Was ist queer?

„Indem sich Queer-Theory immer weiter auf die akademische Ebene zurückzog, wurde sie von immer geringeren Nutzen für diejenigen ,die sie brauchten, einschließlich psychosexueller Minderheiten und Aktivisten, die die Gesellschaft verändern wollten.“

 

                                                           Riki Wilchins (amerikanische Transgender-Aktivistin,

                                                                                   Autorin des Buches Gender-Theory)

 

Wie praxistauglich ist die Queer-Theorie?

 

Meditation zur Einstimmung:

Wir lehnen uns zurück und schließen die Augen, wir tauchen ein in eine andere Dimension:

Wir befinden uns in einem kleinen, etwa 800 Seelen zählenden Dorf im Herzen Sachsen-Anhalts.

Der schwül-heiße Sommer ist einem heiteren Herbst gewichen. Angenehm sonniges Wetter verwöhnt uns an diesem Sonntag Anfang September.

Wie geschaffen um die diesjährige Dorfkirmes zu feiern.

Das kleine Dörfchen begrüßt uns im Festgewand, während wir seinen Boden betreten.

Girlanden voller bunter Wimpel schwingen sanft in der leichten Briese die uns umweht.

Einige Bewohner haben eigens zu diesem Anlass gefertigte Strohpuppen in die Vorgärten ihrer Häuser platziert.

Langsam nähern wir uns dem Dorfanger, dem Zentrum der kleinen Ansiedlung. Dort wurden bereits am Freitag kleine Holzbuden errichte. In Kürze werden sich diese den Anwohnern und Gästen öffnen. Händler bieten dann verschiedenen Waren an. Vor allem Essbares, nein zu hungern brauch hier keiner. Der Duft von gebratenen Würsten steigt uns schon jetzt in die Nasen und weckt unseren Appetit.

Unser Blick richtete sich auf eine Bühne in der Mitte des Dorfangers. Nicht mehr lange und uns wird dort eine zünftige Blasmusik geboten. Heute kommen vor allem die Senioren auf ihre Kost. Die Dorfjugend hatte ja bereits gestern ihre Party, die zog sich, wie nicht anders zu erwarten, bis zum Morgengrauen. Schließlich soll niemand ausgeschlossen werden.

Der örtliche Schützenverein postiert sich am Ortseingang. Die Schützen fiebern ihrem Umzug entgegen, der, wie  so häufig, den Höhepunkt der Kirmes markiert.

In der von festlichem Blumenschmuck strahlenden Dorfkirche geht derweil die feierliche Andacht zu Ende. Der Herr Pfarrer hielt eine bewegende Ansprache. Darin ging es vor allem um Traditionspflege und der Verpflichtung diese an die folgenden Generationen weiterzugeben.

Auch die freiwillige Feuerwehr ist angetreten um in einer Vorführung den Zuschauern ihr Geschick zu demonstrieren, das hat lange Tradition.

Unterdessen füllt sich der Biergarten. Die Stimmung ist ausgezeichnet.

Für ein Wochenende ist man hier eine große Familie, alle können sich dazu gehörig fühlen. Auch in diesem Jahr sind eigens zu diesem Anlass, viele ehemalige Bewohner des Dorfes angereist um einfach nur dabei zu sein, dass gehört sich einfach so.

Die Zeit scheint still zu stehen. Ja, wir schreiben das Jahr 2013, aber es könnte auch ohne weiters  1913 sein, wären da nicht einige sichtbare, vor allem technische Zeichen, die uns

den zeitlichen Rahmen erkennen lassen. So könnte es sich durchaus auch in der „guten alten Zeit“ zugetragen haben.

Alle sind willkommen? Alle? Wirklich alle?

Nun, für jene, die sich nicht anpassen können, dürfte es etwas schwierig werden, aber derer gibt es ja  Gott sei`s gedankt nicht so viele. Immerhin sind wir hier ja unter lauter anständigen Leuten und das  sollte nach Möglichkeiten auch so bleiben.

Überall treffen wir auf Pärchen, jüngere wie ältere. Ungezwungen können sich diese im festlichen Ambiente bewegen. Wer hätte da auch etwas einzuwenden? Ist doch eine Selbstverständlichkeit, auch wenn sich einige in der Dorfjugend fragen warum denn ausgerechnet die da mit dem und der da mit der daherkommt. Der Geist der Liebe aber weht  bekanntlich wo er will.

Tut er das in jedem Fall?

Beim Anblick eines Paares macht sich Unmut breit.

Da kommen doch tatsächlich, man soll es kaum für möglich erachten, zwei junge Kerle, so etwa Anfang 20, Händchen haltend  mitten über den inzwischen prall gefüllten Dorfanger daher.

