang ihre Arme um sie und drückte sie fest an sich.
„Ist dir nicht bewusst was geschieht, wenn sie dich festnehmen und du dich nicht ausweisen kannst? Das gibt mächtig viel Ärger.“


Sanft ließ Olivia ihrer Handfläche über Eichhörnchens Wange gleiten.
„Oh das weiß ich wohl, bin schon einige Male eingefahren. Erkennungsdienstliche Erfassung oder so ähnlich. Alles durchsucht. Splitternackt ausziehen, Handflächen an die Wand, Beine auseinander, den Körper befummeln, Körperöffnungen durchsuchen. Ist manchmal echt ekelig, aber ich habs immer überstanden. War nie lange drin, meist nach zwei Tagen draußen.“
„Ja und da hattest du großes Glück. Und wenn sie dir nun ein größeres Delikt anhängen? Schweren Landfriedensbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Körperverletzung oder womöglich versuchten Totschlag. Was dann? Meist du, du könntest monatelange U-Haft überstehen?“


Eichhörnchen schwieg.  Olivias Mahnung trafen den wunden Punkt in ihrem Leben. Die Vorstellung Monate in einer engen Zelle eingesperrt zu sein, war der blanke Horror Der Wald, das Rauschen des Windes in den Zweigen und in ihrem offenen Haar, der warme Sommerregen auf der nackten Haut, die Bäume, ihre besten Freunde, der würzige Duft der Gräser und Kräuter in der Nase, das Zwitschern der Vögel, der Sonnenaufgang, von ihrem Baumhaus aus beobachtet, die unendliche Weite des nächtlichen Sternenhimmels, die Gemeinschaft mit den anderen am Lagerfeuer. Das war ihr Leben.

Ohne das würde sie binnen kurzer Zeit dahinwelken, wie eine Herbstrose im November.
„ Ich liebe dich!  Verstehst du denn nicht  dass ich mir große Sorgen um dich mache.“ Meinte Olivia und eine Sorgenfalte bildete sich auf ihrer Stirn.
„Ach, wird schon nicht so schlimm!“ Eichhörnchen versuchte sich aus Olivias Umarmung zu befreien.
„Also! Prioritätenliste! Zunächst den Ausweis besorgen. Ich werde sehen was ich machen kann.

Ich kenne einen beim Einwohnermeldeamt, der mir noch einen Gefallen schuldet. Genau, den werde ich einschalten. Wenn wir den Pass haben, lösen wir die Wohnungsfrage.
Ich finde es übrigens überhaupt nicht gut, dass du über kein Einkommen verfügst. Beim Arbeitsrecht kenne ich mich nicht so genau aus. Aber Grundsicherung müsste dir doch zustehen?“


„Ich habe hier alles was ich brauche. Da gehört nicht viel dazu! Wir bekommen viele Spenden. Naja, und ich verdiene mir regelmäßig ein paar schnelle Euro durch mein Singen hinzu. In Düren, in Köln und anderswo. Die Leute mögen das. Da ist der Becher schnell gefüllt.“ Lehnte Eichhörnchen ab.
„Ich weiß, dass du wunderbar singen kannst. Konnte mich schon mehrfach davon überzeugen.


Mein Eichhörnchen, in schwarzer Kluft, barfuß und der Witterung ausgesetzt. Mit dem Rucksack auf den Schultern und der Gitarre unterm Arm auf der Hohen Straße unterwegs.“
Eichhörnchen entwand sich nun endgültig der Umarmung.
„ Ich muss jetzt wirklich los, sonst verpasse ich Colette. Das wäre nicht gut. Also dann. Ich rufe dich heute Abend an, oder du meldest dich bei mir? Egal!“
Olivia erhob sich und zog die Geliebte erneut zu sich, es folgte eine Umarmung und ein dicker Abschiedskuss.

Flink wie immer seilte sich Eichhörnchen ab, den Kopf noch voller bohrender Gedanken.
Die Gefährtin hatte Recht ,mit jedem Wort das über deren Lippen kam.
Die Gefahr war groß.

Jederzeit konnte etwas geschehen. Ob bei den waghalsigen Kletteraktionen, ein falscher Griff oder ein Schritt daneben, und der Sturz in die Tiefe war unausweichlich. Oder bei der nächsten Räumungsaktion. Eichhörnchen war stets dabei, wenn es darum ging den Wald zu verteidigen. Mutig stellte sie sich den Eindringlingen entgegen. Sie war kein unbeschriebenes Blatt mehr. Lange schon war sie aktenkundig.
Olivia selbst blieb mit einem unguten Gefühl zurück.