Hübsch anzusehen sind sie beide, zweifelsohne, wer wollte das bestreiten. Und verliebt sehen sie aus, dass merkt man sofort, so wie die sich anhimmeln. Hoppla, was war das? Die haben sich doch tatsächlich geküsst. Ja, zwei Kerle haben sich geküsst. Hier, mitten in der Öffentlichkeit.

Na, die trauen sich was. Das ist dann doch des Guten zuviel. Das schlägt dem Fass den Boden aus. Eine ungeheure Provokation. So etwas kann nicht geduldet werden, unter keinen Umständen. Man bedenke, es befinden sich schließlich eine Menge Kinder unter den Anwesenden. Was sollen die denn für einen Eindruck bekommen? Etwa, das es normal ist, wenn zwei Männer sich knutschen? Nein, nur das nicht. Wir müssen die Kinder schützen. Solche Elemente dürfen hier nicht toleriert werden. Die Emotionen kochen hoch, bei denen die dem Bier und dem Schnaps schon reichlich zugesprochen haben im Besonderen.

Da plötzlich aus dem Biergarten machen sich etwa 2,3 nein jetzt sind es 5,7,9 ja noch mehr junge Kerle auf. Ganz aufrechte Typen ,spontan entschlossen ,dem unwürdigen Schauspiel ein Ende zu setzen. Schon sind die hübschen Jünglinge umzingelt. Nach kurzem Gepöbel fällt der erste Faustschlag, die umstehenden Zaungäste honorieren das mit lang anhaltenden Beifall. Dann beginnt eine wilde Prügelorgie. „Jawohl ,das ist richtig!“ Immer drauf,die haben nichts anderes verdient! Schwuchteln raus!“ Dröhnt es jetzt aus verschiedenen Kehlen.

„Ja, das hätte es bei Adolf nicht gegeben!“ Ab ins KZ mit denen, kastriert die Schweine, und anschließend in die Gaskammer!“ Die Verwünschungen werden immer direkter.

Die Jungen versuchen zu fliehen, aber eine Menge aufrechter Patrioten schneidet ihnen den Weg ab, liefert sie den selbst ernannten Sittenwächtern aus.

Das es nicht noch doller kommt verdanken die beiden der Tatsachen, das ein untersetzter Glatzkopf wutschnaubend über den Anger gelaufen kommt und außer Atem der Meute berichtet, noch so einen Typen gesichtet zu haben. Kurz entschlossen folgen die umstehenden.

In der Tat, es kommt noch schlimmer. Wenn man nicht genau hinsieht, könnte man diesen Typen für eine Frau halten so perfekt ist der gestylt. Nur die Stimme verrät, dass es sich hier nicht um ein biologisch einwandfrei weibliches Wesen handelt.

Na, das wird ja immer bedrohlicher. Das ist ja noch entsetzlicher. Man stelle sich vor, einer der ehrbaren männlichen Dorfbewohner hätte, im guten Glauben daran, dass es sich um eine „echte“ Frau handelt,  dieses Wesen angebaggert. Das wäre doch, nein zu entsetzlich sich soetwaa  auch nur vorzustellen.

„Ausziehen!“ Tönt es jetzt von allen Seiten. „Runter mit den Klamotten!“

Da das undefinierbare Element die Frechheit besitzt sich zu weigern, helfen unsere unerschrockenen Sittenwächter kurzerhand nach. Unter großem Gejohle reißen sie der Person

(ja ist das überhaupt eine Person) die Klamotten runter.

 

Ein echter Gaudi, die Dorfkirmes konnte somit in diesem Jahr einen wirklichen Aufmacher aufweisen, das muss man zugeben. Solcher Art Unterhaltung ist eine willkommene Abwechslung in einem ansonst zumeist mausgrauen, tristen Alltag. Einem Alltag bestimmt von Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Alternativlosigkeit.

Im Letzten Jahr deklarierte sich das Dorf schon zur „National befreiten Zone“. Leute mit fremdländischem Aussehen, etwa schwarzer Hautfarbe sucht man hier vergebens, die haben kapiert, dass sie hier nicht willkommen sind. Was sollten die auch hier, gibt es doch im Alltag wahrlich nicht viel zu sehen.

Nun sind also auch die Queer-Leute an der Reihe. Also rufen unsere aufrechten Patrioten einfach eine von „Schwuchteln befreite Zone“ aus, oder so was ähnliches.

Das Problem an der Sache ist nur, wenn das so weiter geht, gehen denen bald die Minderheiten aus. An wem sich dann abreagieren, wenn man mal so richtig Luft ablassen will?

Aber das soll nun wirklich nicht unser Problem sein.

Für uns geht hier die Reise zu Ende. Wir öffnen die Augen und dürfen den erlebten Horror hinter uns lassen.

 

 

Naja, Madeleine hat wieder mal maßlos übertrieben, könnte mensch geneigt sein zu sagen.

Nee, habe ich nicht. Zugegeben, ein wenig Dichtung ist dabei. Auch habe ich einige Sachverhalte zusammengelegt. Aber ähnliche Vorfälle hat es in den letzten Jahren gegeben. Es gibt reale Hintergründe. Das alles hat sich vor nicht all zu langer Zeit tatsächlich zugetragen.

 

Es gibt auch einen gewichtigen Grund warum ich ausgerechnet Sachsen-Anhalt gewählt habe. Gewiss, in jedem anderen Bundesland könnte sich so etwas ereignen.

Aber es war ein sachsen-anhaltinisches Dörfchen, in dem die Transsexuelle Michaela Lindner Mitte der neunziger Jahre zur Bürgermeisterin gewählt wurde, was einen regelrechten Kulturkampf nach sich zog. Lest ihre Lebensgeschichte und ihr werdet mit zustimmen, das ich nicht übertrieben habe.

Mit fast 13% zog die rechtsextreme DVU bei den Landtagswahlen 1998 in den Landtag von Sachsen-Anhalt ein. Den größten Erfolg den eine rechtsextreme Partei auf deutschen Boden nach 1945 je hatte.

Die Bewohner Sachsen-Anhalts können auf diese Meisterleistung ausgesprochen stolz sein.

 

 

Doch kommen wir zu unserem Thema zurück. Denn es soll ja um die Queer-Theorie gehen.

 

In dem oben beschriebenen Dörfchen kannte offensichtlich niemand die Queer-Theorie. Wir können davon ausgehen, dass die Bewohner generell mit einem Begriff wie queer nichts anzufangen wissen.

Woran könnte das liegen, dass die Ideen nicht bis hierher durchgedrungen sind? Nur die wenigsten Dorfbewohner können wohl einen akademischen Grad ihr eigen nennen. Ja, möglicherweise hat nicht ein einziger je eine Uni von innen gesehen.

Dort aber ist die Queer-Theorie zuhause.

Es gibt inzwischen regelrechte Studiengänge über Queer-Theorie oder Gender-Theorie, Gender-Studies nennt man das. Man kann auf diesem Gebiet sogar promovieren. Namenhafte Sozialwissenschaftler, Philosophen, Anthropologen, sogar Theologen beschäftigen sich damit, haben Bücher darüber geschrieben, gute und weniger gute.

Es gibt Seminare darüber, es wird in aller Öffentlichkeit diskutiert. Selbst im Fernsehen.

 

Warum in aller Welt wussten die Bewohner unseres Dörfchens nichts darüber? Ist doch eigenartig ,oder?

Es heißt, wir leben in einer Informationsgesellschaft (ist es nicht eigentlich eine Desinformationsgesellschaft?). Dazu trägt nicht zuletzt unser liebes gutes Internet bei.

Gehen wir einfach mal davon aus dass die Menschen in dem kleinen abgelegenen Dorf im Herzen Sachsen-Anhalt wissen, was Internet ist und einige davon sogar darin vernetzt sind.

 

Warum nur haben die noch nie etwas von der Queer-Theorie gehört? Diese Frage soll uns beschäftigen. Denn wofür wurde sonst eine Queer-Theorie entworfen, wenn nicht für Menschen die entweder selbst davon betroffen sind oder jene die mit solchen Menschen im Alltag Umgang pflegen.

 

Drei mögliche Antworten:     Wollen die nichts davon wissen?

                                            Können die nichts davon wissen?

                                            Dürfen die nichts davon wissen?

 

Eine weitere Variante fällt mir derzeit nicht ein

 

Wir stecken fest. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Beantwortung dieser Frage offen zu lassen. Vielleicht finden wir am Schluss noch eine  Antwort. Möglicherweise auch erst im Gespräch,oder überhaupt nicht.

 

Wir verlassen die Fragestellung und beziehen anderweitig Position.

 

Gleich finden wir uns bei einer weiteren Frage wieder.

 

 

Was ist queer?

 

Die Antwort auf diese Frage ist so vielgestaltig wie die Menschen die sie stellen.

Eine einheitliche Definition gibt es nicht.

Stelle 10 Personen die Frage: Was ist queer? Bekommst du möglicherweise 10 verschiedenen Antworten.

 

Wie so oft steht ganz am Anfang eine Diffamierung, ein Begriff der verächtlich machen soll, eben ein Schimpfwort.

Begriffe wie schwul oder Transe verfolgten ursprünglich ähnliches.

In der Zwischenzeit aber hat sich queer zu einer Selbstdefinition entwickelt.