Ihre coole, selbstsichere Art, die Eichhörnchen so sehr an ihr mochte, war gut gespielt. In ihrem Inneren war sie tief zerrissen.
Sie hatte der Geliebten nicht die ganze Wahrheit gesagt. Schon lange war sie keine einfache Polizeibeamtin mehr. Inzwischen befördert, gehörte sie zur Einsatzleitung. Ihr oblag es die nächsten Aktionen im Forst mit vorzubereiten und zu koordinieren.
Diese Tatsache brach ihr das Herz. Schwermut senkte sich wie ein großer schwarzer Vogel über ihre Seele.

Ein Gewissenskonflikt von nie gekanntem Ausmaß bahnte sich seinen Weg. Was sollte sie nur tun?
Schon als kleines Mädchen wollte sie Polizistin werden. Beim Räuber-und-Gendarmenspiel übernahm sie stets die Rolle des Gesetzeshüters. Schon früh hatte sie ein ausgesprochenes Gerechtigkeitsempfinden entwickelt.

Freund und Helfer das wollte sie den Menschen sein und glaubte an ihre Bestimmung. Ihre Ausbildung absolvierte sie mit Auszeichnung. Sie war eine Perfektionistin und stellte an sich hohe Ansprüche.
Als Frau, die noch dazu offen lesbisch lebt, hatte sie hart zu kämpfen, um akzeptiert zu werden.

Nun, endlich hatte sie es geschafft, mit Anfang 30 schon, ein steiler Aufstieg.
Doch in den zurückliegenden Monaten hatte ihr Weltbild einen gewaltigen Riss bekommen, auf einmal begann sie die Welt mit völlig anderen Augen zu betrachten. Seit sie Eichhörnchen liebte schien nichts mehr von Bedeutung. Diese einfache und bedürfnislose junge Frau, die nie eine Universität von innen gesehen hatte und doch weise wie ein alter Philosoph wirkte, das war Authentizität in voller Entfaltung. Eichhörnchen, das war eine Mischung aus dem heiligen Franziskus, Robin Hood und Anne Bonney.


All das wofür Olivia hart arbeiten musste, sich abrackerte und bis zu Erschöpfung kämpfte, hatte für Eichhörnchen nicht die geringste Bedeutung. Die lebte spontan, unkontrolliert und ungebremst einfach in den Tag hinein. Die politische Aktion bestimmte zwar ihren Tagesablauf, aber trotzdem blieb sie dabei frei und allem enthoben.
Olivia befand sich an einem Scheideweg. Was konnte sie tun? Den Dienst quittieren? Aufhören, alles hinschmeißen? Was würde sie damit erreichen? Nein, davonlaufen kam nicht in Frage. Sie musste sich der kalten Wahrheit stellen.

Wenn sie bei den Räumungsaktionen dabei war, konnte sie womöglich schlimmeres verhindern. Sie könnte im entscheidenden Moment eingreifen und Eichhörnchen beschützen, so wie sie es schon einmal getan hatte.
Trotzdem war und blieb die Vorstellung ein Grauen. Sie war angetreten dem Menschen, den sie über alles liebte, das Zuhause zu nehmen, ja wenn man so wollte den Lebenssinn zu zerstören.
Olivia wurde es übel und sie hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen, wenn sie daran dachte. Sie lies sich einfach auf ihren Schlafsack fallen und gab sich der Verzweiflung hin.
Sie weinte und schluchzte solange bis ihre Augen keine Tränen mehr zu haben schienen.

 
Etwa zur gleichen Zeit strebten Colette und Androgyna auf den Waldrand zu, dort wo die neue Baumhaussiedlung gerade fertig gestellt war und von nun an den verheißungsvollen Namen Little Akratasia tragen sollte. Beide wollten die angenehme Frische des Morgens nutzen, um sie noch mal aus der Nähe zu erleben, bevor sie sich wieder auf Weg zurück nach Bensberg machten.

Sie wurden dabei von Fledermaus, Rabenfeder, Kornblume und noch einigen anderen begleitet. Ihr Weg führte sie in unmittelbarer Nähe zur Roten Linie. Der Blick zum Horizont offenbarte noch einmal das ganze Ausmaß. Colette hatte den Eindruck sich auf einem fernen Wüstenplaneten zu befinden. Die aufgehende Sonne lies das riesige Kraterloch in einem geisterhaften rotgoldenen Schimmer leuchten. Eine Landschaft zum ewigen Tod verurteilt.