 

Ich wage einfach mal eine Erklärung:

 

„Unter queer verstehen wir alles was unserer patriarchalen, heteronormativen, zweigeschlechtlichen (bipolaren) Weltanschauung zuwiderläuft!“ 

 

Eine einfache Aussage. Aber trotzdem bedarf diese einer grundlegenden Erläuterung.

 

Man könnte  es auch anders formulieren: „ Alles was von dem westlichen Ideal eines weißen, bürgerlichen, gesunden, heterosexuellen, wohlhabenden, männlichen Individuum abweicht, erfährt eine Abwertung und wird in Richtung Unsichtbarkeit verdrängt.“

 

Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transgender/Transsexuelle, Intersexuelle, sowie Menschen die bewusst polyamory leben ,können  als queer bezeichnet werden (können, müssen aber nicht automatisch).

Eine weit verbreitete Auffassung. Wir können aber den Queer-Begriff beliebig um viele Nuancen erweitern.

So könnten ohne weiteres eine Frau und deren bedeutend jüngerer Partner, die in ihrer Beziehung glücklich und zufrieden sind ,als queer angesehen werden. Denn die patriarchal-sexistische Umwelt kann sich nur schwer mit einer solchen Beziehung anfreunden. Kann diese nicht recht ernst nehmen, belächelt eine solche.

 

Da wäre auch noch die Frau Professorin, die sich in den arbeitslosen Hilfsarbeiter mit Hauptschulabschluss verliebt. Hier werden intellektuelle Grenzen überschritten, unerhört.

Eine bürgerliche Moralauffassung kann so etwas um keinen Preis dulden. Schließlich leben Akademiker und Proleten in ihrem jeweils hermetisch voreinander abgeschlossenen Paralleluniversum.

 

Auch Beziehungen zwischen Menschen mit Behinderungen und Nichtbehinderten können wir ohne Bedenken als queer bezeichnen

 

 

In queeren Beziehungen werden soziale, intellektuelle, kulturelle, ethnische Grenzen verwischt, alles ist denkbar.

Wir erkennen daraus, queer ist sozialer, politischer und ökonomischer Sprengstoff.

 

 Andererseits ist aber nicht alles was schwul, lesbisch, bi oder trans ist gleichsam queer.

Vor allem intellektuelle, wohlhabende Schwule verabschieden sich zusehend aus der queer-Szene. Nix mehr zu spüren von Solidargemeinschaft. Da heißt es Ellenbogen benutzen und durch. Einmal oben angekommen, ist die Erfahrung in der Queer-Szene nur noch eine Fußnote im Lebenslauf.

Ein Beispiel: Guido Westerwelle mag stockschwul sein, es fällt mir aber außerordentlich schwer ihn als queer zu bezeichnen.Warum? Ein Mensch mit einer derart ausgeprägten sozialchauvinistischen Gesinnung kann in einer queeren Solidargemeinschaft kaum einen recht Platz finden. Niemand wird ihn ausschließen, durch seine Gesinnung aber schließt er sich von selber aus.

 

Konservative Transsexuelle hingegen werden hysterisch aufschreien, wenn man es wagt sie als queer zu bezeichnen. Igitt werde sie sagen, wir und queer, mit dieser Szene haben wir nichts am Hut, schließlich sind wir nur Personen die im falschen Körper leben. Operation, bingo, alles hat wieder seine Ordnung.

 

Ja es ist kompliziert, zweifelsohne. Aber nur bei oberflächlicher Betrachtung.

Versuchen wir aber eine gründlichere Analyse, beantworten sich viele unserer Fragen von selbst.

 

Da die deutsche Sprache offensichtlich immer weniger in der Lage ist, bestimmte Dinge zu benennen, wird heute gerne auf englische, bzw auf englisch klingende Bezeichnungen zurückgegriffen.

 

Gender, race und class

 

Mit diesen drei Schlagwörtern müssen wir uns befassen. Wir sollten sie in Einklang miteinander bringen. Diese drei bedingen einander, fließen ineinander über. Haben wir ein ausgewogenes Verhältnis hergestellt, können wir mit gutem Recht von queer sprechen.

 

Ich will nicht so viel theoretisieren, im Gegenteil. Da ich ja die Theorie offen kritisiere, will ich lieber mit plastisch-praktischen Beispielen aufwarten.

 

Also: Was hat der schwule Banker aus der Chefetage  des Frankfurter Bankenviertels mit dem schwulen Bauarbeiter zu tun, der sich auf der Baustelle in der City seine Bandscheiben ruiniert?

 Was hat die lesbische Starjournalistin mit der lesbischen Putzfrau zu tun, die für 1 Euro Stundenlohn anderer Leute Dreck entsorgt?

 

Sehr wenig bis gar nichts, könnte eine Antwort lauten.

 

Das sind typische Beispiele.

Aber auch die ethnische Herkunft spielt eine Rolle in einer Zeit in der immer mehr Menschen

mit „Migrationshintergrund“ wie wir heute zu sagen pflegen, bei uns wohnen.

 

Unser Leben wird also bestimmt von unserer sozialen Herkunft, unserer ethnischen (auch religiösen) Zugehörigkeit und unserer Sexuellen Identität bzw. Sexuellen Orientierung.

 

Nur wenn es uns gelingt alle drei zu berücksichtigen können wir einen Lebensentwurf konstruieren, der unser Leben reicher und kreativer macht.

 

In diesem Zusammenhang sprechen wir von Mehrfachdiskriminierung, bzw Intersektionalität.

 

 Die lesbische Putzfrau türkischer Herkunft, die sich ihr ALG II mit einem 1 Euro-Job aufbessert ist ein geradezu klassisches Beispiel.

 

Hier kommen sogar vier Diskriminierungsgründe zusammen: Frau, Lesbe, Migrantin Proletarierin. Wenn wir also wollen. 100% queer. Ein solcher Mensch hat nichts zu sagen in unserer Gesellschaft und noch weniger etwas zu lachen. Also wenn wir es so betrachten, Ausgrenzung pur. Ihr gegenüber steht, der von mir bereits erwähnte heterosexuelle, wohlhabende, intellektuelle, bürgerliche ,weiße Mann. Ein diametraler Gegensatz.

 

Stellen wir uns nun aber man folgenden Sachverhalt vor: Eine weiße, intellektuelle, wohlhabende  bürgerliche lesbische Frau (möglicherweise unsere Starjournalistin) begegnet auf dem Flur unserem ärmlichen türkischen  Putzmariechen. Ihre Blicke kreuzen sich, sie hängen wie gebannt aneinander. Die beiden fühlen gleichzeitig ein starkes sexuelles Interesse füreinander.

Beide leben in sozialen Ghettos, Parallelwelten ohne Aus-oder Übergänge. Eine flüchtige Begegnung auf dem Flur ,oder auf der Toilette, mehr nicht.

Könnte hier eine Beziehung entstehen.

Spinnen wir den Faden weiter.

Unsere Starjournalistin ist in der Zwischenzeit wieder in ihrem komfortablen Büro eingetroffen, aber es will ihr einfach nicht gelingen sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.

In Gedanken verweilt sie nur bei diesem exotisch Wesen. Ist die neu hier? Habe ich vorher noch nie gesehen, wäre mir sicher schon lange aufgefallen. Denkt sie sich.

Sie weiß nicht warum, aber sie ist besessen von dem Gedanken sie wieder zusehen. Irgendwie muss sie es bewerkstelligen.

Schnell sagt sie alle wichtigen Termine ab. Macht sich auf die Suche.

Auch unser Putzmariechen ist wie vom Blitz getroffen und kann schon seit Tagen an nichts anderes mehr denken, als an diese wunderschöne sinnliche elegante Frau, die ihren Weg gleichsam wie eine Fee aus einer anderen Dimension kreuzte, auch sie würde sie gerne wieder sehen. Doch ist sie sich der Tatsache bewusst, dass dies ein frommer Wunsch bleiben wird.

Es gibt einfach zu viele Schranken, soziale, wie intellektuelle.

Nichts desto trotz laufen sie sich dann doch noch mal über den Weg. Unsere Journalistin

spricht die verstört wirkende Hilfsarbeiterin kurzentschlossen an. Natürlich muss sie als die sozial und intellektuell höher stehende  die Initiative ergreifen.

Dann geht eines ins andere. Die beiden verabreden sich, unternehmen verschiedene Dinge.

Schon bald lädt die Starjournalistin ihre neue Freundin zu sich nach Hause ein. Die beiden kommen sich immer näher und haben schließlich eine heiße Liebesnacht mit allem was dazu gehört.

Auf Wolke 7 ab ins Paradies. Schön wäre es. Aber wir befinden uns hier nicht in einer Daily Soap (die würden abgesehen davon solch eine Beziehung gar nicht thematisieren).

Unsere reale Welt mit ihren unzähligen Barrieren kann eine solche Beziehung nicht akzeptieren.

Nicht nur die Heteros, auch Schwule und Lesben paaren sich üblicherweise nur innerhalb ihres Universums. Akademiker mit Akademiker, Prolet mit Prolet. Es soll ja schließlich alles seine Ordnung haben. Alles andere wäre queer und das wollen wir ja auf jeden Fall vermeiden.

 

Haben die beiden Frauen eine reelle Chance aus dem One-Night-Stand eine echte Beziehung aufzubauen?

Es wäre durchaus denkbar, dafür müssten aber alle beide ihre engen Ghettos verlassen und sich auf neutralem Boden wieder finden. Quasi etwas vollkommen Neues in Angriff nehmen.  Eine Garantie gibt es nie, aber zumindest den Hauch einer Chance.