Die fünf neuen Baumhäuser befanden sich in unmittelbarer Nähe, eine Nähe, die für deren Bewohner außerordentlich bedrohlich werden konnte.
Um an die Grenzlinie zu gelangen, musste ein etwa 1,50m tiefer Graben überwunden werden.
Ein kleiner Steg ermöglichte deren Überquerung. Die allesamt sehr jungen Aktivistinnen und Aktivisten benötigten diesen nicht und übersprangen gekonnt das Hindernis.
Colette war dazu nicht imstande. Kaum dass sie das dünne Holz des Brückchens betreten hatte, knackte es verräterisch. Die Brücke gab nach und die Königin landete im Graben.
„Androgyna!“
Schnell war die treue Gefährtin zur Stelle.

„Colette, hast du dir wehgetan?“
„Ich sitze fest! Hol mich hier raus!“
„Hmmm, ist recht tief. Wird nicht einfach. Komm zieh dich einfach an meinem Bein nach oben.“

Androgyna streckte ihr linkes Bein in den Graben. Kein guter Einfall. Die 85 kg schwere Königin, zog, kaum dass sie Androgynas Bein ergriffen hatte, das Leichtgewicht mit in die Tiefe. Somit landeten beide im Graben.
Doch in der Zwischenzeit waren die anderen zur Stelle und es gelang die beiden Akratasier aus ihrer misslichen Lage zu befreien.
Gemeinsam konnten sie ihren Weg fortsetzen.

Noch einmal den deprimierenden Ausblick auf sich wirken lassen, noch eine Weile ruhen. Der Weg zurück zur S-Bahnstation Buir würde gut eine Stunde in Anspruch nehmen.
Zeit hatten sie genügend, doch es war beschwerlich.

Am späten Vormittag blies Colette zum Aufbruch. Kurz zuvor war Eichhörnchen eingetroffen, um sich von der von ihr sehr bewunderten Königin zu verabschieden.
„Guten Morgen Colette. Also wenn du magst, können wir dich per Fahrradrikscha bis nach Buir bringen.“ Bot Eichhörnchen an.

„Hey, das ist aber ein Service. Ja, die gute alte Fahrradrikscha, die gab es in Anarchonopolis auch. Ein Stück Heimat ist immer dabei. Ich danke euch! Androgyna und ich danken euch für alles, was wir hier erfahren durften. Ich hasse Verabschiedungszeremonien. Es ist nur ein kurzer Abschied. Ich werde wiederkommen, so wie es aussieht schon in der nächsten Woche, wenn es der Terminkalender zulässt. Und ein paar von den Töchtern werden hier auch ne Weile bleiben. Kyra, Eve, Kim und natürlich Androgyna haben großes Interesse bekundet hier für eine Zeit auf den Bäumen zu wohnen. Die Verbindung ist hergestellt. Akratasien ist wieder auferstanden. Wenn auch nur in fünf Häusern auf den Baumkronen.“

Zusammen bewegten sie sich zum Hauptweg zurück, dort stand die improvisierte Rikscha schon bereit. Es war keine richtige Rikscha, eigentlich nur ein umgebautes Lastenfahrrad.
Eberesche fungierte als Chauffeur. Rabenfeder, Eichhörnchen, Kornblume und Androgyna begleiteten die Rikscha auf ihren Fahrrädern zurück zur Bahnstation.

Am Wegrand hatten sich viele Aktivistinnen versammelt, um Colette zum Abschied zu winken. Colette, die ungewöhnlichste Königin aller Zeiten mit dem silbergrauen Lockenhaar, der großen, runden schwarzgerahmten Brille und der schwarzen Che -Guevara-Mütze, war ab diesem Zeitpunkt ein gern gesehener Gast im Forst.
Die Silberadlerin erhob sich und flog ihrem Horst entgegen, doch würde immer wiederkehren um ihre Schwingen schützend über den Wald zu breiten.

Schweren Herzens betraten Colette und Androgyna die wenig später eintreffende Bahn.
Noch einen Blick durch das Fenster, dann jagten sie in die Zivilisation zurück.
Akratasien ist überall, so das Fazit. Es existiert überall dort wo der Wille nach Freiheit, Frieden, Harmonie und Verständigung bewusst gelebt wird.
Repression ist nie von Dauer, sie fällt, wenn sich der Wille ihr entgegenstellt.