 

Was für zwei Frauen zutrifft gilt selbstverständlich auch für Männer.

Ohne weiteres können wir uns den schwulen Bankdirektor vorstellen, der irgend wann gelangweilt aus dem Konferenzzimmer blickt und dessen Blick auf den knackigen braungebrannten Körper des Bauarbeiters fällt, dessen lärmende Baustelle sich direkt unter dem Fenster des Bankgebäudes befindet.

Da zuckt es  kräftig in der Designer-Hose und der Heißhunger auf einen muskelbepackten Proleten im Bett lässt den Herrn Bankier nicht mehr los.

Er verlässt kurzerhand das Bankgebäude, eilt zur Frittenbude gegenüber,nur um an der Baustelle vorbei zulaufen und die Dinge können auch hier ihren Lauf nehmen.

Alles weitere wie oben.

 

Wir können anhand dieser Beispiel erkennen, queer lässt verkrustete Moralvorstellungen

wie hauchdünnes Eis dahin schmelzen.

Queer ist immer eine Art von Kulturrevolution, Grund genug für das vorherrschende Mainstream queer einzufangen, es zu zähmen, zu verwässern, zu verbürgerlichen.

 

Die Schwulenszene hat weitgehend kapituliert, Kommerz und Vermarktung haben diese fast vollständig lahm gelegt, den Lesben wird es über kurz oder lang ebenso ergehen ,es sei denn es gelingt ihnen noch rechtzeitig gegenzusteuern.

 

Wenn eine Emanzipationsbewegung verbürgerlicht, verwandelt sich die einst gefürchtete Raubkatze in einen Bettvorleger, gut genug zum Fraß für die Motten.

Schwule Manager bereichern sich inzwischen genauso schamlos auf Kosten der Allgemeinheit wie ihre heterosexuellen Pendants. Negative Eigenschaften setzen sich immer am schnellsten durch.

Konservative Schwulenverbände wie der LSVD oder die Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche (HuK) wetteifern miteinander wie denn nun Schwule am besten heterosexuelle Lebensweisen imitieren könnten. Das Lebenspartnerschaftsgesetz ist der große Aufmacher,sowohl standesamtliche wie auch kirchliche Hochzeiten zwischen Männern und zwischen Frauen sind nichts außergewöhnliches mehr. Ich habe grundsätzlich nichts dagegen. Aber müssen wir denn jeden Mist nachäffen den uns Heterosexuelle vorleben? Sind wir wirklich so phantasielos, das wir nichts Eigenständiges zu bieten haben?

Eine wirklich interessante queere Lebensgemeinschaft besteht doch wohl aus mindestens drei Personen, oder?

 

Bei Transgendern liegen die Dinge derzeit noch etwas anders.

Deren Sichtbarkeit lässt ein eintauchen in den bürgerlichen Mainstream nicht zu.

Es gibt in unserer Gesellschaft nur zwei Bereiche in denen sich Trans-Leute profilieren können. Ich bezeichne diese als C+H-Ghetto. Nämlich als Clown ( C) und Hure ( H).

Dort sind Trans* gern gesehen. Dort kann man sie vermarkten und den Bedürfnissen heterosexueller oder schwuler Machos gefügig machen.

Versucht ein/e Transgender aber auszubrechen und außerhalb von C+H ein selbstbestimmtes Leben einzufordern bekommt er/sie sehr schnell die Rote Karte, dann gibt`s eins auf die Mütze.

 

Wenn ich von Transgender rede meine ich die alternative Transszene. Menschen die bewusst zwischen den Geschlechtern stehen, sich als eigenständige Gruppe definieren und Emanzipation einklagen. Wir bezeichnen sie als genderqueer queergender, oder was es sonst noch für Begriffe gibt.

Die konservativen Transsexuellen, in der Mehrheit anti-queer und emanzipationsfeindlich, Steigbügelhalter der patriarchalen Zwei-Geschlechter-Theorie, sollen uns nicht weiter interessieren.

 

Transgender machen die Queer-Szene erst richtig bunt. Sie stellen so ziemlich alles auf den Kopf was den bürgerlichen Moralvorstellungen entspricht.

Trans* geben der Queer-Szene ihre Wahrheit zurück, ziehen ihr quasi den goldenen Mantel aus, den sie sich voreilig übergezogen hat.

Es gibt keine bürgerlichen queergender, es wird sie auch auf absehbare Zeit nicht geben ,dem Himmel sei gedankt!

 

Stellt euch einen echten queergender vor als Arzt, Lehrer, Rechtsanwalt,Universitätsprofessor, Pfarrer, Politiker, Manager, Bankier, Gewerkschaftler usw., wir könnten die Liste beliebig fortsetzen. Einfach undenkbar. Da bleibt nur C+H. Ob du willst oder nicht.

 

Intersexuelle haben es noch schwerer, selbst ich wage mich kaum an dieses Thema ran.

Intersexuelle sind Menschen die auch körperlich männliche wie weibliche Merkmale aufweisen. Man nannte sie früher verächtlich Zwitter.

Für sie trifft im Grund jenes zu was wir von den Transgendern hörten, nur noch um einige Grade härter.

 

Bleiben noch die Bisexuellen. Noch so eine Gruppe, die zwischen den Stühlen sitzt.

In der Zwischenzeit zwar formell anerkannt. Aber nach wie vor hagelt es sowohl von heterosexueller Seite als auch aus der Schwulen -und Lesbenszene Kritik.

In unserer dualistischen Gesellschaft muss man sich einfach bekennen, Basta! Man gehört auf die eine oder andere Seite. Mensch kann nicht gleichzeitig Männer und Frauen lieben.

Die wollen sich nur nicht entscheiden, sind zu feige sich als schwul oder lesbisch zu outen wird ihnen um die Ohren gehauen. Die picken sich nur das Beste von beiden Seiten raus. Ja und? Ist das so schlimm sich die Besten von beiden Seiten zu suchen? Wem schadet es denn?

 

Hin und wieder kommt es vor, dass irgend so ein schlauer Professor sich berufen fühlt der Menschheit kundzutun, dass es keine Bisexuellen gebe. Der schreibt dann ein ganz dickes Pamphlet darüber in der Hoffnung dass sich Leute finden, die diesen Schund lesen.

Schließlich möchte unser Professor Oberschlau viel Geld damit verdienen.

Nach dessen Meinung sind wir alle, die wir bi empfinden und danach leben nicht vorhanden, wir sind Luft für ihn, nicht existente Personen.

Für eine Übergangsperiode kann Bi eine Variante sein, aber dauerhaft, unmöglich.

Für jeden oder jede Bi kommt einmal der große Moment der Entscheidung. Dann endlich haben sie es in einen sicheren Hafen geschafft der da heißt Hetero, Schwul oder Lesbisch.

Das duale System hat wieder obsiegt.

 

Neuerdings gibt es Menschen die sich als pansexuell bezeichnen. Pansexuelle sind Menschen, die sowohl Männer als auch Frauen, als auch Personen lieben, die sich keinem Geschlecht eindeutig zuordnen, also sagen wir gleich Transgender, Queergender oder wie auch immer.

Man könnte auch sagen Pansexuelle sind eine Weiterentwicklung der Bisexuellen. Oder sind letztendlich alle Bisexuellen pansexuell? Ich denke schon.

Aber keine Angst wir brauchen das Bisexuelle Netzwerk nicht in Pansexuelles Netzwerk umzubenennen. Aus Bine muss nicht automatisch Pane werden.

 

Begriffe, Bezeichnungen, Normen, sie schwirren uns durch den Kopf, wir müssen vorsichtig sein,  um kein Ohrensausen davon zu bekommen

 

Weg mit der Entweder-Oder-Doktrin

 

 

Langsam nähern wir uns dem Gipfel.

Was haben wir erkannt?

Eindeutige Grenzziehungen sind heute sehr schwierig. Überall gibt es fließende Übergänge, Aufweichungen, Neudefinitionen.

Die alte Frontlinie Hier die bösen Heteros, Da die lieben guten Queers, können wir so kaum noch aufrecht erhalten.

Einmal wollen wir Heterosexuelle nicht ausschließen. Und wir haben bemerkt dass wir anhand von gender, race und class viele Gesichtspunkte beachten müssen.

 

Andererseits zieht sich auch durch die queer-Szene eine neue Grenzlinie. Die von mir so benannte Entweder-Oder-Doktrin trennt was früher mal vereint war.

 

Wir sehen auf der einen Seite Heterosexuelle, Schwule, Lesben und konservative Transsexuelle. Die haben kein Problem mit einem Bekenntnis, die haben sich entschieden was sie sind, wo sie hingehören und leben zufrieden damit. Nennen wir sie Gruppe A

 

Wir sehen auf der anderen Seite Bisexuelle/Pansexuelle,  alternative Transgender und Intersexuelle.

Die haben sich aus verschiedenen Gründen nicht eindeutig festgelegt und wollen das auch nicht, leiden also unter der Entweder-Oder-Doktrin. Nennen wir sie Gruppe B

 

 

Aber selbst diese Einteilung ist noch nicht ganz korrekt.

Gruppe A unterteilt sich in zwei Untergruppen. Gruppe A1 Heterosexuelle und konservative Transsexuelle waren nie queer und wollen es in den meisten Fällen auch um keinen Preis.

Gruppe A2 Schwule und Lesben sind auf jeden Fall queer, verlieren doch zunehmend den Bezugspunkt dazu.

Schwule und Lesben haben ihren Platz in der queer-community, doch müssen sie akzeptieren dass es dort auch noch andere gibt, Menschen die ihre Dogmen nicht für ihr persönliches Leben übernehmen können oder wollen. Das fällt den Schwulen und Lesben zuweilen außerordentlich schwer.

Wir haben oben gesehen, dass wir auch heterosexuelle Beziehungen als queer betrachten können (Altersunterschied, soziale oder intellektuelle Gegensätze). Wir sollten diesen einen Platz in der Queer-Szene bieten, sie wären sicher eine Bereicherung.

Konservative Transsexuelle stehen der Queer-Szene feindselig gegenüber,ihre Agitation kann man am ehesten mit denen von religiösen Fundamentalisten vergleichen. Sie verachten alle Queers. Kaum vorstellbar das sich aus deren Reihen mal jemand in die Queer-Szene verirrt.

 

Aber auch Gruppe B ist alles andere als einheitlich. Transgender/Queergender sind zwar in den häufigsten Fällen bi bzw. pan ,aber nicht alle Bi`s sind Trans.

Hier ist Aufklärung dringend angebracht, vor allem weil Boulevardpresse und wie auch immer geartete unseriöse bürgerliche Medien gerne Dinge gleichsetzen und verallgemeinern

um so ein Bild zu konstruieren, das sich am günstigsten vermarkten lässt.

Man denke nur daran, wie die BLÖD-Zeitung über Transgender berichtet, schlimmere Desinformation könnte nicht einmal der Vatikan fabrizieren.

 

 

Wir können davon ableiten, Bi`s, Trans und Intersexen sind die eigentlichen queers, ohne jedoch die anderen auszuschließen, ganz im Gegenteil. Sie können als Motor für eine völlig neue Queer-Bewegung wirken, können der abgestandenen Brühe zu neuer Würze verhelfen indem sie queer von seinem bürgerlichen Korsett befreien.

Es wird Zeit für etwas Neues.

Ich weiß nicht was noch geschehen soll um einigen gründlich die Augen zu öffnen.

Die oberflächliche Toleranz in unserer Gesellschaft deckt nur zu was sich aber nicht mehr lange verbergen lässt.

Queers sind umringt von Anfechtungen. Rechtsextreme und Religiöse Fundamentalisten haben enormen Zulauf.

Sozialdarwinistisches Denken und Handeln bestimmt die  Richtlinien der Politik,wird zunächst den Sozialstaat, später den demokratischen Rechtsstaat aushöhlen.

Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer. Auch Queers sind in zunehmenden Maße davon betroffen.

Kriegerische Auseinandersetzungen sind längst zur Normalität geworden.

Ökologische Supergaus wohin wir auch sehen.

Queers müssen aktiv ins Geschehen eingreifen und selbst etwas zu Wege bringen. Es nimmt uns keiner an die Hand und führt uns ins Paradies. Den Pfad dahin müssen wir schon selber ausfindig machen.

Bringt eure Gedanken und Vorstellungen ein! Jedes Detail kann wichtig sein.

Mischt euch in die Politik ein, gründet neue Vereine, Initiativen.

 

Wir wollen den Bewohnern des am Anfang geschilderten Dorfes deutlich vor Augen führen, dass faschistiode Übergriffe dieser Art nicht hingenommen werden, das können wir aber nur wenn wir uns zusammenschließen und selbstbewusst auftreten.

Wer aber übernimmt die Aufgabe, Queer-Theorie, Gender-Theorie und alles was damit zusammenhängt aufs Land, in die tiefste Provinz zu bringen? Damit auch die Menschen dort teilhaben können an der so viel gepriesenen Toleranz in unserem Land. Damit auch der schwule ALG II-Empfänger etwas davon hat,oder die lesbische Ein-Euro-Jobberin, von den Transen ganz zu schweigen, die können sich ja nicht mal frei bewegen dort.

In dem Moment da sich ein Queergender, so wie ich z.B., völlig frei und unangefochten auf der oben beschriebenen Dorfkirmes  bewegen kann, als menschliches Wesen betrachtet und geachtet wird, dann ist die Queer-Theorie verwirklicht. Erst dann können wir von einer toleranten Gesellschaft sprechen.

Davon sind wir im Moment Lichtjahre entfernt.

 

 

Meine These zum Abschluss: Die Queer-Theorie in ihrer bisherigen Form hat gründlich versagt, sie ist nicht praxistauglich.

 

Das heißt aber nicht dass sie das auch bleiben muss. Um sie praxistauglich zu machen bedarf es aber eines grundlegenden Wandels.

Nennen wir es einfach androgyne Revolution.

 

 

Madeleine